Einer der Deutschen, die sich mit Simón Bolívar anfreundeten, bevor er zum »Libertador« wurde, war Alexander von Humboldt. Sie lernten sich 1804 in Paris kennen und trafen sich später in Rom wieder. Nach Ansicht mancher Autoren war Humboldt derjenige, der Bolívar dazu ermunterte, die spanische Herrschaft in Südamerika herauszufordern. Doch damit wird seine Rolle wahrscheinlich übertrieben; allerdings deutet ihre spätere Korrespondenz darauf hin, dass sie bei ihren frühen Begegnungen auch über Politik sprachen. Als Humboldt 1821 an Bolívar schrieb, um ihm einen französischen Wissenschaftlerkollegen zu empfehlen, der nach Kolumbien reiste, erinnerte er ihn an den Beginn ihrer Freundschaft »in einer Epoche, in der wir Schwüre auf die Freiheit und Unabhängigkeit des Neuen Kontinents ablegten«.[1] Zwei Jahre später schrieb Bolívar an den Diktator von Paraguay, wie geehrt er sich in seiner Jugend durch die Freundschaft mit Humboldt gefühlt habe, »dessen Weisheit Amerika mehr Gutes getan hat, als alle Konquistadoren«.[2] Was meinte Bolívar damit, und warum nannte der deutsche Geograf Carl Ritter Humboldt den »wissenschaftlichen Wiederentdecker Amerikas«?[3] Die Antwort hat in beiden Fällen mit Humboldts fünfjähriger Reise in die südamerikanische Äquatorialregion zu tun, die er gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland unternahm.[4] Mit dieser Reise machte er sich einen Namen. Als er 1804 von ihr zurückkehrte, war er eine Berühmtheit – »unser Welteroberer«, wie Goethe es ausdrückte.[5] Die englische Sozialtheoretikerin Harriet Martineau sollte ihn den »Monarchen der Wissenschaft« nennen, und Lord Byron erwähnte ihn in seinem Epos Don Juan.[6]
Humboldts Vater gehörte zum niederen Adel und war preußischer Offizier und Kammerherr der Prinzessin von Preußen. Alexander wurde 1769 geboren und wuchs zusammen mit seinem älteren Bruder Wilhelm außerhalb Berlins auf dem Familiensitz in Tegel – »Schloss Langeweile«, wie er ihn nannte – auf, wo die Brüder Privatunterricht erhielten. Wilhelm galt als Wunderkind, während sein Bruder eher träumerisch veranlagt und beim Sammeln von Pflanzen und Insekten am glücklichsten war. Alexander studierte kurze Zeit an der Viadrina in Frankfurt/Oder, bevor er seinem Bruder nach Göttingen folgte, wo er sich mit Georg Forster anfreundete. 1790 reiste er mit diesem zusammen nach Paris – wo er, wie er später schrieb, die »lehrreichsten und unvergesslichsten« Tage seines Lebens verbrachte – und nach kurzem Aufenthalt dort weiter nach England, wo er Höhlen in Derbyshire besichtigte, Kew Gardens besuchte und Joseph Banks, den großen Impresario der britischen Naturwissenschaft, kennenlernte. Nach einem Studium an der Bergakademie Freiberg, dessen dreijähriges Curriculum er in acht Monaten absolvierte, trat er in den preußischen Staatsdienst ein, in dem er schnell aufstieg, während er gleichzeitig seine eigenen wissenschaftlichen Projekte vorantrieb. Sein erstes Buch über das Basaltgestein im Rheintal erschien 1790. Andere Werke folgten, während er in Verfolgung seiner geologischen und botanischen Interessen durch Europa reiste.
Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1799 erbte Humboldt genug, um seine Stellung aufgeben und eine ehrgeizige Reise wie diejenige, die seinen Freund Forster berühmt gemacht hatte, unternehmen zu können. Er hoffte, an Napoleons Ägyptenexpedition teilnehmen zu können, doch daraus wurde nichts. Stattdessen reiste er zusammen mit Bonpland nach Amerika. Ihr Schiff lief im Juni 1799 aus dem spanischen Hafen La Coruña aus und segelte nach einem kurzen Zwischenstopp in Teneriffa nach Venezuela. Dort erkundeten sie den Orinoco und bestätigten dessen Verbindung mit dem Flusssystem des Amazonas. Sie befuhren den Orinoco mit einem Zwölf-Meter-Boot voller Führer, wissenschaftlicher Instrumente, Pflanzenproben, Käfige mit Affen und Vögeln – darunter sieben Papageien – und einem zugelaufenen Hund, der schließlich von einem Jaguar gefressen wurde. Danach besuchten sie Kuba, dessen erste detaillierte geografische Beschreibung Humboldt später verfasste, kehrten aufs Festland zurück, wo sie den Fluss Magdalena hinauf nach Bogotá fuhren, und reisten weiter nach Quito und Lima, bevor sie ein Schiff nach Mexiko nahmen. Es folgte ein weiterer Aufenthalt auf Kuba, von wo sie einen Abstecher in die Vereinigten Staaten unternahmen, wo Thomas Jefferson sie im Weißen Haus empfing, bevor sie nach Bordeaux zurückkehrten. Im Lauf der Reise kletterte Humboldt auf Vulkane, stieg in Bergwerke hinab, sammelte Gesteinsproben und experimentierte mit Zitteraalen; er untersuchte Flora und Fauna und schickte Proben nach Europa. Er interessierte sich für alles, von den Eigenschaften von Guano bis zu den Aussichten für Zuckerplantagen, und überall, wohin er kam, vermaß er die Dinge – Höhen, Entfernungen, Temperaturen.[7]
Alexander von Humboldt, wie ihn Friedrich Georg Weitsch 1806 nach der Rückkehr von seiner Amerikareise malte. Im Hintergrund ist der Orinoco zu sehen.
Er tat nicht alles selbst. Wie alle europäischen Forschungsreisenden hingen er und Bonpland von Trägern und Führern ab, Einheimischen, welche die Gegend kannten und ihren Transport organisieren und ihnen den Weg zeigen konnten. Außerdem profitierte er von der Arbeit kreolischer Naturforscher, von denen sie – in einem gegenseitigen Austausch – lernten.[8] Ignoriert man den heroischen Tonfall, der in manchen Schriften über Humboldt immer noch angeschlagen wird, bleibt gleichwohl die Tatsache, dass er eine in vieler Hinsicht außergewöhnliche Persönlichkeit war, angefangen mit der Berühmtheit, die er sich schon in jungen Jahren erwarb und sein Leben lang genoss (er starb vier Monate vor seinem neunzigsten Geburtstag).[9] Außerdem war er ein herausragender Wissenschaftler, zu dem ihn nicht zuletzt seine Besessenheit vom Messen und von wissenschaftlichen Instrumenten machte, die ein Schlüsselelement der »humboldtschen Wissenschaft« bildet und in Daniel Kehlmanns Roman über Humboldt und den deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß Die Vermessung der Welt liebevoll-satirisch aufs Korn genommen wird. Hinzu kam die Bandbreite von Humboldts Wirken. Seine Publikationen reichten von der Geografie über Geologie, Mineralogie, Botanik, Zoologie, Klimatologie, Chemie und Astronomie bis zu Ethnografie und politischer Ökonomie. Mit der Betonung des Messens, über die sich schon manche Zeitgenossen lustig machten, ging eine leidenschaftliche Überzeugung von der Einheit des Wissens einher, der er schon 1794 in einem Brief an Friedrich Schiller Ausdruck verliehen hatte, einem atemlosen, stürmischen Plädoyer für eine dynamische Darstellung der Natur anstelle einer rein deskriptiven wie derjenigen »unsre[r] elenden Registratoren der Natur«. Am Ende des Briefs entschuldigte sich Humboldt für sein Temperament: »Ich sehe, daß ich Einiges sogar albern ausgedrückt habe, doch ich hoffe, daß Sie im Ganzen fühlen, was ich meine.«[10] In einem Zeitalter zunehmender Spezialisierung, die nicht zuletzt an den deutschen Universitäten vorangetrieben wurde, geriet seine Überzeugung von der Einheit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis allerdings in immer größere Bedrängnis.
Humboldt war zweifellos außergewöhnlich, was seinen Ruf, seinen Verstand und die Weite seines Blicks betraf, aber in anderer Hinsicht glich er vielen anderen deutschen Forschungsreisenden. Mit Ausnahme einiger habsburgischer Expeditionen arbeiteten sie alle weiterhin für nichtdeutsche Herren. In der Zeit um 1800 traten andere Deutsche in die Fußstapfen von Johann Georg Gmelin, Samuel Georg Gmelin und Peter Pallas und nahmen an russischen Forschungsexpeditionen teil. Carl Heinrich Merck gehörte als Botaniker zu Billings Expedition nach Ostsibirien und Alaska in den Jahren 1785 – 1794.[11] Die erste russische Weltumsegelung (1803 – 1806) wurde von dem Baltendeutschen Adam Johann von Krusenstern geleitet, zur Besatzung gehörten ein baltendeutscher Kartograf sowie zwei deutsche Ärzte, die zugleich Naturforscher waren. Ein anderes russisches Expeditionsteam, das 1815 – 1818 Ozeanien erkundete, war ähnlich zusammengesetzt. An seiner Spitze stand der Baltendeutsche Otto von Kotzebue, und seine beiden Naturforscher waren der baltendeutsche Entomologe Johann Friedrich Eschscholtz und der deutsche Schriftsteller Adelbert von Chamisso, der mit seiner Geschichte von Peter Schlemihl, dem Mann, der seinen Schatten verkaufte, berühmt geworden war. Auch der Künstler der Expedition, der in der Ukraine geborene Ludwig Choris, war deutscher Abstammung.[12]
Es lohnt sich, für einen Augenblick innezuhalten und zwei der Passagiere der Rurik, des Schiffs, das die ehrgeizige Forschungsfahrt nach Ozeanien unternahm, näher zu betrachten. Beide spielten für Chamisso eine gewisse Rolle, der eine 1816 und der andere im folgenden Jahr. Beide repräsentieren den grenzüberschreitenden Wirbel von Menschen, Kulturen und Sprachen im Pazifikraum im frühen 19. Jahrhundert. Als die Rurik Anfang November 1816 San Francisco verließ, um nach Hawaii zu fahren, hatte sie mehrere neue Passagiere an Bord. Einer von ihnen war ein Mann namens John Elliot de Castro. Er war britisch-portugiesischer Herkunft und hatte zuvor als Handelsagent eines Schiffs einer russisch-amerikanischen Firma gearbeitet, bis er von den Spaniern in Kalifornien wegen illegalen Handels verhaftet worden war. Davor hatte er zwei Jahre lang versucht, durch die Perlenfischerei auf Hawaii ein Vermögen zu machen, und war Höfling und Leibarzt von König Kamehameha I. geworden. Während der dreiwöchigen Fahrt von San Francisco nach Honolulu brachte Castro Chamisso, der seinerseits ein französischer Flüchtling war, einige Brocken Hawaiianisch bei. Als die Expedition Richtung Mikronesien weitersegelte, blieb Castro in Hawaii zurück.
Einige Monate später, im Februar 1817, traf die Rurik in der Nähe der zu den Marshallinseln gehörenden Ratak-Inselkette auf einige einheimische Boote. Mehrere der Bootsfahrer kamen an Bord, und einer von ihnen mit Namen Kadu blieb auf der Rurik. Er stammte von Ulea, einer der Karolineninseln, und war auf Höhe der Ratak-Kette, weil er während einer Mission für seinen Herrscher bei einem Sturm vom Kurs abgekommen war. Er sollte achteinhalb Monate auf der Rurik bleiben. Er freundete sich mit vielen Mannschaftsmitgliedern an, insbesondere mit Choris, der ihn zeichnete und dessen ethnografische Sichtweise zum Teil von seinem Einfluss geprägt wurde. Chamisso beschrieb Kadu später als einen »der schönsten Charaktere, den ich im Leben angetroffen habe, eine[n] der Menschen, den ich am meisten geliebt«.[13] Kadu war für die Expedition wegen seiner navigatorischen Fähigkeiten und seines schnellen Verstands von großem Wert. Chamisso und er entwickelten – wie 44 Jahre zuvor Georg Forster und ein Polynesier namens Mahine – eine gemeinsame Sprache, wobei sie mit einigen polynesischen und ozeanischen Worten begannen, die sie beide kannten. Wie sich herausstellte, hatte Kadu früher bereits Kontakt mit Europäern gehabt, zumeist mit Spaniern, was belegt, dass der Pazifik zu einer Begegnungszone zwischen Europäern und Nichteuropäern geworden war.[14]
1823 reiste eine weitere russische Expedition in den Pazifik, wiederum unter Kotzebues Leitung und mit deutschen Naturforschern im Team. Einer von ihnen war Eschscholtz, der schon auf der Rurik mitgefahren war, ein anderer der schlesische Ornithologe Friedrich Wilhelm Heinrich von Kittlitz.[15] So setzte sich die ein Jahrhundert zuvor begonnene Tradition deutscher Naturforscher in russischen Diensten in die 1820er-Jahre fort. Humboldt selbst unternahm eine weitere große Reise, eine von der russischen Regierung finanzierte achtmonatige Expedition in den Ural und nach Sibirien. Aber während der Dreißigjährige mit Bonpland als Begleiter auf einfache, beschwerliche Art gereist war, fuhr der Sechzigjährige in einer gefederten Kutsche über die Steppe, begleitet von zwei deutschen Naturwissenschaftlern, einem Koch und einem Diener sowie einer wechselnden russischen Wachmannschaft.
Eine Zeichnung des bemerkenswerten Kadu von Ludwig Choris. Kadu verbrachte achteinhalb Monate an Bord der Rurik. Die Zeichnung ist hier gegenüber der Titelseite von Chamissos Reiseerinnerungen zu sehen.
Die russischen Wachen verweisen auf den Einfluss von Förderern auf die Wissensproduktion. Humboldts beide großen Reisen wurden von Spanien beziehungsweise Russland finanziert. Bei anderen deutschen Forschungsreisenden waren es Dänemark oder Großbritannien. Der gemeinsame Nenner, der viele von ihnen verband, war die Universität Göttingen.[16] Humboldt hatte ebenso an ihr studiert wie Carsten Niebuhr, Peter Pallas und andere nach ihm. Georg Forster unterhielt enge Kontakte zu dortigen Gelehrten. Einer der bekanntesten Göttinger Professoren der Naturgeschichte, Johann Friedrich Blumenbach, stand mit Joseph Banks in London in Verbindung. Als Banks am Anfang des 19. Jahrhunderts nach einem vielversprechenden Talent, das man nach Afrika schicken konnte, Ausschau hielt, tat er es in Blumenbachs Göttinger Pool junger Wissenschaftler. Vier Absolventen der Göttinger Universität reisten nacheinander nach Nordafrika: Friedrich Hornemann, Ulrich Seetzen, Heinrich Röntgen und Johann Ludwig Burckhardt. Sie alle starben dort zwischen 1801 und 1817 als vier zivile Opfer in Kriegszeiten, die an die Gefahren der Patronage gemahnen.[17] Zumeist standen Forschungsreisende jedoch vor dem Problem, wie sie ärgerliche Beschränkungen umgehen konnten, insbesondere hinsichtlich der Bekanntmachung ihrer Entdeckungen. Doch es gab Möglichkeiten, sie zu überlisten. Die Mächte, die Expeditionen ausschickten, verlangten den alleinigen Zugriff auf deren Resultate, während Forscher sie häufig schon während ihrer Reisen Kollegen mitteilten. Hinterher schrieben sie in der Regel ihren Teil des offiziellen Berichts, wonach sie unter ihrem eigenen Namen weitere Darstellungen veröffentlichten. Immerhin hatten sie in Universitäten, Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften, zu deren Angehörigen sie zudem persönliche Beziehungen unterhielten, ein internationales Publikum. Das klassische, wenn auch keineswegs einzige Beispiel dieser wissenschaftlich-literarischen Selbstvermarktung ist Humboldt, der sehr genau auf Form und Stil seiner Veröffentlichungen achtgab und über ein Korrespondentennetzwerk verfügte, das ihn selbst noch im Alter dazu brachte, rund 2000 Briefe pro Jahr zu schreiben.[18] Ein Historiker sieht einen »Makler« oder »Vermittler« zwischen verschiedenen Kulturen in ihm; ein anderer geht sogar noch weiter und bezeichnet ihn aufgrund seiner Position im Zentrum einer globalen Gelehrtenrepublik als exemplarische Figur am Anfang der modernen, vernetzten Wissenschaftswelt: Alexander von Humboldt, unser Zeitgenosse.[19]
Wer also profitierte von dieser Flut neuen Wissens? Die Expeditionen wurden unternommen, um nützliche Erkenntnisse zu gewinnen, und die von den Naturforschern gelieferten Beobachtungen, Tabellen, Landkarten, Messungen, Zeichnungen und Proben erfüllten diesen Zweck. Am offensichtlichsten war dies für Erkenntnisse über Bodenschätze; die Suche nach ihnen gehörte zu Humboldts Aufträgen sowohl in Südamerika als auch in Sibirien.[20] Dabei überlappte sich die Tätigkeit des ehemaligen Bergassessors mit dem, was deutsche Bergbauexperten schon lange rund um die Welt getan hatten. Die Auftraggeber von Expeditionen wollten daneben Informationen über das Klima sowie Flora und Fauna haben, da sie an einer möglichen Kultivierung und Ansiedlung interessiert waren. Auch in dieser Hinsicht lieferten die Wissenschaftler. Der in Göttingen ausgebildete Naturforscher Georg von Langsdorff empfahl für Kamtschatka mehr Kartoffelanbau und Rentierhaltung, Humboldt beriet beim Zuckerrohranbau.
Die Forschungsreisenden sammelten allerdings auch viele Erkenntnisse, die auf den ersten Blick keinen Nutzen hatten. Manchmal waren sie sogar subversiv, insbesondere in Bezug auf die Zerstörung der Natur. Man sollte dies nicht überbewerten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts spiegelte sich in der Sprache der meisten Wissenschaftler immer noch die instrumentelle, aufklärerische Auffassung wider, dass die Natur im Interesse der Menschheit »erobert« werden müsse, jene Ansicht also, die den bekannten französischen Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon zu der Bemerkung veranlasste, die »wilde Natur« sei »abscheulich«, und Georg Forster angesichts eines von Kapitän Cooks Mannschaft in Neuseeland für ihren Aufenthalt errichteten Quartiers über die »Vorzüge einer civilisirten Verfassung über den rohen Zustand des Menschen« nachdenken ließ.[21] Aber die Einstellung zur Natur veränderte sich, und deutsche Autoren trugen wesentlich dazu bei. Forster gehörte mit seinen »panoramahaften« Beschreibungen, ästhetischen Urteilen über Naturschönheiten und Gefühlsreaktionen auf das, was er sah, zu jenen, die einen neuen Ton anschlugen. Humboldt schrieb seine Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents und das ihr vorangegangene kurze Buch Ansichten der Natur – das ihm selbst besonders am Herzen lag – im selben Idiom. Außerdem stand er für eine stärker holistische Sicht auf die Natur, die sich bereits in den 1780er-Jahren herausgebildet hatte, als eine ganze Reihe von Autoren »das Ganze der Natur« (Georg Forster) in den Blick nahmen oder Natur als »ein einziges durchgehendes Lebensgewebe« (der niederländische Naturforscher John Bruckner) verstanden und »allenthalben ein lebendiges Ganze[s]« (Johann Gottfried Herder) entdeckten.[22] Diese Sichtweise wurde um 1800 mit dem Geist der Romantik aufgeladen und gewann an Einfluss, nicht zuletzt, weil die Transformation der Natur sich augenscheinlich beschleunigte.
Der Gedanke, dass die Natur ein verwobenes, lebendiges Ganzes bilde, war mehr als eine philosophische oder literarische Trope. Er war durch Beobachtung unterfüttert. Ein Grund, warum Humboldt als Vorläufer des modernen ökologischen Denkens gilt, ist der von ihm geführte Nachweis, dass einzelne Pflanzen ihren Platz in einer größeren Pflanzengemeinschaft haben und ihre Verteilung durch Temperatur, Höhe und Bodenbeschaffenheit bestimmt wird.[23] Seine sowohl auf eigenen Messungen während seiner Amerikareise als auch auf der Arbeit anderer, wie des kolumbianischen Naturforschers Francisco José de Caldas, beruhenden Ideen zu einer Geographie der Pflanzen – die zuerst 1805 auf Französisch erschienen – waren ein »Meilenstein des ökologischen Denkens, da sie Klima und Botanik auf systematische Weise miteinander verbanden«.[24] Viele der von ihm und anderen beobachteten Phänomene warfen besorgniserregende Fragen auf: Verursachte die Abholzung einen Klimawandel? Was bewirkte die Bodenerosion? War die »Ökonomie der Natur« (Carl von Linné) stets selbstkorrigierend, oder hatten menschliche Überfischung und Überjagung nachteilige Folgen? Der Druck, der auf bestimmte Spezies ausgeübt wird, tauchte als neues Thema auf.
Werfen wir einen Blick auf die deutschen Wissenschaftler der russischen Nordpazifikexpedition in den 1790er-Jahren, auf der selbst dem nicht allzu aufmerksamen Merck der Gedanke kam, dass die Bestände an Seeottern und Robben nicht unerschöpflich waren. Langsdorffs Kritik ein Jahrzehnt später fiel deutlich schärfer aus, obwohl er andererseits den Walfang befürwortete und glaubte, die Jagdquoten anderer Arten, wie der Papageitaucher, könnten erhöht werden. Weitere zehn Jahre später äußerte auch Chamisso sich besorgt über das Schicksal der Seeotter und Robben.[25] Er scheint als Einziger der drei eine emotionale Beziehung zu den betreffenden Geschöpfen aufgebaut zu haben. So entdeckte er auf einem Strand der Pribilof-Inseln eine neugeborene Robbe und streichelte sie, bis das Vatertier ihn verjagte.[26] (Nicht überliefert ist, ob Chamisso seine Pfeife im Mund hatte, die er nur selten beiseitelegte.) Langsdorff indes hat am intensivsten über das Problem der Ausrottung nachgedacht. Am Ende des 18. Jahrhunderts waren nur wenige von dem Gedanken überzeugt. Wenn eine Tierart an einem Ort verschwand, war sie vielleicht nur anderswohin gewandert; vielleicht war sie auch »transmutiert«. Man glaubte, dass irgendwo wieder ein Dodo auftauchen könnte; einige der bekanntesten Fälle des Artensterbens, wie derjenige der Wandertaube, lagen allerdings noch in der Zukunft. Aber neuere Fossilienfunde deuteten auf Artensterben in der Vergangenheit hin. Der französische Geologe Georges Cuvier veröffentlichte 1796 einen bahnbrechenden Aufsatz darüber.[27] Joseph Banks gehörte zu denen, die sich dem Gedanken annäherten. Dabei spielte Langsdorff eine Rolle. Nach seiner Rückkehr von der Krusenstern-Expedition erklärte er, nach seiner Ansicht habe Stellers Seekuh dasselbe Schicksal ereilt wie den »Dudu«, das Mammut und den fleischfressenden Elefanten, dessen Knochen in Ohio gefunden worden waren, und müsse »in die Reihe der aus dem Thierreich ausgestorbenen Geschöpfe« gerechnet werden.[28] Schon vor dem Ende der Reise hatte er Blumenbach, seinem Göttinger Mentor, darüber geschrieben, einem der wichtigsten Verbreiter wissenschaftlicher Ideen, der als Naturforscher bereit war, den Gedanken des Aussterbens in Erwägung zu ziehen.
Waren deutsche Naturforscher aufgrund ihrer »Außenseiterstellung« eher als andere bereit, schwierige Fragen zu stellen?[29] Auf jeden Fall waren sie eine bemerkenswert mobile, um nicht zu sagen »entwurzelte« Gruppe. Humboldt verbrachte 25 Jahre in Paris, bevor er widerstrebend nach Berlin zurückkehrte; Forster starb als enttäuschter Revolutionär in Paris; und Chamisso war als Sohn eines französischen adligen Emigranten, der sich in Deutschland niederließ, in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Viele der in Russland tätigen deutschen Naturwissenschaftler kehrten erst am Ende ihres Lebens nach Deutschland zurück, nachdem sie ihre produktivsten Jahre im Ausland verbracht hatten. Daneben gab es den ethnischen Deutschen Ludwig Choris, der nach seiner Rückkehr von Kotzebues Weltumsegelung in Paris lebte, wo er sich als Illustrator wissenschaftlicher Schriften etablierte, bevor er in Mexiko, wohin er gereist war, um für das Musée des Jardins des Plantes Pflanzen zu zeichnen, von Banditen ermordet wurde. Dieses Wanderleben mag bei manchen eine kritische Distanz verschärft haben. Aber Patronage konnte auch Offenheit verhindern, wie im Fall von Peter Pallas. Auf jeden Fall gehörten sie alle einem internationalen Netzwerk von Naturforschern an. Fragen über unwillkommene Folgen der menschlichen Herrschaft über die Natur wurden auch von dem Briten Lord Kames, dem Finnen Pehr Kalm oder dem Franzosen Philibert Commerson gestellt. Die deutschen Naturforscher waren Bürger dieser weiteren Welt. Zudem ist kaum zu übersehen, dass der Vorwurf schlechten Umgangs mit den Naturressourcen von deutschen Naturforschern gegen andere Reiche erhoben wurde, die sie als rabiat und räuberisch ansahen. Diesem Muster begegnet man auch in deutschen Äußerungen über die Behandlung indigener Völker.
Die großen See- und Landexpeditionen dieser Epoche sollten nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern auch Menschen erforschen, um eine »große Karte der Menschheit« zu erstellen.[30] In den Instruktionen für Cooks zweite Reise von 1772 hieß es unter anderem: »Sie sollen ebenfalls das Talent, das Temperament, die Veranlagung und die Anzahl der Eingeborenen oder Einwohner, falls es welche gibt, beobachten und sich mit allen geeigneten Mitteln bemühen, eine Freundschaft und ein Bündnis mit ihnen einzugehen.«[31] Dies war nichts anderes als Ethnografie, an deren Entwicklung als Wissenschaft deutsche Forschungsreisende großen Anteil hatten. Georg Forster und seinen Vater, Johann Reinhold, die Cook auf dessen zweiter Reise begleiteten, kann man mit Fug und Recht als die herausragenden Ethnografen des Pazifikraums im späten 18. Jahrhundert bezeichnen, und Chamisso nahm diese Stellung im frühen 19. Jahrhundert ein. Tatsächlich war die Ethnografie eine deutsche Erfindung. Gerhard Friedrich Müller, einer der deutschen Teilnehmer der zweiten Kamtschatka-Expedition, die 1733 begann, systematisierte als Erster die Praxis dessen, was er »Völker-Beschreibung« nannte. Ein anderer Deutscher, Johann Friedrich Schöpperlin, prägte den Begriff ethnographia.[32] Wie der Inventarisierung von Flora und Fauna lagen auch dieser Forschung strategische und materielle Motive zugrunde. Ob die Repräsentanten ihrer Reiche nun mit Schiff oder Schlitten an ihren Zielort gelangten, sie hingen von örtlichem Nachschub und Wissen ab. Gleichzeitig trafen die Reisenden – wie ihre Vorläufer bei früheren Begegnungen – auf Dinge, die ihnen völlig unbekannt waren, ob es sich nun um Gesellschaftsorganisation, Ehrvorstellungen und Werte, Körperzeichnungen oder Sexualitätsformen handelte. Und dies veranlasste sie zu Vergleichen mit der eigenen Zivilisation, die manchmal selbstgefällig, manchmal aber auch kritisch ausfielen.
Deutsche neigten zur Kritik. Ein Thema, das viele von ihnen beschäftigte, war die Existenzbedrohung, der indigene Völker, die in Kontakt mit expandierenden europäischen Reichen kamen, ausgesetzt waren. Ein Beispiel dafür sind die Berichte deutscher Teilnehmer der russischen Nordpazifikexpedition. Merck, Langsdorff und Chamisso erwähnten allesamt die schrumpfende Zahl von Aleuten, Alutiit und Kamtschadalen.[33] Sie vermuteten einen Zusammenhang mit bedrohten Tierarten, womit sie wiederum auf die Gefahr des Aussterbens von Spezies hinwiesen. Aus einem anderen Teil der Welt brachte Alexander von Humboldt eine anrührende Anekdote zum Thema mit, die von einem Papageien aus Atures berichtet, der als einziges Lebewesen noch die Sprache eines ausgestorbenen Stammes sprechen konnte. Diese Geschichte blieb auch Charles Darwin im Gedächtnis haften.[34] Vater und Sohn Forster kritisierten stets, was den pazifischen Völkern angetan wurde; sie befürchteten, dass sie entwürdigt, verdorben und zu einer der unschönsten europäischen Angewohnheiten, dem Gefallen am Luxus, verführt werden würden.[35] Besonders eine Form des Austauschs missbilligten sie: sexuelle Beziehungen zwischen Europäern und Einheimischen. Johann Reinhold beklagte deren langfristige Folgen, die »allgemeine Verwüstung«, die von sexuell übertragenen Krankheiten verursacht werde.[36] Georg bemerkte traurig, »daß unsre Bekantschaft den Einwohnern der Süd-See durchaus nachtheilig gewesen ist« und diejenigen »am besten weggekommen sind, die sich immer von uns entfernt gehalten« und so der »Liederlichkeit« der Seeleute auswichen.[37] Eine Episode sexueller Begegnung, die ihn abstieß, ereignete sich im Mai 1773 in dem von ihm so genannten Charlotten-Sund in Neuseeland zwischen den Männern eines von Cooks Schiffen, der Revolution, und Maori-Frauen. Er verurteilte sowohl die Matrosen als auch die indigenen Männer, welche ihre weiblichen Verwandten anboten: »Ob unsre Leute, die zu einem gesitteten Volk gehören wollten und doch so viehisch seyn konnten, oder ob jene Barbaren, die ihre eignen Weibsleute zu solcher Schande zwungen, den großten Abscheu verdienen? ist eine Frage, die ich nicht beantworten mag.«[38]
Die Empörung war zweifellos echt, aber man muss tiefer graben. Im Charlotten-Sund verteilte Forster nicht nur seinen Abscheu auf beide Seiten, indem er sowohl Matrosen als auch Maori-Männer verurteilte. Wenn er angesichts der von ihm wahrgenommenen Unreinlichkeit der Maori-Frauen anmerkte, es sei »zum Erstaunen, daß sich Leute fanden, die sich auf eine viehische Art mit solchen ekelhaften Creaturen abzugeben im Stande waren«, schwang auch ein ästhetisches Urteil mit. (Über tahitische Frauen machten er und sein Vater ähnlich geringschätzige Bemerkungen.)[39] Wäre die »viehische« Befriedigung weniger »zum Erstaunen« gewesen, wenn die Frauen weniger »ekelhaft« gewesen wären?[40] Es ist nicht klar, wo Forster stand. Auch was die »Unschuld« der indigenen Völker betraf, schwankte er. Einmal zeigt er uns den »edlen Wilden«, ein andermal betont er die aufklärerische Überzeugung, dass die europäische Art des materiellen Konsums und Austauschs eine notwendige Voraussetzung einer kritischen Zivilgesellschaft sei.[41] Wie sein Vater war er erschrocken, wenn er feststellte, dass indigene Völker »ganz ohne Neugierde zu seyn« schienen.[42] Nicht zuletzt ist ein Reflex zu bemerken, dem wir bereits begegnet sind: die Schuld anderen Reichen zuzuschieben, während man als Deutscher über allem schwebt. Dies war ein verbreitetes Denkmuster unter deutschen Naturforschern in Russland und in deutschen Kommentaren über die Kolonisierung in Mittel- und Südamerika.[43] Diese moralische Überheblichkeit, die vermeintlich interesselose »Neugierde«, anstelle des »vulgären« Geschäfts oder »viehischer« Triebe, war sicherlich ein Grund, warum der »ausländische Gentleman« Johann Reinhold Forster von den britischen Offizieren und Matrosen der Revolution von ganzem Herzen gehasst wurde.[44] Moralische Überheblichkeit und der gutmütige, aufgeklärte Glaube an die »Menschheit« kommen in einer Passage von Georg Forsters Johann Reinhold Forster’s […] Reise um die Welt zusammen: »Vielleicht werden die Europäer«, schrieb er vorausschauend (im Jahr 1777), »wenn sie dereinst ihre americanischen Colonien verloren haben, auf neue Niederlassungen in entferntern Ländern bedacht seyn; mögte nur alsdenn der Geist der ehemaligen Entdecker nicht mehr auf ihnen ruhen! Mögten sie die einheimischen Bewohner der Süd-See als ihre Brüder ansehen, und ihren Zeitgenossen zeigen, daß man Colonien anlegen könne, ohne sie mit dem Blut unschuldiger Nationen beflecken zu dürfen!«[45]
Hinter der Ethnografie – der Beschreibung und Klassifizierung jüngst »entdeckter« Völker – lauerte das Element der Rasse. Welchen Namen sollte man diesen Untergliederungen der Menschheit geben? Waren sie Stämme, Nationen, Gattungen, Klassen, Ordnungen, Varietäten, Familien oder Rassen? Der Gedanke von Rasse und rassischer Unterscheidung war spätestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts im Schwange, aber genauer dargelegt wurde er erst in den letzten Jahrzehnten des folgenden Jahrhunderts, und es waren Deutsche, die dies unternahmen. Dieser Ursprungsmoment steckt voller Paradoxe, angefangen damit, dass der »Begriff der Rasse Kants Namen trägt«, dass sein Haupterfinder jemand war, der auf exemplarische Weise die aufklärerische Rationalität verkörpert.[46] Er trug ganz allgemein zur zeitgenössischen europäischen Debatte über die Klassifizierung von Menschen bei, wobei er insbesondere auf das Wiederaufleben der Polygenese-These einging, nach der die Vielfalt der Menschheit derart groß sei, dass sie unmöglich allein von Adam und Eva abstammen könne. Auf die Polygenese bezogen sich sowohl Gelehrte wie Lord Kames und Verteidiger der Sklaverei – nach deren Ansicht Schwarze einer anderen, minderwertigen Spezies angehörten – als auch entschiedene Gegner der Sklaverei, wie Georg Forster. Kant lehnte die Polygenese ab, weil sie der biblischen Erzählung widersprach und weil er ihre Verfechter für unseriös hielt. Die »wissenschaftliche« Rassentheorie begann also als Verteidigung deutscher professioneller Ernsthaftigkeit und des Ersten Buch Mose gegen Argumente zeitgenössischer britischer Sklavenhalter. In seinem Aufsatz »Von den verschiedenen Rassen der Menschen« von 1775 stellte Kant sich auf den Standpunkt, dass die Menschheit einen einzigen Ursprung habe (Monogenese) und definierte Rasse als »Abartung« eines Stammes, die durch »erbliche Verschiedenheiten« bestimmt sei, »welche sich […] in langen Zeugungen unter sich beständig erhalten«. »Keime« dieser Verschiedenheiten, die in allen Menschen vorhanden seien, würden durch Klima und Umwelt aktiviert, aber nachdem dies geschehen sei, seien die Resultate unumkehrbar und träten in den vier oder fünf menschlichen Rassen, die sich durch ihre jeweilige Farbe unterschieden, zutage.[47]
Kants Auffassung wurde von bedeutenden Figuren kritisiert, unter anderen von Georg Forster und einem seiner eigenen ehemaligen Schüler, Johann Gottfried Herder, die beide die Existenz von Rassen verneinten, von dauerhaft fixierten Eigenschaften ganz zu schweigen, und für ein breiteres Verständnis der menschlichen Vielfalt und ein Kontinuum der Hautfarben plädierten. »Die Farben verlieren sich ineinander«, schrieb Herder.[48] Aber Kants wichtigster Gesprächspartner war Johann Friedrich Blumenbach, der aufsteigende junge Göttinger Naturforscher, dessen Dissertation Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte im selben Jahr wie Kants Aufsatz erschienen war.[49] Der Blumenbach, dem wir früher begegnet sind, als er am Anfang des 19. Jahrhunderts mit Georg von Langsdorff über der Frage des Aussterbens brütete, war bereits zu einer mächtigen Figur in Göttingen geworden.[50] 1775 war er gerade einmal 23 Jahre alt; allerdings sollte er schon drei Jahre später zum Professor ernannt werden. Er kannte sich viel besser als Kant in Naturgeschichte und Anatomie aus und hatte zudem Zugang zu der einzigartigen Sammlung von Reiseberichten, die seine Universität besaß. Die Polygenese lehnte er ebenso strikt ab wie Kant, unterschied sich aber in vielen Einzelpunkten von diesem. Er war skeptisch, was die Hautfarbe als hervorstechendes Kennzeichen von Rassen betraf, und kam den von Herder und Forster vorgebrachten Argumenten nahe, wenn er die große Vielfalt der Menschheit einräumte: »Bei genauer Betrachtung sieht man, dass alle ineinander fließen und dass eine Varietät der Menschheit so unmerklich in die andere übergeht, dass man keine Grenzen zwischen ihnen abstecken kann.«[51] Andererseits hielt er die Untersuchung der Schädelform für einen vielversprechenderen Forschungsweg, und dieser komparativ-morphologische Ansatz sollte im 19. Jahrhundert zum vorherrschenden werden. Kant und Blumenbach ließen sich gegenseitig Raum und machten Anleihen beieinander. Kant hatte einen schärfer gefassten Rassenbegriff, während Blumenbach ihm zu größerer Verbreitung unter Wissenschaftlern verhalf. Beide änderten ihre Ansichten und achteten auf Beweise; ein Historiker hat ihre Schlüsseltexte als »vorsichtig, sondierend und sogar zweideutig« beschrieben.[52]
Keiner von beiden vertrat die Auffassung, dass es »überlegene« und »minderwertige« Rassen gebe. Blumenbach betonte vielmehr ausdrücklich die Gleichheit der Rassen und beschrieb die Hautfarbe als »zufällig und leicht veränderbar«.[53] Der »am wenigsten rassistische und genialste aller aufklärerischen Denker«, wie der amerikanische Autor Stephen Jay Gould Blumenbach genannt hat, hatte in seinem Haus eine spezielle Bibliothek von schwarzen Autoren eingerichtet; insbesondere die Dichterin Phillis Wheatley, eine Sklavin aus Boston, hatte es ihm angetan.[54] Dennoch erklärte er in der dritten Ausgabe seiner Schrift Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte die »kaukasische« Varietät – der Begriff »kaukasisch« stammt von ihm – zur »ursprüngliche[n] Race«, die »[ü]berhaupt von jener, nach unsern Begriffen von Ebenmaas, reizenden und schönen Gesichtsform« sei.[55] Das hier angesprochene Wir bezieht sich natürlich auf weiße Europäer, und man sollte in diesem Zusammenhang die enorme Wirkung der kunsthistorischen Schriften Johann Joachim Winckelmanns nicht außer Acht lassen, in denen die weiße Farbe der griechischen Statuen zum Maßstab der Schönheit, deren äußere Form angeblich die innere Qualität widerspiegelte, gemacht wurde.[56] Dass weiße oder helle Haut schöner sei als anders gefärbte Haut, wurde zu einem impliziten Werturteil selbst bei vielen, die wie Herder und Georg Forster explizite Verfechter der Gleichheit der Menschen waren, ebenso wie sich Vorurteile über die »Kindlichkeit« amerikanischer Indianer oder die »Sinnlichkeit« von Schwarzen selbst in Texten versteckten, die eigentlich eine andere Botschaft haben.
Andere Deutsche gingen jedoch weiter, indem sie eine Rassenhierarchie errichteten, an deren Spitze sie ausdrücklich die Weißen stellten. Der in Göttingen ausgebildete Anatom Samuel Thomas Soemmering, der die Leichen von Afrikanern sezierte, die in Mou-lang gestorben waren oder sich das Leben genommen hatten, verglich ihre Körper mit denen von Orang-Utans und Mandrills, die er ebenfalls seziert hatte. In seinem 1784 veröffentlichten Buch Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer erklärte er, der Schluss sei »nicht unbillig noch ungegründet«, dass »im allgemeinen, im Durchschnitt, die afrikanischen Mohren doch in etwas näher ans Affengeschlecht, als die Europäer gränzen«.[57] Er wurde von Blumenbach scharf angegriffen, hatte aber für seine offen rassistische Argumentation von diesem geschaffene Werkzeuge benutzt. Darüber hinaus wurde er von Kant zitiert.[58]
Eine noch berüchtigtere Figur als Soemmering ist Christoph Meiners, ein weiterer Göttinger Professor – der in dem Jahr berufen wurde, als der fünf Jahre jüngere Blumenbach seine Dissertation fertigstellte. Meiners pflegte Erkenntnisse anderer Gelehrter zusammenzufügen und in populärer, vereinfachter Form, aber scheinbar gelehrter Aufmachung, mitsamt Meinungsstreit und Fußnoten, darzubieten. In seinen Schriften zum Rassenthema vermengte er Fakten über Schädel, Haare und Hautfarbe mit ästhetischen Urteilen und zog daraus triumphal rassistische Schlüsse, beispielsweise in dem Aufsatz »Ueber die Natur der Afrikanischen Neger, und die davon abhangende Befreyung, oder Einschränkung der Schwarzen«, der 1790 in einer von ihm selbst mitherausgegebenen Zeitschrift erschien und in dem er Schwarze für minderwertig und der Emanzipation unwürdig erklärte – und die Juden im selben Atemzug gleich mit.[59] Andere Schriften mit derselben Tendenz folgten, wie 1792 der Aufsatz »Über den Haar- und Bartwuchs der hässlichen und dunkelfarbigen Völker«. Meiners hatte seine Anhänger, wurde aber von vielen seiner Göttinger Professorenkollegen, mit Blumenbach allen voran, verachtet und mit Kritik überzogen.[60]
Wie der zweite Teil des Aufsatztitels von 1790 andeutet, bildete die Debatte über die Sklaverei den Hintergrund der Rassendiskussion. Diese europaweite Debatte verschärfte sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, während gleichzeitig der Umfang des Sklavenhandels über den Atlantik hinweg zunahm. Zwei Breitseiten geben einen Eindruck davon, wie stark die deutsche Ablehnung der Sklaverei sein konnte. Der Autor und Kameralist Johann Heinrich Gottlob Justi veröffentlichte 1762 eine scharfe Verurteilung der Sklaverei. Er kritisierte zunächst Habgier und Landhunger der Europäer, um dann fortzufahren: »Das Unglück, welches wir Europäer durch dergleichen Betragen in allen drey Welttheilen verursachet haben, kann nicht überdacht werden, ohne die menschliche Natur erzitternd zu machen. Wir haben ganz Amerika entvölkert. […] und wir werden bald Africa gleichfalls entvölkern, ohne daß wir America wieder bevölkern.«[61] Zehn Jahre später stieß Johann Reinhold Forster bei der Übersetzung des Reiseberichts des französischen Weltumseglers Louis Antoine de Bougainville auf dessen Feststellung, man entdecke auf der Isle de France (Mauritius) »Ehrgefühl zusammen mit Sklaverei«, und reagierte mit einer wütenden Übersetzeranmerkung: »Die Sklaverei trachtet danach, alle Gefühle der Ehre auszurotten und zu ersticken, die nur in der Brust eines wirklich freien Menschen wirken können; wahre Ehre und Sklaverei stehen daher in direktem Gegensatz zueinander und können so wenig wie Feuer und Wasser miteinander verbunden werden.« Bougainville habe sich, so Forster, entweder von dem Wunsch leiten lassen, die Sklaverei weniger unerträglich erscheinen zu lassen, oder sich, was noch schlimmer sei, »von dem Drang, etwas Außergewöhnliches und Paradoxes zu sagen, mitreißen« lassen.[62] Georg Forster lehnte die Sklaverei ebenso leidenschaftlich ab wie auch sein Schwager Matthias Christian Sprengel, der 1779 in seiner Göttinger Antrittsvorlesung den Sklavenhandel scharf verurteilte.[63] Aber nicht nur führende Intellektuelle, sondern auch die meisten aufgeklärten, gebildeten Deutschen, die in Freimaurerlogen, Lesegesellschaften und Kaffeehäusern zusammenkamen, verabscheuten die Sklaverei.
Die Französische Revolution veränderte alles, weil sie die Debatte über Rechte und darüber verschärfte, wer, um mit Hannah Arendt zu sprechen, »das Recht [hat], Rechte zu haben«.[64] Besaßen Frauen die von der französischen Nationalversammlung im August 1789 verkündeten »Rechte«? Wie sah es bei Schwarzen aus? Frankreich schaffte die Sklaverei 1794 ab – und Napoleon erlaubte sie acht Jahre später wieder –, aber erst nachdem sie 1791 durch einen erfolgreichen Sklavenaufstand auf Saint-Domingue bereits abgeschafft worden war. Dänemark verbot den Sklavenhandel 1792. Großbritannien und die Vereinigten Staaten folgten 1807; in Letzteren und anderswo blieb die Sklaverei als solche allerdings erlaubt. Sie wurde zu einem Kernthema der philosophischen, juristischen und anthropologischen Debatten an diesem historischen Wendepunkt, zu einem Fokus vieler Anliegen, von denen manche – in Bezug auf Geschlecht und Sexualität zum Beispiel – implizit oder knapp unter der Oberfläche blieben. Dies traf insbesondere für die Ereignisse auf Saint-Domingue zu, dem künftigen Haiti. »Die Augen der Welt sind jetzt auf St. Domingo […] gerichtet«, begann im Jahr 1804 ein Artikel in der Zeitschrift Minerva, die 13 Jahre zuvor über den Sklavenaufstand zu berichten begonnen und die Namen Toussaint-Louverture und Jean-Jacques Dessalines einem deutschen Publikum bekannt gemacht hatte.[65] Die Ereignisse in Haiti allein gaben Anlass für Hunderte von Schriften deutscher Autoren, von journalistischen Kommentaren über Geschichtswerke bis zu Dramen und historischen Romanen; hinzu kam eine Vielzahl von Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen.[66]
Deutsche diskutierten aus ihrem eigenen Blickwinkel über die Sklaverei. Ein Beispiel ist das Drama Die Negersclaven. Ein historisch-dramatisches Gemählde in drey Akten von 1796. Der Autor war August von Kotzebue, der Vater des baltendeutschen Weltumseglers, der, sowohl was den Nachwuchs (18 Kinder) als auch was den literarischen Ausstoß (44 Bände) betraf, äußerst produktiv war. Sein Stück wurde umgehend ins Englische übersetzt, und der Übersetzer widmete seine Fassung dem führenden englischen Abolitionisten seiner Zeit, in der Hoffnung, er würde erkennen, »dass die Deutschen den Namen Wilberforce mit Recht verehren«.[67] Kotzebue selbst forderte Theaterbesucher und Leser auf, »dieses Stück nicht bloß als Schauspiel zu betrachten«. Es sei vielmehr »bestimmt, alle die fürchterlichen Grausamkeiten, welche man sich gegen unsre schwarzen Brüder erlaubt, in einer einzigen Gruppe darzustellen«.[68] Auf den ersten Blick waren Die Negersclaven ein eindeutig abolitionistisches Stück, wie andere von Deutschen in diesen Jahren verfasste literarische Werke auch, und setzten die aufklärerische Denktradition fort. In gewissem Umfang trifft dies auch zu. Selbst die erotisch aufgeladene Geschichte eines grausamen weißen Sklavenhalters, der sich durch eine schwarze Sklavin sexuell angezogen fühlt, war ein vertrautes Thema. Aber zwei wichtige Subtexte sind erwähnenswert. Zum einen benutzte Kotzebue, der aus dem baltischen Landadel stammte, das Thema der Sklaverei in der Karibik wahrscheinlich, um indirekt Kritik an harten Formen der Knechtschaft in Mitteleuropa zu üben. Dies war ein übliches Muster zeitgenössischer deutscher Schriften über die Sklaverei, ob sie nun in der atlantischen Welt oder der Antike spielten.[69] Zum anderen nahm Kotzebue, wie andere deutsche Autoren, den Sklavenhandel aufs Korn, weil er sich in den Händen von Nichtdeutschen befand – obwohl, wie oben erwähnt, auch deutsche Kaufleute an ihm beteiligt waren. Darüber hinaus wirft sein Stück, zumindest andeutungsweise, die Frage auf, ob Deutsche, wenn sie Kolonien hätten, nicht freundlichere, verantwortungsvollere Herren wären.[70]
Deutlicher angesprochen wird dieses Thema in einem anderen zeitgenössischen Theaterstück, Friedrich Döhners Des Aufruhrs schreckliche Folge, oder Die Neger von 1792. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine stärker normverletzende Liebesbeziehung zwischen Marie, der Tochter eines französischen Sklavenhalters, und Omar, einem edlen Sklaven. Sie heiraten, aber Omar wird getötet, als er seinen Vater gegen einen gewalttätigen Übergriff von Weißen verteidigt, und Marie tötet sich selbst. Obwohl vom Ansatz her aufklärerisch und kosmopolitisch, ist die Auflösung des Stücks paternalistisch. Das Ideal verkörpert ein anderer Sklavenhalter, der freundliche Deutsche Fleri. »Es ist nicht die weiße Farbe, was euch empört«, beschwört Omar seine Mitsklaven, um deren unterschiedslose antiweiße Haltung zu besänftigen, »unsere Vorväter hielten sie einst für die Farbe der Götter – sondern die harte, grausame Art, womit einige von Ihnen die Unsern behandeln; nicht Alle, oder ist einer von des braven Fleris Sklaven unter euch, einer von einem deutschen Pflanzer! (Pause, während welcher Omar den Kreis durchsieht) Keiner […]!«[71]
Die Geschehnisse in Saint-Domingue wurden zu einer Vorlage, die es Deutschen ermöglichte, ihre eigenen Antworten auf eine Welt in Aufruhr durchzuspielen. Die Fesseln der Sklaverei abzuwerfen wurde für Deutsche zu einer Analogie ihres eigenen Widerstands gegen die »Versklavung« durch Napoleon. Diese Überzeugung von einer deutschen Opferrolle sollte im 20. Jahrhundert erneut virulent werden. Vorerst mutierte der Sklavenaufstand unter Hegels Blick zu etwas ähnlich Explosivem: zum Fundament einer politischen Philosophie, deren Echo in den nächsten zwei Jahrhunderten nachhallen sollte. Es ist seit Langem allgemein anerkannt, dass Hegels erstes großes Werk, die Phänomenologie des Geistes, die er 1806 in Jena genau in dem Moment fertigstellte, als Napoleon mit seinen Truppen in die Stadt einmarschierte, vor dem Hintergrund sowohl der Französischen Revolution als auch der neuen Arbeitsteilung, die Adam Smith im Wohlstand der Nationen beschrieben hatte, entstand – dass es sich, anders ausgedrückt, mit den großen politischen und sozialen Themen der Zeit beschäftigte. Nach Ansicht der Historikerin Susan Buck-Morss hat der Sklavenaufstand in Saint-Domingue Hegel zu der berühmten Passage über die Beziehung zwischen Herr und Knecht angeregt, in der er ausführt, dass der Knecht notwendigerweise zum Bewusstsein seiner Unterdrückung gelangt.[72] In späteren Schriften sollte Hegel Afrikaner aus eurozentrischen Gründen von der »Weltgeschichte« ausschließen – im »Hauptteile von Afrika kann eigentlich keine Geschichte stattfinden«[73] –, aber der in der Phänomenologie beschriebene Prozess der Selbstbewusstwerdung einer Klasse war geistig revolutionär und bildete eine wesentliche Grundlage der späteren Theorie von Karl Marx.[74]
Schwierig, verwickelt und schnell geschrieben, war die Phänomenologie des Geistes für Hegel eine »Entdeckungsreise«.[75] Da in ihr viele Gestalten und Formen des menschlichen Bewusstseins untersucht werden, ist sie als Ursprung von Theorien über alles Mögliche, vom Tod Gottes bis zum Ende der Geschichte, interpretiert worden. Außer Zweifel steht die Selbstgewissheit ihrer Aussagen. Die Phänomenologie stellt sich den Herausforderungen der »modernen Zeiten« und durchmisst bei der Darstellung der Dilemmas des modernen Lebens ein riesiges Gebiet menschlicher Erfahrung – Gesellschaft, Kultur, Geschichte, Politik, Religion. Die Vorrede kündigt es mit großer Geste an: »Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen […].«[76] Später folgt eine Schlüsselpassage, in der Hegel ausführt, dass die Revolution von Frankreich nach Deutschland gewandert sei und die Deutschen im Geist vollenden würden, was die Franzosen in der Praxis begonnen und teilweise erreicht hätten. Das Neue der Revolution werde vollendet, indem die Philosophie es übernehme, wo die Politik es fallen gelassen habe.[77] Eine kühnere Selbstbehauptung eines jener berühmten »Dichter und Denker« und eine direktere Herausforderung derjenigen, die meinten, die Deutschen würden bloß denken, ohne zu handeln, ist kaum denkbar. Bloß? Verändern Ideen nicht die Welt? Hegel war nicht der Einzige, der an ihre Kraft glaubte.
Wie viele deutsche Zeitgenossen führte er die moderne Revolution im Denken auf eine Quelle zurück: Immanuel Kant. 1795 hatte Hegel selbst geschrieben: »Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung erwarte ich eine Revolution in Deutschland […].«[78] Zwei Jahre zuvor hatte Johann Gottlieb Fichte – obwohl er wie Hegel ein Anhänger der Französischen Revolution war – die Kantische Revolution im Vergleich mit den Geschehnissen in Frankreich als »das ungleich Wichtigere« bezeichnet.[79] Und der junge Görres, der damals kaum gemäßigter war, schrieb 1797: »Im vorigen Jahrzehnt […] fiel in Deutschland bekanntlich jene Revolution vor, wodurch sich das Land theoretisch um die Kultur der Menschheit beinahe eben so verdient gemacht hat, als Frankreich praktisch; ich meine: die Reformation der Philosophie durch unsern unsterblichen Kant.«[80] Diese Gegenüberstellung sollte zum Allgemeinplatz werden. Den brillantesten, wenn auch unfairen Ausdruck fand sie drei Jahrzehnte später durch den Dichter und Essayisten Heinrich Heine, der Vergleichspunkte zwischen Kant und Robespierre fand: Beide hätten die gleiche unerbittliche Ehrlichkeit und das gleiche tief sitzende Misstrauen besessen, und beide seien dem Temperament nach geborene Spießbürger, von der Natur dazu »bestimmt, Kaffee und Zucker zu wiegen«. Stattdessen habe der eine, Robespierre, »Anfälle von Zerstörungswut« ausgelebt und sei der andere, Kant, zum »Zerstörer im Reiche der Gedanken« geworden, der »an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf«.[81]
Ein führender heutiger Philosoph hat das Erscheinen von Kants erstem großen Werk, der Kritik der reinen Vernunft, mit einem »Blitzschlag« verglichen, der die alte Metaphysik umstürzte und einen neuen Begriff in das Vokabular einbrachte, mit dem moderne Europäer über ihr Leben sprechen konnten: Selbstbestimmung.[82] Dieser Begriff war zentral für Kants Verständnis des rationalen Individuums, das frei von Bevormundung zu leben beschließt. Er bedeutet, in Eric Weitz’ Worten, dass der Einzelne »sich durch die Erlangung von Wissen konstituiert und dadurch sich selbst erkennt und zur Emanzipation fähig wird«.[83] Deshalb begrüßte Kant die Französische Revolution als Zeichen dafür, dass die Menschheit in der Lage war, sich zu emanzipieren. Der Beweis dafür war aus seiner Sicht nicht in den politischen Handlungen der Revolutionäre zu finden, sondern in der Tatsache, dass sie in den Herzen und Köpfen ausländischer Beobachter Sympathie hervorriefen. Deren interesselose Begeisterung konnte, laut Kant, nur als Ausdruck einer »moralischen Anlage im Menschengeschlecht«, einer inneren Fähigkeit zur Freiheit verstanden werden.[84] Aus diesem Grund hob Kant die moralische Autonomie als zentralen Aspekt der Menschheit hervor. Aber Selbstbestimmung unterstrich auch die Rolle des Subjekts beim Erfassen oder Erkennen der physischen Welt.
Kants Leistung lässt sich nicht leicht zusammenfassen. Er trug Wesentliches zu einem breiten Spektrum von Fächern bei, die wir heute als getrennte Disziplinen betrachten, zu Philosophie, Geografie, Anthropologie, internationalen Beziehungen. Er sprach Grundfragen an: Wie nehmen wir etwas wahr? Auf welcher Grundlage treffen wir Urteile? Er plädierte für das ethische Gebot, Menschen nicht als Mittel, sondern als Zweck zu behandeln. Und er entwickelte die Idee einer kritischen Philosophie, die bereit ist, die eigenen Grenzen zu erkunden. Während seine Zeitgenossen in den 1780er-Jahren und danach seine Werke rezipierten, gelangten sie in Übereinstimmung mit seinem eigenen Urteil zu der Ansicht, dass er eine »kopernikanische Wende« in der Philosophie vollbracht hatte.[85]
Kant starb 1804. Seine letzten Worte waren: »Es ist gut.« Die Nachlebenden hatten damit zu tun, seine Hinterlassenschaft durchzuarbeiten: Dinge zu klären, auszuführen, infrage zu stellen. Wie Hegel taten sie es in dem Bewusstsein, dass gleichzeitig eine neue materielle und politische Welt entstand. Es ist unmöglich, über Deutschland und die Geburt der modernen Welt zu sprechen, ohne deutscher Philosophie und humanistischer Gelehrsamkeit, die in dieser Zeit neben Zoologie, Botanik und anderen naturwissenschaftlichen Fächern eine außerordentliche Blüte erlebten, Beachtung zu schenken. Man braucht nur an die berühmten Namen zu denken. Da waren die etablierten Figuren – Herder, Blumenbach, Kant, Fichte –, zu denen man die beiden beherrschenden Literaten der Zeit, Goethe und Schiller, hinzufügen kann, die auch gelehrte Beiträge zu Ästhetik, Geschichte und vielem anderem leisteten. Daneben gab es die vom Aufruhr des späten 18. Jahrhunderts geprägte Generation der zwischen 1767 und 1775 Geborenen, zu denen Hegel, der Philosoph Friedrich Schelling, der Theologe Friedrich Schleiermacher, die Literaturkritiker und Schriftsteller August und Friedrich Schlegel sowie ein weiteres Brüderpaar, Alexander und Wilhelm von Humboldt, gehörten. Sie stehen stellvertretend für viele andere. In der Zeit um 1800 veränderten deutsche Denker die Art, wie wir über Ethik, Religion, Geschichte, Musik, Kunst und Ästhetik, über Arbeit und Beruf sowie über den Platz des Menschen in der Natur denken.
Ausgelöst wurde diese Explosion des Denkens durch die Beschäftigung mit den Implikationen von Kants Revolution in der Philosophie. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Philologie, das Studium der Sprache, das der Schlüssel zu bahnbrechenden deutschen Leistungen auf allen möglichen Gebieten war, von der Bibelkritik bis zur Folkloreforschung.[86] So wie Alexander von Humboldt die Sprache der Natur entzifferte, erkundete sein Bruder die Natur der Sprache.[87] Zusammen mit dem Grammatiker Jacob Grimm (von Märchenruhm) und dem vergleichenden Philologen Franz Bopp trug Wilhelm von Humboldt dazu bei, die Sprachwissenschaft zu revolutionieren.[88] Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie in einem Fach nach dem anderen die Führungsrolle an Deutsche überging. Ein unfehlbares Zeichen dafür war, dass ausländische Gelehrte sich veranlasst sahen, Deutsch zu lernen, wie der Amerikaner Daniel Pickering, der innovative Erforscher amerikanischer Sprachen – oder wenigstens selbstbewusst bekannt zu geben, dass sie es nicht tun würden, wie der englische Philologe Richard Porson, der erklärte, das Leben sei »zu kurz, um Deutsch zu lernen«.[89] Andere begannen sich darüber zu mokieren, dass deutsche Gelehrsamkeit und deutsche Gelehrte jetzt überall zu finden seien. Deutsche Gelehrte waren tatsächlich überall anzutreffen, denn Mitteleuropa brachte mehr Gelehrte hervor, als es selbst brauchte.
Dies hatte einen institutionellen Aspekt: die deutsche Forschungsuniversität. Der beständige Aufstieg der deutschen Universität wird häufig auf die Gründung einer neuen Institution in Berlin im Jahr 1811 – der heutigen Humboldt-Universität – zurückgeführt. Die wirkliche Entwicklung war weniger dramatisch, nämlich eine schrittweise Zunahme der Bedeutung der Wissenschaft. Es trifft zu, dass im 18. Jahrhundert viele deutsche Universitäten gleichsam in Erstarrung verfallen waren, aber selbst damals gab es bedeutende Ausnahmen. Zu ihnen gehörte die 1737 gegründete große »neue« Universität von Göttingen, die ein halbes Jahrhundert auf nahezu unerträgliche Weise vor Selbstzufriedenheit strotzte – »trunken von dem stolzen Gefühl ihrer theils wirklichen, theils nur vorgeblichen oder eingebildeten Vorzüge«, wie ein preußischer Bildungsbeamter – als eine Stimme unter vielen – nach einem Besuch der Universität deren Lehrkörper bescheinigte.[90] Sie hatte allerdings durchaus Grund, mit sich zufrieden zu sein, von ihren Starprofessoren über die Qualität der Lehre bis zu einer herausragenden Bibliothek mit einem modernen systematischen Katalog. Und sie war nicht die einzige Hochburg des Geisteslebens in der Universitätslandschaft des späten 18. Jahrhunderts. Ein Historiker hat eine »akademische fruchtbare Sichel« in Nordwestdeutschland ausgemacht, zu der Göttingen, Halle – eine weitere »neue« Universität –, Jena und Leipzig gehörten.[91] Unterdessen wurde in Berlin in den späten 1780er-Jahren plötzlich eine ganze Reihe von Reformen durchgeführt. Ein für die höhere Bildung zuständiges Ober-Schulkollegium wurde geschaffen und begann eifrig Professoren anzuwerben. Außerdem wurde eine neue – und bis heute durchgeführte – Eignungsprüfung für den Zugang zur Universität eingeführt: das Abitur.[92]
Was also war neu an der 1811 gegründeten Berliner Universität? Warum wird ihre Gründung als Meilenstein gerühmt? Die Antwort ist teilweise im Zeitpunkt zu suchen: Die Universität entstand in der preußischen Reformära, die als Reaktion auf die 1806 erlittene vernichtende militärische Niederlage gegen Frankreich einsetzte. Sie wurde zu einem Symbol der Selbstvergewisserung, das ebenso von Mythen überwuchert ist wie die »nationale Befreiung« auf dem Schlachtfeld.[93] Aber es waren nicht nur Mythen. Trotz aller preußischen und hannoverschen Vorläufer wurde die Berliner Universität zur exemplarischen Verkörperung der Idee der modernen Hochschule. Das heißt, sie brachte die Aufgabe, Staatsbeamte auszubilden, mit anderen Zwecken zusammen: der Förderung des Lernens durch die Kombination von Forschung und Lehre in derselben Institution und dem Streben nach allgemeiner Bildung. Das war in der Tat neu. Wilhelm von Humboldt wird für gewöhnlich das Verdienst angerechnet, 1809 in einer berühmten Denkschrift – die erst Jahrzehnte später veröffentlicht wurde – die Hauptgrundsätze der Universität niedergelegt zu haben. Deshalb spricht man von der »Humboldt’schen Idee« der Universität, obwohl andere bekannte Intellektuelle dieselben Ideen verfochten.[94] Berlin wurde dann wegen der Professoren, die es gewann, rasch berühmter als Göttingen: Fichte, Schleiermacher, Hegel, Schelling und später beide Brüder Grimm. Aber die Berliner Universität war nicht die einzige neue oder so gut wie neue höhere Bildungseinrichtung in Mitteleuropa. 22 deutsche Universitäten schlossen im frühen 19. Jahrhundert die Tore, zogen um oder verschmolzen mit anderen. Die nachnapoleonischen Universitäten waren von bedeutend höherer Qualität. Dazu gehören auch berühmte Namen: Leipzig, Marburg, Heidelberg und Tübingen wurden allesamt gegründet, neu gegründet oder reformiert.[95] Berlin mag im Ausland besondere Bewunderung hervorgerufen haben, aber das deutsche Universitätssystem, das im 19. Jahrhundert weltweit zum Vorbild wurde, war ein dezentrales System miteinander konkurrierender Elemente. Ausländische Studenten strömten weiterhin, außer nach Berlin, auch nach Göttingen, Heidelberg und Leipzig.
Im deutschsprachigen Europa wurden in den Jahrzehnten um 1800 auch für Lernende einer anderen Altersstufe neue Bildungsmuster entwickelt: für Kinder. Während die Engländer die Kinder im 18. Jahrhundert als Verbrauchergruppe entdeckten und Jean-Jacques Rousseau mit Émile (1762) die erste moderne Schrift über Kindererziehung verfasste, gaben Deutsche und Schweizer der neuen Pädagogik einen institutionellen Rahmen, und zwar sowohl in Worten als auch räumlich. Christian Felix Weiße, zum Beispiel, gehörte zu den Schöpfern der Kinderliteratur und gab zwischen 1775 und 1782 mit dem Kinderfreund die erste Zeitschrift für Kinder heraus. Gleichzeitig mit ihm war jemand auf dem Gebiet der Kinderliteratur tätig, dem wir bereits begegnet sind: der Revolutionsfreund und ehemalige Hauslehrer Humboldts, Joachim Heinrich Campe, der nicht nur erzählende und Reisebücher für Kinder und Jugendliche schrieb, sondern auch einen erfolgreichen Schulbuchverlag gründete und eine Erziehungstheorie verfasste.[96] Campe unterrichtete ein Jahr lang am Philanthropinum, einer fortschrittlichen Schule, die der Reformpädagoge Johann Bernhard Basedow 1774 in Dessau gegründet hatte, aber bald verließ, nachdem er mit jüngeren Lehrern in Streit geraten war.[97] Basedow war einer jener »Menschheitsfreunde«, die nur schwer mit Menschen auskommen. Er trat 1778 als Direktor des Philanthropinums zurück, und seine Gründung überlebte kaum seine eigene Lebenszeit. Christian Gotthilf Salzmanns Schule in Schnepfenthal bei Gotha war erfolgreicher. Wie Basedow war Salzmann von Rousseau inspiriert und seinerseits über Deutschland hinaus einflussreich. Eines seiner Bücher wurde von der Feministin Mary Wollstonecraft ins Englische übersetzt.
Eine sogar noch größere Wirkung hatte der Zürcher Pädagoge und Reformer Johann Heinrich Pestalozzi. Im selben Jahr wie Campe geboren (1746), verdankte er der Romantik mehr als die deutschen Reformer, betonte aber wie sie die Notwendigkeit, die Fantasie von Kindern zu fördern. Außerdem waren sich alle darin einig, dass Körperertüchtigung und handwerkliche Fähigkeiten wichtig waren. Pestalozzis Motto, »Lernen mit Kopf, Herz und Hand«, hätten auch Basedow und Salzmann zugestimmt. Dies war der fruchtbare Boden von pädagogischen Reformen, auf dem die wahrscheinlich einflussreichsten deutschen Bildungsmodelle gediehen. Einer von Pestalozzis Schülern war Friedrich Fröbel, der Sohn eines Thüringer Pfarrers. Fröbel unterrichtete 1805 an der Pestalozzi-Schule in Frankfurt am Main, verfasste Schriften über Kindererziehung und gründete eine Reihe von Bildungseinrichtungen in Deutschland und der Schweiz. Dazu gehörte eine »Pflege-, Spiel- und Beschäftigungsanstalt« für Vorschulkinder in Bad Blankenburg, die er später in »Kindergarten« umbenannte. Als Ableger einer bemerkenswerten schweizerisch-deutschen Achse der Reformpädagogik des späten 18. Jahrhunderts hat der Kindergarten seinen Ursprung in Thüringen in den Jahren nach 1816 und erlangte im folgenden Jahrhundert weltweiten Einfluss.
Der Kindergarten und die neue Universität, beides Produkte derselben Epoche, passten nicht recht ins neue Zeitalter des Staatsaufbaus – und zu den Imperativen des Geschäftslebens. Der Kindergarten wurde wegen seiner angeblichen atheistischen Bestrebungen angegriffen, und die Universitäten waren, jedenfalls bis 1848, Zentren politischer Opposition. Beiden Institutionen ging es ums Wissen; darüber hinaus hatten sie die Idee der Wertschätzung des inneren Selbst gemeinsam – der Entwicklung des Kindes im einen Fall, der erwachsenen Selbstbildung oder Bildung im anderen. Tatsächlich war ein wichtiges Element des Selbstverständnisses von Gelehrten in der Ära nach Humboldt die – von der Romantik stammende – Betonung der inneren Werte gegenüber den äußeren Kennzeichen materiellen Erfolgs, die von der »wissenschaftlichen Fabrick« in Göttingen,[98] diesem »großen Handelshaus der Wissenschaften«, so gepriesen wurden.[99] Kindergarten und Humboldt’sche Universität verweisen beide auf eine bestimmte Form des Wissens, die in diesen Jahren zunehmende Aufmerksamkeit auf sich zog: die Wissenserlangung nicht durch Reisen, Erforschung der Natur oder Interpretation von Texten, sondern durch den Blick ins Selbst. Nicht nur Deutsche verfolgten diesen Weg, aber sie spielten eine besonders wichtige Rolle bei der Entwicklung des Begriffsvokabulars, mit dem über das Selbstsein und Subjektivität nachgedacht wurde.
Die Idee des Selbst ist keine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts, erreichte in dieser Zeit aber eine neue Stufe des Interesses. Zu den vielen Anzeichen dafür gehört eine stark ansteigende Zahl von Selbstdarstellungen in Briefen, Tagebüchern und Autobiografien. Deutsche trugen dazu bei, bildeten aber nicht die Speerspitze – die Briten waren große Tagebuchschreiber, und Rousseaus Bekenntnisse hatten wesentlich mehr Einfluss als jede deutsche Autobiografie aus dieser Zeit.[100] Zwar wurde auch in anderen deutschen Werken »die innere Geschichte des Menschen« geschildert, wie Karl Philipp Moritz es über seinen autobiografischen Roman Anton Reiser sagte,[101] aber nur eines hatte eine größere Wirkung: Goethes Briefroman über das emotionale Leben seines Protagonisten Die Leiden des jungen Werthers (1774), ein durchschlagender Erfolg, der seinen jugendlichen Autor zu einer Berühmtheit machte und in ganz Europa ein »Werther-Fieber« auslöste.[102] Von dieser Ausnahme abgesehen, waren Deutsche vor allem auf drei Gebieten des Denkens über das innere Selbst einflussreich. Das erste war die Physiognomik, eine Beobachtungstechnik, die es – angeblich – erlaubte, an der äußeren Erscheinung innere Gefühle abzulesen. Sie wurde am Ende des 18. Jahrhunderts eng mit dem in Zürich geborenen Dichter und Mystiker Johann Kaspar Lavater verbunden, obwohl es deutsche Vorgänger gab. Lavater betrachtete die Physiognomik als eine Methode zur »Beförderung der Menschenkenntniß« und legte in den vier Bänden seiner Physiognomischen Fragmente Techniken dar, mit denen man diese »Wissenschaft der Zeichen der Kräfte« meistern konnte. Daran war zwar vieles dubios und willkürlich, aber es löste in den 1770er- und 1780er-Jahren sowohl in Deutschland als auch in England und Frankreich eine Physiognomik-Manie aus, und die Physiognomik blieb bis weit ins 19. Jahrhundert ein beliebtes Mittel, mit dem man versuchte, in den menschlichen Charakter einzudringen und ihn zu verstehen.[103]
Die Physiognomik war nur ein Strang in einer größeren, häufig verworrenen Entwicklung: der Entstehung der Wissenschaft der Psychologie am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Dies war das zweite Gebiet, auf dem Deutsche erheblichen Einfluss auf das Denken über das Selbst ausübten. Ein spezifisch deutscher Beitrag zur entstehenden Psychologie kam aus der pietistischen Tradition der Selbst- oder Seelenprüfung mit Methoden wie der Traumdeutung.[104] Schlüsselglied in dieser Kette war Karl Philipp Moritz, der Autor von Anton Reiser. In eine pietistische Familie hineingeboren, floh Moritz aus der Lehre bei einem brutalen Hutmacher, erwarb eine akademische Bildung und wurde als Universitätslehrer, Schriftsteller und Freimaurer zu einem typischen Vertreter der Aufklärung. Sein Interesse an der Psychologie wurzelte in seinen sozialen Erfahrungen und seiner pietistischen Herkunft. Er gab das viel gelesene Magazin zur Erfahrungsseelenkunde heraus, das von 1783 bis 1793 erschien und in dem einzelne »Fälle« und ein breites Spektrum von Gefühlen und Handlungen besprochen wurden: Verrücktheit, was es hieß, taub oder stumm geboren zu sein, Todesahnungen, Geschichten von Suiziden und Infantiziden. Träume waren eine wichtige Quelle; manchmal liest sich das Magazin wie eine säkularisierte Form der pietistischen Traumdeutung. Moritz gilt als Vorreiter des klinisch-psychologischen Journalismus in Deutschland, und seine Zeitschrift ebnete anderen in den 1790er-Jahren gegründeten Periodika den Boden.[105]
Moritz war in einer Grauzone zwischen Journalismus und Populärphilosophie tätig. Aber auch die akademischen Philosophen eröffneten in diesen Jahren dem Verständnis des Selbst neue Wege. Dies war der dritte spezifisch deutsche Beitrag zum Denken über das Selbst. In Bezug auf die Psychologie war Friedrich Schelling die wichtigste Figur. Sein Interesse an der Subjektivität brachte ihn dazu, die Psyche zu erkunden und ein neues Vokabular für das Sprechen über sie zu entwickeln, wobei er unter anderem den Begriff des Unbewussten einführte. Auf lange Sicht sollte sein Ansatz, einschließlich der Annahmen darüber, wie Menschen sich erinnern und vergessen, von Sigmund Freud und seinen Nachfolgern aufgegriffen werden.[106] Kurzfristig gelangten seine Ideen rasch über den Ärmelkanal, dank Samuel Taylor Coleridge, der 1798 zusammen mit seinem Dichterfreund William Wordsworth nach Deutschland reiste, wo er unter anderem in Göttingen Vorlesungen von Blumenbach hörte und seinen Kopf mit der deutschen Philosophie des Idealismus füllte.[107] Nach seiner Rückkehr machte er sein neu gewonnenes Wissen nutzbar, indem er das englische Publikum mit deutschen philosophischen und literarischen Ideen bekannt machte – allerdings häufig ohne Herkunftsangabe. Die Einführung von Schellings Begriff des Unbewussten ins Englische ist ein Beispiel dafür.
In den Jahrzehnten nach 1800 spielten Deutsche eine führende Rolle bei der Neugestaltung der Welt des Wissens, das heißt des Wissens sowohl von der Welt als auch vom Individuum – vom »bestirnte[n] Himmel über mir und de[m] moralische[n] Gesetz in mir«, um einen Kernsatz von Kants Kritik der praktischen Vernunft zu zitieren.[108] Kant ging voran, indem er sich philosophisch mit Grundfragen nach der Subjektivität und dem Selbst beschäftigte, und die jüngere Generation führte weiter aus, was er begonnen hatte. Das Selbst war bei Kant allgegenwärtig, als »Selbstbewusstsein«, »Selbsterziehung«, »Selbstbestimmung«, »Selbstverwirklichung«. Dies war, knapp gefasst, die Agenda der Aufklärung. Das denkende Sein kam zuerst, und es war, wie Kant glaubte, ebenso notwendig wie nützlich, unsere eigenen geistigen Fähigkeiten zu erkunden. Aber er misstraute dem Bemühen, »sich belauschen zu wollen«, wie er es ausdrückte, und warnte davor, dem »unabsichtlich dichtende[n] Spiel der Einbildungskraft« zu folgen.[109] Fichte, bei dem die erste Person Singular nie weit weg war, widersprach. Auch Schelling nahm einen anderen Standpunkt ein. Beide waren typische Romantiker, die auf sich selbst zu hören zu einer Lebensweise machten. Man kann dies die Kultivierung der »Innerlichkeit« nennen und darin, ob nun zum Guten oder Schlechten, den Gründungsmoment des modernen Verständnisses von Selbstsein und Authentizität sehen.