Neben der Revolution des Lernens und Lehrens, die in diesen Jahren von Deutschland ausging, fand auch eine literarische Revolution statt, welche die Zeit vom Sturm und Drang der 1770er-Jahre bis zum frühen 19. Jahrhundert umfasste. Tatsächlich gab es zwei solcher Umbrüche. Der eine wird für gewöhnlich als Weimarer Klassik bezeichnet, nach jener Kleinstadt, in der ein bemerkenswertes Quartett von Schriftstellern mit Goethe an der Spitze ein einflussreiches Modell dessen schuf, was Literatur sein sollte. Der zweite war die Romantik. Beide Bewegungen wirkten über Deutschland hinaus. Gleichzeitig hatten Leser die Auswahl zwischen einer beispiellosen Anzahl von Übersetzungen. Es war die Zeit, in welcher der Beruf des Übersetzers entstand,[1] und es war die Zeit, in der die Zunahme des literarischen Austauschs eine Idee entstehen ließ, die Goethe auf den Begriff brachte: Weltliteratur.
Weimar, die Hauptstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, hatte 1800 rund 6000 Einwohner. Der Reformationsmaler Lucas Cranach d. Ä. hatte sein letztes Lebensjahr dort verbracht und Johann Sebastian Bach dort sogar noch kürzer als Hofmusiker gedient, ansonsten aber hatte die Stadt bemerkenswert wenig Kultur zu bieten, als die ambitionierte Herzogin Anna Amalia an ihrem Hof Schriftsteller um sich zu scharen begann. 1772 wurde Christoph Martin Wieland als Erzieher des Kronprinzen angeheuert, im typischen Beruf eines Literaten im späten 18. Jahrhundert. Goethe kam drei Jahre später, kurz nach seinem europaweiten Erfolg mit den Leiden des jungen Werthers, nach Weimar. Er empfahl einen weiteren Universalgelehrten, Johann Gottfried Herder, der 1776 als Generalsuperintendent und »Ephorus« der Schulen des Herzogtums nach Weimar berufen wurde. Zu diesen Hauptfiguren des sogenannten Musenhofs gesellte sich 1787 der junge Friedrich Schiller, dessen Drama Die Räuber fünf Jahre zuvor eine Sensation gewesen war. Zusammen verwandelten diese Größen Weimar in das »Athen an der Ilm«. Ihre Leistungen waren zum Teil individueller Art. Wieland war ein bedeutender Dichter, der die führende Literaturzeitschrift Deutschlands, den Teutschen Merkur, gründete und herausgab; Herder verfasste gewichtige Schriften zu Geschichte und Ästhetik und veröffentlichte enorm einflussreiche Volksliedsammlungen; Schiller war Dichter und der führende Dramatiker seiner Zeit; und Goethe schließlich beschäftigte sich neben der Literatur mit allem Möglichen. Wieland wird als Autor des ersten Bildungsromans gewürdigt, der Geschichte des Agathon, die 1766/67 erschien, dreißig Jahre bevor Goethes weit einflussreicherer Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) in ganz Europa Vorbild des Genres wurde.[2] Es gab aber auch gemeinsame Unternehmungen, die freilich nicht spannungsfrei waren. Wieland war eitel, Herder depressiv-hypochondrisch, Goethe mühelos überlegen. Schiller kam während Goethes Italienaufenthalt dazu und wurde nach dessen Rückkehr von dem Älteren geringschätzig behandelt. Es dauerte sechs Jahre, bis sie ihre fruchtbare Zusammenarbeit am Weimarer Hoftheater, bei der Zeitschrift Die Horen und an den Xenien begannen.
Weimars goldenes Zeitalter endete im frühen 19. Jahrhundert. Herder starb 1803, Schiller 1805, Wieland 1813. Goethe lebte noch bis 1832. Die Weimarer Klassik ist sowohl die Summe der in der Stadt entstandenen Werke als auch eine Idee. Die zugrunde liegende ästhetische Absicht war es, eine harmonische Synthese aus der emotional aufgeladenen Empfindsamkeit des Sturm und Drang – zu dem sowohl Goethe als auch Schiller gehört hatten – und den Werten der Aufklärung zu schaffen. Weimar exportierte seine Schriften und philosophischen Ideen in alle Welt, und es fabrizierte seinen eigenen Mythos, insbesondere in Goethes letzten Lebensjahren, als die Stadt zu einem literarischen Wallfahrtsort von Besuchern sowohl aus Deutschland als auch aus Großbritannien, Frankreich und Amerika geworden war.[3]
Die Romantik war eine andere Art der literarischen Revolution. Romantische Schriftsteller bevorzugten das Dunkel-Geheimnisvolle gegenüber dem Aufgeklärten und folgten eher dem Herzen als dem Kopf. Vor allem wertschätzten sie das Gefühl und die innere Befindlichkeit des Subjekts. Sie waren mit dieser Neigung nicht allein. Das Ich war, wie gesehen, in den deutschen Publikationen dieser Jahre allgegenwärtig, nicht zuletzt in der neuen Art, über Reisen zu schreiben. In den ersten drei Absätzen von Alexander von Humboldts Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents spricht der Autor 26-mal in personal- oder possessivpronominaler Form von sich selbst.[4] Und was sind Wilhelm Meisters Lehrjahre anderes als ein Roman über den Weg eines jungen Mannes durch die Welt? Auf den ersten Blick ist sich die romantische Literatur dieser Zeit recht ähnlich. Jean Pauls Siebenkäs (1796/97), Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen (1798), Friedrich Schlegels Lucinde (1799), Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802): Dies alles sind autobiografische Romane, deren Protagonisten ständig unterwegs sind. Aber sie unterscheiden sich auch in Aufbau und Gegenstand stark von Humboldt oder Goethe. Ihre Stimmung ist traumähnlich und das gesellschaftliche Umfeld kaum ausgebildet; mehr Raum widmen sie der Diskussion des Wesens von Kunst und Schöpfertum. Die wirkliche Reise in diesen Büchern geht nach innen, ins Selbst. Mit Novalis’ Worten: »Nach innen geht der geheimnißvolle Weg.«[5] Sein Freund Friedrich Schlegel verachtete die genauen sozialen Beschreibungen in englischen Romanen und postulierte, »dass das Beste in den besten Romanen nichts anders ist als ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers«.[6]
Dies sind typische Bekundungen romantischer Empfindsamkeit, wie sie insbesondere in dem Kreis, der sich zwischen 1797 und 1804 in Jena versammelte, gepflegt wurde. Zu ihm gehörten Friedrich Schlegel und seine Frau Dorothea, August Schlegel und seine Frau Caroline, Schelling – der später Caroline Schlegel heiratete –, Johann Gottlieb Fichte, Novalis (Friedrich von Hardenberg) und Ludwig Tieck. Es war eine intellektuell funkelnde Gruppe, zum größten Teil jung – mit Ausnahme Fichtes – und von dem selbstbewussten Glauben erfüllt, eine kulturelle Avantgarde zu bilden.[7] Ihre kollektive Stimme war die von den Brüdern Schlegel herausgegebene Zeitschrift Athenäum, die das wichtigste zeitgenössische Vehikel des frühromantischen Geists darstellte, obwohl zwischen 1798 und 1800 nur sechs Ausgaben von ihr erschienen. Bald darauf ging der Jenaer Kreis auseinander, und seine Mitglieder verstreuten sich über Europa. Dies war der Kontext eines Briefs, den Jean Paul 1805 mit großer Geste an »Ludwig Tieck in Raum und Zeit« adressierte.[8]
Als die Mitglieder des Jenaer Kreises auseinandergingen, nahmen sie ihre Ideen mit. In manchen Fällen kann man sogar deren Weg nachverfolgen. Eine wichtige Vermittlerin war Germaine de Staël, die Tochter von Jacques Necker, des aus der Schweiz stammenden Finanzministers von Ludwig XVI., die mehr als jeder andere dazu beitrug, das Bild Deutschlands als »Land der Dichter und Denker« zu verbreiten. Während Napoleon in Frankreich an der Macht war, nutzte sie ihren Familiensitz in Coppet am Genfer See als Ausgangspunkt für ausgedehnte Reisen durch Deutschland, Italien, England, Skandinavien und Russland. In Berlin lernte sie August Schlegel kennen, der Erzieher ihrer Kinder sowie ein regelmäßiger Reisebegleiter und Gast in Coppet wurde. Zusammen mit den Schriftstellern, denen sie bei Besuchen in Weimar und anderen kulturellen Pilgerstätten begegnete, prägte er ihr Bild von Deutschland und seinen »[in]mitten der Stürme des Krieges« bewahrten »geistigen Reichtümern«, das sie in ihrem 1813 erschienenen Buch De l’Allemagne beschrieb.[9]
Das Buch stieß auf ein gemischtes Echo. Madame de Staëls Deutsch war nicht sehr gut, ihre kurzen Skizzen litten häufig unter den Spuren allzu eiliger Recherche, sie ging mit dem Begriff »Genie« recht freigiebig um – achtmal auf sieben Seiten in Bezug auf Goethe –, und ihre zentrale Unterscheidung zwischen einer nördlichen und einer südlichen Literatur – bei der sie sich auf Ideen über den Einfluss des Klimas stützte – war eher kühn als durchdacht. Nach Schlegels Ansicht kam die deutsche Vorliebe fürs Mittelalter, das für die Romantiker wichtig war, bei ihr zu kurz. Aber diese Mängel waren nebensächlich. Die deutschen Schriftsteller, mit denen de Staël sprach, erhofften sich von ihr, dass sie als Botin ihrer Kultur auftreten würde, und genau dies tat sie. De l’Allemagne und die Übersetzungen des Buchs trugen dazu bei, den Ruf der deutschen Kultur in Frankreich, Großbritannien und anderswo zu stärken.[10]
Auch Coleridge war ein bedeutender Kulturvermittler. Es wurde bereits erwähnt, dass er Schellings Gedanken über das Unbewusste nach England brachte, aber er tat mehr als das. Er kam früh mit deutscher Literatur in Berührung und war von ihr begeistert. Als Student in Cambridge verschlang er »mit Schauern und Zittern« eine Übersetzung von Schillers Räubern, und nachdem er die Lektüre in den frühen Morgenstunden beendet hatte, schrieb er seinem Freund Robert Southey, um ihn zu fragen: »Wer ist dieser Schiller? Dieser Erschütterer des Herzens?«[11] Das war 1792. Acht Jahre später, nachdem er ein Jahr in Göttingen studiert hatte, übersetzte Coleridge selbst Schillers Wallenstein-Trilogie. Deutschen Ideen begegnete er nicht nur in England und Deutschland. Den gleichaltrigen Ludwig Tieck lernte er in Italien in dem Haus kennen, das Wilhelm von Humboldt in Rom gemietet hatte. Tieck und Coleridge, die sich beide für den Volkston und Shakespeare begeisterten, wurde enge Freunde.[12] Coleridge übersetzte noch andere deutsche literarische Werke und arbeitete viele Gedanken deutscher Romantiker in seine Biographia Literaria (1817) ein.[13] Er war eine zentrale Figur in Bezug auf die britische Rezeption deutscher Kultur, die in der romantischen Zeit mit Shelley, Byron, Thomas Carlyle und Walter Scott begann und während des gesamten 19. Jahrhunderts anhielt.[14] Carlyle übersetzte allein in den 1820er-Jahren Werke von Goethe – unter anderem Wilhelm Meisters Wanderjahre –, Tieck, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann; außerdem veröffentlichte er Essays über bedeutende deutsche Schriftsteller und eine Biografie Schillers. Einige Jahre später brachte sich Emily Brontë am Küchentisch im Pfarrhaus in Haworth selbst Deutsch bei, weil sie die deutsche Literatur im Original lesen wollte. Eine Linie »von Werther nach Wuthering Heights« zu ziehen bleibt allerdings spekulativ.[15]
Man kann also nachvollziehen, wie deutsche Literatur und der Anspruch der deutschen Kultur vom Genfer See in die Yorkshire Dales gelangten. Verantwortlich dafür waren Vermittler wie de Staël und Coleridge sowie Übersetzer wie Carlyle, der französisch-schweizerische Schriftsteller Benjamin Constant – ein Mitglied von de Staëls Kreis in Coppet – und Einzelne, die man nicht mehr wegen ihrer eigenen Werke kennt, sondern, wenn überhaupt, als Übersetzer. Andere brachten die deutsche literarische Revolution nach Skandinavien.[16]
Der Transfer und die Aneignung von Kultur fanden in beiden Richtungen statt. Tieck und Coleridge teilten die Bewunderung für Shakespeare, aber Ersterer war mehr als nur Bewunderer. 1789 begann er zusammen mit August Schlegel an dem zu arbeiten, was zur deutschen Standardfassung von Shakespeares Stücken werden sollte, die ihn zu einem im Grunde deutschen Autor machten, der nur zufälligerweise Engländer war. Er wurde »ganz unser«, wie Schlegel erklärte. Der berühmte Beginn von Hamlets Monolog klingt auf Deutsch entschieden hegelianisch: »Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage.« Auch die erste vollständige Übersetzung von Miguel de Cervantes’ Don Quijote entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie erschien in mehreren Bänden zwischen 1775 und 1777 und stammt von einem weiteren Weimarer, dem Zeitschriftenherausgeber Friedrich Justin Bertuch.[17] Beide Schriftsteller, Shakespeare wie Cervantes, wurden wegen ihrer umfassenden Menschlichkeit und ihres reichen natürlichen, umgangssprachlichen Vokabulars geschätzt. Mit ihrer Sprache und ihrem emotionalen Spektrum unterschieden sie sich völlig von dem raffinierten, formelhaften Stil der französischen Literatur, was sie für Deutsche als Gegenkräfte zur Tyrannei des französischen Geschmacks attraktiv machte.
Seit den 1760er-Jahren hatten Herder und andere verkündet, die Volkssprache sei der »Spiegel des Volks«. Ihre Suche nach einer »authentischen« Volkskultur nahm verschiedene Formen an. Ein Beispiel ist das »Schattenspiel« mit ausgeschnittenen Figuren, eine beliebte Unterhaltung, die aus dem Osmanischen Reich über Italien nach Deutschland gelangt war und im 18. Jahrhundert den Weg von den Marktplätzen in die Wohnzimmer der Gebildeten fand und von romantischen Schriftstellern wie Christian Brentano und Ludwig Tieck aufgriffen wurde.[18] Ihren Höhepunkt erreichten die Bemühungen, eine flüchtige Volkskultur festzuhalten, am Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Sammeltätigkeit der Heideberger Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano, Christians Bruder, die in den drei Bänden von Des Knaben Wunderhorn Gedichte, Volkslieder und Märchen zusammenbrachten. Das berühmteste Produkt der Beschäftigung mit der Volkskultur waren jedoch die von den Brüdern Grimm gesammelten – und gereinigten – Geschichten von Mord, Verstümmelung, Kindstötung und Inzest.[19]
Deutsche Schriftsteller und Intellektuelle ließen sich von einer wahrhaft europäischen Manie für reale oder eingebildete Literatur des »Volks« mitreißen. Das bekannteste Beispiel ist ein Zyklus epischer Gedichte, die angeblich von dem gälischen Barden Ossian stammten; herausgegeben wurden sie von dem schottischen Dichter James Macpherson – der in Wirklichkeit auch ihr Autor war. Von Thomas Jefferson ebenso wie von einem gebildeten Publikum in ganz Europa begeistert aufgenommen, fand Ossian auch in Deutschland Übersetzer und viele Bewunderer, von Goethe und Schiller über Jean Paul bis zu Novalis. Klopstock meinte sogar, Ossian sei deutscher Herkunft. Der romantische Schriftsteller Wilhelm Heinse notierte skeptisch: »Was man wünscht, das glaubt man leicht.« Aber nur wenige – unter ihnen August Schlegel – teilten seine Ansicht, dass die Gedichte sentimentale Fälschungen seien.[20] Die Begeisterung der Verehrer Ossians, die ihn für den »Homer des Nordens« hielten, war nur der spektakulärste Ausdruck einer großen Wende nach Norden am Ende des 18. Jahrhunderts, die ein Interesse für isländische, lappische und andere skandinavische Literatur mit sich brachte.[21]
Deutsche Schriftsteller übernahmen gelegentlich ausländische Genres und passten sie ihren eigenen Zwecken an. Das schlagendste Beispiel dafür ist Daniel Defoes 1719 veröffentlichter Roman Robinson Crusoe, wobei anzumerken ist, dass umgekehrt das englische Original manches deutschen Quellen zu verdanken hat.[22] Wirklich bemerkenswert ist aber, was mit dem Roman in den Jahrzehnten nach seinem Erscheinen geschah. Die Geschichte des auf einer einsamen Insel Gestrandeten wurde geradezu Mode und veranlasste überall in Europa Schriftsteller zu Nachahmungen. Bis 1800 erschienen neun englische, zehn niederländische, sechs französische und 128 deutsche Versionen.[23] Was ist von dieser Anhäufung zu halten? Zunächst einmal kamen in ihr deutsche Regionalidentitäten zum Ausdruck. Es gab bald einen sächsischen Robinson, dann einen schlesischen, thüringischen und ostfriesischen und viele andere.[24] Aber wir haben es auch mit einem Beispiel einer besonderen deutschen Vorliebe für Reisebücher zu tun. Um 1800 waren Deutsche die Hauptkonsumenten dieses Genres in Europa. In den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verfünffachte sich die Produktion von Reisebüchern in Deutschland.[25] Hierbei spielten sicherlich Kompensation und Wunscherfüllung eine Rolle, wie bei der Vielzahl deutscher Robinsonaden, die es nicht seefahrenden Mitteleuropäern ermöglichte, sich auf die Ozeane hinaus zu träumen, deren Realität für Engländer, Holländer und Franzosen selbstverständlich war. Der junge Adam Henß, in Mainz als Sohn eines einfachen Knechts geboren, reiste durch ganz Europa und machte »Wanderungen« zum Schlüsselwort des Titels seiner Autobiografie. Doch seine ersten Reisen hatte er in der Fantasie unternommen. Er segelte mit Kolumbus über den Atlantik, er war mit Cortés in Mexiko, und natürlich lebte er »mit Robinson auf seiner Insel«.[26]
Zwei aus der Menge herausragende Robinsonaden stehen für eine andere Aneignung des Vorbilds. Immerhin ist dies die Art, wie literarische Rezeption vor sich geht, die, mit Novalis’ Worten, »Verwandlung des Fremden in ein Eignes, Zueignung ist also das unaufhörliche Geschäft des Geistes«.[27] Die erste dieser Robinsonaden ist ein zwischen 1731 und 1743 erschienener Roman von Johann Gottfried Schnabel, der unter seinem Kurztitel Insel Felsenburg bekannt wurde. Erzählt wird von zwei Männern, die das verdorbene alte Europa repräsentieren, nach einem Schiffsunglück im Südatlantik infolge ihrer Gewalttätigkeit ums Leben kommen, und einem Paar, Albert Julius und Concordia, das heiratet und eine gerechte, fruchtbare und gottesfürchtige Gesellschaft gründet. Ihre Insel ist teils ein Garten Eden, teils Utopia: ein »grünes Utopia«.[28] Die andere interessante Adaptation ist Johann Heinrich Campes Kinderbuch Robinson der Jüngere. 1779/80 erschienen, als sich das Werther-Fieber auf dem Höhepunkt befand, zielte es darauf ab, »ungesunde« Gefühlswallungen einzudämmen. Campe lässt einen Vater seinen Kindern die Geschichte erzählen – didaktisch, vernunftbetont und praxisorientiert. Aber auch sein Buch hat »grüne« Aspekte. Eine Botschaft seines Robinson lautete, dass die Europäer die Flora und Fauna ihrer Insel erkunden müssen. Im Gegensatz zu Defoes Robinson hat sein Held am Anfang keine Werkzeuge und muss mit dem zurechtkommen, was seine Umwelt ihm bietet. Hier klingen Gedanken deutscher Naturforscher von Forster bis Chamisso an. Gleiches gilt für die Beziehung zwischen Robinson und Freitag. Bei Campe ist es eine enge, von gegenseitiger Zuneigung geprägte Beziehung. Freitag kehrt schließlich mit Robinson nach Hamburg zurück, wo er ein Handwerk erlernt, und die beiden Männer bleiben ihr Leben lang Freunde. Dennoch enthält all dies ein Element europäischen Paternalismus, und auch etwas spezifisch Deutsches. Campe präsentiert das Ideal des »freundlichen Deutschen«, des Kolonisten, der auf seine Umwelt achtet und Nichteuropäer gut behandelt. Dieses Thema sahen wir bereits in den zeitgenössischen Dramen von August von Kotzebue und Friedrich Döhner.[29]
Der zeitgenössische französische Historiker Jules Michelet verglich das Wunder deutscher Kreativität in den Jahren um 1800 mit Wasser, das aus Felsen oder Sand hervorquillt und Ausfluss eines mächtigen unterirdischen Stroms ist.[30] Diese Metapher enthält einen wahren Kern; man muss allerdings ergänzen, dass der unterirdische Strom von vielen Quellen gespeist wurde. In einem Zeitalter, in dem die deutsche Literatur blühte wie nie zuvor und seither, war sie auch offener für eine Vielzahl von Einflüssen aus allen Zeiten und Räumen. Neben der Begeisterung für Ossian und die nordische Edda, für das Schattenspiel und die Geheimnisse von Robinsons Insel gab es noch andere geistige Einflüsse. Der offensichtlichste war ein neu erwachtes, starkes Interesse für das Altertum, insbesondere für das antike Griechenland, das eine Germanistin etwas übertrieben als »Tyrannei Griechenlands über Deutschland« bezeichnet hat.[31] Antike griechische Kunst wurde zum Maßstab von Schönheit und Proportion. Aber auch die Literatur aus dem sonnigen Süden fand in Deutschland Anklang, und zwar aus demselben Grund, aus dem dies die Literatur aus dem eisigen Norden tat: weil in ihr angeblich die Stimme des »Volks« zum Ausdruck kam. Dies hatten nach Ansicht von Deutschen, die ihren Herder gelesen hatten, Homer und die isländischen Sagen gemeinsam.[32] Auch schlossen die neu entdeckten Bande zu Shakespeare und Cervantes die Wertschätzung der aufklärerischen französischen Literatur nicht aus. Goethe brachte Voltaires Mahomet und Tancred in Weimar auf die Bühne, und 1805 übersetzte er das geistreichste, »modernste« fiktive Werk der französischen Aufklärung, Rameaus Neffe von Denis Diderot, nachdem Schiller ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, den wiederum ein Russe darauf hingewiesen hatte.[33] Übersetzer, die meisten weit weniger berühmt als Goethe, spielten in dieser Zeit zweifellos eine bedeutende Rolle. Mit ihrer Arbeit bestätigten sie, was der amerikanische Dichter und Übersetzer Ezra Pound hundert Jahre später sagte: »Ein großes Zeitalter der Literatur ist vielleicht immer auch ein großes Zeitalter der Übersetzung – oder folgt ihm.«[34]
Dies trat nirgends deutlicher zutage als in der Wirkung östlicher, arabischer und südasiatischer Literatur in Deutschland um 1800. Friedrich Schlegel sprach von einer »orientalischen Renaissance«.[35] Insbesondere Sanskritliteratur wurde in Deutschland Mode. Ein Beispiel ist der romantische Schriftsteller E. T. A. Hoffmann, dessen Erzählungen die Vorlagen für Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen und Peter Tschaikowskis Ballett Der Nussknacker lieferten. Wie viele Romantiker war er von der Musik als »tiefster«, geheimnisvollster und unfassbarster Kunstform besessen. Nach seiner Ansicht war sie das »in Tönen ausgesprochene Sanscritta der Natur«.[36] Die romantische Dichterin Karoline von Günderode machte der Sprache ein noch größeres und ebenso melodramatisches Kompliment. Als sie sich, nachdem ihr Geliebter sie verlassen hatte, am Rheinufer das Leben nahm, hinterließ sie eine Selbstmordnachricht in Sanskrit.[37] Die meisten Deutschen kamen mit der Sanskritliteratur allerdings in Übersetzungen in Berührung, und diese waren häufig indirekte Übersetzungen vor allem aus dem Englischen, aber auch aus dem Französischen. Die Kenntnis des Sanskrit und der Sanskritliteratur gelangte durch die Tätigkeit einer Gruppe von Gelehrten, die unter der Ägide der Ostindien-Kompanie arbeiteten, nach Europa. Ein Übersetzer aus dieser Gruppe war William Jones, der weithin als »Oriental Jones« bekannt war und den Goethe als den »unvergleichlichen Jones« bezeichnete.[38]
Die Rolle britischer Vermittler beleuchtet das Beispiel Friedrich Schlegels, der Sanskrit in Paris erlernte. Sein Lehrer war ein weiterer Sprachforscher der Ostindien-Kompanie, ein Marineoffizier, der 1802, als der Krieg erneut begonnen hatte, in Paris gestrandet und von den Franzosen für die Katalogisierung von Sanskritmanuskripten angestellt worden war. Sein Name war Alexander Hamilton; er war ein Cousin des amerikanischen Gründungsvaters gleichen Namens.[39] Schlegel war hingerissen von der Sprache. »Alles, alles stammt aus Indien, ohne Ausnahme«, schrieb er an Tieck.[40] 1808 veröffentlichte er einen Schlüsseltext über die orientalische Renaissance in Deutschland: Über Sprache und Weisheit der Indier. Es war ein in jeder Hinsicht bedeutendes Buch. Schlegels Ausgangspunkt war William Jones’ Beschreibung der Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit, Altgriechisch und Latein sowie der meisten modernen europäischen Sprachen. Auf die Erkenntnisse von Jones und anderen gestützt, untersuchte er die strukturellen Ähnlichkeiten der Sprachen, nicht nur einzelner Wörter, und leistete damit einen bedeutenden Beitrag zur Sprachwissenschaft. Seine Methoden regten den deutschen Philologen Franz Bopp an, seinerseits Sanskrit zu lernen und anschließend die morphologischen Prinzipien zu entwickeln, welche die Grundlage der vergleichenden Sprachwissenschaft bilden sollten. Das Problem ist nur, dass Schlegels »indische« Verortung der deutschen sprachlichen und religiösen Ursprünge ein antihebräisches Element enthielt, das die Grundlage für die grob rassistische »arische« Theorie des späten 19. Jahrhunderts bildete.[41]
Vor allem ein Sanskrittext entflammte die Vorstellungskraft der deutschen Leser: das Drama Sakuntala des klassischen Sanskrit-Schriftstellers Kālidāsa, der im 4. und 5. Jahrhundert lebte.[42] Es wurde von William Jones zunächst ins Lateinische – das nach seiner Ansicht dem Sanskrit näher stand –, dann ins Englische übertragen und 1789 in Kalkutta sowie ein Jahr später in London veröffentlicht. Die von Georg Forster angefertigte deutsche Übersetzung dieser englischen Übersetzung, die im Mai 1791 erschien, löste eine Welle der Begeisterung aus.[43] Der »indische Shakespeare« hatte Verehrer überall in Europa, aber die deutsche Rezeption war besonders stürmisch. Forsters Übersetzung läutete eine »Sakuntala-Ära« ein.[44] »Willst du den Himmel, die Erde mit Einem Namen begreifen«, dichtete Goethe voller Bewunderung, »Nenn’ ich, Sakontala, dich, und so ist Alles gesagt.«[45]
Herder und Schlegel waren hingerissen. Sie sahen in Sakuntala ein Abbild von Unschuld, heiliger Weisheit und Ganzheit. Bei Novalis lässt sich der Einfluss des Stücks gut verfolgen. Schon 1795, bevor er Friedrich Schlegel kennenlernte und sich dem Jenaer Kreis anschloss, nannte er seine jugendliche Verlobte Sophie von Kühn »Sakuntala«. Sein Roman Heinrich von Ofterdingen war unvollendet, als er 1801 an Tuberkulose starb, aber in seinen Notizen für den ungeschriebenen Teil steht »Sakuntala« als Kürzel für die Schaffung von Harmonie durch Poesie am Ende des Strebens nach Selbstverwirklichung in einem neuen goldenen Zeitalter. Auch das berühmteste Bild seines Romans und das zentrale Symbol der deutschen Romantik überhaupt hat Novalis dem Sanskrit-Drama entlehnt: die blaue Blume.[46]
In seinem Standardwerk über den Orientalismus konzentriert sich Edward Said auf Großbritannien und Frankreich, deren geistige und literarische Beschäftigung mit Indien, Persien und dem Osmanischen Reich untrennbar war von ihrer wachsenden wirtschaftlichen und politischen Macht über diese Territorien.[47] Dort konnte der Orientalismus nicht unschuldig sein, ganz gleich, wie weit William Jones das Vertrauen örtlicher Pandits gewonnen hatte. Was Deutschland betraf, war die Sache komplizierter, da es sich von kolonialen Unternehmungen fernhielt, abgesehen von den Deutschen, die anderen Kolonialreichen als Wissenschaftler oder Soldaten dienten. Zu den Letzteren gehörte Karl Schlegel, der ältere Bruder von August und Friedrich, der Soldat bei der Britischen Ostindien-Kompanie war und 1789 in Madras starb, als die Aufmerksamkeit der Welt anderswohin gerichtet war; sein Tod soll das Interesse seiner Brüder an Indien geweckt haben.[48] Dass Deutschland sich abseits hielt, brachte, wie wir in anderen Zusammenhängen schon gesehen haben, viel Selbstgerechtigkeit hervor, die sich auch in der Literatur niederschlug. Als Herder 1803 das Vorwort zu einer Neuauflage von Forsters Sakuntala-Übersetzung schrieb, verband er literarische mit antikolonialer Kritik: Die englische Reimkunst passe »zur indischen Dichtung wie zehrend-brennendes Wasser auf die zarte Mallika-Blume, die es (wie die Engländer die Hindus selbst) sengt und zerstört.« Es folgt die bereits zitierte Passage, in der Herder beklagt, dass »diese Geistes- und Gemütsschätze der friedseligsten Nation unseres Erdballes samt ihrer Sprache der kaufmännischsten Nation desselben Balles anvertraut« seien.[49]
Herder mag recht gehabt haben, aber seine Äußerung war auch selbstgefällig, denn sie stärkte die Meinung, Deutsche seien anderen Kulturen gegenüber feinfühliger als die arroganten Franzosen und die raffgierigen Briten. Genau in den Jahren um 1800 bildete sich diese Ansicht heraus. Novalis, beispielsweise, freute sich in seinem 1799 veröffentlichten Aufsatz Die Christenheit oder Europa auf eine nahe Zukunft, in der eine zweite Reformation, in der Deutschland erneut die Führung übernehmen würde, die (nachteiligen) Folgen der der ersten aufheben würde: »In Deutschland […] kann man schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen. Deutschland geht einen langsamen aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Parthey-Geist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höhern Epoche der Cultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Uebergewicht über die Andere[n] im Lauf der Zeit geben.«[50] An der Herausbildung dieser selbstgefälligen Haltung waren auch nichtdeutsche Beobachter beteiligt. Jules Michelet bezeichnete Deutschland, wiederum den Fußstapfen von Germaine de Staël und ihrem Bild vom »Land der Dichter und Denker« folgend, als das »Indien von Europa«, als dasjenige westliche Land, das sich am besten eine kindliche Unschuld und Einfachheit bewahrt hatte.[51]
Wie also benutzten deutsche Schriftsteller die indische, persische und osmanische Literatur in ihren eigenen Werken? Manchmal diente sie als exotischer Schmuck, aber häufig war auch mehr daran. Jede Begegnung mit einer anderen Literatur hinterlässt Spuren, die sich in einem breiten Spektrum von Möglichkeiten bewegen: vom Zitat über ausgewählte Anleihen bis zu Aneignung und Umarbeitung. Heinrich von Ofterdingen, zum Beispiel, nimmt im Lauf der Erzählung einen immer zauberischeren, märchenhafteren Charakter an und ist voller Figuren wie dem arabischen Mädchen Zulima, einer persischen Prinzessin, dem Hirtenmädchen Zyane, einem griechischen Lyraspieler und dem geheimnisvollen Ginnistan, dessen Name sich eindeutig vom arabischen Dschinn ableitet.[52] Damit wirkt er wie ein gut sortierter Spielzeugladen orientalischer Klischees. Aber diese Klischees dienten Novalis’ Zwecken. Er strebte nach einer literarischen Form, welche, wie er selbst es ausdrückte, die Suche nach dem »großen Orient in uns«, das heißt der Religion, wiedergeben würde.[53] Ein Mittel dafür war die Gralserzählung, die Konventionen der indischen, persischen und arabischen Literatur lieferten weitere. Wie viele Autoren betont haben, kann der Orientalismus verschiedene Formen annehmen, einschließlich echter Offenheit und Hochachtung für andere Kulturen, so dass »Wissen als Verstehen auch zu Wertschätzung, Dialog, Selbstkritik, perspektivischer Orientierung und persönlicher und kultureller Bereicherung führen kann«.[54]
Das vielleicht beste Bespiel für solche Offenheit und Hochachtung ist Goethes West-östlicher Divan, eine Sammlung – ein »Divan« – von zwischen 1814 und 1819 geschriebenen Gedichten, die sich sowohl der Versformen als auch der Bildersprache arabischer und persischer Lyrik bedienen und gleichzeitig Ausdrucksformen der indigenen Volkskulturen einbeziehen, die im späten 18. Jahrhundert Eingang in die deutsche (und andere europäische) Poesie gefunden hatten – Balladen, Märchen, Wiegenlieder, Serenaden.[55] Goethe hatte gut genug Arabisch gelernt, um manches Gedicht in arabischer Schrift schreiben zu können; außerdem hatte er den Koran eingehend studiert. Der unmittelbare Auslöser für die Dichtung des West-östlichen Divans waren die Werke des persischen Dichters Hafis, der im 14. Jahrhundert lebte. 1812/13 waren Übersetzungen von Gedichten des Hafis erschienen, die der Wiener Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall angefertigt hatte, der Gründer der Zeitschrift Fundgruben des Orients, die Artikel über Poesie, Geschichte und Reisen veröffentlichte.[56] Es waren dürftige Übersetzungen, wie man allgemein erkannte, aber sie regten Goethe dennoch dazu an, Gedichte im Stil eines Dichters zu verfassen, in dem er eine »Zwillingsseele« sah.[57] Tatsächlich gab es Parallelen. Hafis lebte in Schiras nach der Invasion des turkomongolischen Eroberers Timur, Goethe im von Napoleon besetzten Deutschland. In einem Stück des Divans, dem »Buch des Unmuts«, folgt Goethe Hafis’ bitterem Blick auf die Politik seiner Zeit. Zumeist jedoch feiern die Gedichte die Freuden des Lebens: Rosen und Nachtigallen, Wein und Frauen. Der Rahmen des Divans erlaubte es Goethe, in andere Rollen zu schlüpfen, während die Verse ein Gegenbild voller Verspieltheit und erotischen Verlangens zu dem entwerfen, was er als erstickende christliche Moral ansah. Als Edward Said und der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim 1999 die Idee hatten, ein Musikensemble zu schaffen, in dem junge arabische und israelische Musiker zusammenkommen sollten, entschieden sie sich für den Namen West-Eastern Divan Orchestra. Said faszinierten Goethes Identifikation mit persischen und arabischen Literaturformen und der von ihm gelieferte Beweis für die Macht der Poesie, nicht nur sich die Möglichkeit anderer Identitäten zu eröffnen. Im Gespräch mit Barenboim pries er »diese außergewöhnliche Gedichtsammlung über das ganz ›Andere‹, den West-östlichen Divan; das ist, wie ich glaube, einmalig in der europäischen Kulturgeschichte«. Warum? Weil es Goethe nicht um die Behauptung seiner eigenen Identität ging – Said war skeptisch gegenüber »Identität« und der Suche »nach seinen Wurzeln« –, sondern darum, »anderen eine Stimme zu verleihen«.[58]
Goethe war ein gefeierter Universalgelehrter – Dichter, Dramatiker, Romancier, Kritiker, Theaterdirektor, Staatsmann, Bergbauinspektor, Farbentheoretiker, Botaniker. Seine literarischen Interessen allein waren allumfassend. Er war nicht nur gräkophil und später auch indophil, sondern verfolgte darüber hinaus die literarischen Entwicklungen in Italien, Spanien, Russland und Amerika ebenso wie diejenigen in Großbritannien und Frankreich. Wenn er ausländische Besucher empfing, von denen Hunderte zu ihm kamen, hatte er stets Fragen über die Literatur ihrer Heimatländer, und der Katalog seiner privaten Bibliothek in Weimar enthielt Werke in zwanzig Sprachen, teils im Original, teils übersetzt.[59] Für aus dem Chinesischen übersetzte Bücher gibt es keinen Beleg, aber in der großherzoglichen Bibliothek muss es welche gegeben haben, denn Goethe bemerkte am 31. Januar 1827 im Gespräch mit seinem Sekretär Johann Peter Eckermann, er lese einen »chinesischen Roman«. Bei dieser Gelegenheit erklärte er auch: »Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.«[60] Später im selben Jahr verwendete er den Begriff auch im Druck. In der Zeitschrift Über Kunst und Altertum erwähnte er im Zusammenhang mit der Aufnahme seiner Werke in Frankreich eine Rezension seines Dramas Torquato Tasso in einer Pariser Zeitung und bemerkte dazu, dass er »überzeugt sey, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist«.[61]
»Weltliteratur« war ein klangvoller Begriff, dem ein langes Nachleben beschieden war, der freilich, je nach persönlichem Blickwinkel, eine andere Bedeutung hatte. Er bildete – so wie Friedrich Schlegels Forschung der vergleichenden Sprachwissenschaft den Weg ebnete – die Grundlage der vergleichenden Literaturwissenschaft, als diese sich später im 19. Jahrhundert als eigenständiges Fachgebiet etablierte. In den Vereinigten Staaten wurde sie, sehr zum Ärger derjenigen, die sich ernsthaft mit dem Vergleich von Literaturen befassten, zur fadenscheinigen Rechtfertigung für Studienkurse über »große Bücher«. Dann führte man im späten 20. Jahrhundert eine lebhafte Debatte über Weltliteratur als Literatur des Exils und der Entwurzelung, während andere alternative Begriffe befürworteten, die für etwas Inklusiveres stehen konnten – globale Literaturtheorie, transnationale Literaturwissenschaft, vergleichende postkoloniale und Diaspora-Studien.[62] Wie viele andere Begriffe und Ideen, die sich zwischen 1780 und 1830 von Deutschland aus verbreiteten, ist auch derjenige der Weltliteratur weiterhin diskussionswürdig.
Zwanzig Jahre nachdem Goethe ihn eingeführt hatte, verwendeten Karl Marx und Friedrich Engels den Begriff der »Weltliteratur« im Kommunistischen Manifest, in dem sie schrieben: »Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«[63] Es war nicht allzu weit hergeholt, den Begriff, wie Marx und Engels es taten, mit der Entwicklung der Märkte zu verbinden. Immerhin hatten auch einige von Goethes Zeitgenossen dies getan. Fichte sprach davon, dass »die große Europäische Staaten-Republik« die »Werkstätte der Cultur« schütze,[64] und Friedrich Schleiermacher glaubte, dass Weltmärkte mit kulturellem Austausch einhergingen, »weil die ideale Communication welche doch nothwendig ist zur Fortschreitung sich von der materiellen nicht trennen läßt«.[65] Goethe selbst hat es bei verschiedenen Gelegenheiten getan, wenn er über »Weltliteratur« sprach.[66] Er benutzte dabei Worte wie »Verkehr«, »Handelsverkehr« und »Wechseltausch«, sprach vom »allgemeinen geistigen Handel«, vom »Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten« und davon, dass das Übersetzen »eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen« sei.[67]
Ein Teil von Goethes Bibliothek in Weimar.
Der Begriff der Weltliteratur wies also in zwei Richtungen: Er war sowohl kosmopolitisch – gegen Engstirnigkeit, die Befangenheit im »engen Kreise unserer eigenen Umgebung« gewandt – als auch wettbewerbsorientiert – auf den Weltmarkt des »geistigen Handels« gerichtet. Zwischen beiden Bedeutungen bestand eine Spannung, und beide finden sich in Goethes Äußerungen. Sie sind auch schon früher zu finden, denn der Begriff »Weltliteratur« war, in engem Zusammenhang mit Übersetzungen, bereits einige Jahrzehnte bevor Goethe ihn aufgriff, entstanden. Der Göttinger Professor Ludwig Schlözer benutzte ihn 1773 in einer Schrift über die isländische Literatur,[68] und der Dichter und Kritiker Christoph Martin Wieland verwendete ihn ungefähr zur selben Zeit in einem Brief an Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, dem er seine Übersetzung von Briefen des Horaz beilegte. Die Urbanität von Rom, schrieb er, sei gekennzeichnet gewesen von »dieser feinen Tinktur von Weltkenntniß u. Weltlitteratur«.[69] Wieland benutzte den Begriff nicht nur beiläufig: Als früher Übersetzer Shakespeares und antiker Autoren sowie als Herausgeber des Teutschen Merkur machte er die Deutschen in enormem Ausmaß mit ausländischer Literatur bekannt. In den 38 Jahren seines Erscheinens wurden im Teutschen Merkur Werke in Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Schwedisch, Ungarisch, Türkisch, Arabisch und Chinesisch besprochen.[70] »Weltliteratur« in diesem Sinn bedeutete, die Literatur der Welt durch Besprechungen und Übersetzungen verfügbar zu machen, antike wie moderne, Shakespeare wie Sakuntala. Ausländische Literaturen und Kulturen verdienten, bekannt zu werden, da sie authentische Abbilder der Völker seien, die sie hervorbrachten – so Herders einflussreiches Argument, das Schlözer, Wieland und zahlreiche andere in die Tat umsetzten.[71]
Auch Goethe verstand Weltliteratur zum Teil in diesem Sinn. Aber er glaubte auch, dass sie einem kosmopolitischen Zweck diente, als wohlmeinender Anstoß für eine »Auffrischung« von Nationalliteraturen, die zu sehr nach innen schauten und vertrockneten. Wenn die Deutschen sich der Weltliteratur nicht öffneten, liefen sie Gefahr, in »pedantischem Dünkel« zu versinken.[72] Außerdem betrachtete Goethe die Weltliteratur, womit in erster Linie diejenige der europäischen Nationen gemeint war, als kulturelle Brücke und ein Mittel, um in einer Nachkriegszeit das gegenseitige Verständnis zu befördern.[73] Daher überrascht es nicht, dass der Germanist Fritz Strich 1946, unmittelbar nach dem Ende des »Dritten Reichs«, in der ersten großen Monografie über das Thema »Goethe und die Weltliteratur« deren kosmopolitische Botschaft hervorhob und gleichzeitig inmitten der Trümmer als Symbole eines anderen, besseren Deutschland Goethe-Gesellschaften gegründet wurden.[74]
Der Begriff der Weltliteratur hatte aber auch einen Wettbewerbsaspekt und diente der Selbstvergewisserung der Deutschen auf dem aufblühenden Literaturmarkt. Herders Feststellung, dass jede Nationalliteratur authentisch sei, zielte auf die Vorherrschaft der französischen Kultur, und dieses Argument gewann während der französischen Besetzung zusätzliche Durchschlagskraft. Die deutsche Einschätzung der französischen Literatur als oberflächlich und unernst war in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts immer häufiger zu vernehmen und verfestigte sich am Anfang des 19. Jahrhunderts.[75] Sich für die Weltliteratur einzusetzen – von Schlözer über Wieland zu Goethe – war insofern eine Fortsetzung von Herders Konzept der Nationalliteratur. Beide waren Nebenprodukte des deutschen Widerstands gegen den französischen kulturellen Universalismus. Auf diesen Punkt wurde stets hingewiesen, wenn ein deutscher Autor ein Shakespeare-Stück, eine isländische Saga oder ein Werk der Sanskrit-Literatur übersetzte. Man kann das Übersetzen selbst als strategischen geistigen Schachzug oder kulturelle Waffe betrachten.[76] Dieser Subtext trat häufig auch zutage. Friedrich Schlegel schrieb in Über Sprache und Weisheit der Indier an zahlreichen Stellen von »unserer« Vorgeschichte, also der Geschichte der germanischen Stämme.[77] Außerdem war er überzeugt, dass die Deutschen nicht nur mehr übersetzten als andere, sondern auch besser, wobei er insbesondere die Franzosen im Blick hatte, die fremde Texte durch Übersetzung vereinnahmten, während die Deutschen, »wie in allen Dingen treu und redlich«, »treue Übersetzer« seien.[78] Während der romantischen Epoche glaubte man weithin, dass das Deutsche als »späte« Sprache weniger durch eine steife Hofkultur verbogen und daher flexibler sei, sich anderen Idiomen leichter anpassen könne, weniger herablassend und daher fürs Übersetzen besonders gut geeignet sei. Dies erinnert an Georg Forsters Stolz auf deutsche Bescheidenheit und Unaufdringlichkeit. Der Geist der Offenheit für andere Literaturen, den der Begriff der Weltliteratur umfasste, war ähnlich zweideutig. Das Gefühl der eigenen Großzügigkeit brachte eine Zufriedenheit mit sich, die es den Deutschen erlaubte, Nationalstolz auf ihren Kosmopolitismus zu empfinden.