In Schlagzeilen ist ständig von Deutschlands Platz in der Welt die Rede: »Deutschland nimmt 1 Million syrische Flüchtlinge auf«, »Deutscher Axel-Springer-Verlag will Politico kaufen«, »Türkisch-deutscher Regisseur gewinnt Golden Globe« und – natürlich – »Deutschland macht sich für die Ukraine stark«. Nachdem Donald J. Trump zum US-Präsidenten gewählt worden war, wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel häufig als »Führerin der freien Welt« bezeichnet. Wenn man die Idee, dass Nationen »Marken« seien, so abscheulich sie ist, akzeptiert, dann befindet sich die Marke Deutschland auf einem Höhenflug. Auf dem Anholt Ipsons Nation Brands Index belegte es 2021 zum siebenten Mal hintereinander den ersten Platz.
Aber es gibt auch eine dunklere Seite, die sich ebenfalls in Schlagzeilen wiederfindet: »Deutschlands China-Problem« verweist auf ein Konfliktfeld, auf dem Handel, Geopolitik und Moral aufeinanderprallen, und »USA klagen sechs Personen an, während Volkswagen 4,3-Milliarden-Dollar-Vergleich zustimmt« bezieht sich auf einen Skandal um einen der deutschen Blue-Chip-Konzerne. Zudem hat Volkswagen als im Dritten Reich gegründetes Unternehmen eine befleckte Vergangenheit. Man liest regelmäßig von Beispielen dafür, wie die NS-Vergangenheit einen Schatten auf die Gegenwart wirft. »Deutschlands zweitreichster Klan entdeckt dunkle Nazivergangenheit«, erfuhr man 2019. Gemeint war die Familie Reimann, deren Milliarden heute aus dem Verkauf von Krispy-Kreme-Donuts, Jimmy-Choo-Schuhen und Calvin-Klein-Parfüm stammen. Aber es ist nur recht, darauf hinzuweisen, dass die Familie Reimann, wie vor ihr Volkswagen, Historiker beauftragt hat, zu erforschen, was ihre Vorfahren getan haben. Diese Bereitschaft ist ein erkennbares, ja prägendes Merkmal des heutigen Deutschlands, das von vielen als Musterbeispiel für Vergangenheitsbewältigung angeführt wird.
Mein Buch schaut aus globaler Perspektive auf Deutschland. Man stelle es sich als eine neue deutsche Geschichte für ein globales Zeitalter vor. Eine solche Geschichte wird dringend gebraucht. Neu ist sie insofern, als die vielfältigen Verbindungen zwischen den deutschsprachigen Ländern in Mitteleuropa und der weiten Welt im Mittelpunkt meiner Darstellung stehen und nicht nur am Rande behandelt werden. In diesem Buch geht es um die Bewegung von Menschen, Gütern und Ideen in den letzten fünf Jahrhunderten. Ich zeige, wie Deutsche, im Guten wie im Schlechten, als Akteure in der Welt aufgetreten sind, und untersuche, welche Auswirkungen dies im Innern hatte. Zugleich betrachte ich das Spiegelbild davon, die Nichtdeutschen, die in deutsche Lande kamen, um sie zu erobern oder dort zu arbeiten oder zu studieren, und die Kulturpraktiken, die sie mit sich brachten. Im Folgenden tritt ein buntes Tableau von Menschen auf: Händler und Missionare, Musiker und Bergbauingenieure, Studenten und Wissenschaftler, Entdecker und Soldaten, Auswanderer und Exilierte. Auch einige nichtmenschliche Geschöpfe spielen eine Rolle: Pflanzen und Tiere, absichtlich nach Deutschland gebrachte, die in botanischen oder zoologischen Gärten eine neue Heimat fanden, ebenso wie invasive und Epidemien verursachende Arten, die als blinde Passagiere ins Land kamen.
Über ein Buch wie das vorliegende nachgedacht habe ich das erste Mal zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Damals erschien die Idee, aus dem nationalen Rahmen herauszutreten, gewagter als heute, da das Wort »global« zum Klischee geworden ist und das Adjektiv »transnational« als akademischer Gemeinplatz in Förderanträge eingestreut wird, um sie aufzupeppen. Die frühen Verfechter einer übernationalen Geschichtsschreibung sahen sich als Herausforderer des Zeitgeists, dementsprechend scharf war ihre Sprache. Es war die Rede davon, »Geschichte vor der Nation zu retten«[1]. Zeitgenössische Ereignisse trugen sicherlich zu dieser Abwendung von einer eng national gefassten Geschichtsschreibung bei. Die Globalisierung unterstrich die Bedeutung grenzüberschreitender Bewegungen, Ströme, Austausche und Netzwerke – alles Begriffe, die für uns alltäglich geworden sind. Dazu können wir die gegenwärtige postkoloniale Abrechnung mit Reich und Rasse hinzufügen. Debatten über die Rückgabe von Museumsbeständen wie den Benin-Bronzen, einschließlich der nach Hunderten zählenden im Berliner Ethnologischen Museum, haben die Art und Weise, wie wir über europäische Geschichte nachdenken, ebenso beeinflusst wie die Tatsache, dass europäische Großstädte eine erhebliche Zahl nichtweißer Einwohner haben. Dass sie dort – oft an den Rand gedrängt und entfremdet – leben, ist eine Folge des Imperialismus. Diese Diskussionen haben die britische, französische und niederländische Geschichte in vielversprechende neue Kanäle gelenkt. Und Deutschland? Es besaß nur kurze Zeit ein Kolonialreich, von 1884 bis 1918, aber lange genug, um in Afrika zwei völkermörderische Kriege zu führen, die manche Historiker mit dem Holocaust in Zusammenhang gebracht haben.[2] Kolonien hatten zudem einen Platz in der deutschen Vorstellungswelt, und zwar lange bevor es sie in der Realität gab und lange nachdem sie verschwunden waren. Die koloniale Dimension der deutschen Geschichte verdient die Aufmerksamkeit, die sie jetzt erhält und die ihr in meinem Buch zuteilwird.
Als ich anfing, über dieses Buch nachzudenken, reagierte ich zum Teil auf Entwicklungen wie diese, denn alle Geschichte ist Gegenwartsgeschichte. Aber Geschichte folgt auch einem eigenen Rhythmus. Was mich wirklich dazu brachte, es zu schreiben, war die Frage, wie es wäre, eine Geschichte zu schreiben, welche die Nation nicht als selbstverständlichen Rahmen hinnähme. Ich war lange von der Idee fasziniert, »mit Maßstäben zu spielen«.[3] Wenn man mit stärkerer Vergrößerung auf einen Ort oder ein Ereignis schaut, entdeckt man Dinge, die vorher unsichtbar waren. Aber auch umgekehrt: Wenn man sehr große Prozesse in den Blick nimmt, werden bisher verborgene Muster erkennbar. Diese beiden Alternativen zum nationalen Rahmen, die Mikro- und die Makroperspektive, schließen einander nicht aus. »Das Weltweite schafft das Lokale nicht ab«, stellte der französische Philosoph Henri Lefebvre fest.[4] In diesem Buch treten die beiden Perspektiven häufig gemeinsam auf, gewissermaßen als die Version eines Historikers davon, was Geschäftsleute Globalisierung nennen.
Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Mich interessieren die Feinheiten des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, weil sie so vielsagend sind. Man denke etwa an das Quecksilber, das im 16. Jahrhundert in Spanien unter der Aufsicht eines deutschen Handelshauses gewonnen, auf Spezialschiffen über den Atlantik gebracht und auf Mauleseln die Bergpfade hinauf zu den Minen von Potosí transportiert wurde, wo man mit seiner Hilfe Silber aus Gestein löste. Das Silber wurde dann nach Europa verschifft, wo es den lokalen Handel befeuerte, oder es wurde auf »Manila-Galeonen« auf die Philippinen gebracht und verband so die europäischen, amerikanischen und asiatischen Handelsströme. Dieses Buch ist voller Waren – von Pfeffer und anderen Gewürzen über Diamanten und Perlen bis zu Kaffee, Zucker, Tabak und den übrigen »Kolonialwaren« des 19. Jahrhunderts und schließlich zu der Fülle von Autos, Waschmaschinen und sonstigen Produkten aus der Traumwelt der Reklame des 20. Jahrhunderts. Wenn man ihren Weg von ihrem Ursprungsort bis zum Ort des Konsums verfolgt, erfährt man viel über Status, Macht, Geschlecht und anderes, von Wissenschaft bis Mode. Auch die Abwehr von Waren ist vielsagend. Lange vor der berüchtigten Autarkiepolitik der Nationalsozialisten gab es eine Ablehnung von Pfeffer und anderen Gewürzen im 16., von Kaffee im 18. und von importiertem Getreide und Fleisch im 19. Jahrhundert. In diesem Buch erfahren Sie, warum.
Auch Menschen überquerten Ländergrenzen. Im 19. Jahrhundert verließen fünfeinhalb Millionen Deutsche ihr Land und schufen eine globale Diaspora. Ich habe zu rekonstruieren versucht, was es bedeutete, in einem der »Kleindeutschlands« in den USA, in Südaustralien oder Rio Grande do Sul in Brasilien zu leben. »Massenauswanderung« war die Summe Tausender Einzelentscheidungen. Sie kam nicht zufällig in Gang, sondern war von Wirtschaftszyklen verursacht und durch Kettenmigration geformt, das heißt, Menschen aus bestimmten Gegenden in Deutschland gingen in bestimmte Gegenden im Ausland, und andere folgten ihnen. So kamen viele der Deutschen im englischen Liverpool aus Württemberg, was zu einer spektakulären Vermischung zweier ausgeprägter Dialekte geführt haben muss. Als immer mehr Menschen weggingen, begannen Nationalisten ihren »Verlust« zu beklagen und sie als »Auslandsdeutsche« zu bezeichnen statt als »Auswanderer«. Bewahrten sie ihr »Deutschsein«? Das hing davon ab, woher sie kamen, ob sie sich in einer Stadt oder auf dem Lande niederließen, ob sie einer eng verbundenen religiösen Gemeinschaft angehörten, wie alt sie waren und ob sie verheiratet oder alleinstehend waren. Was daraus entstand, ist häufig schwer einzuordnen. Was für eine Sprache ist es zum Beispiel, wenn Deutsche, die sich in Australien niederließen, davon sprachen, jemand würde »seinen Foot downputten«?
Die Antwort lautet: eine Hybridsprache. »Hybridität« ist einer der nützlichsten Begriffe, wenn es darum geht, kulturelle Kontakte zu beschreiben, wie sie in der einen oder anderen Form in jedem Kapitel dieses Buchs behandelt werden.[5] Sie erstrecken sich über weite Lebensbereiche: Sprache, Literatur, Musik, Tanz, bildende Kunst, Philosophie, Naturwissenschaft, Technik, Pädagogik, Architektur, Design und Sport. Einmal übernehmen Deutsche Dinge von anderen, ein andermal ist es umgekehrt. Dieses Geben und Nehmen als »Beeinflussung« zu bezeichnen, ist zu vage, aber wenn man von »Transfer« spräche, würde man die vollständige Übernahme von Stilen, Ideologien oder Institutionen andeuten, und dies entspräche kaum dem, was tatsächlich geschah. Selbst bei Dingen wie der scheinbar direkten deutschen Übernahme englischer Sportarten oder amerikanischer Tänze wie Tango und Cakewalk prägte der lokale Kontext die Rezeption. Bei komplexeren Fragen – zum Beispiel: War die deutsche Universität für Amerika ein »Vorbild«? – benötigt man ein umfangreicheres Vokabular. Ein Historiker hat eine lange Liste von Begriffen für die Beschreibung dieses Austauschs aufgestellt. Hier eine kleine Auswahl: Transfer, Nachahmung, Aneignung, Übersetzung, Akkulturation, gegenseitige Befruchtung.[6] In der Praxis war die Bewegung von Ideen und Praktiken häufig das Werk von Einzelnen: von Kulturvermittlern und Verbindungsleuten. Bei manchen gehörte es zum Beruf (wie bei Gelehrten, Buchhändlern, Übersetzern, Missionaren), bei anderen geschah es eher unbewusst und unabsichtlich (wie bei Auswanderern und Kaufleuten). Die deutschen Vertreter beider Kategorien in diesem Buch sind leicht zu erkennen; transnationale Männer und Frauen führen ein transnationales Leben.
Diplomaten hatten ein berufliches Interesse daran, über Entwicklungen in anderen Ländern auf dem Laufenden zu sein. Viele betätigten sich zudem als Kulturvermittler, besonders in den frühen Jahrhunderten, als die Diplomatie ein weniger spezialisierter Beruf war. Einer von ihnen hinterließ ein Bonmot, das heute noch in Zitatensammlungen enthalten ist: Ein Diplomat, hatte er festgestellt, sei »ein Gentleman, der entsandt wird, um im Ausland zum Besten seines Landes zu lügen«. Es stammt von Henry Wotton, der es 1604 ins Poesiealbum eines deutschen Freundes schrieb; Wotton hatte in Deutschland studiert, bevor er zu einem solchen Gentleman wurde. Als Diplomat lieferte er seiner Regierung Informationen über die Ereignisse im Heiligen Römischen Reich; gleichzeitig stellte er eine Verbindung zwischen der Gelehrten- und Wissenschaftswelt Großbritanniens und des Kontinents her. Er war ein Vermittler in der zeitgenössisch so genannten »Republik der Lettern«.[7] Im Folgenden wird man vielen Deutschen begegnen, die dieser Republik angehörten, bevor sie im 19. Jahrhundert, überwiegend durch Deutsche, in die universitätsbasierten Wissenschaftlernetzwerke unserer Zeit umgewandelt wurde.
Man wird also Diplomaten kennenlernen, die über den Tellerrand ihres Berufs hinaussahen. Die internationalen Beziehungen haben zwar ihren Platz in diesem Buch, sind allerdings nicht sein Hauptthema. Krieg spielt indes eine bedeutende Rolle. Wie auch nicht? So wie die deutschen Lande ein europäisches Drehkreuz für Waren und Ideen waren, nahmen sie auch geopolitisch eine herausragende Stellung ein. »Deutschland ist der Kampfplatz, darauf man um die Meisterschaft von Europa gefochten«, erklärte der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz 1670.[8] Er schrieb dies eine Generation nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648), der große Teile Deutschlands verwüstetet hatte, und nur zwanzig Jahre bevor die Truppen des französischen Königs Ludwigs XIV. im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688 – 1697) das Rheinland in Trümmer legten. Ein Jahrhundert später gestalteten die französischen Revolutionskriege und die napoleonischen Kriege die deutschen Lande neu, indem sie das Heilige Römische Reich zerstörten und Hunderte winziger Fürstentümer von der Landkarte strichen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dann die Vereinigung Deutschlands durch Erfolge der preußischen Armee in drei innerhalb von sieben Jahren geführten Kriegen ermöglicht.
Aufgrund der Entstehung des deutschen Nationalstaats war dies ein entscheidender Wendepunkt. Aber dies war es auch in anderer Hinsicht: Dreieinhalb Jahrhunderte lang waren europäische Kriege auf deutschem Boden ausgefochten worden, doch für die Kriege von 1864 bis 1871 traf dies ebenso wenig zu wie für die Kolonialkriege und die beiden globalen Konflikte des 20. Jahrhunderts, jedenfalls bis in die letzte Phase des Zweiten Weltkriegs. Und noch etwas anderes hatte sich verändert: Von den spanischen Heeren des 16. Jahrhunderts bis zu Napoleons Grande Armée wurden Deutsche rekrutiert, um für andere zu kämpfen. Damit war nun Schluss. Fortan war die deutsche Militärexpertise gefragt, von Japan bis Lateinamerika. Carl von Clausewitz’ berühmtes Buch Vom Kriege war zwar schon 1832 erschienen, wurde aber erst im späten 19. Jahrhundert in andere Sprachen übersetzt. Das hatte freilich einen unglücklichen Aspekt zur Folge. Die Verknüpfung der Begriffe »Deutschland« und »Militarismus« wurde immer enger, bis die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts sie nahezu unauflöslich machten. Es dauerte Jahrzehnte, bis Deutschland diesen Ruf ablegen konnte.
Lassen Sie mich vorweg auf einige Fragen antworten. Ist dieses Buch eine durch die deutsche Brille gesehene Weltgeschichte? Nein, es ist eine durch eine globale Brille gesehene deutsche Geschichte.[9] Ich hoffe, dass auch an Weltgeschichte Interessierte es lesen werden, aber es ist – was bereits unbescheiden genug ist – ein Versuch, die deutsche Geschichte neu zu schreiben. Umfasst »global« auch »europäisch«? Darauf kann ich nur mit einem nachdrücklichen Ja antworten. Obwohl im Folgenden Nord- und Südamerika, Afrika, Asien und Australien mehr Raum gewidmet wird als in Geschichtswerken über Deutschland sonst üblich, erfahren Deutschland und die Deutschen in ihrem Wirken auf der eurasischen Landmasse aber noch mehr Aufmerksamkeit. Dies spiegelt wider, wo die größten Bewegungen von Menschen, Waren und Ideen stattfanden. Eine weitere Frage, die ich mir häufig gestellt habe (und die mir häufig gestellt wird), ist, ob die Deutschen nicht eher Preußen, Bayern oder Thüringer waren? Es genügt nicht, darauf hinzuweisen – obwohl es zutrifft –, dass Engländer in der atlantischen Welt auf die Frage, woher sie kommen, beispielsweise antworten: »Aus Bristol«, oder Spanier: »Aus der Extremadura«.[10] Am Ende ist das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Nationalstaats ausschlaggebend. Dies ist eines der Themen dieses Buchs.
Damit hängen zwei weitere Fragen zusammen. Eine ist pragmatischer Art. Die Bibliotheksregale sind voller Reihenwerke über die »deutsche« Geschichte, deren Darstellung häufig weit in die Vergangenheit zurückreicht. Von den 24 Bänden des Standardhandbuchs zur deutschen Geschichte, dem »Gebhardt«, sind 15 der Zeit vor der Gründung des deutschen Nationalstaats im Jahr 1871 gewidmet. Ein Buch, das damit wirbt, dass es eine andere, globalere Perspektive anlegt, muss sich mit Werken auf dem eigenen Gebiet messen. Es hat wenig Sinn zu behaupten, dass man auf neue Weise auf die deutsche Geschichte schauen sollte, aber erst nach der Bismarck-Ära. Warum dann nicht, und dies ist die zweite Frage, mit den Alemannen oder im Mittelalter beginnen? Es gibt viele gute Gründe dafür, eine deutsche Geschichte im Jahr 1500 beginnen zu lassen: Es war der Zeitpunkt, an dem die Menschen begannen, routinemäßig vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zu sprechen. Gleichzeitig entstand eine gemeinsame Form der Sprache, das Frühneuhochdeutsche, das sich im Süden herausbildete und in der Reichs- und der sächsischen Kanzlei benutzt und rasch von anderen übernommen wurde. Bald darauf kam das Wort »Muttersprache« im Hochdeutschen auf. Nicht zuletzt begannen in dieser Zeit Humanisten wie Conrad Celtis und Johannes Cochläus über ein Gebiet namens »Deutschland« zu schreiben, wo Menschen lebten, die »Deutsche« genannt wurden.[11]
Die größte Frage, die Leser wahrscheinlich haben werden, lautet: Was ist neu und anders daran, wenn man die deutsche Geschichte durch eine globale Brille betrachtet? Die Antwort darauf ist zweigeteilt. Zum einen werden manche Dinge nur durch eine solche Brille sichtbar, und zum anderen erscheinen bekannte Wahrzeichen der deutschen Geschichte in einem anderen Licht. Ein Beispiel für die sichtbar werdenden Dinge wurde bereits erwähnt: die sich über Jahrhunderte erstreckende Tradition, dass Deutsche für andere kämpften, für Portugiesen, Spanier, Holländer, Briten. Dies ist nach meiner Ansicht indes nur ein Teil eines größeren Musters. In den ersten Kapiteln dieses Buchs widerspreche ich der verbreiteten Vorstellung, dass das binnenländische Deutschland in seine eigenen Angelegenheiten verstrickt war, während andere die Beziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt gestaltet haben. Die »nicht zur See fahrende deutschsprachige Welt« sei, wie uns weisgemacht wird, an den großen europäischen Expeditionen und Reisen kaum beteiligt gewesen.[12] Der Philosoph Peter Sloterdijk bringt diese Auffassung auf den Punkt: Es gebe »eine Weltgeschichte Spaniens, eine Weltgeschichte Englands, eine Weltgeschichte Frankreichs, eine Weltgeschichte Portugals und vielleicht auch eine Weltgeschichte Hollands. Was die Weltgeschichte der Deutschen angeht, darf des Historikers Höflichkeit für diesmal von ihr schweigen.«[13] Dies trifft einfach nicht zu. Deutsche waren in den expandierenden Welten der Portugiesen, Spanier, Holländer, Franzosen und Briten allgegenwärtig – als Soldaten, Schiffskanoniere, Kaufleute, Ärzte, Forschungsreisende, Missionare und Siedler. Sie halfen nicht nur, diese Reiche – im Guten wie im Schlechten – zu dem zu machen, was sie wurden, sie verbanden auch das binnenländische Mitteleuropa auf vielfältige Weise mit diesen Welten. Wie sie es taten, wird im Folgenden dargestellt. Beispielsweise muss man nach meiner Ansicht erkennen, dass es in den drei Jahrhunderten nach 1500, also in der Zeit, auf die sich die Historiker des atlantischen Raums für gewöhnlich konzentrieren, einen »deutschen Atlantik« gab. Die Deutschen waren dort zahlreich vertreten und halfen die atlantische Welt zu formen. Daraus folgt, dass man auf der Negativseite der Bilanz auch die deutsche Rolle im Sklavenhandel wahrnehmen muss.
Warum ist dies so lange unsichtbar geblieben? Ein Grund dafür ist, dass sich Deutsche, wenn sie durch die Reiche anderer kamen oder sich in ihnen niederließen, häufig als Chamäleons oder Gestaltwandler erwiesen. Mehr als andere Angehörige anderer Völker verschmolzen sie mit der lokalen Umgebung. Sie wechselten sogar ihre Namen: Aus Ehinger wurde in Neuspanien Eynguer oder Alfinger. Manchmal waren die neuen Namen einfache Übersetzungen, wenn etwa aus Zweig LaBranche oder aus Blümel Flores wurde. Linguisten nennen dies Lehnübersetzungen. Dass die deutsche Herkunft häufig unsichtbar wurde, deutet auf eine bedeutsame Tatsache hin: Sie verschwanden in den Reichen anderer, weil es kein deutsches Weltreich gab. Deshalb waren sie für Spanien Konquistadoren und (hessische) Hilfstruppen für Großbritannien, deshalb handelten sie mit Asien über Antwerpen und Lissabon, und deshalb wurden sie Kolonisten in Französisch-Guayana, Niederländisch-Surinam und Britisch-Nordamerika. Das Fehlen einer Flagge zählte, die Staatsmacht war ausschlaggebend.
All dies hatte langfristige Auswirkungen darauf, wie Deutsche sich selbst sahen. Einerseits bewirkte es die Überzeugung, dass man über dem schmutzigen Geschäft von Eroberung und Ausbeutung stehe und ein reineres Reich bewohne. Und es stimmt, dass deutsche Forschungsreisende indigenen Völkern häufig mit außerordentlicher Sympathie entgegentraten und die Art, wie sie im britischen, spanischen und russischen Reich behandelt wurden, kritisierten. Die Besorgnis über die Bedrohung für andere Spezies, bis hin zur Ausrottung, war ein anderes Nebenprodukt dieser kritischen Distanz. Auch die Ansicht, dass die deutsche Empfindungsfähigkeit weniger grob, also feiner war als diejenige anderer Nationen, war im goldenen Zeitalter der deutschen Kultur in den Jahrzehnten vor und nach 1800 weit verbreitet. Johann Gottfried Herder ging in seiner Vorrede zur deutschen Übersetzung des indischen Schauspiels Sakuntala auch kritisch auf den Kolonialismus ein. Bedauerlicherweise, schrieb er, seien »diese Geistes- und Gemütsschätze der friedseligsten Nation unseres Erdballes« zuvor in der Übersetzung der Sprache der Engländer anvertraut worden, »der kaufmännischsten Nation desselben Balles«.[14] Solche Selbstgerechtigkeit beförderte eine auffällige, langfristige deutsche Identifikation mit Kolonialvölkern, die im 20. Jahrhundert eine toxische Form annahm, da sich viele Deutsche nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag als weiteres koloniales Opfer von Franzosen und Angelsachsen betrachteten und dieses selbstmitleidige Ressentiment von den Nationalsozialisten ausgebeutet wurde. Damit haben wir ein ganzes Cluster von Jahrhunderte überspannenden Themen.
Das politische Exil ist ein weiteres ständiges Thema, das sichtbar wird, wenn man durch eine globale Brille auf die deutsche Geschichte schaut. Über die Jahrhunderte hinweg haben viele Menschen die deutschen Lande verlassen, weil sie um ihr Leben, ihre Freiheit oder ihren Lebensunterhalt fürchteten. Am bekanntesten sind die nach Hunderttausenden zählenden Emigranten aus Hitler-Deutschland. Die meisten von ihnen waren Juden, zu denen Nichtjuden hinzukamen, die das Land verließen, weil sie Kommunisten, Sozialdemokraten oder aufgrund ihrer künstlerischen oder sonstigen Tätigkeit missliebig waren. Die Emigranten verteilten sich auf den gesamten Erdball, von Allahabad über Schanghai, Moskau und Istanbul bis nach Sydney und Südkalifornien. Waren nicht auch sie Teil der deutschen Geschichte, ganz gleich, ob sie später zurückkehrten oder nicht? Die meisten würden, wenn sie über diese Frage nachdenken, sicherlich mit Ja antworten. Dieses Buch fordert sie auf, über sie nachzudenken. Dieselbe Frage könnte man auch in Bezug auf frühere Emigranten stellen, wie auf die beiden, die sich nach der Flucht vor den Gräueln des Dreißigjährigen Krieges im Ausland einen Namen machten. Der Calvinist Samuel Hartlib – »der größte Verstand Europas« – ging nach London, während es den katholischen Priester Athanasius Kircher – »der letzte Mensch, der alles wusste« – nach Rom zog. Beide waren bemerkenswerte Figuren, die sich im Zentrum bedeutender Informationsnetzwerke befanden, die sich über Europa und darüber hinaus erstreckten. Wie die begabten Emigranten der 1930er-Jahre – »Hitlers Geschenk« – waren sie eine geistig bereichernde Gabe der kriegszerrissenen deutschen Lande. In diese Kategorie fielen auch zwei Wellen politischer Flüchtlinge im 19. Jahrhundert. Die erste setzte nach den repressiven Karlsbader Beschlüssen im Jahr 1819 ein, die Radikale veranlassten, in die Schweiz, nach Frankreich und Großbritannien oder in die Vereinigten Staaten zu gehen. Die zweite folgte nach der Revolution von 1848, als erneut enttäuschte Radikale ins Ausland flohen, überwiegend in dieselben Länder wie ihre Vorgänger, manche aber auch an weiter entfernte Orte, wie Australien, wo die 48er einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die heimische Gesellschaft ausübten. Dies ist einer der Hinweise, die dieses Buch für die Beantwortung der Frage bereithält: Wo hat die moderne deutsche Geschichte stattgefunden?
Wenden wir uns dem zweiten Teil der Antwort auf die Frage nach der globalen Perspektive zu. Sieht man bekannte Wahrzeichen in einem anderen Licht und, wenn ja, auf welche Weise? Ein sehr gutes Beispiel ist die Reformation. Mein Schwerpunkt liegt in dieser Hinsicht weder auf der deutschen Nation und Martin Luther noch auf der Reformation in den Städten oder der Haltung der deutschen Fürsten und der Staatsbildung. Über all dies gibt es bereits zahlreiche ausgezeichnete Studien.[15] In diesem Buch erscheint die Reformation vielmehr als eine in Deutschland – und der Schweiz – entstandene explosive Bewegung, die zunächst in Europa und dann weltweit eine umwälzende Wirkung auf Politik, Gesellschaft und Kultur ausübte. Außerdem löste sie mehrere Fluchtwellen aus; derjenigen von Hartlib und Kircher folgte später eine Welle hugenottischer Emigranten, die aus Frankreich nach Deutschland flohen. Auf die Reformation reagierte die katholische Gegenreformation, die deutsche Jesuiten bis nach China und Lateinamerika brachte und in Form von Missionen, neuen Andachtspraktiken und der architektonischen Wahrzeichen des Barocks nach Deutschland reimportiert wurde.
Auch solche Grundpfeiler der modernen deutschen Geschichte wie der Nationalismus und die Vereinigung sehen auf den folgenden Seiten anders aus. Vielfach wird angenommen, der deutsche Nationalismus unterscheide sich von anderen Nationalismen, sei weniger bürgerlicher und stärker völkischer Art und wurzle in Blut und Boden. So gesehen erscheint die rassisch definierte »Volksgemeinschaft« der Nationalsozialisten wie ein gleichsam natürlicher Endpunkt. Fasst man jedoch einen breiteren Kontext in den Blick, sieht man eine komplexere, diskontinuierlichere und weniger selbstbezogene Entwicklung. Was wollten die deutschen Nationalisten in den 1820er-, 1830er- und 1840er-Jahren? Sie wollten eine deutsche Nation, die das kleinteilige Gefüge der deutschen Fürstentümer überwinden sollte. Dies war die Bedeutung von Hoffmann von Fallerslebens Vers von 1841, »Deutschland, Deutschland über alles«: Die Nation sollte über eigensüchtigen Interessen stehen, nicht über anderen Nationen. Hoffmann war ein Progressiver, der seine akademische Anstellung verloren hatte und ins Exil gezwungen worden war. Die meisten deutschen Nationalisten seiner Zeit waren Liberale oder Progressive, die nationale Bestrebungen anderswo – in Lateinamerika, Griechenland oder Polen – als Elemente einer gemeinsamen Sache verstanden. Deutsche Nationalisten, ob sie nun radikale Hitzköpfe oder nüchterne Liberale waren, bezogen 1848 ihre politischen Vorbilder aus dem Ausland, Republikaner aus Frankreich und der Schweiz, Gemäßigte aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Das Scheitern der Revolution war eine Wasserscheide. Der deutsche Nationalismus wurde in den 1850er- und 1860er- Jahren merklich schärfer, wie die meisten Historiker heute übereinstimmend feststellen, obwohl der Nationalismus in Deutschland – und anderswo – erst im späten 19. Jahrhundert eine derart scharfe, rassistisch gefärbte Tonlage annahm, dass selbst liberale Nationalisten, die in den 1860er-Jahren in die Politik eingetreten waren, die Sprache der jungen Alldeutschen nicht mehr verstanden.
Auch die deutsche Vereinigung unter Otto von Bismarck sieht, aus globaler Perspektive betrachtet, anders aus. Sie wurde in den 1860er-Jahren vorbereitet, einem entscheidenden Jahrzehnt des weltweiten Aufbaus und Wiederaufbaus von Nationen – in Italien, Russland, Japan, Kanada, Mexiko und nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo der Bürgerkrieg die Nation, wie unvollkommen auch immer, neu gestaltete. Es war auch ein Bürgerkrieg, derjenige zwischen Preußen und Österreich – Zeitgenossen sprachen von einem »Bruderkrieg« –, der 1866 über Deutschlands Zukunft entschied. Er war ebenfalls ein Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd, allerdings war in diesem Fall der Norden, also Preußen, der sezessionistische Akteur. Kurz, die deutsche Vereinigung geschah im Rahmen einer größeren Veränderung, die in den 1860er-Jahren die Weltordnung umformte. Die neu gestaltete deutsche Nation blieb im Innern gespalten. Bemühungen, diese Spaltung zu überwinden, stießen, soweit sie überhaupt unternommen wurden, auf ein Hindernis, mit dem solche Bestrebungen auch anderswo konfrontiert waren: Sie wurden in einer Zeit unternommen, in der das Land Teil einer enger verbundenen, vernetzten Welt wurde. Das Subnationale, Nationale und Übernationale waren in Bewegung befindliche Teile, die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegten. Die Folge waren Reibungen. Um 1900 herum wurden Handel, Kommunikation, kulturelle Bewegungen und das Zeitgefühl selbst von einer »großen Beschleunigung« erfasst.[16] In vieler Hinsicht ähnelte die damalige Entwicklung der heutigen Globalisierung. Doch dann stießen die Art und die Geschwindigkeit dieser Veränderung, wie heute, auf den vehementen Widerstand derjenigen, die das Gefühl hatten, geopfert oder zurückgelassen zu werden. Deutschland war bei all dem mittendrin.
Und so kommen wir zum 20. Jahrhundert, das vor allem eine Frage aufwirft: Gibt es eine globale oder transnationale Geschichte von NS-Deutschland, die uns das Regime und seine Verbrechen in einem anderen Licht zeigt? Ja, die gibt es. Aber zunächst muss betont werden, dass es sich um ein genozidales deutsches Regime handelte, ganz gleich, wie viele nichtdeutsche Vorbilder, Einflüsse und Parallelen sich finden lassen und wie viele nichtdeutsche Kollaborateure und Mittäter benannt werden können. Wenn es im Folgenden mit anderen Regimen verglichen wird, dann nicht, um es mit ihnen gleichzusetzen; Gemeinsamkeiten und äußere Anregungen aufzuspüren bedeutet nicht, es zu relativieren, geschweige denn zu entschuldigen. Gleichwohl war der Nationalsozialismus ein Produkt sowohl seiner Zeit als auch der deutschen Geschichte. Hitler bewunderte nationalistische »starke Männer« wie Chiang Kai-shek und Atatürk; in der Parteizentrale der NSDAP in München stand an prominentem Platz eine lebensgroße Mussolini-Büste, und in Hitlers dortigem Büro hing ein signiertes Porträtfoto von Henry Ford. Der Nationalsozialismus bezog seine Ideen aus vielen Quellen: aus antisemitischen Verschwörungstheorien antibolschewistischer russischer Emigranten, der britischen und skandinavischen Eugenik, amerikanischen Rassengesetzen. Vor allem war er Teil einer größeren faschistischen Bewegung, in der er anfangs den italienischen Faschismus imitierte, bevor er sich zu ihrem Anführer aufschwang. Dies geschah erst in den 1930er-Jahren. Als Hitler und Mussolini 1934 in Venedig zum ersten Mal zusammentrafen, war der »Duce« immer noch der dominierende Partner. Die deutschen Braunhemden fügten sich ein in die Reihen der Schwarz-, Grau-, Grün- und Blauhemden in anderen Teilen Europas; jede Farbe war vertreten, nur Rot nicht, da die Roten überall der Feind waren. Dies war eine der Gemeinsamkeiten der verschiedenen Spielarten des Faschismus. Es gab noch viele andere Gemeinsamkeiten, sowohl stilistische als auch substanzielle. Obwohl es hypernationalistische Bewegungen waren, kann man, so paradox es klingt, auch von einem Faschismus ohne Grenzen sprechen.[17] Aber um es noch einmal zu betonen: Trotz aller Anleihen und Angleichungen seitens des Nationalsozialismus – und kaum etwas von seiner Ideologie und Politik war wirklich originär – war die daraus entstandene Mischung eigenständig. Die deutsche Variante war eine einzigartig radikale und zerstörerische Form des Faschismus.
Das schrecklichste Symbol dafür war der Holocaust. Insbesondere in den letzten 35 Jahren haben umfangreiche Forschungsarbeiten auf beeindruckende Weise gezeigt, wie die deutschen Entscheidungsprozesse abliefen, und zugleich die Stimmen der Opfer hörbar gemacht. Außerdem haben sie unterstrichen, dass der Genozid ein von Deutschland geleitetes Unterfangen war, an dem sich jedoch auch eine große Zahl von Nichtdeutschen beteiligte – als Führer von verbündeten oder Satellitenstaaten wie Rumänien und Kroatien, Angehörige von paramilitärischen Einheiten und später auch von deutsch kontrollierten Polizeikräften im Baltikum, in der Ukraine und anderswo. Nichtdeutsche töteten Juden in großer Zahl. Sie identifizierten Juden für die Deutschen und nutzten ihre Kenntnis der lokalen Gegebenheiten, um Juden aufzuspüren, die sich in Wälder oder Sümpfe geflüchtet hatten; sie räumten Ghettos und Arbeitslager, verluden Juden an Transitpunkten überall auf dem Kontinent in Eisenbahnzüge und dienten bei Razzien und in Konzentrationslagern als Wachen. Und so wie die Komplizenschaft von Deutschen über die NS- und SS-Führung hinaus auch viele »gewöhnliche Deutsche« umfasste, machten sich auch unter Nichtdeutschen nicht nur lokale faschistische Paramilitärs und Polizisten zu Komplizen, sondern auch Firmeninhaber, Beamte, Versicherungen und andere, die davon profitierten, wenn Juden in Todeslager transportiert wurden. Je mehr wir erfahren, desto mehr bröckelt die alte Dreiparteieneinteilung in Täter, Opfer und Zuschauer, denn viele der Letzteren wurden auf die eine oder andere Weise zu Komplizen. Aber es gab auch Zuschauer wie den Vatikan, das Internationale Rote Kreuz, die Hollywood-Studios und alliierte Entscheidungsträger, deren Untätigkeit im Rahmen einer globalen Geschichte des Holocaust genau untersucht werden muss.
Der letzte Teil dieses Buchs lautet: Das verdammte »deutsche Jahrhundert«. Aufgrund der Wirtschaftsdynamik des Landes und des herausragenden Rufs, das es auf den Gebieten von Bildung, Wissenschaft und Kultur genoss, glaubten um 1900 viele, das neue Jahrhundert würde ein deutsches werden. Es wurde zwar ein deutsches Jahrhundert, aber aus den schlechtesten vorstellbaren Gründen. Deutschlands Schande wurde der Weltgesellschaft zu einer Lehre. Aber die große Bedeutung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert erschöpft sich nicht im Dritten Reich und seinen Folgen, so zentral sie in jeder historischen Darstellung sein müssen. Andere bedeutende Ereignisse des deutschen 20. Jahrhunderts haben ebenfalls Spuren in der allgemeinen Vorstellungswelt hinterlassen: die Schlachten des Ersten Weltkriegs, die Hyperinflation der frühen 1920er-Jahre, die kulturelle und sexuelle Modernität der Weimarer Republik, die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit den ikonischen Bildern der »Trümmerfrauen« inmitten von Ruinen und der Berliner Luftbrücke, dann das geteilte Land der Ära des Kalten Kriegs, dessen ultimatives Symbol die Berliner Mauer war. All dies zeigt, wie tief Deutschland in die größeren Strömungen der Weltgeschichte eingebettet war. Es gibt noch andere Schnappschussmomente, die das Deutschlandbild auch von Menschen prägen, die sich nicht besonders für das Land interessieren. Je nach Alter mögen sie sich an John F. Kennedys »Ich bin ein Berliner«-Rede von 1963 oder Willy Brandts Kniefall am Denkmal für das Warschauer Ghetto im Jahr 1970 erinnern; ganz bestimmt sind ihnen Angela Merkels weltweit beachteten Worte »Wir schaffen das« über die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland im Gedächtnis geblieben. Darüber hinaus gibt es Embleme Deutschlands, wie das Oktoberfest, Volkswagen, die Berliner Philharmoniker, die Band Kraftwerk, die ebenfalls zu seiner modernen Geschichte gehören.
Im 20. Jahrhundert wurde die deutsche Geschichte noch globaler, noch vernetzter. Die Liste der Akteure ist umfangreicher als in früheren Kapiteln. Man begegnet immer noch Kaufleuten, Soldaten, Gelehrten und Emigranten. Aber zu ihnen gesellen sich andere Frauen und Männer, die zur grenzüberschreitenden, ständig in Bewegung befindlichen Welt des 20. Jahrhunderts gehören: Entwicklungshelfer, Austauschstudenten, Touristen, Kulturdiplomaten, Au-pairs, Sportler, Menschenrechtskämpfer, Menschenhändler, Backpacker-Touristen, Anti-Atomkraft-Demonstranten, Delegierte von Partnerstädten, Stadtterroristen, Spione, tourende Orchester, Jazzkapellen, Rockbands und Rapper, Migranten und Flüchtlinge. Sie alle stehen dafür, dass die deutsche Geschichte nicht an den deutschen Grenzen endet. Manche von ihnen erinnern uns auch daran, dass die Kontakte und Bewegungen von Menschen in einer vernetzten Welt nicht immer zuträglich sind: Wie manche Ideen und Praktiken, die sich über Grenzen hinweg verbreiten, sind sie keine Beispiele für Kosmopolitismus und wohlmeinende Anstrengungen wohlmeinender Menschen, welche die Hindernisse für das gegenseitige Verständnis einreißen möchten.[18]
Zum Schluss eine letzte Frage: Was für eine Art von Geschichte ist dies? Wie der letzte Absatz andeutete, habe ich mein Netz weit ausgeworfen. Politik, Krieg und Frieden, Wirtschaft, Kultur, Geschlecht, Bildung, Naturwissenschaft, Umwelt, Rasse, Religion: Das alles hat seinen Platz. Außerdem habe ich mich um ein Gleichgewicht bemüht zwischen Geschichten, ohne die Geschichtsschreibung unlebendig wäre, und Argumentation, ohne die sie keinen Sinn hätte. Vor allem aber habe ich einzufangen versucht, was der Historiker Edward Palmer Thompson in einer wunderbaren Formulierung den »Strom des gesellschaftlichen Lebens« genannt hat.[19]
Noch ein Wort zum Umfang der Darstellung. Ich habe versucht, die deutsche Geschichte in einer Dimension, der räumlichen, auszudehnen, ohne sie in einer anderen, der zeitlichen, einzuengen. Dieses Buch umfasst fünf Jahrhunderte. Ich habe bereits einige Gründe genannt, warum es aus deutscher Sicht sinnvoll ist, mit der Zeit um 1500 zu beginnen. Aber es gibt auch breitere historische Entwicklungen, die diese Entscheidung rechtfertigen. Damals entstand ein neues europäisches Staatensystem, die neue Druckkunst begann sich auszuwirken, die »Vereinigung des Globus durch Krankheiten« nahm ihren Lauf, und die Portugiesen begannen sich mit ihren deutschen Kanonieren, den Venezianern und Genuesen folgend, am Aufbau einer Weltwirtschaft zu beteiligen.[20] All diese Gründe sprechen dafür, um 1500 zu beginnen. Vor einigen Jahren schrieb ich unter dem Titel »Honey, I Shrunk the German History!« ein Lamento darüber, dass sich heute drei Viertel der Bücher, Aufsätze und Konferenzpapiere über die deutsche Geschichte mit der Zeit seit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen.[21] Niemand wird behaupten können, dass das 20. Jahrhundert in diesem Buch zu kurz kommt, aber ich hoffe, man wird mir auch darin zustimmen, dass ein weiter gefasster Zeitrahmen neue Sichtweisen ermöglicht.