Kapitel 7  
Eine Nation unter anderen

Nationale Fantasien

»[U]nsre Nationalität besteht zum Theil in Verläugnung des Nationalen«, beklagt sich Friedrich, der dies als Zeichen dafür ansieht, dass in Deutschland etwas völlig falsch läuft, wenn die Menschen darüber streiten, ob die Nation überhaupt existiere. Sein Freund Wilhelm pflichtet ihm bei: Die »Irrlehre des Kosmopolitismus« sei bei den Deutschen tief verwurzelt. Sie würden mit Freuden ihre Stimmen für Polen, Griechen und Belgier erheben, seien aber zu bescheiden und passiv, wenn es um sie selbst gehe.[1] Friedrich und Wilhelm sind fiktive Figuren, die Paul Pfizer in seinem 1831 erschienenen Buch Briefwechsel zweier Deutschen – dem ein echter Briefwechsel zwischen Pfizer und einem Freund zugrunde lag – auftreten lässt. Pfizer war damals 29 Jahre alt, ein begabter junger Justizbeamter in Stuttgart und tief enttäuschter deutscher Nationalist. Sein Buch wurde zu einer deutschlandweiten Sensation. Er schlug vor, dass Preußen die Führung bei der Vereinigung der Nation übernehmen sollte. Dies erwies sich als prophetisch, aber 1831 war es eine ungewöhnliche Anregung, zumal von einem Süddeutschen. Pfizer bekam die lokale Reaktion zu spüren. Als er ein Jahr später in den württembergischen Landtag gewählt wurde, erschien der König nicht zur Eröffnungssitzung, um nicht den Eid eines solchen Renegaten entgegennehmen zu müssen. Das Buch zerstörte eine vielversprechende Laufbahn, da es Pfizer künftig schwerfiel, weiter im Staatsdienst zu arbeiten. Er bekleidete zwar weiterhin verschiedene Posten, aber sie waren augenscheinlich unter seinem Niveau. In späteren Jahren litt er unter physischen und geistigen Beschwerden. Er lebte gerade lange genug, um den entscheidenden Augenblick auf dem Weg zur deutschen Einheit mitzuerleben, den preußischen Sieg über Österreich im Jahr 1866, der Österreich aus deutschen Angelegenheiten ausschloss und die Grundlage für ein »Kleindeutschland« schuf, wie er es 35 Jahre zuvor gefordert hatte. Obwohl er bereits geistig verwirrt war, soll er befriedigt gewesen sein.[2]

In Pfizers Briefwechsel werden die Hauptthemen angesprochen, an die man im Zusammenhang mit dem deutschen Nationalismus denkt, er enthält aber auch manch Überraschendes. Das von einem philosophisch gebildeten, hochkultivierten jungen Protestanten verfasste Buch nähert sich seinem Thema von einer hohen Warte aus. Die ersten Briefe kreisen um Freiheit und Notwendigkeit, Tod und Unsterblichkeit, bevor die Perspektive sich auf Deutschland verengt. Die Freunde diskutieren über viele erwartbare Themen – die Rivalität zwischen Österreich und Preußen, die Reformation (als Deutschland, wie beide glauben, zum letzten Mal an der Spitze der historischen Entwicklung stand), deutsche Kultur und (eher selten) »deutsches Blut«. Die Briefe durchzieht eine scharfe Kritik an gelehrtenhafter Passivität. Wie jeder gebildete Deutsche dieser Zeit beschwört auch Pfizer Shakespeare. Deutschland sei wie Hamlet: zu viel Gedanke, zu wenig Tat. Aber noch etwas anderes fällt auf: Deutschland wird ständig in den größeren Rahmen der »Weltgeschichte« gestellt und an anderen Nationen gemessen. Manchmal sind es historische Vergleiche – mit dem antiken Athen oder dem Venedig auf dem Höhepunkt seiner Macht –, häufiger jedoch solche mit europäischen Großmächten wie Großbritannien und Frankreich. Manchmal fällt der Blick aber auch zur Seite, auf andere aufstrebende Nationen. »[D]er große Kampf der Gegenwart«, schreibt Wilhelm, »der jetzt die Welt in ihren Grundfesten bewegt und erschüttert, wird um die Existenz und die Rechte der Nationen gekämpft. In diesem Kampf ist zwar Polen dreimal unterlegen, aber Griechenland, Belgien und Irland haben theilweise gesiegt; bald wird Italien nachfolgen, und Deutschland sollte zurückbleiben?«[3]

Diese Beschäftigung mit anderen Nationen war bei deutschen Nationalisten des 19. Jahrhunderts üblich. Nichts war internationaler als die Formierung nationaler Identitäten.[4] Auch Pfizers Klage über das mangelnde Nationalgefühl der Deutschen war nicht neu. 66 Jahre vor ihm hatte ein anderer Stuttgarter Staatsdiener dieselbe Klage geäußert. Friedrich Karl von Moser hatte 1765 anonym ein Buch Von dem Deutschen national-Geist veröffentlicht, in dem er feststellte, den Deutschen fehle trotz gemeinsamer Sprache und Kultur, verglichen mit »Britten, Eydgenossen, Niederländer[n], oder Schweden«, eine »nationale Denkungs-Art«.[5] Das viel gelesene Traktat war ein Anzeichen für das im späten 18. Jahrhundert langsam aufkommende Gefühl einer nationalen Identität. Wir haben oben gesehen, dass die Liebe der Deutschen zu Shakespeare und zur Volksliteratur der Schotten und Isländer häufig antifranzösische Obertöne hatte. Dies machte ein Zeitgenosse Mosers, der Staatsmann und Literat Justus Möser, deutlich, als er gebildete Deutsche 1785 aufrief, sich nicht mehr zu »Affen fremder Moden« zu machen,[6] mit denen nichts anderes als die geistsprühende, vermeintlich oberflächliche französische Denkweise und die raffinierten Objekte der französischen materiellen Kultur gemeint waren. Möser plädierte für eine einfache deutsche »Nationaluniform«, für die sich auch andere aussprachen.[7] In der Literatur und in »patriotischen« Schriften des späten 18. Jahrhunderts wurde die Nation zum Identifikationsobjekt. Das Bekenntnis zur Nation war zwar häufig mit dem Bekenntnis zum Heiligen Römischen Reich oder zu einem einzelnen deutschen Staat, wie Preußen, verknüpft, aber es war da. Sogar die fremdenfeindlichen Töne einer späteren Zeit waren in diesen Schriften gelegentlich schon zu vernehmen.[8] Der deutsche Nationalismus hatte eine längere Inkubationszeit, als man häufig annimmt.[9]

Gleichwohl brachte die napoleonische Besetzung etwas qualitativ anderes hervor. Theodor Körners Gedichte, Fichtes Reden und Ernst Moritz Arndts Schriften sind bekannte Äußerungen dieses neuen Nationalgefühls. Der antifranzösische Furor war, zumindest zu diesem Zeitpunkt, grenzenlos. Heinrich von Kleist dichtete bitter:

»Alle Plätz, Trift’ und Stätten

Färbt mit ihren Knochen weiß;

Welchen Rab und Fuchs verschmähten,

Gebet ihn den Fischen preis;

Dämmt den Rhein mit ihren Leichen […]«[10]

Das Nationalgefühl wurde in Gedichten und Liedern beschworen. Die deutsche Sprache selbst wurde zum Gegenstand einer nationalen »Reinigung«. Einer der Anführer dieser Bewegung war der sanfte Aufklärer Joachim Heinrich Campe, der in seinem zwischen 1807 und 1811 erschienenen mehrbändigen Wörterbuch der Deutschen Sprache 3000 neue Wörter prägte, von denen 300 sich durchgesetzt haben und in Gebrauch geblieben sind. Nach Campes Ansicht stand seine Tätigkeit in der Tradition der Aufklärung, aber dass er neue deutsche Wörter erfand, um (überwiegend) französische zu ersetzen, bedeutete unweigerlich eine »Germanisierung«.[11]

Der Nationalismus fand auch auf andere Weise Ausdruck. Während Dichter einen rabiaten neuen Ton entdeckten, mit dem sie die Franzosen schmähten, verfertigte der Maler Caspar David Friedrich Gemälde über das nationale Thema. Eines von ihnen aus dem Jahr 1812, Grabmale alter Helden, zeigt zwei französische Chasseurs, die auf einen Sarkophag mit einer Inschrift blicken, die Arminius oder Hermann preist, den Anführer der Cherusker, die im Jahr 9 u. Z. in der Varusschlacht im Teutoburger Wald einen Sieg über das Römische Reich errangen. Die Botschaft ist klar: Man würde die Franzosen wie einst die Römer besiegen, denn Hermanns heroischer deutscher Geist sei immer noch lebendig. Die französischen Chasseurs sind winzige Figuren, die fast von der Landschaft geschluckt werden. Auf einem anderen Gemälde Friedrichs aus dieser Zeit, einem seiner berühmtesten, Der Chasseur im Walde, ist ein einzelner französischer Chasseur als in einem dichten Nadelwald verlorene, trostlose Figur zu sehen.[12] In diesen Jahren, als Deutsche die Nation sogar in der Natur verkörpert sahen, schien keine ihrer Ausprägungen deutscher zu sein als der Wald. Hatte Tacitus in Germania die kriegerischen deutschen Stämme nicht als Waldvölker beschrieben? Hatte die Entscheidungsschlacht gegen die »gallischen« Römer nicht im Teutoburger Wald stattgefunden?[13] Die Idee des »deutschen Waldes«, der Antithese zum »naturwidrigen« formalen Garten der Franzosen, wurde zum Bestandteil der geistigen Grundausrüstung deutscher Nationalisten – von manchen jedenfalls.

In diesen Jahren begannen Nationalisten auch sich zu organisieren. Die von Friedrich Ludwig Jahn gegründete Turnbewegung ist ein gutes Beispiel dafür. Der Pfarrerssohn aus Brandenburg führte ein ausgesprochen wechselvolles Leben, bis er als »Turnvater« berühmt wurde. Zwischen 1796 und 1806 studierte er an verschiedenen Universitäten, ohne jemals einen Abschluss zu machen, und arbeitete mehrfach als Hauslehrer. Aber als er sich im Dezember 1809 mit 31 Jahren nach, wie er selbst es ausdrückte, »langen Irrjahren und Irrfahrten« in Berlin niederließ, hatte er keine sichere Arbeit.[14] Anderthalb Jahre später, im Juni 1811, richtete er den ersten Turnplatz in Deutschland ein. Dabei brachte er zwei unterschiedliche geistige Traditionen zusammen. Das Turnen hatte er an Christian Gotthilf Salzmanns Schule in Schnepfenthal, einem Produkt schweizerisch-deutscher Reformpädagogik, kennengelernt. Jahn mischte diesen kosmopolitischen Reformansatz nach dem Motto »ein gesunder Geist in einem gesunden Körper« mit extremem Nationalismus. In einer frühen Schrift, die ihn mit den preußischen Behörden in Konflikt brachte, und in seinem Buch Deutsches Volksthum von 1810 beschäftigte er sich intensiv mit dem Thema der sprachlichen Reinheit. In Letzterem identifizierte er die Vorherrschaft der französischen Sprache als eine Ursache der Unterjochung der Deutschen: »Unglückliches Deutschland! Die Verachtung Deiner Muttersprache hat sich fürchterlich gerächt. Du warst schon längst Dir unwissend durch eine fremde Sprache besiegt, durch Fremdsucht ohnmächtig […]. Diese Sprache hat Deine Männer bethört, Deine Jünglinge verführt, Deine Weiber entehrt.« Männliches Pathos prägte die frühe, quasimilitärische Turnbewegung.[15] Ein Turner strebte danach, »ein deutscher Mann zu werden und geworden zu bleiben, um für Volk und Vaterland kräftig zu wirken«. Wer sich der »Ausländerei« hingab, wurde ausgeschlossen.[16]

Auch die Burschenschaftsbewegung organisierte die Jugend. Sie wurde im Juni 1815 in Jena von Studenten ins Leben gerufen, die im »Befreiungskrieg« in einer Freiwilligeneinheit des preußischen Heeres neben Studenten aus anderen Teilen Deutschlands gekämpft hatten und nach ihrer Rückkehr an die Universitäten enttäuscht darüber waren, dass die Nachkriegsregelungen die Fürsten auf den Thronen ließen und kein vereinigtes Deutschland geschaffen hatten. Jahn war eine der Inspirationsquellen der Burschenschaftsgründer. Die Jenaer Urburschenschaft wählte die rot-schwarz-goldene Fahne der Freiwilligeneinheit als ihre Farben; ihre Mitglieder benutzten im Umgang miteinander das informelle Du, und die Worte »Ehre, Freiheit, Vaterland« wurden zur Parole der Bewegung. In ihren Reihen war viel von Nationalgeist, der Stärkung deutscher Sitten und Moral und insbesondere der deutschen Sprache die Rede. Wie die Turner gaben sich die Burschenschaftler ostentativ männlich, und beide Bewegungen betonten die Bedeutung der Keuschheit. Die Burschenschaftsbewegung übernahm einige äußere Symbole von der Turnbewegung, wie einfache Kleidung, Fahnen, patriotische Lieder und Fackelzüge, fügte ihnen aber auch eigene hinzu, wie Maskeraden. Wie die Turner veranstalteten sie große Zusammenkünfte von Mitgliedern aus verschiedenen Teilen Deutschlands.[17]

Aber was bedeutete es, »national« zu denken? Dies ist weit schwerer zu sagen, da der Nationalismus mit verschiedenen politischen Überzeugungen vereinbar war. Die wichtigste neue Idee im Europa des 19. Jahrhunderts, der Nationalismus, setzte sich bei den Deutschen während – und aufgrund – eines gewaltigen politischen Aufruhrs fest. Aber sie beantwortete die Frage nicht, welche Verfassung und Grenzen »Deutschland« haben sollte.

Aus dem Wiener Kongress wurde ein Deutscher Bund aus 39 Staaten geschaffen, der an die Stelle des Heiligen Römischen Reichs und von Napoleons Rheinbund trat. Als völlige Neugründung glich er einem Verfassungslaboratorium, in dem verschiedene Methoden, Menschen an einen Staat zu binden, getestet wurden, wobei der Staat ebenso notwendig wie, angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Deutschen nach 1815 neue Herrscher hatten, schwer fassbar war. Kritiker bemängelten die fehlende Legitimität dieser Staaten, die zumeist – selbst dort, wo eine versprochen worden war – keine Verfassung besaßen, und die weithin ausgeübte Zensur. Außerdem warf man den deutschen Fürsten mit einem Schimpfwort, das erst im 19. Jahrhundert weithin benutzt wurde, Kleinstaaterei vor. Der Nationalismus saugte all diese Kritik auf wie ein Schwamm.[18] Der Begriff der Nation konnte mit dem unterschiedlichsten politischen Inhalt gefüllt werden: liberalem, radikaldemokratischem und sogar konservativem. Er war das »ideale Vehikel für jede Art systemsprengender Gestaltungsidee«. Friedrich von Gentz, der inzwischen Berater des österreichischen Kanzlers, Fürst Metternich, geworden war und den Nationalismus hasste und fürchtete, bezeichnete ihn verächtlich als »leere Tafel, worauf Jeder schreiben und zeichnen könnte, was der Genius der Willkühr […] ihm eingab«.[19]

Der Deutsche Bund im Jahr 1815.

Auf dem berühmten Burschenschaftstreffen im Oktober 1817 auf der Wartburg bei Eisenach waren alle Spielarten des Nationalismus vertreten. Es fand an zwei Jahrestagen statt, dem vierten der Völkerschlacht, in der Napoleon besiegt worden war, und dem 300. von Luthers Thesenanschlag – wenn er denn stattgefunden hat. An dem Treffen nahmen rund 450 Menschen teil, die durch ein gemeinsames Anliegen vorübergehend vereint waren. Viele von ihnen blieben in der Politik aktiv, wo sie die verschiedenen Varianten des Nationalismus repräsentierten, die bei den Deutschen im Lauf des 19. Jahrhunderts Widerhall fanden.[20] Das Wartburgfest bestand aus einer Hauptveranstaltung, einem berüchtigten Beiprogramm und zwei Fortsetzungen, von denen eine tödlich verlief. In der Hauptveranstaltung zogen die Studenten, die von 14 Universitäten kamen und ein Zwanzigstel aller deutschen Studenten ausmachten, wie in einer Prozession den Berg zu der Burg hinauf, in der Luther 1521 Zuflucht gesucht hatte. Sie taten es im Namen von »Ehre, Freiheit, Vaterland« in einfacher »deutscher« Tracht. Einige trugen Zweige der »treudeutschen« Eiche, andere die rot-schwarz-goldene Fahne. Reden auf Luther und die gefallenen Helden des »Befreiungskriegs« wurden gehalten, bevor man den lutherischen Choral »Nun danket alle Gott« anstimmte – der seit der Schlacht von Leuthen im Jahr 1757 mit der preußischen Militärmacht assoziiert wurde – und nach einem Schlusssegen auseinanderging. Das Beiprogramm fand in einiger Entfernung statt, wo sich rund drei Dutzend Schaulustige um den Studenten Hans Ferdinand Maßmann und eine kleine Gruppe von Eingeweihten versammelt hatten, die ein Feuer entfachten, dem sie einige »reaktionäre« Bücher – in Wirklichkeit Papierbündel, die wie Druckwerke aussahen – übergaben. Diese aufgeblasene, von Friedrich Ludwig Jahn angeregte Aktion war die berühmt-berüchtigte »Bücherverbrennung beim Wartburgfest«.[21]

Der Zug der Studenten den Berg hinauf während des Wartburgfests im Oktober 1817. Stich eines unbekannten Künstlers.

Die erste Fortsetzung war friedlicher Art. Von dem Jenaer Geschichtsprofessor Heinrich Luden beraten, verarbeiteten zwei Studenten die bei dem Fest geäußerten Ideen zu einem Programm aus »Grundsätzen und Beschlüssen«. Es forderte die Schaffung eines vereinigten deutschen Reichs aus konstitutionellen Monarchien, die Gleichheit vor dem Gesetz, Rede- und Pressefreiheit sowie die Ersetzung der stehenden Heere durch Landwehr und Landsturm. Außerdem wurde eher vage beschlossen, »müßige Gelehrsamkeit« durch ein Volk und Nation dienliches Studium zu ersetzen. Außerdem sollte jeder Burschenschaftler der »Kleinstaaterei und Ausländerei« abschwören.[22] Die zweite Fortsetzung war gewalttätiger Art. 17 Monate nach dem Wartburgfest suchte einer der Teilnehmer, Karl Ludwig Sand, den Schriftsteller August von Kotzebue in seinem Haus in Mannheim auf und erstach ihn in dessen Salon. Kotzebue stand der »Teutomanie« seit Langem kritisch gegenüber. Eins seiner Bücher gehörte zu denen, die 1817 symbolisch verbrannt worden waren, woraufhin er die national gesinnten Studenten mit noch mehr Spott überzog. Der strenge Moralist Sand, der sich unter dem Einfluss des Gießener Studentenführers Karl Follen radikalisiert hatte, war zu dem Schluss gelangt, dass Kotzebue »der Verführer unserer Jugend, der Schänder unserer Volksgeschichte« sei und den Tod verdiene.[23]

Das Wartburgfest und seine Fortsetzungen bilden einen Cocktail politischer Ingredienzien. Angesichts der Entwicklung des deutschen Nationalismus im späten 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert ist es verlockend, sich auf die urtümelnden, romantischen, mythenbeladenen Aspekte zu konzentrieren – auf die Feiern zu Ehren von Hermann dem Cherusker und seiner Heldentaten, die Rede von Luther als dem Verfechter »deutscher« Werte gegen das Papsttum, die Forderung nach Reinhaltung beziehungsweise Reinigung der deutschen Sprache und die Besessenheit von der »Verführungskraft« fremder Kulturen, vor allem der französischen. Dies war jedoch nur eine Seite der Geschichte. So war Heinrich Luden zwar Autor einer zwölfbändigen Geschichte des deutschen Volks, die viele Facetten der Teutomanie aufwies, aber die von ihm mitverfassten Wartburgfest-Grundsätze gaben, mit einigen radikalen Elementen vermischt, weitgehend die Forderungen der liberalen Phase der Französischen Revolution wieder. Die von den Studenten hochgehaltene schwarz-rot-goldene Fahne bestand zwar aus den späteren deutschen Nationalfarben, aber das Vorbild der Trikolore stammte aus Frankreich – ebenso wie die Idee von Freiluftversammlungen: Aus der französischen fête wurde das Wartburg-Fest.[24] Es gibt noch andere französische Parallelen. Die Studenten betonten die männliche Keuschheit und Selbstaufopferung und misstrauten dem »Femininen«, ob es nun in der Verkleidung des Katholizismus, als französische Koketterie oder in Form von Kotzebues angeblich frauengefälligen Theaterstücken auftrat. (Sand antwortete auf die Frage, warum er Kotzebue nicht literarisch angegriffen habe, dies sei unmöglich gewesen, weil »alle die weiblichen Wesen in Deutschland mit ihm geweint und ihn angebetet hätten«.)[25] Aber damit unterschieden sie sich nicht so sehr von den radikalen französischen Revolutionären, den Jakobinern und Sansculotten – Asketen, die sich als tugendhafte männliche Staatsbürger stilisierten und Frauen mit Argwohn betrachteten. Tatsächlich suchte Follens Gruppe Kontakt zu ausländischen Revolutionären.[26] Als Metternich den Mord an Kotzebue als Vorwand nutzte, um mit den Karlsbader Beschlüssen vom September 1819 gegen Nationalisten vorzugehen, war es zweckdienlich, eine »jakobinische« Gefahr zu beschwören, aber es war nicht völlig an den Haaren herbeigezogen.

Der radikale Aufschwung zwischen 1815 und 1819 brachte Radikale, Liberale und romantische Konservative vorübergehend unter der Fahne des deutschen Nationalismus zusammen. Danach gingen diese äußerst disparaten Gruppen jeweils ihren eigenen Weg. Die späteren Karrieren der Teilnehmer des Wartburgfests liefern dafür den schlagenden Beweis.[27] Manche wurden Nationalisten der »germanischen« Kirche-und-König-Art, darunter, wenig überraschend, viele Theologen.[28] Aber auch andere frühere Burschenschaftler gehörten in diese Gruppe, wie Friedrich Johannes Frommann, der ein bekannter Buchhändler und Verleger wurde und ebenfalls den protestantisch-konservativen Weg einschlug.[29] Dramatischer war der Fall von Heinrich Leo, einem Mittelalterhistoriker, der 1817 die schwarz-rot-goldene Fahne von Jena zur Wartburg getragen hatte. Er wurde zu einem streitbaren Verfechter des preußischen Thron-und-Altar-Konservatismus und Gegner der Emanzipation der Juden.[30] Am vollkommensten verkörperte vielleicht Hans Ferdinand Maßmann, der Haupttäter der Bücherverbrennung beim Wartburgfest, den konservativ-»germanischen« Aspekt der Burschenschaftsbewegung. Er wurde Philologe, zog nach München und sprach und schrieb bis an sein Lebensende, als wäre die Zeit 1817 stehen geblieben. Er trug sein Haar weiterhin lang, bevorzugte einfache »deutsche« Kleider, pries das Turnen und verherrlichte die Volkskultur. Er starb, weithin zu einer Witzfigur geworden, im Alter von 76 Jahren.[31]

Seinen langjährigen Spiritus Rector und Anreger, Friedrich Ludwig Jahn, ereilte das gleiche Schicksal. Der Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke, dessen nationalistische Einstellung kaum zu bezweifeln war, mochte den alten Teutomanen Jahn nicht und zog seine Vorstellung, dass ein künftiger französischer Angriff mit einer »Bauchwelle« von Turnern zurückgeschlagen würde, ins Lächerliche.[32] Auch ein anderer Teilnehmer am Wartburgfest zog Spott auf sich, der Historiker Heinrich Luden. Der liberale Schriftsteller Friedrich Buchholz widerlegte seine Behauptung, es habe bereits in der Antike und im 10. Jahrhundert »Deutsche« gegeben. Wie hätten die frühen germanischen Stämme an den Boden gebunden sein können, wenn sie doch Nomaden waren? Wie hätten die Ottonen gegen alles Nichtdeutsche gewesen sein können, wenn der römisch-deutsche Kaiser Otto II. doch eine griechische Prinzessin geheiratet hatte? Luden und seine Anhänger sollten aufhören, von »einer Einheit, die keine ist, und eine[m] Gemeingeist, der nicht vorhanden ist«, zu sprechen.[33] Auch in Zeitschriften wie Europa und von liberalen Nationalisten wurden die Teutomanen verspottet. Aber die schärfste Kritik kam von Radikaldemokraten. Heinrich Heine war ein gnadenloser Kritiker Maßmanns.[34] Wilhelm Schulz, ein Demokrat aus Darmstadt, distanzierte sich ebenfalls von den »Irrthümern und Kindereien« der Burschenschaftler und kritisierte ihre »Rede vom überdeutschen Nationalstolz«, der sie zur »Verachtung aller andern Völker« verleite.[35]

Der 1797 geborene Schulz zählte zur Wartburgfest-Generation, hatte aber nicht an dem Ereignis teilgenommen, obwohl er damals Student in Gießen war und der radikalen Gruppe um Karl Follen angehört hatte. Konservative warfen später Radikalen wie ihm vor, sie hätten einen »die Wartburger poetische Unschuld vergiftende[n] Einfluß« ausgeübt und sie »sogar mit revolutionären Intentionen« versetzt.[36] Manche Teilnehmer des Wartburgfests teilten die hier verurteilten radikalen Ideen, und ihr späteres Leben stand in krassem Gegensatz zu dem von Maßmann und anderen, die den deutschen Nationalismus als protestantisch-teutonische Erneuerung inszenierten.

Hier einige Schnappschüsse aus acht Lebensläufen, die für viele andere stehen. Karl Völker aus Eisenach floh nach der Ermordung Kotzebues in die Schweiz, von wo er nach London ging. Dort arbeitete er als Lehrer und gründete in Liverpool eine Knabenschule, die er 1839 in die Schweiz verlegte, wo er den Rest seines langen Lebens verbrachte. Der ebenfalls aus Thüringen stammende Daniel Elster endete wie Völker im Schweizer Exil, allerdings erst nachdem er in der Hoffnung, in Südamerika für Bolívar kämpfen zu können, nach England und Frankreich gereist war und in Griechenland für dessen Unabhängigkeit gefochten hatte. Karl Gustav Jung – der Großvater des Psychiaters Carl Gustav Jung – gelangte direkter ins Schweizer Exil; er ging 1821 zunächst nach Paris und von dort im folgenden Jahr nach Basel, wo er Medizinprofessor wurde. Keiner dieser drei Männer kehrte, außer für kurze Aufenthalte, nach Deutschland zurück. Der in Dresden geborene Heinrich Linstedt konnte es nicht, weil er 1821 im griechischen Unabhängigkeitskampf fiel. Andere gingen ins Exil, kehrten später aber wieder zurück. Christian Samuel Schier floh 1817 nach New York, ging drei Jahre darauf aber wieder nach Deutschland. Ludwig von Mühlenfels befand sich in einer schwierigeren Lage. Als Student in Heidelberg geriet er nach dem Mord an Kotzebue ins Visier der Polizei und verbrachte fast zwei Jahre in Haft, bevor es ihm gelang, auszubrechen und nach Schweden zu fliehen. Kurz vor der geplanten Abreise in die Vereinigten Staaten nahm er das Angebot einer Professur in London an, von wo er 1829 nach Deutschland zurückkehrte und sich rehabilitierte. Andere verbüßten ihre Haftstrafen und verließen anschließend das Land. Der Jenaer Burschenschaftsführer Robert Wesselhöft, einer der Organisatoren des Wartburgfests, ging 1819 in den Untergrund, wurde aber gefasst und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Nach seiner Entlassung zog er in die Vereinigten Staaten, wo er als Arzt in Cambridge in Massachusetts arbeitete. Der Gießener Theologiestudent Christian Sartorius, der 1819 ins Gefängnis geworfen wurde, ging 1824 nach Mexiko, wo er mit dem Zuckeranbau ein Vermögen machte.[37]

Diese Lebensläufe illustrieren, auf welch vielfältigen Wegen der deutsche Nationalismus einen globalen Charakter annahm. Am offensichtlichsten ist das paradoxe Ergebnis, dass die Repression die Nationalisten aus Deutschland vertrieb. Häufig verlief die Flucht ins politische Exil über mehrere Stationen, bis ein endgültiger Aufenthaltsort gefunden war. Dies war bei Karl Gustav Jung und Karl Völker der Fall und ebenso bei dem berühmtesten politischen Emigranten der Zeit nach 1817, Karl Follen, der zuerst nach Frankreich, dann in die Schweiz und schließlich in die Vereinigten Staaten ging, wo er seinen Vornamen in Charles änderte, eine Frau aus einer der ersten Familien von Boston heiratete und an der Harvard-Universität Deutschprofessor wurde.[38] In Europa entstanden durch die Emigration radikal nationalistische Gemeinden in Frankreich, der Schweiz und England, die mit Gleichgesinnten in Deutschland in Verbindung standen. Ähnliches sollte sich nach den Aufständen von 1830 und in größerem Umfang nach der Revolution von 1848 wiederholen.

Deutsche Nationalisten, die wie Daniel Elster und Heinrich Linstedt für die Befreiung anderer Nationen kämpften, waren selten. Aber sich mit der Sache anderer zu identifizieren, war es nicht. Heinrich Heine, selbst Emigrant in Paris, drückte es am deutlichsten aus: »Was ist aber die große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipation. Nicht bloß der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie.«[39] Die deutsche Identifikation mit einem paneuropäischen Nationalismus setzte 1820 als Reaktion auf die in diesem Jahr ausgebrochenen Revolutionen in Spanien und Italien ein. Die im vorangegangenen Jahr in Mainz für die Beobachtung des politischen Radikalismus geschaffene Zentralkommission zur Untersuchung hochverräterischer Umtriebe verfolgte, welche Auswirkungen die Ereignisse jenseits der Pyrenäen in Deutschland hatten. So wurden in Münchener Kaffeehäusern Toasts auf die Spanier ausgebracht, und in Berlin riefen Studenten auf dem Boulevard Unter den Linden: »Lang lebe die spanische Verfassung!«[40] Die Revolution in Italien, die sich von Sizilien aus nach Norden ausbreitete, rief ähnliche Reaktionen hervor. Nationalisten hofften – und die Behörden fürchteten –, dass der Aufstand nach Deutschland überschwappen würde. Als österreichische Truppen in Italien einmarschierten, um den Aufstand niederzuschlagen, und Frankreich in Spanien einfiel, sammelten Deutsche Geld. Manche reisten auch nach Süden, um an den Kämpfen teilzunehmen. Zu den deutschen Enthusiasten, die nach Spanien gingen, gehörte Victor Aimé Huber, der Sohn von Georg Forsters früherer Frau, Therese, und dem Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber. Er hielt sich über anderthalb Jahre dort auf und gehörte kurzzeitig der Madrider Bürgerwehr an, erfüllte aber den Wunsch seiner Mutter und blieb ein mitfühlender Zuschauer.[41] Die Spanische Revolution war ein Sammelpunkt für die radikale und liberale Öffentlichkeit in Deutschland. Trotz der Zensur hinterließ sie im öffentlichen Leben Deutschlands, in Zeitungen, literarischen Werken und Liedern, ihre Spuren.[42]

Auch der nationale Unabhängigkeitskampf in Lateinamerika zog die Aufmerksamkeit der Deutschen auf sich. Konservative lehnten ihn ab, während Linke von ihm begeistert waren. Die Hamburger Zeitschrift Columbus war stark Bolívar-freundlich, und ihre Autoren malten ein rosiges Bild der Ergebnisse des nationalen Unabhängigkeitskampfs. Der radikalste von ihnen glaubte die Geburt einer neuen Welt mitzuerleben.[43] Der lateinamerikanische Unabhängigkeitskampf zog auch deutsche Teilnehmer an, insgesamt rund 300 was im Vergleich zur Gesamtzahl von 6000 ausländischen Freiwilligen zugegebenermaßen wenig war.[44] Über sie ist kaum etwas bekannt, von den meisten nicht einmal der Name. Aber sie bildeten wahrscheinlich eine ähnliche Mischung wie die in Lateinamerika kämpfenden Freiwilligen anderer Nationen: Möchtegern-Revolutionäre, Offiziere ohne Armee, Abenteurer.[45] Am meisten geschrieben wurde über Otto Philipp Braun, den Sohn eines Hofkutschenbauers aus Kassel, der an Feldzügen in Venezuela, Ecuador und Peru teilnahm, zu einem Vertrauten Bolívars wurde und 1838 schließlich in Bolivien zum Großmarschall aufstieg. Er war ein Vagabund. Bevor er sich Bolívar anschloss, hatte er erfolglos versucht, sich in Philadelphia und dann in Haiti, wo er als Tierarzt und Gestütsdirektor gearbeitet hatte, ein Leben aufzubauen.[46] Das Leben des jungen Veteranen des Kriegs gegen Napoleon – er war 1798 geboren – ähnelte demjenigen mancher älterer deutscher Legionäre im Ausland, die ruhelos umherzogen, nachdem in Europa Frieden eingekehrt war. Aber Rastlosigkeit schließt politische Überzeugungen nicht aus. Als der junge Jacob Carl Sowersby, ein in Bremen geborener Sohn englischer Eltern, 1824 nach der Schlacht bei Junín in Peru im Sterben lag, soll er gesagt haben, er habe sein Leben für eine »glorreiche Sache« gegeben.[47]

Zu den Deutschen, die in Südamerika kämpften, gehörte auch der bemerkenswerte Harro Harring. In den meisten deutschen Staaten Persona non grata, von der Schweiz ausgewiesen, von den Briten zweimal von Helgoland deportiert, war Harring ein unermüdlicher Aktivist in großem Stil, der stets bereit war, einen nationalen Kampf zu unterstützen, wo immer es ihn hinführen mochte.[48] Er war unter den Deutschen, die aufseiten der Griechen für die Unabhängigkeit ihres Landes vom Osmanischen Reich kämpften. Eine beträchtliche Zahl der deutschen Freiwilligen ließ in dem Kampf ihr Leben: Auf dem Denkmal in Nafplio für die gefallenen Ausländer sind 274 Namen verzeichnet, darunter als größte nationale Gruppe hundert deutsche.[49] Deutsche Nationalisten identifizierten sich stark mit den Griechen. Ihr Kampf passte zu der seit Langem bestehenden antitürkischen Einstellung und der Bewunderung für alles Griechische. Sofort nach Ausbruch des Aufstands im Jahr 1821 fanden überall in Deutschland Demonstrationen zu seiner Unterstützung statt. Hilfsvereine wurden gegründet, um griechischen Emigranten zu helfen und Freiwillige zu unterstützen, die in den Kampf zogen. Besonders zahlreich waren diese Helfergruppen in Süddeutschland. Als 1830 die Unabhängigkeit Griechenlands erreicht war, hatten sich allein in Südwestdeutschland 600 Griechenfreunde in Vereinen organisiert, die von fast 1300 Spendensammlern unterstützt wurden. Es war die erste öffentliche politische Organisation im Deutschen Bund mit einer breiten gesellschaftlichen Basis, und sie baute ein Kommunikationsnetzwerk auf, das auch deutsche Emigranten einbezog. Professoren, Studenten, Geistliche, Buchhändler und Verleger waren die prominentesten Philhellenen, aber die Projektion des deutschen Nationalgefühls auf Griechenland fand auch in der allgemeinen Bevölkerung Anklang. Bänkelsänger, die in den Straßen sowie auf Märkten und Messen sangen, feierten in dieser Zeit die Helden und den letztlichen Sieg des griechischen Freiheitskampfs.[50]

Der polnische Aufstand gegen die zaristische Herrschaft von 1830/31 brachte in Deutschland sogar noch mehr populäre Lieder hervor, mit dem Tenor: »Nein, Polen darf nicht untergehen«.[51] Die »Polenschwärmerei« dieser Jahre fand unter anderem in der Mode polnischer Tuniken ihren Ausdruck. Es wurden Zinnfiguren der »Freiheitskämpfer« hergestellt und Schnupftabakdosen, Teller und Taschentücher mit Porträts polnischer Patrioten geschmückt. Sie »bezauberten alle Herzen«, wie ein Sympathisant bemerkte.[52] Auf von neu gegründeten Polenvereinen organisierten Banketten brachte man Toasts auf sie aus. Auch diesmal wurden manche Deutsche zu Kombattanten. Auch siebzig Ärzte gingen nach Polen, um den Aufständischen zu helfen. Aber der Kontakt mit der polnischen Sache kam überwiegend auf deutschem Boden zustande, da über 3500 der besiegten Kämpfer durch Deutschland nach Frankreich zogen. Frédéric Chopin komponierte seine große »Revolutionsetüde« in Stuttgart. Mehr noch als Griechenland wurde Polen zu einem Stellvertreter deutscher nationaler Bestrebungen.[53]

Auf dem demokratisch-nationalistischen Hambacher Fest im Mai 1832 verschmolzen die beiden Anliegen buchstäblich miteinander. 30 000 Menschen versammelten sich an der Ruine des Schlosses von Hambach in der Pfalz zu einer Demonstration des neu gegründeten Deutschen Press- und Vaterlandsvereins. Vier der 13 Lieder, die auf dem Festprogramm standen, handelten von Polen; der Vorsitzende des polnischen Nationalkomitees in Paris brachte einen Toast auf »unsere deutschen Brüder« aus, und einer der Hauptorganisatoren, Johann Georg August Wirth, hielt eine leidenschaftliche Rede, in der er erklärte, so wie die deutschen Fürsten den »russischen Despoten« bei der Unterdrückung der »edlen Nation« unterstützt hätten, würde die Wiederherstellung Polens aus der »Befreiung und Wiedererstehung Deutschlands« folgen. Daher seien die polnische und die deutsche Sache »unzertrennlich«, wie er in seiner Schrift über das Hambacher Fest hinzufügte.[54]

Dies war der Geist des Hambacher Fests. Die deutsche Einheit war das »Zauberwort«, der »elektrische Funken«, doch die deutsche Sache wurde von einem Sprecher nach dem anderen rhetorisch mit derjenigen anderer Nationen verknüpft – mit Polen, Griechenland, Italien, Belgien. Insofern hätte es sich kaum stärker vom Wartburgfest unterschieden können. Auf beiden Festen trugen Demonstranten Fahnen einen Berg hinauf, um an einer politischen Versammlung teilzunehmen, die aus politischen Gründen als Fest deklariert wurde. Aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Das Hambacher Fest war wesentlich größer und sozial inklusiver, denn es nahmen auch Bauern und Handwerker teil. Dem Wunsch der Organisatoren entsprechend waren auch Frauen anwesend,[55] während die Wartburger Burschenschaftler wie ihr Mentor Jakob Friedrich Fries der Ansicht waren: »Das Weib dagegen schweige in allen öffentlichen Angelegenheiten.«[56] Vor allem wurde der deutsche Nationalismus auf dem Hambacher Fest als Teil einer europäischen Sache verstanden. Er gehörte zu einem historischen Augenblick, den Jahren 1830 – 1832, der sich stark von demjenigen des Jahres 1817 unterschied, der das Wartburgfest hervorgebracht hatte. Dieses folgte auf einen viel gerühmten »Befreiungskrieg« gegen Frankreich, jenes auf die französische Julirevolution von 1830, die Revolutionen oder nationale Aufstände in Belgien, Italien, Polen und mehreren deutschen Staaten ausgelöst hatte.

Frankreich war als positives Modell für die Deutschen der zentrale Punkt der Hambacher Reden. Die versammelten Patrioten erhielten brüderliche Grüße von der Gesellschaft der Volksfreunde in der Grenzstadt Straßburg. Ein »Greis« vom Bodensee, der den Festteilnehmern seine »Gefühle und Wünsche« übermittelte, erinnerte sich an die Erregung des Jahres 1789 und das Versprechen der Befreiung ganz Europas, welches das »große Weltereigniß« der Französischen Revolution gegeben hatte. Leider habe die Tapferkeit der Franzosen aufgrund der Unwissenheit und des Sklavengeists der Bevölkerungen nirgendwo Nachahmer gefunden. Die französische und die deutsche Sache seien ein und dieselbe, und das deutsche Volk solle sich vom Schreckbild eines französischen Eroberungskriegs nicht täuschen und seiner Freiheitschance berauben lassen.[57] Man darf nicht unterschätzen, wie sehr Frankreich, das ein Drehbuch der Revolution und zahlreiche revolutionäre Symbole geliefert hatte – Freiluftfeste, Kokarden, Freiheitsbäume, Revolutionslieder –, für demokratische Nationalisten immer noch ein Leuchtfeuer war. Selbst ein liberaler Nationalist wie Paul Pfizer bezog seine Forderung nach einem deutschen Nationalstaat auf der Grundlage der Volkssouveränität auch 1832 noch explizit auf das französische Vorbild.[58] Paris blieb das »Mekka der gläubigen Liberalen«, wie einer von ihnen feststellte.[59] Frankreich war auch das Land, in das die radikaleren Nationalisten, die mit dem Hambacher Fest in Verbindung gebracht wurden, vor der Verfolgung durch die deutschen Behörden flohen. Dort gesellten sie sich zu den emigrierten Vertretern des literarischen Jungen Deutschland. Beide Hauptorganisatoren des Fests, Wirth und Philipp Siebenpfeiffer, flohen nach Frankreich. Straßburg wurde erneut, wie in den 1790er-Jahren, zur Brücke in die Sicherheit.

Siebenpfeiffer hatte in seiner Rede auf dem Hambacher Fest in einer ausgedehnten Metapher das grüne Rheintal, auf welches die Natur »alle Fülle des Segens« ausgeschüttet habe und wo der deutsche Fleiß Früchte, Wein und Getreide ernte, dem öden Boden des Vaterlands entgegengesetzt, auf dem aufgrund der herrschenden politischen Reaktion nur Disteln und Dornen gediehen.[60] Dies war ein klassisches Beispiel für die Spiegelung des Nationalen in einem Naturbild. Siebenpfeiffers Kamerad Wirth klang weniger harmonisch, wenn er über den Rhein sprach. Wenn Frankreich die deutsche Sache unterstütze, erklärte er, werde es als Belohnung möglicherweise die linksrheinischen Gebiete fordern. Dies wäre ein zu hoher Preis. Er befürchtete, dass die meisten Franzosen, abgesehen von einigen »weitsichtigen Kosmopoliten«, diese Gebiete wie selbstverständlich als Teil Frankreichs ansahen. Mit dieser Warnung schlug Wirth einen schrillen, unwillkommenen Ton an. Ein französischer Teilnehmer sprang augenblicklich auf und bestritt jegliche Absicht dieser Art.[61]

Wirth nahm mit seiner Äußerung die Rheinkrise vorweg, die der französische Ministerpräsident Adolphe Thiers 1840 mit dem erneut erhobenen Anspruch auf die linksrheinischen Gebieten Deutschlands auslöste. Truppen wurden mobilisiert, und die französische Presse stellte sich hinter die Forderung. Die diplomatische Reaktion der deutschen Staaten war gemäßigt, aber nicht diejenige der Öffentlichkeit. Das Gedicht »Die Wacht am Rhein« war ein Nebenprodukt der Krise, wie vor allem auch das von dem unbekannten Kölner Gerichtsschreiber Nikolaus Becker gedichtete »Rheinlied«, das mit den Worten beginnt: »Sie sollen ihn nicht haben, / Den freien deutschen Rhein«. Zuerst in einer Trierer Zeitung veröffentlicht, wurde es überall in Deutschland nachgedruckt, über 200-mal vertont und in unzähligen Gedichten nachgeahmt. Die Nachahmungen waren so zahlreich, dass einige Zeitungen keine unaufgefordert eingesandten Verse mehr annahmen.[62]

Die Rheinkrise wird häufig als Wendepunkt beschrieben, an dem der deutsche Nationalismus in einen emotionaleren, antifranzösischen Ausdruck der deutschen Identität umschlug – mehr Wartburg als Hambach.[63] Die chauvinistische Wende war real genug und zeigte sich nirgendwo offensichtlicher als in dem außerordentlichen Erfolg von Beckers Lied. Es wurde nicht nur überall gesungen, sondern auch auf Postkarten, Tellern und Spielkarten abgedruckt; sogar auf Nachtmützen wurde es gestickt. Aber die Episode war kurzlebig und endete rasch, nachdem Thiers Ende Oktober aus seinem Amt entlassen worden war; im Januar 1841 war sie Vergangenheit. Was das »Rheinlied« betraf, war seine Aufnahme zwiespältig. Viele »ekelte« die »poetisch-patriotische Exaltation« des Liedes an (so der liberale Nationalist Heinrich von Gagern, der in späteren Debatten über die deutsche Vereinigung eine bedeutende Rolle spielen sollte), oder sie hielten den Versuch, chauvinistische Gefühle anzusprechen, für »sehr leer und plump« (der Philosoph Arnold Ruge).[64] In einem Frankfurter Theater zischte das Publikum Beckers Lied aus und verlangte die Marseillaise. Zahlreiche Pamphlete und Satiren nahmen Beckers allzu schlichte Verse aufs Korn. Einige radikale Nationalisten griffen Ende 1840 vorübergehend das chauvinistische Moment auf, aber die meisten verurteilten, ebenso wie linke nationalistische Intellektuelle und gemäßigte Nationalliberale, den Aufschwung antifranzösischer Kriegstreiberei.

Die Krise von 1840 hinterließ keine weitverbreitete oder dauerhafte Frankophobie. In Gasthäusern und von Bänkelsängern und Leierkastenmännern waren immer noch frankreichfreundliche Lieder – und sogar Trinksprüche auf Napoleon – zu hören, und frankreichfreundliche Motive waren bei den hochpolitischen Karnevalsfeiern in Köln und Mainz immer noch sehr beliebt.[65] Diese Karnevalszentren lagen beide im Rheinland, und es ist nicht wirklich paradox, dass das antifranzösische Ressentiment dort am wenigsten verfing. Das Rheinland war eine Grenzregion mit gemeinsamen ökonomischen Unternehmungen, gemeinsamer Religion und gemeinsamem Gesetzbuch; Letzteres war ein Erbe der früheren französischen Besetzung, die von den meisten Rheinländern positiv gesehen wurde. Gleichwohl war der überschäumende, »europäisch« orientierte deutsche Nationalismus einer früheren Ära in den 1840er-Jahren in den deutschen Landen abgeebbt. Er hatte immer noch Anhänger, insbesondere auf der Linken, existierte aber neben anderen, konservativeren Spielarten des Nationalismus. Dies zeigte sich im Auftritt einer neuen Generation von Historikern, die sich zwar immer noch liberal nannten, aber im Tonfall eher deutschnational waren.[66] Ein anderes Anzeichen war die Bewegung für die Errichtung von Nationaldenkmalen wie der Walhalla-Ruhmeshalle bei Regensburg und die Fertigstellung des Kölner Doms in »deutsch«-gotischem Stil. In beiden Fällen versuchten deutsche Fürsten sich als Vorreiter zu präsentieren.[67]

Die Ansicht, die deutsche Identität sei durch Blut und Kultur bestimmt, die von manchen fälschlicherweise als vorherrschende Form des deutschen Nationalismus betrachtet wird, setzte sich wahrscheinlich in den 1840er-Jahren fest, obwohl sie auch heftig kritisiert wurde. Der hannoversche Politiker Gustav Zimmermann verurteilte jene, die »das Blut der Bewohner prüfen und Keinen zu Deutschland zählen möchten, der nicht vollblütig abstammt von Germanen mit flachsfarbigen Haaren und blauen Augen, wie sie uns Tacitus beschreibt«. Diese Eiferer sollte man als die »Narren dieser Zeit« behandeln.[68] Man darf die hier kritisierte »germanische« Vorliebe jedoch nicht beim Wort nehmen. Immerhin sprachen kosmopolitische Nationalisten häufig von deutschen »Stämmen«, stießen im nächsten Augenblick aber auf die französische revolutionäre Tradition an. Mancher Unsinn, den Nationalisten über »germanische Freiheiten« von sich gaben, war auch taktisch begründet: Er sollte ausländische Ideen über Rechte und Verfassungen akzeptabler machen.[69]

Welche Art von Nationalismus wurde in Turnklubs, Chorgesellschaften und den sich herausbildenden politischen Organisationen diskutiert, als in den 1840er-Jahren die politischen Verbote gelockert wurden? Man findet sicherlich »germanische« Einstellungen. Für die nationalistische Öffentlichkeit typischer war jedoch eine im weitesten Sinn liberale Identifikation mit »westlichen« Rechts- und Verfassungsformen auf der Grundlage einer künftigen deutschen Nation. Man stimmte darin überein, dass »Freiheit« und »Einheit«, die als zwei Seiten einer Medaille gesehen wurden, die gemeinsamen Ziele seien. Bürgerrechte und nationale Unabhängigkeit waren, mit den schlagenden Worten eines liberalen Nationalisten, ein »weltbürgerliches Gemeingut«.[70] Streit entstand über Fragen der Gewichtung, insbesondere in Bezug auf die Stellung der deutschen Fürsten. Frankreich war nicht das einzige mögliche Vorbild. Großbritannien wurde für seine konstitutionelle Monarchie und sein Rechtssystem bewundert. Aber dessen Glanz wurde in den Augen mancher Nationalisten in zunehmendem Maß dadurch getrübt, dass es nach ihrer Wahrnehmung seine Macht einsetzte, um aufstrebende Nationen wie Deutschland niederzuhalten. Dies galt insbesondere für Anhänger des Ökonomen Friedrich List, eines Befürworters von Schutzzöllen. Die Bewunderung war daher mit Vorbehalten gemischt.[71]

Lists Idee eines ökonomischen »nationalen Innovationssystems« war zum Teil von Alexander Hamilton beeinflusst, dessen Gedanken er während seines Exils in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte. Andere zogen angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in den deutschen Bundesstaaten optimistische Parallelen zu Amerika. Ein Mitglied des Bremer Senats hoffte, der Deutsche Zollverein würde zur Schaffung »Vereinigter Staaten von Deutschland« führen.[72] Es gab noch mehr Gründe, aus denen Deutsche Amerika im Auge behielten, insbesondere die zunehmende Auswanderung in die Vereinigten Staaten. Nationalliberale interessierten sich für Amerika aus denselben Gründen, aus denen sie sich von Großbritannien angezogen fühlten, wobei als zusätzlicher Pluspunkt hinzukam, dass es ein föderales System hatte. Vielleicht, dachten sie, konnte man das zentrale Organ des Deutschen Bundes, den Bundestag, in eine Institution wie den amerikanischen Kongress umwandeln. Einer der besten zeitgenössischen Kenner der politischen Geschichte, Robert von Mohl, sah in Nordamerika den Staat, »welcher die unsere Zeit so gewaltig umwühlenden Ideen am reinsten aufgefaßt und dargestellt hat«.[73] Er war kein Hitzkopf und damit durchaus typisch. Was die meisten deutschen Kommentatoren anzog, war nicht der revolutionäre Ursprung des amerikanischen Experiments, sondern die Idee »geordneter Freiheit«.[74] Gemäßigte Reformer wie Mohl strebten schrittweise Veränderungen an. Wie Reformer in anderen Zeiten und an anderen Orten konnten sie ihr historisches Umfeld jedoch nicht frei wählen, und 1848 wurde es wieder einmal von Ideen gewaltig umgewühlt.

Deutschland und die Revolution von 1848

In Revolutionen beschleunigt sich die Geschichte, wie es Deutschland 1848 erneut erlebte. Der deutsche Nationalismus, der im Lauf des 19. Jahrhunderts abwechselnd stärker und schwächer wurde, trat in eine neue intensive Phase ein. Die Revolution begann im März 1848 und umfasste alle Teile des Deutschen Bundes. Hervorgerufen wurde sie von sozialem Unmut und einer Vertrauenskrise der Fürstenherrschaft. Obwohl nicht vom Nationalismus angetrieben, schuf die Revolution doch eine Gelegenheit, nationalistische Ansprüche anzumelden. Die politische Opposition forderte nicht nur liberale – und in manchen Fällen radikale – Reformen, sondern auch einen vereinigten deutschen Nationalstaat. Ende März trat in der Paulskirche in Frankfurt am Main ein »Vorparlament« zusammen, das sich darauf einigte, im gesamten Deutschen Bund alle erwachsenen Männer für den 1. Mai zur Wahl eines nationalen Parlaments aufzurufen. Die Gewählten kamen am 18. Mai in Frankfurt als Mitglieder der ersten deutschen Nationalversammlung zusammen, um einen neuen Nationalstaat zu schaffen – der Begriff »Nationalstaat« wurde 1848 allerdings selten benutzt.[75] Wie die Revolution insgesamt scheiterte auch dieses Unterfangen, aber es rückte die Schlüsselfragen in den Vordergrund. »Wir müßten uns die Frage beantworten, was das eigentlich sei, ›ein Deutscher‹«, erklärte der liberale Nationalist Georg Beseler.[76] Während in Frankfurt, den Parlamenten der Bundesstaaten, den neuen »Märzministerien«, den neu gegründeten politischen Klubs und manchmal auch auf den Straßen über diese Frage und mit ihr zusammenhängende Themen diskutiert wurde, war die Welt außerhalb Deutschlands stets präsent. Die deutsche Revolution war in jedem Stadium mit größeren europäischen und internationalen Entwicklungen verknüpft.

Dies traf vor allem für ihren Auslöser zu, denn wieder einmal hatte Frankreich den Funken geliefert, der den politischen Aufruhr losbrechen ließ. Die Revolution hatte zwar im Januar in Palermo begonnen, aber es war die Nachricht aus Paris im folgenden Monat über den Sturz König Louis Philippes, die signalisierte, dass das alte Regime vor dem Zusammenbruch stand. Es war die erste Revolution, in der Nachrichten mit Eisenbahn und Telegraf übermittelt wurden, den neuen Kommunikationsmitteln der damaligen Zeit. Eisenbahnen, die Zeitungen und Briefe mit den neuesten Berichten aus Frankreich brachten, wurden von erregten Menschenmengen empfangen. Selbst im entlegenen, politisch reaktionären Oldenburg ließ man in einer Versammlung am 28. Februar die »welterschütternden Nachrichten aus Paris« hochleben.[77] Der Konservative Scott William Aytoun, der für Blackwood’s Magazine aus Köln berichtete, bekannte, er sei »recht traurig«, dass das »stille Deutschland am aufrührerischen Feuer Frankreichs seine revolutionäre Pfeife entzündet« habe.[78] Zum dritten – und letzten – Mal löste Frankreich europaweit Revolutionen aus. Allerdings nicht überall, denn – mit der offensichtlichen Ausnahme Frankreichs, wo die revolutionäre Tradition ein eigenes Momentum besaß – der Funke sprang weder auf die hoch entwickelten Länder Westeuropas, wie Großbritannien und Belgien, noch auf zurückgebliebene Staaten wie Russland über. Am höchsten schossen die Flammen in nicht nur geografisch dazwischenliegenden Regionen, in Ländern, deren Regime weder liberal-konstitutionell noch von Grund auf repressiv waren, und Gesellschaften, die zwar nicht mehr vorwiegend agrarisch und handwerklich geprägt waren, in denen aber Handel und Industrie noch in den Anfängen steckten. Den größten Aufruhr erlebten diejenigen Teile Europas, die sich im Übergang befanden. Der preußische Liberale Victor von Unruh brachte es auf den Punkt: »Wir leben in Uebergangszuständen. Das Alte ist noch nicht überwunden und das Neue noch in der Geburt.«[79] Dies bedeutete, dass die Zentren der Revolution sich im Deutschen Bund und in den nichtdeutschen Teilen des Habsburgerreichs, in Italien, Böhmen und Ungarn, befanden, und es hatte zur Folge, dass das Schicksal Deutschlands mit demjenigen anderer aufstrebender europäischer Nationen verknüpft war.

Auch in der Debatte über die Form des künftigen Deutschlands bezog man sich ständig auf andere Nationen als mögliche Vorbilder. Die Verfassungsschöpfer in der Paulskirche warfen ein weites Netz aus. So orientierte sich Paragraf 101, der festlegte, wie das Parlament ein aufschiebendes Veto überstimmen konnte, am norwegischen Beispiel.[80] Welche Länder zu Vorbildern wurden, hing zum Teil von den Erfahrungen zurückgekehrter Emigranten ab. Diejenigen, die einige Zeit in Frankreich oder der Schweiz verbracht hatten, neigten zu radikaleren Ansichten und forderten die Schaffung einer Republik. Frankreich war für demokratische Nationalisten allgemein besonders attraktiv. Bei ihren Treffen sangen sie regelmäßig die Marseillaise und beschworen »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«.[81] Eine Minderheit der Linken in Frankfurt, die Mitglieder der Donnersberg-Fraktion, sprach sich für eine deutsche Republik nach französischem Vorbild aus, aber die meisten Abgeordneten schreckten vor dem Gedanken zurück, und die anfängliche Frankreichbegeisterung selbst von Gemäßigten aus dem März wich einer distanzierteren Haltung.[82] Andere Linke in Frankfurt stellten sich zwar eine Republik vor, aber eine, die aus Einzelstaaten mit weiter herrschenden Fürsten bestehen sollte.[83] Die Idee einer Bürgerwehr nach französischem und Schweizer Vorbild fand auf lokaler Ebene viel Anklang. Was das Staatsmodell anging, schauten gemäßigte Liberale und Zentristen indes stärker nach Großbritannien.

Mitglieder der nationalliberalen Casinofraktion. Lithografie von Friedrich Pecht von 1849 aus einer Serie von Gruppenporträts Frankfurter Abgeordneter.

Die meiste Beachtung erhielten jedoch die Vereinigten Staaten. 1848/49 wurden mindestens zehn Übersetzungen der US-Verfassung veröffentlicht, von denen manche mehrere Auflagen erlebten. Sogar Verfassungen einzelner amerikanischer Bundesstaaten wurden übersetzt.[84] Eine Liste der Politiker, Akademiker und Journalisten, die über die amerikanische Verfassung als Modell sprachen oder schrieben, liest sich wie ein Who’s who des öffentlichen Lebens in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein vom Bundestag eingesetzter sogenannter Siebzehnerausschuss erarbeitete den ersten Entwurf einer deutschen Verfassung, der sich stark an der US-Verfassung orientierte, wie später auch die Verfassung vom März 1849, die in Bezug auf die Verantwortlichkeiten der Bundesregierung und den Grundsatz, dass die Einzelstaaten alle Rechte besaßen, die nicht ausdrücklich dem Bund übertragen wurden, dem amerikanischen Vorbild manchmal wörtlich folgte.

Das amerikanische Modell war für die in Frankfurt Versammelten so wichtig, weil seine föderale Struktur am besten zu den deutschen Gegebenheiten zu passen schien. Allerdings pickten die einzelnen Fraktionen jeweils heraus, was ihnen am meisten zusagte. Die Linke stützte sich auf den demokratischen Aspekt und forderte eine Republik mit in allgemeiner Wahl für eine vierjährige Amtszeit gewähltem Präsidenten und Vizepräsidenten. Deshalb wurde bei demokratischen Versammlungen neben der französischen Trikolore die US-Fahne aufgezogen. Gemäßigte Liberale und solche links der Mitte hielten es eher für möglich, einem monarchischen System einen Bundesstaat überzustülpen. In ihren Augen bestand der große Vorteil des amerikanischen Modells gerade darin, dass es nicht französisch oder »jakobinisch« war, sondern als Vehikel einer »defensiven Revolution« dienen konnte.[85] Die schließlich verabschiedete Verfassung war zentralistischer als die amerikanische, was John C. Calhoun, Senator aus South Carolina und führender Verfechter der »Einzelstaatsrechte«, vom preußischen Gesandten in Washington nach seiner Meinung befragt, wie kaum anders zu erwarten, als Schwäche bezeichnete.[86] Es blieb eine ungeprüfte Einschätzung, denn die Verfassung fiel – wie von Calhoun vorausgesagt – wie das gesamte Projekt der Nationenbildung der wachsenden Autorität der deutschen Großmächte Preußen und Österreich und ihrem unversöhnlichen Konflikt darüber zum Opfer, wem in deutschen Landen der politische Vorrang gebührte.

Wer sollte zum neuen Deutschland gehören? Auch bei der schwierigen Frage, wer genau »ein Deutscher« war – Beselers Frage –, war die angestrebte deutsche Nation mit dem Problem konfrontiert, wie Nichtdeutsche hineinpassten. Wer zu einem Nationalstaat gehört, kann auf unterschiedliche Weise definiert werden: territorial, gesetzlich, sprachlich, kulturell, gewohnheitsrechtlich oder ethnisch. Entgegen einer verbreiteten Ansicht zog es die Deutschen, wie oben dargelegt, nicht unwiderstehlich zum letzten dieser Kriterien. Die Nationenmacher in Frankfurt am Main und die Öffentlichkeit lehnten ethnische Definitionen mehrheitlich weiterhin ab. In deutschen Landen lebten viele Nichtdeutsche – die Polen im östlichen Teil von Preußen und die vielen nichtdeutschen Völker im Habsburgerreich. Die Verfassungsmacher waren sich darin einig, dass sie als Vollbürger mit denselben bürgerlichen und politischen Rechten wie alle anderen Bewohner des künftigen Deutschlands anerkannt werden sollten. Im Vorparlament hatte ein Abgeordneter aus Wien vorgeschlagen, im Beschluss über die Wahl zur Nationalversammlung die Worte »jeder Deutsche« durch »jeder Staatsangehörige« zu ersetzen, was ohne Abstimmung angenommen wurde.[87] Dementsprechend führte der Verfassungsausschuss, der Nachfolger des Siebzehnerausschusses, im Oktober in seiner Erläuterung der ersten beiden Verfassungsartikel aus: »Da die Eigenschaft, Deutscher zu sein, wodurch das Reichsbürgerrecht bedingt ist, nicht durch die Nationalität als Stammesverwandtschaft sich bestimmt, so kann sie nur entweder dadurch begründet werden, daß jemand der Reichsgewalt, oder dadurch, daß er der Staatsgewalt eines einzelnen deutschen Staates, vermöge bleibenden Aufenthalts bloß innerhalb des Reichs- oder eines bestimmten Staatsgebietes, unterworfen ist, in diesem Sinne dem Reiche oder einem Staate im Reiche angehört[88] Dies war eine explizit politische oder staatsbürgerliche Definition der Staatsbürgerschaft, durch die an der Wolga oder in Amerika lebende Deutschsprachige oder -stämmige ausgeschlossen, in den Grenzen der Nation lebende Nichtdeutsche aber einbezogen werden sollten. Dafür gab es einen praktischen Grund: Nichtdeutsche sollten nicht abgestoßen werden. Gleichzeitig wollten die Verfassungsmacher in Frankfurt die Einheit der neuen Nation nicht gefährden, weshalb sie in Schlüsselmomenten diesen inklusiven Aspekt ihres Texts herunterspielten. Darum wollten sie auch keine förmliche Einbürgerungsprozedur festlegen.

Selbst wenn ihre Formulierungen augenfällig humanistisch grundiert waren, lagen die Dinge nicht so einfach. Der katholische Linksliberale Johann Peter Werner zum Beispiel drückte die weithin geteilte Überzeugung aus, dass deutsch zu werden eine Art Geschenk sei, indem er die Frage stellte: »[W]arum soll nicht das Kind, welches auf deutschem Boden geboren und unter den Deutschen aufgewachsen ist, und vielfache Bande mit dem Deutschen geschlossen hat, warum soll nicht auch dieses Kind die Anwartschaft auf das deutsche Staatsbürgerrecht haben?«[89] Während Nichtdeutsche als Staatsbürger anerkannt wurden, setzte man voraus, dass Deutsch die Amtssprache sein würde und Nichtdeutsche sich anpassen würden. Man stimmte weithin – auch auf der Linken mit ihrer geringschätzigen Rede von »kleinen Nationen« – darin überein, dass die deutsche Kultur und Zivilisation überlegen seien und die beherrschende Rolle in dem neuen Nationalstaat spielen würden.[90] Polen, Tschechen und Italiener hatten indes ihre eigenen Vorstellungen über den Aufbau eines Nationalstaats und wiesen den Gedanken einer deutschen Überlegenheit zurück.

Auf der deutschen Linken war anfangs die großmütige, romantische Einschätzung der Revolution von 1848 als »Völkerfrühling« verbreitet. Als der polnische Revolutionär Ludwik Mierosławski in Berlin aus dem Gefängnis entlassen wurde, eskortierte ihn eine begeisterte Menschenmenge, an deren Spitze jemand die schwarz-rot-goldene Fahne trug. Der radikale preußische Offizier Wilhelm Rüstow gab diese Haltung wieder, wenn er sich selbst als »Menschenfreund« bezeichnete und hochtrabend von einer »europäischen Menschheit« sprach, deren gemeinsame Interessen von Herrschern und ihren stehenden Heeren durchkreuzt würden. Auf Massenkundgebungen im Rheinland verknüpften demokratische Redner die deutsche Sache regelmäßig mit den nationalen Aspirationen von Italienern, Polen und Ungarn. Auch in Frankfurt am Main dachten Radikale wie Arnold Ruge und Gustav Struve, ein republikanischer Demokrat, der seinen Adelstitel abgelegt hatte, darüber nach, einen »Völkerkongress« einzuberufen. Selbst gemäßigte Liberale hofften, dass die europäischen Nationen, von alten dynastischen Machtspielen befreit, in Harmonie miteinander leben würden.[91] Als die Nationalversammlung zusammentrat, war dieser Optimismus noch vorhanden, doch zwischen Frühjahr und Herbst schwand er infolge ständigen Streits dahin – mit Dänemark über Schleswig-Holstein, mit Italienern über Tirol, mit Polen über Posen sowie mit anderen slawischen Völkern, die in Prag zu einem »Slawenkongress« zusammengekommen waren und sich im Sommer und Herbst lautstark Gehör verschafften.

Die Frage der Grenzziehung erwies sich als besonders umstritten. Deutsche und Nichtdeutsche trugen gleichermaßen hitzig ihre Forderungen vor. Tschechen, Polen und Ungarn meldeten 1848 allesamt weitreichende territoriale Ansprüche an, die entsprechende Forderungen von anderen durchkreuzten. Ein tschechischer Nationalstaat hätte Slowaken, Ungarn und Deutsche einverleibt. Polen träumten von der Wiederauferstehung ihres Staats unter Einschluss von Litauern, Weißrussen und Ukrainern. Großungarn hätte Rumänen und Kroaten einbezogen.[92] Was Italien betraf, betrachtete selbst der sanfte italienische Apostel des Nationalitätsprinzips Giuseppe Mazzini sein Land als eine der wenigen wahrhaften Nationen Europas. Er berief sich auf »Geschichte, Genealogie, Blut, Land und die Ehre der Nation«.[93]

Die 1848 erhobenen miteinander konkurrierenden nationalen Forderungen waren mehr als nur Worte. Im Mai brach in Posen ein Aufstand gegen die Deutschen aus. Dann war von der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen die Rede, worauf im Juni als Reaktion auf die brutale Unterdrückung der Tschechen durch das Habsburgerreich ein Aufstand in Prag folgte. Die früheste und vielleicht größte Provokation kam vom dänischen König Friedrich VII., der am 21. März 1848 auf eine Forderung der nationalistischen Bewegung in seinem Land einging, indem er bekannt gab, dass er beabsichtige, die gesamte, mehrheitlich deutsche Provinz Schleswig an Dänemark anzuschließen. Man kann den deutschen Nationalismus von 1848/49 als zum großen Teil reaktive Bewegung betrachten, muss aber auch darauf hinweisen, dass die Frankfurter Nationalstaatsgründer in spe sich bei der Grenzziehung des künftigen Deutschlands weitgehend an die Grenzen des Deutschen Bundes von 1815 hielten.

Aber die Frankfurter Abgeordneten legten auch beim Abstecken der deutschen Ansprüche Widersprüchlichkeit und Überheblichkeit an den Tag. Die Grenzen des Deutschen Bundes bildeten zwar die Grundlage der Überlegungen, aber es gab auch Vorschläge, über sie hinauszugehen. Die Argumente waren häufig widersprüchlich. In Bezug auf Schleswig und Tirol führte man rechtliche und historische Gründe an und betonte die territoriale Integrität, während man beim Vorschlag, das überwiegend polnische Posen zu teilen, zu deutschnationalen Begründungen wechselte. Linke Abgeordnete wiesen auf den Widerspruch hin.[94] Gelegentlich war die Argumentation in Bezug auf die Grenzen auch offen strategischer Art, wie bei der Diskussion italienischer Ansprüche oder in Bezug auf den Osten, wo man eine starke Grenze zu Russland haben wollte, weshalb polnische Forderungen kein Gehör fanden. Aber die Überordnung deutscher über polnische Interessen ging darüber hinaus. Die berüchtigte Rede des jungen Schriftstellers und Journalisten Wilhelm Jordan vom Juli 1848 mit ihren schrillen Äußerungen über die »Übermacht des deutschen Stammes gegen die meisten slavischen Stämme« und Stereotypen über die angebliche Rückständigkeit der Polen mag hinsichtlich der groben Sprache eine Ausnahme gewesen sein, aber was die Vorurteile betraf, war sie es nicht. Auch andere Abgeordnete sprachen von polnischer Rückständigkeit und überlegener deutscher Zivilisation. Julius Ostendorf bemühte einen Vergleich, der zu einer verbreiteten Redefigur werden sollte, indem er die Deutschen mit den Siedlern an der amerikanischen Westgrenze und die Polen an der deutschen Ostgrenze mit den amerikanischen Eingeborenen verglich.[95] Dies markierte die völlige Abkehr von der polenfreundlichen Haltung der Jahre nach 1830, die nur wenige Monate zuvor noch vorhanden gewesen war. Manche Linke hielten an ihr fest, doch es ist erwähnenswert – und wurde auch von Zeitgenossen bemerkt –, dass Jordan ein Linker war.

Jordans Rede war nicht die einzige in Frankfurt gehaltene, die durch eine vollmundige Behauptung deutscher zivilisatorischer Überlegenheit gekennzeichnet war. Der gemäßigt Liberale Heinrich von Gagern, erster Präsident der Nationalversammlung, hielt sich, als er über die ethnisch gemischten Donauprovinzen des Habsburgerreichs sprach, ebenfalls nicht zurück. Er befürwortete die Einbeziehung dieser überwiegend nicht deutschsprachigen Gebiete in den neuen Staat, verlangte aber, Deutschland solle »die Mission Oesterreichs« übernehmen, »die Verbreitung deutscher Cultur, Sprache und Sitten längs der Donau bis an das schwarze Meer in die durch so verschiedene Völkerschaften dünn bewohnten und doch so hoffnungsreichen Länder hinein, deren ganze Civilisation sich an die deutsche anzulehnen schon gewohnt ist, die sich nach dem deutschösterreichischen Schutz und vermehrtem Einfluß sehnen«. Gäbe man den »großen, weltgebietenden« »Beruf des deutschen Volks« auf, würde er »den Stolz verlieren, meinem Volke anzugehören«.[96] Ähnliche Argumente wurden in Bezug auf den »germanischen Born« der Kultur der nichtdeutschen Völker in Böhmen und Mähren angeführt, und die gemäßigte Presse applaudierte dieser nationalliberal- gefärbten zivilisierenden Mission.[97] Mehrere Redner in der Frankfurter Paulskirche sahen ein unter deutschem Einfluss stehendes »Mitteleuropa« entstehen. Manche waren sogar noch ambitionierter und fantasierten von einem deutschen Staat als »Magnet«, der schließlich andere Deutschsprachige, die bereits einen eigenen Staat hatten, anziehen würde. Der Kurzbegriff dafür war »Stämme deutscher Zunge am Ober- und Niederrhein«, das heißt die Schweizer und die Niederländer – vielleicht sogar die Elsässer. Doch das lag in der Zukunft. Im Augenblick begnügte sich die Mehrheit der Nationalversammlung damit, im Juli 1848 über die Eingliederung des Herzogtums Limburg, das zwar zum Deutschen Bund gehörte, aber auch eine Provinz des Königreichs der Niederlande war, abzustimmen.[98]

Im April 1848 sprach der künftige britische Premierminister Benjamin Disraeli von »diesem träumerischen und gefährlichen Unsinn namens ›deutsche Einheit‹«.[99] Anlass dieser Bemerkung war der Schleswig-Holstein-Konflikt, den man in London aufmerksam verfolgte. Deutsche und dänische Nationalisten hatten ihre jeweiligen Klagen in den zwei Jahrzehnten vor 1848 ein ums andere Mal wiederholt. Die dänische Entscheidung vom März, Schleswig zu annektieren, löste einen Aufstand deutscher Nationalisten aus. Die Nationalversammlung in Frankfurt unterstützte die deutschen Forderungen in beiden Herzogtümern, und Preußen intervenierte aufseiten der Provisorischen Zentralgewalt, wie die deutsche Reichsregierung genannt wurde, gegen Dänemark. Die Schleswig-Holstein-Frage entfachte überall in Deutschland nationale Leidenschaften. Freiwillige eilten in den Norden, um für die deutsche Sache zu kämpfen. Als Preußen auf britischen und russischen Druck am 5. September einen Waffenstillstand schloss und gegen den Wunsch der Nationalversammlung seine Truppen zurückzog, wurde daraus ein Symbol nationaler Schande und zugleich ein Kampfruf; eine Stuttgarter Zeitung erklärte, der 5. September könne »ein weltgeschichtlicher Tag für Deutschland« werden.[100] Der Rückzieher verstärkte die Forderung nach einer deutschen Kriegsmarine. Es brach eine regelrechte »Flottenbegeisterung« aus. Eine Nation ohne Marine, erklärte ein Radikaler, sei wie ein Vogel ohne Flügel.[101] Pamphlete erschienen, Sammlungen wurden veranstaltet und Petitionen an die Nationalversammlung geschickt, die den Aufbau einer deutschen Kriegsmarine forderten, was bei den Adressaten auf offene Ohren stieß. In Frankfurt stimmte nur ein einziger Abgeordneter, ein Mitglied der linken Donnersberg-Fraktion, gegen den Aufbau einer nationalen Marine.[102]

Der Krieg mit Dänemark bot den unmittelbaren Anlass für den Aufbau einer Kriegsmarine, da die dänische Beschlagnahme deutscher Handelsschiffe Deutschlands maritime Schwäche offenbart hatte. Aber die Marineambitionen deutscher Nationalisten gingen über die Küstenverteidigung hinaus. Der preußische Admiral und Marinetheoretiker Prinz Adalbert von Preußen erklärte in einer vom Paulskirchenparlament in Auftrag gegebenen »Denkschrift über die Bildung einer deutschen Kriegsflotte« den Küstenschutz zur Minimalanforderung an eine deutsche Marine; ein größeres Programm würde den Schutz deutscher Staatsbürger und deutschen Handels jenseits der Heimatgewässer ermöglichen, und ein noch ehrgeizigeres Programm würde die Nation in die erste Reihe der Seemächte bringen. Prinz Adalbert ließ keinen Zweifel daran, dass er die dritte Option bevorzugte, und viele Redner in der Nationalversammlung teilten seine Ansicht. Sie verwiesen auf deutsche materielle Interessen in Übersee und verknüpften sie mit kulturellem Fortschritt, indem sie eine Reihe von Argumenten vorbrachten, die für den liberalen Nationalismus der Mitte des 19. Jahrhunderts typisch waren und aufgrund ihrer Wurzeln im englischen Freihandelsliberalismus häufig unter dem Begriff »Manchestertum« subsumiert wurden. Allen in Frankfurt für die Schaffung einer Kriegsmarine angeführten Argumenten, ob nun geopolitischer, materieller oder kultureller Art, war als Hintergrundgeräusch der Bezug auf den deutschen Nationalstolz gemeinsam: Man wollte auf See etwas darstellen, ernst genommen und geachtet werden, Ehre und Würde besitzen und vor allem, in Georg Beselers Worten, nicht »dem Auslande […] zum Gespött« werden.[103]

Dies schloss Hilfsersuchen an wohlwollende Nationen, insbesondere Großbritannien und die Vereinigten Staaten, nicht aus. Die Provisorische Zentralgewalt in Frankfurt am Main bemühte sich auf vielen Ebenen um Unterstützung – beim Erwerb von Schiffen, von Mannschaften und Offizieren und organisatorischer Expertise. Als besonders entgegenkommend erwies sich Amerika. Viele Mitglieder der Nationalversammlung hatten persönliche Verbindungen in die Vereinigten Staaten; offizielle Kommunikationskanäle wurden durch Andrew Jackson Donelson, den amerikanischen Gesandten in Frankfurt, zu Präsident James K. Polk und Außenminister James Buchanan hergestellt. Zwei geheime amerikanische Missionen reisten nach Frankfurt, um zu besprechen, wie die Vereinigten Staaten helfen konnten. Dem Leiter der zweiten Mission, Commodore Foxhall Alexander Parker, wurde der Posten des Oberbefehlshabers der deutschen Marine angeboten, aber er lehnte ab und verfasste für seine Vorgesetzten in Washington einen überwiegend negativen Bericht. Am Ende kam, was Deutschland erhielt – hauptsächlich Schiffe –, zu spät, um im Krieg gegen Dänemark oder der Zentralgewalt in Frankfurt von Nutzen zu sein. Aber hier steht in gewisser Weise die Frage nach dem Huhn und dem Ei im Raum. Parkers nachteiliger Bericht – in dem er beispielsweise erklärte, es wäre für amerikanische Offiziere nicht sehr ehrenhaft, zur deutschen Marine abgestellt zu werden – beruhte zum Teil auf seiner negativen Ansicht darüber, was Deutschland auf kurze Sicht gegen die dänische Übermacht ausrichten konnte, aber mehr noch auf der ihm von Donelson nahegebrachten Auffassung, dass die Zentralgewalt selbst sich gegenüber Preußen in einer angreifbaren Lage befand, so dass es für die Vereinigten Staaten peinlich werden könnte, eine Regierung mit einer solch kurzen Lebenserwartung unterstützt zu haben.[104]

Der Blick des aus Tennessee stammenden Donelson auf die politischen Realitäten war offenbar schärfer als derjenige vieler deutscher Liberaler in Frankfurt. Revolutionen sind dynamische Vorgänge. Die Ereignisse von 1848/49 waren in Deutschland besonders verwickelt, weil die Revolution dort neben politischen und sozialen Ursachen auch einen nationalen Aspekt hatte und sich zudem gleichzeitig in der Nationalversammlung, in den Parlamenten der Einzelstaaten, in Klubs und auf den Straßen abspielte. Die preußische Entscheidung vom September 1848, sich aus dem Krieg mit Dänemark zurückzuziehen, war zum Teil darin begründet, dass die deutschen Dynastien sich von dem Schock der Märzereignisse und dem darauf folgenden Kontrollverlust zu erholen begannen. Donelson traf im September in Frankfurt ein, gerade als sich das Blatt unverkennbar gegen die Zentralgewalt wendete. In den meisten Staaten war eine schleichende Konterrevolution im Gange. Im Habsburgerreich, wo der Hof aus Wien nach Innsbruck geflohen war, wurde zwischen Juni und Oktober die nationalistische Opposition in Böhmen, Italien und Ungarn militärisch niedergeschlagen, und im Oktober eroberte die Monarchie Wien von den Revolutionären zurück. In Preußen gaben militärische Hardliner im Sommer und Herbst in zunehmendem Maß den Ton an. Die Ernennung des unerbittlichen Generals Friedrich von Wrangel zum Oberbefehlshaber in den Marken, der früheren Mark Brandenburg, war das Vorspiel zu dem Coup zwei Monate später, als das Parlament vertagt und die Errungenschaften der Märzrevolution zurückgenommen wurden.

Aufgrund der Konterrevolution in den beiden größten deutschen Staaten gerieten die Nationenmacher in Frankfurt am Main in eine immer isoliertere Lage. Ein Anzeichen ihrer Schwäche war die Hinrichtung eines Politikers aus ihren Reihen, Robert Blums. Er wurde im Oktober 1848 als Vertreter linker Abgeordneter der Nationalversammlung nach Wien entsandt, um den Revolutionären, die dort an der Macht waren, eine Grußbotschaft zu überbringen. Dort wurde Blum von der Einnahme Wiens durch die Truppen des Generals Alfred zu Windisch-Graetz überrascht, verhaftet, wegen Teilnahme an einem Aufstand angeklagt und im November trotz seiner parlamentarischen Immunität hingerichtet. Dies alles bedeutete indes noch nicht das Ende der Revolution. Das militärische Vorgehen in Preußen und Österreich zeigte, bei wem die Autorität letztlich lag, aber das Militär teilte sich die Macht mit flexibleren postrevolutionären Konservativen. Preußen erhielt im Dezember eine neue Verfassung; in Österreich blieben wichtige liberale Minister im Amt, und Ministerpräsident Felix zu Schwarzenberg überredete Kaiser Ferdinand, zugunsten seines 18-jährigen Neffen Franz Joseph abzudanken. Außerdem räumte man sowohl in Berlin als auch in Wien ein, dass die »deutsche Frage« offen blieb, bis die Nationalversammlung ihre Arbeit vollendet hatte.

Im Oktober 1848 stimmte das Paulskirchenparlament mit überwältigender Mehrheit für die Schaffung eines Großdeutschlands unter Einschluss der deutschen Teile des Habsburgerreichs; die nichtdeutschen sollten nicht in den neuen Staat einbezogen werden. Dies stieß in Wien, wie zu erwarten, auf erheblichen Widerstand, weil es den Zusammenhalt der Monarchie gefährdete. Während die Zentralgewalt im Januar 1849 Commodore Parker hofierte, weil sie auf Hilfe beim Aufbau einer Kriegsflotte hoffte, mit der Dänemark besiegt werden könnte, bemühte sie sich zugleich weiterhin, die österreichischen Einwände auszuräumen. Heinrich von Gagern, der große Kompromissarchitekt, entwarf einen Plan für ein von Preußen geführtes Deutschland, das mit Österreich in gewisser Weise assoziiert war. Sein Vorschlag fand bei den Abgeordneten der Nationalversammlung aber kaum Anklang. Dann schlug Wien Anfang März 1849 die Tür zu einer großdeutschen Lösung endgültig zu, indem es zu verstehen gab, dass man das Habsburgerreich niemals zerbrechen werde. Damit blieb nur noch die kleindeutsche Option. Am 28. März verabschiedete die Nationalversammlung schließlich eine Reichsverfassung. Fünf Tage später, am 2. April, lehnte Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die Reichskrone, die ihm eine Delegation aus Frankfurt anbot, ab – öffentlich in höflicher Form, privat voller Verachtung.

Damit trat die Revolution in ihre letzte Phase ein. Gemäßigte zogen sich aus der Nationalversammlung zurück; andere Abgeordnete wurden von Preußen und Österreich – unberechtigterweise – abberufen. Ein von der Linken dominiertes Rumpfparlament suchte in Stuttgart Zuflucht, wo es im Juni von Württemberger Soldaten aufgelöst wurde. Im Frühjahr 1849 kam es zu einem letzten radikalen Aufbäumen, vorgeblich zur Verteidigung der Verfassung, aber im Grunde als Ventil der aufgestauten Enttäuschung über die Rechtswende der Revolution. Die Kämpfe fanden im Südwesten, am Niederrhein und in Sachsen statt, wo der junge Richard Wagner zu den Barrikadenkämpfern gehörte. Dieser letzte, von preußischen Truppen erstickte Atemzug der Revolution war überwiegend derjenige von Radikalen in den Provinzen, erhielt aber einige Unterstützung von ausländischen Revolutionären – als letztes, schwaches Echo der Hoffnungen, die man nur ein Jahr zuvor in die »europäische Menschheit« und den »Völkerfrühling« gesetzt hatte.[105]

Die Revolution scheiterte, insofern die Fürsten ihre Throne behielten – auch wenn in Wien und München Herrscher abdankten – und keine Vereinigten Staaten von Deutschland geschaffen worden waren. Dass es nicht gelungen war, die Einheit Deutschlands herzustellen, war eher eine Folge als eine Ursache des größeren Scheiterns. Der Streit zwischen den Verfechtern von Groß- beziehungsweise Kleindeutschland über den Umriss des erhofften Nationalstaats spaltete und schwächte die Politiker in Frankfurt und anderswo. Aber er markierte nur eine der politischen Bruchlinien von 1848, die im Übrigen nicht der Hauptgrund dafür waren, dass die Revolution so endete, wie sie es tat. Die Hauptursachen waren die Kluft, die zwischen der politischen und der sozialen Revolution aufbrach, und die schiere Feuerkraft in den Händen der dynastischen Herrscher, nachdem sie ihre Nerven beruhigt hatten, insbesondere in Berlin und Wien. Im Fall des Habsburgerreichs zeigten die Nichtdeutschen in den Reihen seiner Truppen, wie geschickt die Monarchie darin war, untertane Völker innerhalb ihres Vielvölkerstaats zu benutzen, um wieder andere zu unterdrücken und die großdeutschen Revolutionäre in Wien niederzuschlagen.

Der deutsche Nationalismus selbst hatte sich seit März 1848 verändert. Die Revolution entfachte nationale Antagonismen und Ressentiments, die nicht so leicht wieder auszumerzen waren. Man hatte voller Leidenschaft von Ehre, Stolz und Weltgeltung geredet. Die angebliche Notwendigkeit einer starken Kriegsmarine wurde zu einem Hauptthema nationalistischen Denkens, und der Traum von einem deutsch dominierten »Mitteleuropa« war in der Welt. Der Flügel des deutschen Nationalismus, der die »europäische Menschheit« betonte und die deutsche Sache mit derjenigen anderer Völker verknüpfte, war deutlich geschwächt.[106]

Auch von der Welle der politischen Emigration nach der endgültigen Niederschlagung der Revolution war der radikal-demokratische Nationalismus am stärksten betroffen. Allein von den Abgeordneten des Paulskirchenparlaments wurde die Hälfte der rund 225 Mitglieder einer der linken oder zentristischen Fraktionen juristisch verfolgt – zumeist in Abwesenheit. Einige wurden zum Tod verurteilt. Die Gesamtzahl politischer Emigranten ging in die Zehntausende. Zu ihren Zielen gehörten Belgien, Südamerika und Australien, aber die meisten gingen – wie die Emigranten in früheren Zyklen postrevolutionärer Repression – in eines aus einer kleinen Zahl von Ländern. Frankreich kam zu diesem Zeitpunkt wegen des scharfen konservativen Durchgreifens unter Staatspräsident Charles-Louis-Napoléon Bonaparte, dem späteren Napoleon III., nicht infrage. Dort wurden Flüchtlinge nicht eingelassen und diejenigen, die sich bereits im Land befanden, ausgewiesen. Blieben die Schweiz, Großbritannien und die Vereinigten Staaten. Im Juli 1849 befanden sich allein in der Schweiz über 10 000 deutsche Emigranten. Die Kosten ihrer Unterstützung veranlassten die Schweizer Behörden, mit den deutschen Fürsten zu verhandeln, um sie zur Nachsicht zu bewegen. Als dies fehlschlug, drängten sie Emigranten, die nur mit leichten Strafen rechnen mussten, zur Rückkehr nach Deutschland. Andere verstanden den Wink und verließen das Land von sich aus, so dass sich 1852 nur noch ein paar Hundert Emigranten in der Schweiz aufhielten.[107] Großbritannien blieb ein bevorzugter Zufluchtsort für politisch Verfolgte, und die deutsche Kolonie wuchs nach 1849 erheblich an.[108]

Noch beliebter war allerdings Amerika. Die deutschen Staaten, besonders diejenigen im Südwesten, waren erleichtert, als die politischen Emigranten, die sich gleich jenseits der Grenze in der Schweiz aufgehalten hatten, in die fernen Vereinigten Staaten weiterzogen. Dies verringerte die Gefahr, dass sie sich zurück nach Deutschland schlichen, und ersparte viel Geld und Anstrengung, die es kostete, frühere 48er zu finden und zu überreden, ihre Genossen auszuspionieren, oder andere Formen der Überwachung auf ausländischem Territorium durchzuführen. Tatsächlich boten manche Staaten politischen Gefangenen eine Amnestie an, wenn sie versprachen, auf Nimmerwiedersehen über den Atlantik zu verschwinden.[109] Das war eine Variante der Politik, Kriminelle nach Übersee zu verschiffen.[110] Ob diese »freiwilligen« politischen Emigranten in ihren Gastländern politisch ebenso aktiv waren wie in ihrer alten Heimat, ist eine offene Frage. Gewiss engagierten sich viele ehemalige 48er in der amerikanischen Politik. Carl Schurz ist der bekannteste unter ihnen, aber nur einer von vielen, die sich in amerikanischen radikalen Bewegungen wie derjenigen für die Sklavenbefreiung engagierten oder in Großstädten wie New York, Cincinnati und St. Louis und in Kleinstädten wie Hoboken und New Jersey in Gewerkschaften oder sozialistische Organisationen eintraten.[111] In den 1850er-Jahren schlossen sich manche entwurzelte Nationalisten aus den gescheiterten Aufständen, insbesondere radikale Offiziere, auch irregulären Kampfeinheiten wie William Walkers »Filibusters« in Nicaragua an.[112] Sie waren eine kümmerliche, fast komödienhafte Neuauflage der deutschen radikalen Nationalisten, die dreißig Jahre zuvor in Spanien und Griechenland gekämpft hatten, eine perfekte Illustration von Karl Marx’ Nach-48er-Bonmot, dass Geschichte sich immer zweimal ereigne, das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Farce.

Eine Nation schmieden

Wir wissen, wie die Geschichte endete, mit der Schaffung eines Kleindeutschlands unter der Führung Otto von Bismarcks. Aber schauen wir für einen Augenblick darauf, wie die Enttäuschten und Entmutigten von 1848 die Möglichkeiten sahen, als die Zukunft noch offen war. Viele Emigranten hofften auf eine Rückkehr, weshalb sie die politische Entwicklung in Deutschland aufmerksam verfolgten. Ein wichtiger Teil der öffentlichen Debatte über die Frage, wie man einen deutschen Nationalstaat schaffen konnte, fand daher außerhalb des Landes statt, in Exilgemeinden und in Briefen, die zwischen der Schweiz, Großbritannien und den Vereinigten Staaten hin- und hergingen. Das Exilleben war häufig schwierig. Der Historiker Carl Nauwerck wurde Zigarrenhändler in Zürich, der Journalist Carl Mayer verkaufte in Neuchâtel Uhren und Schmuck und forderte seine Briefpartner gelegentlich auf, Artikel aus einem mitgeschickten Katalog zu erwerben. Der radikale Hegelianer Arnold Ruge eröffnete in Brighton an der Südostküste Englands ein Daguerreotypie-Geschäft, womit er sich den Hass des Engländers zuzog, der bisher das einzige Geschäft dieser Art in der Stadt geführt hatte.[113] Die Emigranten sorgten und stritten sich und hatten Heimweh. Er fühle sich »hier sowenig heimisch, daß ich lieber heute als morgen das Land verließe«, schrieb der emigrierte Politiker Friedrich Kapp aus New York an seinen Freund Moritz Hartmann, der sein Exil in Frankreich, Großbritannien und der Schweiz verbrachte.[114] Es sei eine »harte Schule«, bemerkte der altgediente Demokrat Wilhelm Schulz 1851.[115]

Der aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammende Ludwig Bamberger, der während der Revolution zu einem demokratischen Journalisten geworden war, und sein radikaler Mitstreiter Gustav Struve verfassten Anfang 1850 ein langes Rundschreiben an Mitglieder der Linken, in dem sie einen hellsichtigen Überblick über das politische Leben gaben. Deutsche Demokraten hätten lange Zeit Grund gehabt, Frankreich dankbar zu sein, schrieben sie. Nun jedoch sollte niemand mehr erwarten, dass die Freiheit von dort kommen würde; genauso wenig sei dies der Augenblick, um Solidarität mit anderen europäischen Nationen zu bezeigen. Deutschland solle sich besser selbst in eine Demokratie umwandeln, um den Nachbarvölkern nicht nur auf dem Gebiet politischer Prinzipien, sondern auch auf demjenigen der äußeren Macht, die es aufbieten könne, auf Augenhöhe zu begegnen. Erst dann könne man eine brüderliche Hand ausstrecken. Die Deutschen, fuhren Bamberger und Struve fort, seien nicht durch die »Bande […] einer engen specifischen Nationalität« gefesselt wie Polen und Italiener, sondern »Träger einer höhern, allgemeinern Nationalität«. Die Demokraten sollten sich der »weltgeschichtlichen Anlage und Aufgabe Deutschlands« bewusst sein.[116] Diese nicht eben bescheidenen Ansichten wurden weithin geteilt.

Während Bamberger und Struve ins Exil gegangen waren, waren andere geblieben. Es gab offensichtliche Unterschiede zwischen den Lagern. Die meisten Emigranten standen weiter links und neigten dazu, den in Deutschland Gebliebenen Opportunismus zu unterstellen, während diesen ihre Vorstellungen utopisch oder unrealistisch erschienen. Aber die Gruppen hatten auch viel gemeinsam. Während das Emigrantenleben seine Härten hatte, waren Nationalliberale in Deutschland mit einem ausgebauten Überwachungssystem konfrontiert, das alles übertraf, was Metternich vor 1848 zur Verfügung gestanden hatte – Aufstandsbekämpfung mit modernem Gesicht.[117] Für die Daheimgebliebenen wurde das Schreiben zu einer Art Selbsttherapie. Beide Gruppen setzten ihre Hoffnungen in den »Fortschritt«, das große Schlagwort der Zeit, verkörpert von der Eisenbahn und dem Telegrafen. Während die Emigranten physisch geflohen waren, hatten sich viele Daheimgebliebene, wenigstens vorübergehend, aus der eigentlichen Politik in Eisenbahnausschüsse und dergleichen zurückgezogen.[118] Noch wichtiger ist, dass sich bei Daheimgebliebenen und Emigranten, Liberalen wie Demokraten gleichermaßen, ein neuer pragmatischer »Realismus« durchzusetzen begann.

Ludwig August von Rochau lieferte das passende Schlagwort. Nachdem er in den 1830er-Jahren im französischen Exil gelebt hatte und nach 1848 erneut hatte emigrieren müssen – diesmal nach Italien –, kehrte er nach Deutschland zurück, wo er sich in Heidelberg niederließ und 1853 ein Buch veröffentlichte, das ihn berühmt machte: Grundsätze der Realpolitik.[119] Die neue harte Denkungsart betraf unter anderem die Außenpolitik und militärische Fragen. Man setzte seine Hoffnungen weniger auf andere Nationen, und die militärische Lektion von 1848/49 – dass stehende Heere stark seien und das bewaffnete Volk es nicht mit ihnen aufnehmen könne – hatte zur Folge, dass man erneut die Bedeutung einer Landwehr und eines paramilitärischen Sportprogramms zu deren Stärkung hervorhob. In dieser pragmatischen, nachrevolutionären Stimmung hofften viele Nationalliberale sogar auf einen »guten Krieg«, der die Bildung eines deutschen Nationalstaats herbeiführen würde.[120]

Nach der Lockerung der Zensur und der polizeilichen Überwachung beschleunigte sich in den späten 1850er-Jahren die politische Entwicklung in Deutschland. Als Wilhelm I. seinen Bruder Friedrich Wilhelm IV. als Regent von Preußen ablöste, markierte es den Beginn einer »neuen Ära«, wie sie auch in anderen deutschen Bundesstaaten anbrach. Liberale und demokratische Politiker beteiligten sich wieder am öffentlichen Leben oder kehrten vorsichtig aus dem Ausland zurück. Sie veranstalteten Versammlungen und wurden überall in Deutschland in großer Zahl in Parlamente gewählt. Wie 1848 verbanden sie ihre innenpolitischen Anliegen – Konstitutionalismus, Parlamentsmacht, Versammlungs- und Redefreiheit, Rechtsstaatlichkeit – mit der Forderung nach einem vereinigten Deutschland. Liberale und Demokraten wollten sowohl »Freiheit« als auch »Einheit«, auch wenn ihre Schwerpunkte unterschiedlich waren, und beide waren mehr als vor 1848 geneigt, die »Macht« der künftigen Nation als drittes Element in die Gleichung aufzunehmen.[121] Auch durch einen zunehmenden protestantischen Antiklerikalismus, der häufig in Antikatholizismus umschlug, kam ein schärferer Ton in den nationalliberalen Diskurs. Dies war zum Teil darin begründet, dass man die reaktionäre politische Rolle der katholischen Kirche in den 1850er-Jahren und die Bereitschaft einiger südlicher Bundesstaaten, Konkordate mit dem Vatikan zu schließen, missbilligte. Vor allem aber empörte deutsche Nationalliberale die doppelte päpstliche Provokation des übernationalen Anspruchs und der Feindseligkeit gegenüber dem Fortschrittsglauben.[122]

Die konfessionelle Spaltung wirkte sich offensichtlich auf die Auseinandersetzung zwischen dem katholischen Österreich und dem protestantischen Preußen über die »deutsche Frage« aus, die 1848/49 ungelöst geblieben war. In den 1850er-Jahren stritten sich beide Mächte über die Zollunion, eine Reform des Deutschen Bundes und zahlreiche kleinere Verfahrensfragen. Der Konflikt wurde über die Köpfe der kleineren Staaten – der »Mindermächte« oder des »Dritten Deutschlands« – hinweg ausgetragen, aber auch vor den Augen einer nationalistischen öffentlichen Meinung, die sich als beachtlich erwies, sobald sie zugelassen wurde. Der Krimkrieg von 1854 bis 1856 wirkte sich, wenn auch zeitlich verzögert, stark auf die deutsche Politik aus, da er die Schwäche Österreichs deutlich machte und es international isolierte.[123] Direktere Folgen für Deutschland hatten die dramatischen Ereignisse von 1859 in Italien. Das Königreich Sardinien(-Piemont) führte mit französischer Unterstützung einen erfolgreichen Krieg gegen Österreich um dessen oberitalienische Besitzungen und zwang Wien, die Lombardei abzutreten. Dies war nicht nur eine militärische Katastrophe für Österreich. Nationalisten empfanden es als Demütigung für Deutschland, und es stärkte die Ansicht, dass ein mächtiges, vereinigtes Deutschland nur unter preußischer Führung erreicht werden könne.[124] Im selben Jahr wurde der Deutsche Nationalverein gegründet, der sich für eine kleindeutsche oder »großpreußische« Lösung einsetzte; auf seinem Höhepunkt in den Jahren 1862/63 hatte er nicht weniger als 25 000 Mitglieder (einschließlich 600 Emigranten), die überwiegend dem wohlhabenden, gebildeten preußischen Bürgertum angehörten.[125] 1859 fanden außerdem viele Feierlichkeiten aus Anlass des hundertsten Geburtstags von Friedrich Schiller statt, welche die Einstellung dieses einflussreichen Teils der Öffentlichkeit widerspiegelten – eine liberale, nationalistische, vom Protestantismus geprägte Haltung, zu der es in zunehmendem Maß auch gehörte, Preußen als Treuhänder deutscher Kultur zu sehen.[126]

Im Rückblick scheint es offensichtlich zu sein, dass Preußen den Kampf um Deutschland gewinnen würde. Im Gegensatz zu Österreich wurde es nicht davon abgelenkt, eine Vielzahl von untertanen Nationalitäten unter einen Hut bringen zu müssen, und war wirtschaftlich und in allem, woran »Fortschritt« gemessen wurde – von Universitäten bis zu Dampfmaschinen –, erheblich dynamischer. Darüber hinaus hatte es eine stärker fordernde nationalistische Öffentlichkeit hinter sich. So bescheiden die Mitgliederzahl des Deutschen Nationalvereins erscheinen mag, im Vergleich mit seinem proösterreichischen Pendant, das gerade einmal 1500 Mitglieder zählte, war sie riesig. Aber die Zeitgenossen konnten die Zukunft nicht besser vorhersagen als wir heute. Die Kämpfe in Italien, zum Beispiel, riefen einige völlig falsche Prognosen hervor. Der Zoologe und Wissenschaftspublizist Carl Vogt schrieb aus dem Schweizer Exil an deutsche Zeitungen, der Konflikt würde mindestens zwei Jahre andauern und Frankreich 200 000 Todesopfer kosten; in Wirklichkeit dauerte er zehn Wochen und forderte 7000 französische Gefallene.[127] Es war damals also keineswegs offensichtlich, dass Österreich aus Deutschland hinausgedrängt werden würde; man war sich noch nicht einmal einig darüber, dass dies geschehen sollte. Bis zum Schluss – als der sich das Jahr 1866 erweisen sollte – hofften viele Nationalisten, dass ihre deutschsprachigen österreichischen Brüder der künftigen Nation angehören würden, und viele waren verstört darüber, dass Preußen nichts unternommen hatte, um Österreich in Italien zu helfen, und Napoleon III. stattdessen erlaubt hatte, einen Erfolg zu erringen. (Frankreich ergriff 1859 die Gelegenheit, sich Savoyen einzuverleiben, was der Liberale Karl Biedermann als casus belli ansah.)[128] Nach Ansicht eines berühmten linken Emigranten, Friedrich Engels, war es notwendig, »den Rhein am Po zu verteidigen«.[129] In diesen Jahren nach 1859 erlebte der deutsche Nationalismus eine breitere und zunehmende »Militarisierung«.[130]

Anfang der 1860er-Jahre provozierte Österreich Preußen erneut, indem es sich hinter einen sächsischen Plan zur Reform des Deutschen Bundes stellte und Unterstützung für einen mitteleuropäischen Zollverbund suchte, der die preußische Vorherrschaft gebrochen hätte. Mit beiden Initiativen umwarb Österreich die kleineren deutschen Staaten, die sich vor einem übermächtigen Preußen fürchteten. Nach dem Debakel von 1859 führte Wien außerdem einige bescheidene Verfassungsreformen durch, um sein Ansehen im Deutschen Bund zu erhöhen. Anfang der 1860er-Jahre sah es tatsächlich so aus, als würde der Konstitutionalismus in Österreich besser funktionieren als in Preußen, wo ein Konflikt zwischen Krone und Parlament ausgebrochen war. 1860 brachte der preußische Kriegsminister Albrecht von Roon ein Gesetz ins Parlament ein, welches das stehende Heer stärken und die Landwehr – das »einzige preußische volksthümliche Institut«, wie Heinrich Simon, ein Veteran von 1848, empört aus dem Schweizer Exil schrieb[131] – schwächen würde. Das Gesetz war ein Schlag ins Gesicht von Liberalen und Demokraten, die zwar die militärische Einsatzbereitschaft erhöhen wollten – sie waren keine Pazifisten –, aber nicht auf eine Weise, die den Vorrang der Militärkaste auf Kosten der Bürgersoldaten und Steuerzahler zementierte.

Als Wilhelm I. auf seinem Standpunkt beharrte, tat es die Opposition im preußischen Abgeordnetenhaus ebenso. Im Januar 1861, demselben Monat, in dem Wilhelm nach dem Tod Friedrich Wilhelms IV. König wurde, war eine neue Partei gegründet worden, die Deutsche Fortschrittspartei. Im Dezember führte eine Wahl zu einer linken Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Wilhelm ernannte daraufhin weitere reaktionäre Minister und löste das Abgeordnetenhaus auf, nur um nach der Neuwahl im Mai 1862 einer noch größeren Oppositionsmehrheit gegenüberzustehen. Die Fortschrittspartei und ihre Verbündeten begannen nun eine Widerstandskampagne: Sie boykottierten offizielle Empfänge und veranstalteten politische Bankette und Massenversammlungen. Es war wie ein Nachhall von 1848. Eine liberale Frankfurter Zeitung verkündete, Preußen werde bald »für eine Revolution reif« sein.[132] Der britische Außenminister John Russell bot, nur halb im Scherz, an, für den Exilmonarchen, der Wilhelm bald sein würde, Zimmer im Hotel Claridge in London zu reservieren.[133] In dieser Krisenatmosphäre weigerte sich Wilhelm, gegenüber der Opposition nachzugeben, lehnte den Gedanken eines Staatsstreichs aber ab und musste von Kronprinz Friedrich davon abgehalten werden, abzudanken. Stattdessen entschloss er sich im September 1862 zu einem verzweifelten Glücksspiel, indem er Otto von Bismarck, der im Ruf stand, clever, aber auch unzuverlässig zu sein, und dem sowohl die Linke als auch die Rechte misstrauten, zum Ministerpräsidenten ernannte.

Schaut man neun Jahre voraus, sieht man ein unter preußischer Führung vereinigtes Deutsches Reich mit Wilhelm I. als Kaiser und preußischem König und Bismarck als preußischem Ministerpräsidenten und Reichskanzler. Die Vereinigung war das Ergebnis von drei Kriegen. Im ersten besetzten 1864 preußische und österreichische Truppen, als nach dem Tod des Königs von Dänemark dort ein Thronfolgestreit ausbrach, gemeinsam Schleswig und Holstein. Danach schürte Bismarck Spannungen zwischen den beiden deutschen Mächten, bevor er einen preußischen Plan für eine Umstrukturierung des Deutschen Bundes vorlegte, durch den Österreich an den Rand gedrängt worden wäre. Damit provozierte er, wie beabsichtigt, einen Krieg mit Österreich, das von den meisten deutschen »Mittelstaaten« und allen anderen deutschen Monarchien unterstützt wurde. In dem kurzen Konflikt errang Preußen im Juli 1866 den Sieg in der Schlacht bei Königgrätz. Es war der entscheidende Augenblick im deutschen Vereinigungsprozess. Österreich war fortan von ihm ausgeschlossen, und im folgenden Jahr wurde der Norddeutsche Bund geschaffen. Der preußische Erfolg beendete auch den preußischen Verfassungskonflikt, da sich Bismarck-Anhänger in der Fortschrittspartei von ihr abspalteten, um die Nationalliberale Partei zu gründen, und das preußische Abgeordnetenhaus einwilligte, dem Regime wegen seines Verfassungsbruchs nachträglich »Indemnität« zu gewähren. 1870 schließlich ließ sich Napoleon III. zu Feindseligkeiten verleiten, in denen sich auch die süddeutschen Staaten den unter preußischer Führung stehenden Truppen des Norddeutschen Bundes anschlossen. Der Sieg über Frankreich bildete das militärische Vorspiel zu ihrer Einbeziehung in das vereinigte Deutschland.

Das vereinigte Deutschland, 1871.

Die deutsche Vereinigung war ein Ereignis von weltweiter Bedeutung. Ermöglicht wurde sie durch bemerkenswerte Erfolge preußischer Waffen sowie die ihnen zugrunde liegende wirtschaftliche Dynamik Preußens. Der englische Ökonom John Maynard Keynes sagte später, ein berüchtigtes Bismarck-Zitat abwandelnd, das Deutsche Reich sei »weit eher auf Kohle und Eisen als auf Blut und Eisen aufgebaut« gewesen.[134] Der militärische Weg zur Einheit bedeutete, dass die Nation nicht, wie demokratische Nationalisten es stets gehofft hatten, »von unten«, sondern ausdrücklich »von oben« geschaffen wurde.[135] Damit fiel Deutschland allerdings nicht aus dem Rahmen. Im Europa des 19. Jahrhunderts war die Entstehung neuer Nationen, wie schon in Lateinamerika, zumeist das Ergebnis von Kriegen – in Griechenland in den 1820er-, in Deutschland und Italien in den 1860er- sowie in Rumänien und Serbien in den 1870er-Jahren.[136]

Eine Fotografie von Kanonen und Transportwagen, die für den deutschen Erfolg gegen Frankreich in der Schlacht von Sedan im September 1870 mitentscheidend waren.

Die Schaffung eines mächtigen neuen Staats im Herzen Europas wirft die Frage auf: Warum ließen die anderen Großmächte es zu? Dafür gab es viele Gründe. Das im Krimkrieg gedemütigte Russland war unter Zar Alexander II. mit inneren Reformen beschäftigt. Außerdem hatte Bismarck es umworben, indem er ihm nach einem zweiten polnischen Aufstand im Jahr 1863 die Unterstützung Preußens zusagte. Großbritannien hatte mit drängenden kolonialen Problemen zu kämpfen. Zudem misstraute es den französischen Ambitionen auf dem Kontinent und betrachtete Deutschland als eine Macht, die keine bedeutenden britischen Interessen bedrohte. Ferner hegte man weithin Sympathie für die deutsche Selbstbestimmung und brachte Deutschland aufgrund der Bewunderung der deutschen Kultur viel Wohlwollen entgegen. Benjamin Disraeli warnte zwar, die »deutsche Revolution« von 1871 habe eine »neue Welt« geschaffen, »neue Einflüsse« seien am Werk und »neue, unbekannte Gefahren« zu bewältigen, doch dies wog, aufs Ganze gesehen, – vorläufig – nicht viel.[137] Was Österreich und Frankreich, die anderen beiden Großmächte, anbelangte, wurde Ersteres von unzufriedenen untertanen Völkern in seinem ausgedehnten Reich in Atem gehalten; außerdem war es nach dem Krimkrieg diplomatisch isoliert und stand vor dem unlösbaren Problem, dass sein größter Verbündeter, Preußen, zugleich sein größter Rivale war. Frankreich schließlich begegnete man aufgrund der rücksichtslosen, abenteuerlichen Außenpolitik Napoleons III. allgemein mit Misstrauen.

Deutschland stand, was seine Einigung betraf, bei Frankreich kurioserweise in doppelter Schuld. 1870/71 vereinte Frankreich unwillentlich die meisten Deutschen in der Feindschaft sich gegenüber, selbst Bayern und andere Süddeutsche, die Preußen immer noch nicht über den Weg trauten. Dies markierte einen bedeutenden Meinungswandel gegenüber den 1820er- und 1830er-Jahren. Der französische Schriftsteller Ernest Renan hatte einen interessanten Blick auf die antifranzösische Einstellung der Deutschen: So wie Frankreich seine Identität gegenüber englischer Dominanz definiert habe, habe es Deutschland jetzt gegenüber Frankreich getan. Der französische »Erzfeind« sei zur »Geburtshelferin der deutschen Nation« geworden.[138]

Die andere Schuld hatte Deutschland bei Napoleon III. Der französische Kaiser faszinierte die Deutschen. Selbst Demokraten wie Heinrich Simon, der ihn verachtete, räumten ein, dass er ein cleverer Mann sei, der die Ideen seiner Zeit aufgesogen habe.[139] Wie andere kluge Konservative analysierte Bismarck den hybriden Stil von Napoleons Regime, jene Mischung aus autoritären und populistischen Elementen, eingehend. Eine der Ansichten, durch die er sich von seinen früheren konservativen Verbündeten unterschied, war die Überzeugung, dass revolutionäre Mittel benutzt werden konnten, um die bestehende Gesellschaftsordnung zu bewahren – ein Gedanke, der für orthodoxe Konservative des Teufels war. Aber Bismarck war kühner als sie, ein experimentierwilliger »weißer Revolutionär«.[140] So nutzte er Außenpolitik für innere Zwecke und setzte politisch sogar – wie der französische Kaiser – auf den Konservatismus der Bauernschaft. Deshalb wurde er von Liberalen des »Bonapartismus« oder sogar »Cäsarismus« geziehen.[141] Sein flexibles politisches Repertoire machte ihn, zusammen mit seinem Spielerinstinkt, bestens disponiert für einen Augenblick, in dem die Regeln des politischen Spiels sich änderten.

Auch die internationalen Spielregeln änderten sich. Nach 1815 hatte das sogenannte europäische Konzert, ein auf dynastischer Legitimität und dem Status quo beruhendes System, den Ton angegeben. Doch es war im Zuge des Krimkriegs zusammengebrochen, ohne dass sofort ein Katalog neuer, auf dem Vorrang des Nationalstaats beruhender Grundregeln an seine Stelle trat. Die deutsche Vereinigung war sowohl Ursache als auch Ergebnis dieses schwierigen Übergangs von einem internationalen System zu einem anderen. Der preußisch-österreichische Konflikt über die »deutsche Frage« war ein Grund für den Zusammenbruch des alten Systems. Gleichzeitig profitierte Bismarck unübersehbar von der herrschenden Unsicherheit. Nach 1871 wurde Deutschland zu einem Teil der neuen Ordnung.

Aus einem größeren Blickwinkel gesehen, waren die 1860er-Jahre weltweit ein entscheidendes Jahrzehnt des Nationenaufbaus oder -neuaufbaus.[142] Russland setzte, wie erwähnt, ein Crashprogramm innerer Reformen in Gang, zu dem unter anderem die Abschaffung der Leibeigenschaft gehörte. Japan erlebte in Form der Meiji-Restauration eine ähnliche Entwicklung wie Deutschland, in deren Verlauf das frühere Tokugawa-Shogunat, wie in Deutschland der Deutsche Bund, »von oben« gestürzt und durch einen neuen, mächtigeren Nationalstaat ersetzt wurde. Auch in Amerika war es eine Zeit der Veränderung; so wurde Kanada 1867 durch die Schaffung der Kanadischen Konföderation vereinigt und unabhängig.

Eine noch engere Parallele zu den Ereignissen in Deutschland findet man in den Vereinigten Staaten, wo ein Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden darüber geführt wurde, wo in einem föderalen System die Souveränität lag. Wie in Deutschland hätte auch der Krieg in Amerika eher ausbrechen können, wenn der Konflikt nicht durch Vereinbarungen hinausgeschoben worden wäre, welche die Differenzen zwischen den späteren Kriegsgegnern vorübergehend verdeckten: in den Vereinigten Staaten durch den Missouri-Kompromiss von 1820 zwischen freien und Sklavenstaaten und in Deutschland durch die Olmützer Punktation von 1850 zwischen Preußen und Österreich.[143] Wie in Deutschland entschied auch in Amerika die ökonomische Dynamik die Auseinandersetzung zugunsten des Nordens, mit dem wichtigen Unterschied, dass in Deutschland der Norden – Preußen – der Sezessionist war. Es gab noch eine weitere starke Verbindung zwischen diesen beiden weltbewegenden Ereignissen: In der amerikanischen Unionsarmee spielten in Deutschland geborene Offiziere und einfache Soldaten eine bedeutende Rolle. Ganze 10 Prozent der Unionssoldaten waren deutscher Herkunft; sie bildeten die größte Gruppe unter den im Ausland geborenen Soldaten. Zu ihnen gehörten prominente Emigranten. Führende Revolutionäre von 1848/49 stiegen zu Unionsgenerälen auf, wie Carl Schurz und Gustav Struve. Karl Marx’ guter Freund Joseph Wedemeyer war Oberst. Für sie alle war der Bürgerkrieg eine zweite Chance, für ihre Werte zu kämpfen.[144] Auch deutsche 48er aus der Turnbewegung hatten ihre nationaldemokratischen Überzeugungen nach Amerika mitgebracht und rühmten sich später, als »Germaniens Söhne« in der Unionsarmee in dem »Riesenkampfe der Freiheit gegen die Sclaven-Aristokratie« gekämpft zu haben.[145]

In größerer Nähe zu Deutschland befand sich Italien im Aufbruch. Die Vereinigungsprozesse in beiden Ländern ähnelten sich nicht nur; an Schlüsselpunkten überschnitten sie sich. Der Sardinische Krieg von 1859 schwächte Österreich und brachte den deutschen Nationalismus erneut zum Kochen; 1866 gehörte das Königreich Sardinien zu Preußens Verbündeten, so dass Österreich durch seine Niederlage sowohl aus Deutschland als auch aus Italien ausgeschlossen wurde; und die französische Niederlage von 1871 gegen deutsche Truppen hatte zur Folge, dass Rom, wo französische Truppen stationiert waren, endgültig zu einem Teil Italiens wurde. Diese Überschneidungen sind nicht nur im Rückblick offensichtlich. Zeitgenossen in beiden Ländern waren sich der Gemeinsamkeiten bewusst. Deshalb schlug die Società Nazionale Italiana im Dezember 1859 ihrem neu gegründeten deutschen Pendant, dem Deutschen Nationalverein, vor, ihre Anstrengungen, »ein deutsches Vaterland und ein italienisches Vaterland zu gründen«, zu vereinigen. Der Vorschlag stieß auf ein kühles Echo, zum Teil aufgrund der Sorge, eine zu enge Zusammenarbeit könnte gegen das deutsche Vereinsrecht verstoßen, aber auch aus der nüchternen Erkenntnis heraus, dass die deutschen und italienischen Interessen nicht identisch waren.[146]

Giuseppe Garibaldi war für linke Nationalisten eine magische Figur. Der deutsche Emigrant Fritz Anneke, der in Zürich Zuflucht gesucht hatte, stand 1859 kurz davor, sich Garibaldis »Zug der Tausend« anzuschließen, bevor er den Atlantik überquerte und in Amerika später Offizier der Unionsarmee wurde. Der radikale preußische Offizier Wilhelm Rüstow, 1850 von einem Kriegsgericht wegen Aufwiegelung verurteilt und aus dem Gefängnis geflohen, schloss sich Garibaldi tatsächlich an und diente ihm als Generalstabschef der Südarmee, ein perfekter Posten für einen Offizier, dessen Passionen Bürgerwehren und die »europäische Menschheit« waren.[147] Demokratische deutsche Nationalisten fanden Garibaldi besonders inspirierend. Auch manche gemäßigten Liberale, wie der Schriftsteller Gustav Freytag, bewunderten ihn. Allerdings entsprach der Piemonteser Ministerpräsident Camillo Benso von Cavour mehr ihren Vorstellungen, war er doch derjenige italienische Politiker, der am meisten Bismarck ähnelte, so wie Piemont am meisten Preußen ähnelte. Deutschen Beobachtern entgingen diese Parallelen nicht. Arnold Ruge beobachtete aus dem britischen Exil die Auswirkungen von Cavours Politik im Jahr 1859 auf die anderen italienischen Staaten, wie die Toskana, und schloss daraus: »Wir Deutschen sind in einem ganz ähnlichen Fall; uns wird es an Einheit nicht fehlen, wenn wir nur die Österreicher aus dem Bunde hinauswerfen können, und einen starken [Norden] bilden.«[148] Damit kam er dem, was 1866/67 geschehen sollte, recht nahe. Auch der Nationalliberale Karl Twesten erwies sich als weitsichtig, als er 1862 bemerkte, dass man einem preußischen Cavour, der die deutsche Einheit herbeiführen würde, selbst wenn er dafür das Völkerrecht verletzen und Verträge zerreißen musste, Ehrenmale errichten werde.[149] Bismarck selbst, dem später zahlreiche Ehrenmale gewidmet werden sollten, war sich der denkwürdigen Symmetrie zwischen der deutschen und der italienischen Vereinigung bewusst. Er drückte dies 1869 in typisch grobschlächtiger Weise aus, indem er das »sture, träge, zurückgebliebene Volk« von Süddeutschland mit den Süditalienern verglich: »Wir wollen uns kein zweites Kalabrien aufbürden.«[150]

Der Piemonteser Politiker Massimo d’Azeglio kommentierte die italienische Vereinigung in seinen Memoiren mit den Worten: »Wir haben Italien gemacht; jetzt müssen Italiener gemacht werden.«[151] Galt dies auch für Deutschland und die Deutschen? Nicht wirklich. Ein offensichtlicher Unterschied bestand darin, dass die meisten Einwohner des neu geschaffenen Deutschland Deutsch sprachen. Preußen und Bayern konnten, bei aller gegenseitigen Abneigung, in einer gemeinsamen Sprache übereinander herziehen. Tatsächlich wurde das Hochdeutsche in den Jahrzehnten nach 1871 weiter standardisiert. Keine deutsche regionale Teilung, ob nun zwischen Nord und Süd oder Ost und West, kam der Spaltung zwischen Nord- und Süditalien nahe. In Deutschland wurde die Politik nicht, wie in Italien, von Banditentum und dem Politikboykott eines großen Teils der Bevölkerung überschattet. Dies alles trifft zu. Dennoch war das Deutsche Reich von 1871 keineswegs der natürliche Höhepunkt der deutschen Geschichte, auch wenn preußenfreundliche Historiker es so darstellten. Durch seine Schaffung wurden viele historische Kontinuitäten gebrochen, und sie stellte sowohl einen Anfang als auch ein Ende dar. In Bismarcks Deutschland gab es viele Spaltungen und Bruchlinien. Darüber hinaus wurden sie in einer Zeit überwunden – sofern sie überwunden wurden –, in der Deutschland Teil eines immer dichter werdenden Netzwerks internationaler Verträge wurde. Im Zuge des Vereinigungsprozesses wurden die Beziehungen sowohl zwischen der Nation und ihren Bestandteilen als auch zwischen der Nation und der Welt neu ausbalanciert. Das Subnationale, das Nationale und das Übernationale stellten drei bewegliche Elemente dar, die sich gleichzeitig bewegten, wenn auch nicht unbedingt mit gleicher Geschwindigkeit.

Es gab, zusätzlich zu den sozialen Bruchlinien, drei große Spaltungen im Deutschen Reich. Erstens waren rund vier der 65 Millionen Einwohner Elsässer, Dänen oder Polen (zu denen jeweils 100 000 Tschechen und Litauer sowie 90 000 Sorben hinzukamen). Der Gebrauch ihrer Sprachen wurde beschränkt, was bei allen drei Gruppen Unmut auslöste. Die Französischsprachigen im Westen wurden in dieser Hinsicht am besten behandelt, aber Elsass und Lothringen blieben heikle Grenzregionen, die fast während des gesamten Bestehens des Reichs als Sondergebiete mit eigenem Gouverneur wie in kolonialer Abhängigkeit verwaltet wurden. Dagegen litten die Polen unter der zunehmenden Übermacht der deutschen Kultur und regelmäßigen »Germanisierungswellen«. Die Dänen in Schleswig-Holstein wurden ähnlich hart behandelt, bis hin zu Massenvertreibungen.[152] Alle drei Minderheiten gründeten separatistische Parteien, die 1874 zusammen 10 Prozent der Stimmen gewannen. Dies war Entfremdung an der Wahlurne und kein Banditentum, gewiss. Insofern unterschied sich Deutschland von Italien. Aber die Frustration der Polen trat auch in direkten Aktionen zutage, wie einer Reihe von Schulstreiks, die 1901 begannen und drei Jahre andauerten.[153]

Die Anhängerschaft der separatistischen Parteien nahm mit der Zeit ab. Katholische Elsässer und Polen wechselten zumeist zur katholischen Zentrumspartei. Die große katholische Minderheit, die etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausmachte, war die eine Seite der zweiten großen Spaltung im Deutschen Reich. Auch sie fühlte sich, insbesondere in den ersten Jahren, fremd im eigenen Land. Nach dem Sieg des protestantischen Preußen über das katholische Österreich im Jahr 1866 brachen Unruhen aus.[154] Katholiken empfanden den arroganten, aggressiven protestantischen Tonfall der deutschnationalen Sprache als Missachtung oder Schlimmeres; immerhin wimmelte es in ihr von verächtlichen Bemerkungen über »zurückgebliebene«, »abergläubische« Katholiken, deren Loyalität angeblich nicht Deutschland, sondern Rom galt. Zudem setzte kurz nach der Vereinigung ein Großangriff auf den Katholizismus ein, der sogenannte »Kulturkampf«.[155] Er war eine gesamteuropäische Auseinandersetzung, die den deutschen Katholiken bewusst machte, was sie mit ihren Glaubensgenossen jenseits der deutschen Grenzen in Belgien und der Schweiz gemeinsam hatten.

Der Kulturkampf unterschied sich stark von dem öden Disput über den Kirchenstaat, wie er in Lehrbüchern dargestellt wurde. Er war von Gewalt geprägt: der Vertreibung und Gefangennahme von Geistlichen, der Beschlagnahme von Kircheneigentum und sogar dem Einsatz von Truppen, die mit aufgepflanzten Bajonetten christliche Versammlungen auflösten.[156] Als der Konflikt Ende der 1870er-Jahre endete, waren über 1800 Geistliche ins Gefängnis geworfen oder ins Exil getrieben und Kirchenbesitz im Wert von 16 Millionen Mark beschlagnahmt worden. Der Kölner Rechtsanwalt und Schriftsteller Julius Bachem sprach von einer Zeit »diokletianischer Verfolgung«.[157] Die vielen Gewalttätigkeiten gegen Katholiken und ihre Geistlichen wurden von Polizisten und Soldaten begangen, die sich manchmal verhielten, als befänden sie sich in einem besetzten Land oder einer Kolonie. Im preußischen Polen überlappte sich der konfessionelle Gegensatz wie in Elsass-Lothringen mit der ethnischen Spaltung, was das Problem, einer marginalisierten Minderheit anzugehören, zusätzlich verstärkte. Man setzt »deutsche Katholiken« häufig mit »Bayern« gleich. Tatsächlich bildeten die Katholiken im Osten, Westen und Süden eine Art »keltischen Rand« um das Deutsche Reich. Am härtesten traf der Kulturkampf Katholiken in Preußen und Baden. Aber selbst dort, wo seine Auswirkungen nicht zu spüren waren, wurde Katholiken das Gefühl vermittelt, Parias zu sein.

Die dritte Spaltung im neuen Deutschland hätte kaum grundlegender sein können. Sie war territorialer Art und verlief buchstäblich an den Grenzen jedes seiner drei Dutzend konstituierenden Bestandteile. Das Reich war ein zusammengesetzter Staat, ein Konglomerat aus König-, Großherzog-, Herzog- und minderen Fürstentümern sowie freien Städten.[158] Die größeren Einheiten unterhielten immer noch Botschaften untereinander. Viele waren es gewohnt, sich selbst als »Nation«, »Vaterland« und »Staat« zu betrachten. Jahrzehntelang, seit 1815 und verstärkt nach 1848/49, hatten sich die deutschen Herrscher der Königtümer Württemberg, Sachsen, Hannover und Bayern bemüht, Denkmale, Schulbücher, Feste und andere Symbole zu schaffen, mit denen die Bürger enger an ihre »Nation« gebunden werden sollten,[159] und die Herrscher der kleineren Territorien hatten es ihnen nachgetan. All dies hatte gleichzeitig und potenziell in Konkurrenz zur Schaffung gesamtdeutscher Symbole und Identitäten stattgefunden. Das war jedenfalls der Sinn von Hoffmann von Fallerslebens »Deutschland, Deutschland über alles«: ein Plädoyer dafür, Deutschland über Sachsen oder Württemberg zu stellen. Doch dies geschah nicht immer. Manchmal ging die Bindung ans lokale Vaterland Hand in Hand mit deutschem Nationalismus.[160] Nachtragende Einwohner von Gebieten, die 1815 einem Staat zugeschlagen worden waren, den sie als fremd betrachteten, mochten infolgedessen bereitwilliger eine deutsche Identität angenommen haben, wie etwa Bewohner der Pfalz, die sich mit Freuden als Deutsche verstanden, weil sie dann weniger bayerisch waren.[161] Es hing alles von den Umständen ab. Die klassischen Kommunikationsformen der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn und der Telegraf, die häufig als den Horizont erweiternde Techniken gesehen werden, konnten unterschiedliche Teile des Reichs integrieren, aber auch einzelne Königreiche oder Großherzogtümer innerhalb der Reichsgrenzen stärken.[162]

Viele Institutionen besaßen das Potenzial, das Reich zusammenzuführen – die Eisenbahn, die Post, eine gemeinsame Währung, die Wehrpflicht, die Gesetze, Parlamentswahlen. Zugleich wurde das Deutsche Reich, während die inneren Beziehungen zwischen dem Ganzen und den Teilen noch im Fluss waren, immer weiter in eine sich globalisierende Welt hineingezogen. Beide Anpassungen, die innere und die äußere, geschahen gleichzeitig. Zum Beispiel wurde schon zu einem frühen Zeitpunkt beschlossen, dass Deutschland einen obersten Gerichtshof bekommen sollte, als dessen Sitz mit knapper Mehrheit Leipzig gewählt wurde. Als die Richter des Reichsgerichts am 1. Oktober 1879 ihre Arbeit aufnahmen, hatte das Deutsche Reich nicht nur Botschafter und Konsuln in alle Welt entsandt und den internationalen Berliner Kongress von 1878 abgehalten, sondern war auch eine Reihe internationaler Verpflichtungen eingegangen. Es hatte sich an den von London dominierten Goldstandard gebunden, war der Internationalen Telegrafenunion und dem Weltpostverein beigetreten und hatte die internationale Meterkonvention unterzeichnet, durch die das Internationale Büro für Maß und Gewicht geschaffen wurde. Dies alles geschah in den 1870er-Jahren, während der Reichstag damit beschäftigt war, ein gemeinsames Straf- und Wirtschaftsrecht auszuarbeiten. Bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 1. Januar 1900 gab es kein reichsweit gültiges Privatrecht. Inzwischen hatte das Reich Kolonien erworben und war zahlreiche internationale Verpflichtungen eingegangen, von bilateralen Handelsverträgen über den Beitritt zum International Statistical Institute bis zur Unterzeichnung der Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst. Eine der folgenreichsten Vereinbarungen war der Beschluss der Internationalen Meridiankonferenz in Washington, die Greenwich Mean Time als Basis der globalen Zeitzonen festzulegen. 1893, gerade noch innerhalb der in Washington vereinbarten Zehnjahresfrist, hatte Deutschland die standardisierte Weltzeit sowohl im amtlichen als auch im Alltagsgebrauch eingeführt und die Vielzahl der in München, Frankfurt, Karlsruhe, Ludwigshafen, Stuttgart und anderswo geltenden lokalen Zeiten abgeschafft – nicht ohne Beschwerden über die möglichen Folgen für örtliche Arrangements in Bezug etwa auf die Nutzung des Tageslichts.[163] Dies war ein sehr konkretes Beispiel dafür, wie internationale Kräfte dazu beitrugen, Preußen und Bayern zu Deutschen zu machen.

Die Vereinigung von 1871 hatte eine Frage – »Wo ist Deutschland?« – beantwortet, zugleich aber andere aufgeworfen. Die wichtigste, mit der schon die Verfassungsschöpfer von 1848 gerungen hatten, lautete: Wer ist deutsch? 1871 antwortete man darauf etwa: »Jemand, der Preuße oder Bayer ist.« Die deutsche Nationalität wurde weiterhin durch die Staatsangehörigkeit eines der Bundesstaaten definiert. Doch damit war die Debatte nicht beendet. Waren Österreicher wirklich keine Deutschen? Viele Katholiken im preußisch dominierten Deutschland wünschten das Gegenteil, ebenso viele nichtkatholische Nationalisten, unter ihnen die unverbesserlich nationalistischen Turner, seit den 1890er-Jahren aber auch der Alldeutsche Verband und andere radikale Nationalisten, die geistigen (und manchmal auch biologischen) Erben der demokratischen Nationalisten von 1848.[164] Aber es gab nicht nur die Österreicher: Was war mit den Deutschbalten? Und mit den deutschen Emigranten in Amerika? In der Vereinigungszeit entstand die Kategorie der »Auslandsdeutschen«, auch wenn die realistische Hoffnung, in den Vereinigten Staaten oder Brasilien solide deutsche Siedlergemeinden schaffen zu können, schwand. Dies war eine der Triebkräfte hinter dem Verlangen nach Kolonien als Orten wahrhaft deutscher Siedlung. Wie bedeutsam diese globale Dimension des Selbstbilds der Deutschen in Deutschland war, zeigte die Debatte über das deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das erstmals eine Kategorie der Staatsbürgerschaft ohne Bezug auf die Bundesstaaten einführte. Es war ein Versuch, die Rechte der Auslandsdeutschen zu berücksichtigen, während zugleich in den deutschen Kolonien entstandene Probleme – nicht zuletzt durch gemischtrassische Ehen – in die Debatte einflossen.