Kapitel 10  
Krieg, Republik, Drittes Reich

1914 – 1939

Krieg

Nicht lange vor seinem Tod im Jahr 1983 bemerkte der französische Philosoph Raymond Aron, das 20. Jahrhundert »hätte das Jahrhundert Deutschlands werden können«.[1] Er sprach mit seinem Freund, dem Historiker und jüdischen Exilanten aus dem Dritten Reich Fritz Stern, und dachte sicherlich an Deutschlands Leistungen in Naturwissenschaften und Medizin sowie seine weltweit bewunderten Universitäten und sein kulturelles Ansehen. Sein Rückblick stimmte weitgehend mit dem überein, wovon Deutsche um 1900 überzeugt waren, wenn sie voller Stolz und Optimismus auf das anbrechende Jahrhundert vorausschauten.[2] Es kam freilich anders. Das deutsche Jahrhundert wurde stattdessen zu einem Synonym von militärischer Aggression und NS-Diktatur, vor allem aber des Holocausts. Mit den Worten Thomas Manns, eines weiteren Exilanten: Deutschland war, wie er im Mai 1945 in Washington sagte, zu einem »Pfahl im Fleische der Welt« geworden.[3]

Danach begann der langsame Wiederaufstieg zu Akzeptanz und Respekt. Der Verlauf der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert ist ein Lehrbuchbeispiel für diejenigen, die Geschichten mit einer Moral mögen: Dem Abstieg in Barbarei und moralische Katastrophe folgten eine lange Phase der »Buße« (Teilung) und schließlich die »Erlösung« (Wiedervereinigung).[4] Dies ist eine Möglichkeit, die Geschichte zu erzählen. Man kann Deutschland allerdings auch anders in die tumultuöse Geschichte des 20. Jahrhunderts einbetten. Man halte sich einmal vor Augen, wofür Berlin Jahrzehnt für Jahrzehnt stand. Die dynamische Weltmetropole der Jahre vor 1914 verwandelte sich im Ersten Weltkrieg in eine verzweifelte, hungernde Stadt, bevor sie in der bewegten Nachkriegszeit zum Schauplatz einer Revolution wurde. Danach wandelte sie sich zum pulsierenden Symbol der Modernität, das wir heute mit der Weimarer Republik und den Goldenen Zwanziger Jahren assoziieren. Doch dann wurde sie zur Hauptstadt von Hitlers mörderischem Dritten Reich und war nach dessen Ende im Jahr 1945 eine in Trümmern liegende, geteilte Stadt, die als Hauptstadt des Kalten Krieges eine neue Art von Berühmtheit erlangte, als klassischer Tummelplatz von Spionen und Ort für spektakuläre Fotos von Luftbrücke (1948/49) und Mauer (1961 – 1989). Beide Hälften Deutschlands machten Berlin zu ihrem Schaufenster, wo ein Wirtschaftssystem gegen das andere stand und eine Kultur gegen die andere. Unterdessen wurde auf beiden Seiten erst der Grenze, dann der Mauer eine Welt in Bewegung spürbar, als türkische Arbeiter sich in Kreuzberg (im Westen) und Vietnamesen in Mitte (im Osten) niederließen. Dann, im Jahr 1989, stand die Stadt erneut im Zentrum der weltweiten medialen Aufmerksamkeit, als der Fall der Mauer das offizielle Ende des Kalten Krieges anzeigte. Zehn Jahre später, als das Jahrhundert sich dem Ende zuneigte, war Berlin nicht nur wieder die Hauptstadt eines vereinigten Landes, sondern auch Hauptanziehungspunkt für Juden aus der früheren Sowjetunion und ein Magnet für junge Kreative aus aller Welt. Diese Berliner Vignetten deuten an, dass die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert Teil einer umfassenderen globalen Geschichte war. Sie stehen für die vielen Themen, die in den letzten drei Kapiteln dieses Buchs behandelt werden.

Aber gehen wir zum Anfang zurück. Wann begann alles schiefzulaufen? Dem amerikanischen Diplomaten und Historiker George F. Kennan zufolge war der Erste Weltkrieg die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts.[5] Dieser Krieg ist das am meisten untersuchte Ereignis der Geschichte. Eine Google-Suche ergibt 4,1 Milliarden Treffer, womit selbst der Zweite Weltkrieg mit 3,1 Milliarden Treffern ausgestochen wird. Mehr als 13 Millionen Deutsche zogen eine Uniform an, das heißt, fast 90 Prozent der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 50 Jahren waren irgendwann zwischen 1914 und 1918 in den Streitkräften. Über 2 Millionen Deutsche starben, und über 5,5 Millionen wurden verwundet. Die Todesrate war proportional die höchste unter den Hauptkombattanten; sie belief sich auf durchschnittlich 1300 Tote an jedem Tag des Krieges. Die französische war ebenfalls furchtbar hoch, lag aber »nur« bei 850 Toten pro Tag. Insgesamt forderten die Kämpfe 10 Millionen Tote. Hinzu kommen Verluste in der Zivilbevölkerung von etwa 7 bis 10 Millionen. Diese Zahl steigt allerdings steil an, wenn man die Opfer der sogenannten Spanischen Grippe, die im Januar 1918 begann und zu deren Verbreitung der Krieg beitrug, hinzurechnet. Es war ein »Volkskrieg«, wie ihn der langjährige Chef des preußischen und deutschen Generalstabs, Helmuth Karl von Moltke, 1890 vorausgesagt hatte, und ein »totaler Krieg«, wie General Erich Ludendorff ihn später nannte.[6]

Der Krieg bürdete der Gesellschaft eine enorme Last auf. Er hatte Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Arbeitern und Bessergestellten, Stadt und Land, Männern und Frauen. Er war tatsächlich die große Wegscheide, die Thomas Mann 1924 in seinem Roman Der Zauberberg mit den Worten angedeutet hat, die Geschichte seines Helden spiele »vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Krieg«.[7] Außerdem war es ein wahrhaft weltweiter Konflikt. Beides bestimmte seinen Ausgang und führte auf lange Sicht dazu, dass die Weltgeltung Europas abnahm. Auf kurze Sicht brachte er vier multiethnische Reiche zu Fall, einschließlich des Deutschen und des Habsburgerreichs. Er machte Millionen Menschen zu Flüchtlingen und brachte sowohl den Bolschewismus als auch den Faschismus hervor. Kein Wunder, dass manche eine »Weltrevolution« in ihm sehen.[8]

Ausgelöst wurde der Krieg durch eine Gewalttat auf dem Balkan, der in jüngster Vergangenheit bereits Schauplatz zweier gefährlicher lokaler Konflikte gewesen war. Am 28. Juni 1914 wurden in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Frau, Sophie, ermordet. Der 19-jährige Gavrilo Princip, der die Schüsse abgab, war ein bosnisch-serbischer Nationalist mit Verbindungen zur Terrororganisation Schwarze Hand, die von führenden Angehörigen des serbischen Heeresnachrichtendiensts unterstützt wurde. Seine Tat sollte ein Protest gegen die österreichische Annexion Bosnien-Herzegowinas sechs Jahre zuvor sein. Mit ihr begann die »Julikrise«, welche die Entscheidungsträger in Bedrängnis brachte und letztlich zum Krieg führte.

Wie und warum es zum Krieg kam, ist seither heftig diskutiert worden. Das deutsche Handeln wurde dabei von Anfang an besonders scharf unter die Lupe genommen, da der Versailler Vertrag von 1919 Deutschland für den Krieg »verantwortlich« machte. Die Schritte, die zum Kriegsausbruch führten, zu rekonstruieren ähnelt dem Versuch, die Züge einer Partie einer besonders komplizierten Schachversion, des 1907 von dem deutschen Arzt Ferdinand Maack erfundenen Raumschachs, nachzuvollziehen. In diesem Fall waren die drei Dimensionen erstens die großen Kräfte, die vor 1914 die internationalen Beziehungen bestimmten – imperialistische Rivalität, das Bündnissystem, das Wettrüsten und die Rolle innenpolitischer Fragen bei der Gestaltung der Außenpolitik. Die zweite Dimension waren die deutschen Handlungen, obwohl sie nicht sauber von den sich wandelnden Politiken anderer Mächte, Verbündeter wie Gegner, getrennt werden können; es ist, anders gesagt, häufig schwer, zwischen Aktion und Reaktion zu unterscheiden. Die dritte Dimension ist die Julikrise selbst mit all ihren Risiken und Chancen. Waren deutsche Entscheidungsträger in der Kaskade der Ereignisse, die mit Mobilmachung und Kriegserklärung endeten, die treibende Kraft? Mein Gesamturteil über den Kriegsausbruch lautet, dass Deutschland einen wesentlichen Teil der Verantwortung trug, aber keineswegs der einzige Verantwortliche war.

Zwei bewaffnete Blöcke standen einander am Vorabend des Krieges in Europa gegenüber: der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und dem formellen Verbündeten Italien und die Tripelentente zwischen Frankreich, Russland und Großbritannien. Italien war ein formeller Verbündeter, weil keiner der beiden anderen Bündnispartner im Kriegsfall mit seiner Unterstützung rechnete, und tatsächlich blieb Italien 1914 neutral, bevor es im Folgejahr auf der gegnerischen Seite in den Krieg eintrat. In Deutschland wurde gewitzelt: »Was ist der Unterschied zwischen einer modernen Ehe und dem Dreibund? In einer modernen Ehe kann man davon ausgehen, dass irgendwo ein Dritter Beteiligter ist, während man im Dreibund sicher sein kann, dass es nur zwei Beteiligte gibt.«[9] Die Unzuverlässigkeit des italienischen Verbündeten war ein Grund für den Vorwurf zeitgenössischer Kritiker, dass das Bündnissystem zu starr sei und sich selbst destabilisiere. Der Charakter der Bündnisse veränderte sich im Lauf der Zeit, und die Verbündeten konnten ihre Partner sowohl zügeln als auch vorantreiben – und taten es. Im Balkanchaos der Vorkriegszeit hielt Großbritannien Russland für gewöhnlich zurück, während Deutschland Österreich-Ungarn zügelte. Mit anderen Worten, ein System von Militärblöcken kann den Frieden bewahren – bis es scheitert. Schon vor der Julikrise bildete es den Rahmen wachsender internationaler Spannungen und verschärfte sie.

Die wahre diplomatische Revolution der Vorkriegsjahre war die Tripelentente, die durch Verträge zwischen Frankreich und Russland (1894), Großbritannien und Frankreich (1904) sowie Großbritannien und Russland (1907) entstand. In deutschen Augen war dies eine »Einkreisung«, denn was sonst hätte die britische und die französische Demokratie veranlassen sollen, mit dem autokratischen Russland gemeinsame Sache zu machen? Und warum sonst hätte Großbritannien sich mit Frankreich verbünden sollen, obwohl beide in Afrika wiederholt aneinandergeraten waren, und mit Russland, mit dem der Konflikt um Afghanistan weiterköchelte? Deutsche sahen einen antideutschen Geist am Werk – in Frankreich das Verlangen nach Rache für 1870/71, in Russland eine slawische Gegenbewegung gegen alles Deutsche und in Großbritannien »Handelsneid« und Unmut über einen energisch aufstrebenden Neuling auf der Weltbühne. Dieser Argwohn war in keinem der Fälle unbegründet. Aber Deutschland missverstand die Gründe hinter den Ententeverträgen, denn ihnen lag ein Gefühl der Verwundbarkeit zugrunde. Großbritannien, der »müde Titan«, sah sich mit einer dreifachen Herausforderung konfrontiert: der Konkurrenz Russlands in Asien, Frankreichs in Afrika sowie der Vereinigten Staaten und Japans auf See.[10] In Reaktion darauf trat es die Vorherrschaft in der westlichen Hemisphäre an Amerika ab, schloss ein Flottenabkommen mit Japan und legte die offenen Kolonialkonflikte mit Frankreich und Russland durch Verträge bei. Frankreich und Russland hatten ihre eigenen Sorgen. Der letzte Akt dieser Vertragsarbeit, der britisch-russische Vertrag von 1907, wurde unterzeichnet, nachdem der Russisch-Japanische Krieg Sankt Petersburg seine Verwundbarkeit vor Augen geführt hatte. Mit anderen Worten, die Tripelentente veränderte die Dynamik der internationalen Beziehungen, war aber das Ergebnis einer Reihe von defensiven Bündnissen, die Deutschland als aggressiv interpretierte.

Deutschland trug allerdings durch Fehleinschätzungen und Arroganz auch selbst zu seiner Isolation bei. Der Versuch, zwischen Großbritannien und Russland eine »freie Hand« zu behalten, stieß beide Nationen vor den Kopf. Auch andere in Berlin getroffene Entscheidungen trugen zur Verstimmung bei. Die deutsche Zollpolitik und eine zunehmende Präsenz in Südosteuropa sorgten für Spannungen mit Russland und machten es empfänglicher für britische Avancen. Unterdessen ließ die deutsche Herausforderung bei der britischen Seemacht in London die Alarmglocken schrillen, ebenso wie die Ausweitung des deutschen Einflusses auf das Osmanische Reich, symbolisiert durch die von Deutschland finanzierte Bagdadbahn. Die deutsche Politik gegenüber Großbritannien war einmal bedrohlich und ein andermal konziliant. Deutsche Staatsmänner verhielten sich wie aufdringliche Verehrer, die zwischen geflüsterten Zärtlichkeiten und Drohungen hin und her schwankten. Bis 1907 hatte sich das Deutsche Reich selbst isoliert. Versuche, die Tripelentente zu spalten, erwiesen sich als kontraproduktiv. Als Frankreich 1911 wegen Marokko internationale Spannungen auslöste, indem es Fez besetzte, versuchte Deutschland die Situation zu nutzen, um einen Keil zwischen Großbritannien und Frankreich zu treiben. Doch seine plumpe Vorgehensweise brachte sie nur noch näher zusammen.

Koloniale Rivalität machte den Krieg nicht unbedingt wahrscheinlicher. Überseeeroberungen konnten als Blitzableiter für europäische Spannungen dienen, wie im Fall Frankreichs nach der Demütigung von 1870/71. Internationale Kapitalisten arbeiteten regelmäßig zusammen, genauso wie ihre Regierungen, wenn es darum ging, europäische Interessen in Ägypten oder China zu schützen. Europäische weiße Siedler hielten von Algerien bis Südafrika gegenüber indigenen Völkern zusammen. Doch die imperialistische Rivalität schuf neue Spannungen. Wenn der Erwerb – oder die Bewahrung – von Kolonien zu einem Hauptkennzeichen nationalen Ansehens wurde, verschwand die Blitzableiterfunktion, und Kolonialkonflikte wurden stattdessen nach Europa zurückgespiegelt, wie im Fall von Marokko. Als um 1900 neue Spieler wie die Vereinigten Staaten, Japan und Italien die Arena der kolonialen Rivalitäten betraten, stiftete Deutschland besonders viel Unruhe. Als ruheloser »Nachzügler«, der nach einem »Platz an der Sonne« strebte, wäre Deutschland unter allen Umständen ein Herausforderer von Kolonialmächten wie Großbritannien und Frankreich gewesen. Aber aufgrund der hyperaktiven, launischen Art, wie Wilhelm II. »Weltpolitik« betrieb, wirkten die regelmäßigen deutschen Interventionen nur noch beunruhigender – ohne deshalb erfolgreicher zu sein. Aber noch etwas anderes machte die deutschen Ambitionen potenziell bedrohlicher als die Großmachtkonflikte wegen Marokko oder Samoa. Als Deutschlands eigentliche »koloniale« Sphäre konnte man Südosteuropa bezeichnen, wo es seinen Einfluss auf das im Niedergang befindliche Osmanische Reich verstärkte, während es gleichzeitig an das verbündete Österreich-Ungarn gefesselt war, das sich von einem kampflustigen Serbien bedroht fühlte. Österreichische Ängste und deutsche Ambitionen trafen sich auf dem Balkan, in der im Jahr 1914 unruhigsten Region der Welt.

Die Aufrüstung in der Vorkriegszeit brachte das internationale System zusätzlich ins Wanken. Auch in dieser Hinsicht wirkten sich deutsche Entscheidungen negativ aus. Nach dem französisch-russischen Vertragsschluss von 1894 sah sich Deutschland mit der Gefahr eines Zweifrontenkriegs konfrontiert. Deshalb entwickelte Generalstabschef Alfred von Schlieffen den nach ihm benannten Plan, der einen schnellen Schlag gegen Frankreich vorsah, bevor man sich Russland zuwenden wollte.[11] Es überrascht kaum, dass die deutschen Militärplaner sich mit dem Krieg beschäftigten, den sie möglicherweise würden auskämpfen müssen; ihre französischen und russischen Pendants taten dasselbe, Erstere, indem sie den »Plan XVII«, und Letztere, indem sie den »Plan 19A« entwarfen. Aber Schlieffen nahm in seinen Plan die Verletzung der Neutralität Belgiens auf, weshalb es schwerfallen würde, die britische Neutralität aufrechtzuerhalten. Jede Militärplanung für einen künftigen Krieg gegen Frankreich und Russland hätte mit dem Versuch gekoppelt sein müssen, England auf seine Seite zu ziehen. Doch Deutschland begann 1898 eine Schlachtflotte aufzubauen, welche die britische Seemacht herausforderte. Warum? Marinebegeisterung war die deutsche Version einer zeitgenössischen weltweiten Besessenheit von der Bedeutung der Seemacht, die zum Teil auf die Schriften des amerikanischen Admirals Alfred Thayer Mahan zurückging. Andere Gründe waren spezifisch deutsch. Die Schlachtflotte war ein Lieblingsprojekt des Kaisers, aber auch der Schwerindustrie, von Alldeutschen und Nationalliberalen Sie war wie die Kolonien ein Beweis dafür, dass Deutschland zu einer Großmacht geworden war – und die in Berlin herrschende Ansicht, dass Deutschland auf der Weltbühne ernster genommen würde, wenn es eine Flotte besäße, war kaum von der Hand zu weisen. Außerdem sahen manche, einschließlich des Architekten des Flottenbaus, Admiral Tirpitz, in ihr ein Mittel, mit dem die Monarchie die Unterstützung der Arbeiterschaft gewinnen konnte.[12]

Der deutsche Flottenbau hatte rundum negative Folgen. Um 1900 war Großbritannien über die Stärke der französischen und der russischen Flotte beunruhigt gewesen; die »Dreadnoughts« waren eine Reaktion auf den französischen Flottenbau, auch wenn viele Deutsche damals glaubten, dass ihr Bau gegen Deutschland gerichtet sei (was manche Historiker heute noch annehmen).[13] Die deutsche Kriegsflotte sollte der Hebel sein, mit dem man Großbritannien zwingen würde, Deutschland als gleichberechtigt zu akzeptieren und sich mit ihm gutzustellen. Der Plan schlug fehl: Deutschland verstrickte sich in einen nicht zu gewinnenden maritimen Rüstungswettlauf und entfremdete einen potenziellen Verbündeten. Dass man 1909 zur »Kontinentalstrategie« zurückkehrte und verspätete Anstrengungen unternahm, Großbritannien für sich zu gewinnen, war ein stillschweigendes Eingeständnis dieses Scheiterns. Wie die deutsche »Weltpolitik« insgesamt war es, zumindest was praktische Resultate betraf, ein Beispiel von leerem Schall und Rauch.

Die Kombination von lautstark vorgebrachten Forderungen und minimalen Ergebnissen erzeugte innere Unzufriedenheit, und dass Deutschland im Rüstungswettlauf ausgestochen wurde, verschärfte sie nur noch. Dafür, dass Deutschland das Nachsehen hatte, gab es viele Gründe: die Art der Reichssteuern, den Unwillen der Agrarelite, ihren Beitrag zum Staatshaushalt zu leisten, die konkurrierenden Forderungen nach Sozialausgaben, den Widerstand gegen Militärausgaben vonseiten der Linken und die wachsende Staatsverschuldung. Der Ausgang war klar. Selbst nach einer Heeresvergrößerung in den Jahren 1912/13 gab Deutschland immer noch nur 3,5 Prozent des Bruttonationalprodukts für die Verteidigung aus – bei seinem österreichischen Verbündeten waren es sogar nur 2,8 Prozent –, verglichen mit 4,6 Prozent in Russland und 3,9 Prozent in Frankreich.[14] Die Militärreformen, die in Frankreich und Russland am Vorabend des Krieges bereits vorbereitet wurden, sollten den Abstand zwischen Dreibund und Tripelentente weiter vergrößern.

Nichts davon wurde von deutschen Nationalisten gut aufgenommen. Die Gereiztheit und Unzufriedenheit waren freilich nicht auf Deutschland beschränkt. In der europäischen Öffentlichkeit verbreitete sich in den Vorkriegsjahren ein unverkennbares Krisengefühl, das von den Boulevardzeitungen, Hurra-Patrioten und »Invasionsängste« schürenden Romanen verstärkt wurde. Überall verhärteten sich die Vorurteile über den »Feind« und vergrößerten die Wahrscheinlichkeit von periodisch auftretender Panik. In Großbritannien bildeten wilde Gerüchte über deutsche Spione den Hintergrund für die Gründung des Secret Service Bureau, des Vorläufers von MI5 und MI6.[15] In Frankreich war nach der zweiten Marokkokrise von 1911 unter jungen, gebildeten Angehörigen des Bürgertums eine neue kriegerische Stimmung, sogar eine »nationalistische Wiedergeburt« zu beobachten.[16] Ob solche Gefühle in Deutschland weiter verbreitet oder intensiver waren, ist schwer zu sagen. Die sozialdarwinistische Lehre, dass der Machtkampf unvermeidlich sei und Krieg den Rassenbestand stärke, fand wahrscheinlich bei deutschen radikalen Nationalisten besonders viel Anklang, weil sie gut zu ihrem Glauben an einen kraftvollen Neuling passte, der es mit verweichlichten Großmächten aufnahm. Friedrich von Bernhardi, ein Kavallerieoffizier im Ruhestand, verlieh dieser Geisteshaltung in seinem 1912 erschienenen Bestseller Deutschland und der nächste Krieg Ausdruck. Die wiederholten Zyklen von Erwartung und Enttäuschung riefen bei deutschen Nationalisten eine besonders gefährliche Stimmungslage hervor, die sich aus Wut, Angst und Groll darüber zusammensetzte, dass Deutschland von böswilligen Gegenspielern – und vielleicht auch stümpernden deutschen Entscheidungsträgern – ausmanövriert und mit leeren Händen zurückgelassen worden sei.

Manche der deutschen Entscheidungsträger teilten die alldeutsche Ungeduld. Der Kaiser hatte regelrechte Anfälle von Kriegslust, die sich mit Panik abwechselten, wenn die Möglichkeit eines Konflikts am Horizont erschien. Auch in Militärkreisen gab es Ungeduld und Pessimismus. Schlieffens Nachfolger, Helmuth Johannes von Moltke, der Neffe von Helmuth Karl, war in Bezug auf die deutsche Position geradezu paranoid. Am 8. Dezember 1912 erklärte er in einer Sitzung der Militärführung mit dem Kaiser, der Krieg sei unvermeidbar und »je eher, desto besser«. Manche haben dieses Treffen als den Zeitpunkt angesehen, zu dem die deutsche Elite sich für einen Präventivkrieg entschied. Heute vertreten nur noch wenige diese Meinung, weil zu viel gegen sie spricht. Die Sitzung war kurzfristig einberufen worden, um über einige aggressive russische Schritte gegen Österreich zu sprechen. Tirpitz warnte vor einem Krieg, und Moltke beharrte nicht auf seiner provokativen Äußerung. Georg Alexander von Müller, der Chef des Marinekabinetts, notierte in seinem Tagebuch, das Ergebnis des Treffens sei »so ziemlich gleich Null« gewesen. Reichskanzler Bethmann Hollweg, der nicht anwesend war, nahm den Kaiser in der Folgezeit an der Hand und beruhigte seine Nerven.[17]

Deutschland traf 1912 keine Entscheidung für einen Präventivschlag – für den es 1905, 1908/09 und 1911 eine bessere Gelegenheit gehabt hätte. Noch hatte man nicht den Punkt erreicht, an dem eine Umkehr unmöglich war, weder in Berlin noch anderswo. Das internationale System war immer noch zur Krisenbewältigung in der Lage. Aber die wiederholten Pattsituationen seit 1905 hatten die Entscheidungsträger überall nervös gemacht und die Europäer psychologisch auf einen Krieg vorbereitet. Jede Krise hinterließ neuen Unmut. In Sankt Petersburg und Wien haderten Herrscher, Militär und Regierung mindestens ebenso sehr wie in Berlin damit, dass sie diejenigen waren, die zurückstecken mussten. Radikale Nationalisten verstärkten den Groll und erschwerten es der politischen Führung, sich in der nächsten Krise wiederum zurückzuhalten. Nachzugeben bedeutete Gesichtsverlust. Die Entscheidungsträger hoben in diesen Jahren ständig »Ehre«, »Entschlossenheit«, »Festigkeit« und andere männliche Eigenschaften hervor.[18] Außerdem gab es einen verbreiteten Fatalismus hinsichtlich der Unvermeidbarkeit des Krieges. Doch die Abfolge so vieler Krisen hatte zum Zeitpunkt, als Erzherzog Franz Ferdinand ermordet wurde, auch einen gewissen Gleichmut erzeugt.

Die Kurzfassung der anschließenden Julikrise lautet: Österreich stellte, nachdem es seinen deutschen Verbündeten konsultiert hatte, Serbien ein scharf formuliertes Ultimatum. Die Note wurde erst am 23. Juli abgesandt, zum Teil, weil zuvor der eher skeptische ungarische Partner überzeugt werden musste, zum Teil, weil man es für besser hielt, wenn sie erst nach einem geplanten Besuch des französischen Präsidenten in Russland in Belgrad eintraf. Serbien willigte, nachdem es seinen russischen Verbündeten konsultiert hatte, in die meisten österreichischen Forderungen ein, aber nicht in alle. An diesem Punkt begann der letzte Abschnitt der Krise. Trotz britischer Vermittlungsanstrengungen beschleunigte sich die zum Krieg führende Entwicklung, und die Abfolge von Mobilmachung und Gegenmobilmachung machte ihn unvermeidlich. Die Würfel waren gefallen, wie Bethmann Hollweg es ausdrückte, oder mit den Worten des jungen französischen Diplomaten Louis de Robien, der gerade in Sankt Petersburg eingetroffen war: Das »tragische Pokerspiel hatte begonnen«.

Seither sind die Kriegsursachen ein klassischer Testfall für historischen Meinungsstreit. Der jüngste Trend geht dahin, die zugrunde liegenden strukturellen Kräfte herunterzuspielen – Bündnissystem, Imperialismus, chauvinistische öffentliche Meinung – und stattdessen die Zufallsaspekte der von einer Handvoll Männer getroffenen Entscheidungen zu betonen. War es relevant, dass sowohl Österreich als auch Russland während der Julikrise jeweils einen Außenminister hatten, der weniger entschlussfreudig war als sein Vorgänger? Hätte es etwas geändert, wenn der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf weniger kriegslüstern oder Bethmann Hollweg keine solche Hamlet-Figur gewesen wäre? Was wäre geschehen, wenn der friedliebende französische Ministerpräsident René Viviani sich nicht unwohl gefühlt (vielleicht sogar einen Nervenzusammenbruch erlitten) und die entscheidenden Gespräche während seines Besuchs in Sankt Petersburg im Juli nicht zum großen Teil Präsident Raymond Poincaré, einem kämpferischer gesinnten Nationalisten, überlassen hätte? Es gibt noch mehr solcher Fragen. Die Antwort auf sie gibt ein russisches Sprichwort: Wenn meine Großmutter einen Bart gehabt hätte, wäre meine Großmutter mein Großvater gewesen. Aber in unserem poststrukturalistischen Zeitalter sind der Einzelne und der Entscheidungsprozess – zusammen mit kontrafaktischen oder Was-wäre-wenn-Fragen – wieder ins Rampenlicht gezogen worden. Die Aufmerksamkeit gilt eher der Frage, wie es zum Krieg kam, als derjenigen nach seinen Ursachen, und die Frage danach, welche Großmacht ihn begann, gerät aus dem Blick.

Aber die Frage der Verantwortung kann nicht ausgeblendet werden, das heißt die Frage sowohl nach den langfristigen Politiken, die den Krieg wahrscheinlicher machten, als auch nach den Handlungen der Mächte im Juli 1914. Beim Blick auf die finale Sommerkrise gibt es viel Verantwortung zu verteilen: an serbische Verantwortungslosigkeit, russische Unnachgiebigkeit, die starke Rückendeckung, die beide von Frankreich erhielten, die gemischten Signale, die London aussendete, und nicht zuletzt den österreichischen Wunsch, dem »serbischen Lausbub« eine Lektion zu erteilen, die den Untertanenvölkern des Vielvölkerstaats eine Warnung sein sollte.

Was Deutschland betrifft, stellen sich drei Fragen. Die erste und am leichtesten zu beantwortende lautet, ob übermäßiger innerer Druck die Entscheidungsträger veranlasste, die »Flucht nach vorn« in den Krieg anzutreten. Dafür gibt es keine zwingenden Belege. Es gab 1914 keine politische Krise in Deutschland. Bethmann Hollwegs pragmatische »Politik der Diagonalen« zwischen links und rechts funktionierte sogar recht gut. Die größte Gefahr, eine Revolution heraufzubeschwören, war ein Krieg, wie er scharfsichtig erkannte. Gewiss waren die zivilen Entscheidungsträger in Berlin mit ungeduldigen Militärs und einer nationalistischen öffentlichen Meinung konfrontiert, die Festigkeit forderte. Aber beides gab es auch anderswo, vor allem in Wien und Sankt Petersburg.

Dies führt zur zweiten Frage, derjenigen nach der deutschen Unterstützung des österreichischen Verbündeten in der Julikrise. Alexander Graf von Hoyos, der Kabinettschef des österreichischen Außenministers Leopold Berchtold, traf am frühen Morgen des 5. Juli mit dem Zug in Berlin ein. Er kam, um die formelle Antwort auf das österreichische Ersuchen um die deutsche Unterstützung für die österreichische Reaktion auf den Anschlag von Sarajevo abzuholen. Er erhielt die sogenannte Blankovollmacht: Wien könne »– wie auch immer unsere [Österreichs] Entscheidung ausfallen möge – mit Sicherheit darauf rechnen, dass Deutschland als Bundesgenosse und Freund der Monarchie hinter ihr stehe«.[19] Darin waren sich Kaiser, Generäle und Bethmann Hollweg einig. Warum aber hat Deutschland seinen Verbündeten nicht zurückgehalten, wie es das 1912/13 während der Balkankriege getan hatte? Dies lag teilweise an Österreich. Wien hatte ausdrücklich um deutsche Unterstützung ersucht. Jeder Abstrich davon hätte Berlin in Schwierigkeiten gebracht. Lässt man den unzuverlässigen Partner Italien außer Acht, war Deutschland, mit Österreich als einzigem wirklichen Verbündeten, »einer von zweien in einer Welt von fünf«. Es sei »[u]nser Dilemma bei jeder österreichischen Balkanaktion«, stellte Bethmann Hollweg am 6. Juli im Gespräch mit seinem Privatsekretär Kurt Riezler auf der Veranda seines Landhauses fest. »Reden wir ihnen zu, so sagen sie, wir hätten sie hineingestoßen; reden wir ab, so heißt es, wir hätten sie im Stich gelassen.«[20] Es gab sowohl Push- als auch Pull-Faktoren. Aber Deutschland drückte. Ein Grund, aus dem Bethmann Hollweg Österreich zu einer harten Linie drängte, war die Sorge um Deutschlands eigene Stellung. Die Zukunft, befürchtete er, gehörte Russland, »das wächst und wächst und […] sich als immer schwererer Alptraum auf uns« legen werde.[21]

Daraus ergibt sich die dritte Frage: Riskierte Deutschland Mitte Juli durch die starke Rückendeckung für Österreich einen größeren Konflikt? Gewiss wäre eine von russischer Nichteinmischung abhängig gemachte Unterstützungszusage in Wien zu Recht als wertlos angesehen worden – wie das Angebot eines Schirms, aber nur bis es zu regnen anfängt. Ein russisches Eingreifen war als Möglichkeit nicht auszuschließen. Bethmann Hollweg glaubte, dass ein schneller, entscheidender österreichischer Schlag gegen Serbien durchgeführt werden konnte, ohne dass Russland intervenierte. Vielleicht würde Frankreich es zurückhalten, und auf jeden Fall würde der Zar zögern, einem Schurkenstaat zu Hilfe zu eilen, der den Königsmord zuließ. Dieses Kalkül wurde allerdings durch die Verzögerung des österreichischen Ultimatums teilweise untergraben, und der Rest enthielt viel Wunschdenken. Berlin war klar, dass die innere Kritik in Russland hohe Wellen schlagen würde, wenn man das Land im Grunde erneut auffordern würde, klein beizugeben. Bethmann Hollweg gestand später ein, dass die Blankovollmacht für Österreich eine »Politik äußersten Risikos« darstellte.[22] Nach einer ausgeklügelten Argumentation beruhte die deutsche Politik auf der Überzeugung, dass Russland, sollte es sich ins Getümmel werfen, dies nur tun würde, weil es vorher schon entschlossen gewesen sei, gegen Deutschland Krieg zu führen, was beweise, dass der Krieg sowieso ausbrechen würde, und dann wäre – mit Moltke gesprochen – »je eher, desto besser«. Dies ist als Sondierung der Bedrohung beschrieben worden, war aber wohl eher, wie es die meisten Historiker sehen, Risikobereitschaft.[23]

Berlin war bereit, hinsichtlich des wahrscheinlichen britischen Verhaltens die Würfel entscheiden zu lassen. Im Endstadium der Julikrise, als klar war, dass die optimistischen Erwartungen in Bezug auf die Reaktion Russlands und Frankreichs sich nicht erfüllen würden, setzte Deutschland seine Hoffnungen darauf, dass Großbritannien nicht intervenieren oder wenigstens nicht sofort in den Krieg eintreten würde. Wie realistisch war diese Hoffnung? Gewiss hatte Großbritannien Russland in den Balkankriegen zurückgehalten. Außenminister Edward Grey bemühte sich Ende Juli verzweifelt darum, einen europäischen Krieg zu verhindern, so dass man durchaus davon sprechen kann, dass London gemischte Signale aussandte. Auch die tiefe Krise in Irland gab Anlass zu der Hoffnung, dass Großbritannien zögern würde, Truppen in einen kontinentalen Krieg zu schicken. Aber die deutschen Entscheidungsträger wussten aus der zweiten Marokkokrise, dass der Versuch, einen Keil zwischen Großbritannien und seine Verbündeten zu treiben, das Gegenteil erreichen konnte. Zudem waren alle nach 1912 unternommenen Anstrengungen, von London eine Neutralitätszusage zu erhalten, vergeblich gewesen. Privat fand Grey das serbische Verhalten empörend, und der Gedanke, dass die europäischen Großmächte deswegen in einen Krieg hineingezogen werden könnten, gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber er glaubte, dass es moralisch falsch wäre und den Ruf des Landes ruinieren würde, wenn Großbritannien seine Verpflichtungen nicht erfüllte. Der deutsche Außenminister Gottlieb von Jagow instruierte den deutschen Botschafter in London, Karl Max von Lichnowsky, alles zu vermeiden, was den Eindruck vermitteln könnte, »als hetzten wir die Österreicher zum Krieg«, was darauf schließen lässt, dass die Reichsregierung immer noch hoffte, Großbritannien würde neutral bleiben. Aber Lichnowsky meldete, dass dies ausgeschlossen sei.[24] Also war auch dies ein Vabanquespiel. Mit seiner Metapher vom »Sprung ins Dunkle« erfasste Bethmann Hollweg diese ominöse Mischung aus Risikobereitschaft und Fatalismus.[25]

Österreich wies die Belgrader Antwort auf sein Ultimatum zurück und erklärte Serbien am 28. Juli den Krieg. Zwei Tage später ordnete Russland die Generalmobilmachung an, was Deutschland veranlasste, ultimativ von Russland zu verlangen, seine Kriegsvorbereitungen einzustellen. Als eine Antwort ausblieb, erklärte es Russland am 1. August und Frankreich zwei Tage später den Krieg. Der Kaiser unterzeichnete den Mobilmachungsbefehl vom 1. August an seinem Schreibtisch, der aus Holz von Admiral Horatio Nelsons Flaggschiff Victory bestand. Drei Tage später erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg.

Der Schlieffen-Plan sah als Erstes eine Offensive im Westen vor. Anfang August rollten täglich 500 Eisenbahnzüge voller deutscher Soldaten über den Rhein. Auf den Waggons waren hochgestimmte, fröhliche Parolen zu lesen: »Ausflug nach Paris«, »Auf Wiedersehen auf dem Boulevard!«. Der expressionistische Schriftsteller Hermann Bahr beschrieb die Mobilmachung als ein mit Wagners Opern vergleichbares deutsches Wunder: »völlige Verzückung bei völliger Präzision«.[26] Der Widerstand Belgiens war größer als erwartet, aber die deutschen Truppen rückten zunächst schnell vor. Anfang September überquerten sie die Marne, was Paris in Panik versetzte. Die Regierung floh nach Bordeaux. In dieser Zeit der Hochstimmung wurde das berüchtigte »Septemberprogramm« formuliert, eine Auflistung von Maximalzielen der deutschen Kriegsführung, die häufig fälschlicherweise auf die deutsche Zielstellung bei Ausbruch des Krieges zurückgespiegelt wird. In Wirklichkeit war es das Nebenprodukt eines rauschhaften Augenblicks; allerdings blieben die Kriegsziele, auch als sich die militärische Lage änderte, überzogen. In der Schlacht an der Marne wurde der deutsche Vormarsch aufgehalten. Es folgte ein Patt. Beide Seiten gruben sich entlang einer Frontlinie ein, die sich im November von der flandrischen Küste bis zu den Vogesen erstreckte. Umfangreiche Grabensysteme waren die Antwort auf das tödliche Artilleriefeuer, das die anfängliche Hoffnung auf einen raschen, entscheidenden Bewegungskrieg zunichtemachte. Ende November erlaubte sich die Londoner Times einen Schmerzensschrei: »Tag für Tag das Abschlachten des Unbekannten durch den Ungesehenen. […] Der Krieg ist dumm geworden.«[27]

Dies ist in den Köpfen der meisten Menschen das für den Ersten Weltkrieg typische Bild geblieben, der Abnutzungskrieg, wie ihn Erich Maria Remarque in seinem 1929 erschienenen Roman Im Westen nichts Neues beschrieben hat und zahllose Fotografien abbilden: Schützengräben, Stacheldraht, ohrenbetäubende Geschütze, Mörser, überall Schlamm, eine zerbombte Landschaft, regelmäßige Blutbäder, wenn Soldaten in den großen Schlachten an der Westfront den Befehl erhielten, aus dem Graben zu springen: bei Verdun, an der Somme, im Ypernbogen, bei Passendale. Schlieffen hatte die Verwendung moderner Kommunikationstechnik – Telegraf, Funk, Telefon und Motorradmelder – auf der Kommandoebene vorausgesehen, aber nicht das industrialisierte Gemetzel, das jedem Gedanken an eine ritterliche Kriegsführung Hohn sprach. Die Bemühungen, das Patt zu überwinden, führten zum Gebrauch furchterregender neuer Waffen: Der Flammenwerfer war eine deutsche Erfindung, ebenso wie deutsche Soldaten die ersten Schützengräben gruben und als Erste an ihren Rändern Stacheldraht verlegten. Marschall Ferdinand Foch, ein großer Bewunderer dieses Grabenbaus, ließ sie auf französischer Seite kopieren.[28] Dies war ein Beispiel für Technologietransfer im Krieg. Gas setzten Franzosen als Erste ein, allerdings »nur« Tränengas. Das Chlorgas brachte der deutsche Chemiker – und spätere Nobelpreisträger (1918) – Fritz Haber von seinem Arbeitsplatz im grünen Berlin-Dahlem aus ins Spiel.[29]

Die grauenhaften Bilder, Klänge und Gerüche der Westfront haben ihr verständlicherweise einen festen Platz im Gedenken der modernen Kriege gesichert. Außerdem war es die Front, an der die meisten Soldaten kämpften: 1915 waren es 4,35 Millionen. Aber sie war nicht der einzige Kriegsschauplatz. Von Anfang an wurde auch in Ost- und Südosteuropa gekämpft, wo die Fronten beweglicher waren, und der Krieg dehnte sich weiter aus, je mehr Mächte in den Krieg eintraten. Das Osmanische Reich und Bulgarien schlossen sich den Mittelmächten an, wie das deutsch-österreichische Bündnis genannt wurde, während Italien und Rumänien sich auf die Seite der Tripelentente schlugen – die bald besser bekannt war als »die Alliierten« –, allesamt in der Hoffnung auf Gewinne. Durch den Kriegseintritt des Osmanischen Reichs wurde der gesamte Nahe Osten zu einem möglichen Kriegsschauplatz. Japan hatte bei seinem frühen Beitritt zur Entente Zugewinne von deutschen Besitzungen im Pazifik und an der chinesischen Küste im Blick, die ihm dann auch zufielen. Ende 1914 unterstrichen zwei Seeschlachten den globalen Charakter des Krieges, eine vor der chilenischen Küste, in der die Deutschen siegten, und eine bei den Falklandinseln, in der die Briten den Sieg davontrugen. Bemerkenswert ist, dass die deutschen Schiffe zu einem in Ostasien stationierten Geschwader unter dem Kommando von Admiral Maximilian von Spee gehörten, das, als die Japaner ihren Stützpunkt in Tsingtao blockierten, 15 000 Seemeilen über den Pazifik gefahren war, um die neutralen südamerikanischen Gewässer zu erreichen und womöglich britische Schiffe vor die Geschütze zu bekommen.[30] Spees Tod bei den Falklandinseln machte ihn in der Heimat zum Märtyrerhelden.

Die Royal Navy auf diese Weise anzugreifen war eine Provokation, ebenso wie die Angriffe auf Öltanks in Madras und alliierte Schiffe in Britisch-Malaya. Dies waren Nadelstiche. Aber Deutschland beabsichtigte, das britische Empire an vielen Fronten zu unterminieren. Indien war ein frühes Ziel. Berlin unternahm 1914/15 mehrere Versuche, über das antikoloniale Hindunetzwerk in den Vereinigten Staaten, das aus der Vorkriegszeit Verbindungen zum deutschen Auswärtigen Amt besaß, Waffen nach Indien zu verschiffen. Drei Expeditionen brachen auf, um Britisch-Indien von Afghanistan aus zu revolutionieren. Eine von ihnen ernannte in Kabul sogar eine provisorische indische Regierung. Konstantinopel wurde zum Zentrum der deutschen Anstrengungen, mithilfe indischer Nationalisten das britische Empire zu untergraben. »Ostexperten« im Auswärtigen Amt, die vom »muslimischen Geist« besessen waren, glaubten, dass der Islam der Schlüssel zum Erfolg war. Deshalb finanzierte Deutschland die panislamische Zeitschrift Jihad-Islam und forderte nationalistische Hindus, die für sie arbeiteten, auf, muslimische Namen anzunehmen, so dass etwa aus B. N. Dasgupta »Ali Haidar« wurde.[31]

Die deutsche Fixierung auf eine islamische Revolte reichte weit hinauf. Wilhelm II. schrieb Ende Juli 1914, »unsere Consuln in Türkei und Indien […] müßen die ganze Mohamedan. Welt […] zum wilden Aufstande entflammen«.[32] Ein gewitzter US-Botschafter prägte für diese Politik das Motto »Deutschland über Allah«.[33] Wilhelm Waßmuß war einer von mehreren zwischen Mesopotamien und Libyen aktiven Anwärtern auf den Titel des »deutschen Lawrence von Arabien«.[34] Die Briten waren beunruhigt, aber die deutschen Bemühungen erreichten kaum etwas. Die Waffenlieferungen wurden unterbrochen, und der Emir von Afghanistan weigerte sich, an der Seite Deutschlands in den Krieg einzutreten. Versuche, Britisch-Indien zu unterwandern, wurden 1915 weitgehend aufgegeben. Die »deutschen Lawrences« hatten ebenso wenig Erfolg. Deutsche spielten in den großen Aufständen gegen die Alliierten in Zentralasien – den Revolten gegen die Zarenherrschaft in Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan – keine Rolle.[35]

Das sogenannte Halbmondlager in Wünsdorf südlich von Berlin war ein Versuch, auf deutschem Boden Angehörige von Kolonialvölkern gegen die Entente zu mobilisieren. In ihm waren überwiegend muslimische Kriegsgefangene untergebracht, die für Großbritannien oder Frankreich gekämpft hatten. Sie wurden relativ gut behandelt und konnten in einer auf dem Lagergelände errichteten Moschee – der ersten in Deutschland – beten. Rund 3000 von ihnen kämpften schließlich mit der deutschen Armee im Nahen Osten, aber ihre Moral war niedrig, und es kam zu Meutereien.[36] Es ist leicht nachzuvollziehen, warum es nur wenige Überläufer gab, wenn man die rassistischen Äußerungen des stellvertretenden Lagerkommandanten über die seiner Obhut anvertrauten »wilden Horden« bedenkt. Das »Dschihadexperiment« war ein weiteres fruchtloses Unterfangen, wenn man von dem wissenschaftlichen Material absieht, das die Ethnologen, Linguisten und Musikologen sammelten, die in das Lager strömten, um die Insassen physisch zu untersuchen, zu fotografieren und die Sprache und Musik dieser »exotischen« Menschenexemplare festzuhalten, zu denen Inder, Nordafrikaner und wenigstens ein australischer Aborigine gehörten; von Letzterem ist sogar der Name überliefert: Douglas Grant.[37] Die Wissenschaftler fanden in dem Lager eine gefangene Population, wie es einst in Carl Hagenbecks Völkerschauen der Fall war.

Zu den Lagerinsassen gehörten auch einige Iren. Irland war ein weiterer Teil des britischen Empire, das Deutschland zu unterwandern hoffte. Dabei spielte der bekannte, in Ulster geborene Humanist und frühere britische Konsularbeamte Roger Casement eine tragische Rolle. Er war vor 1914 zum irischen Nationalisten geworden und hegte bei Kriegsausbruch Sympathie für Deutschland, weil es gegen »die Horden russischer Barbarei, das Schwert französischen Hasses und den Geldbeutel britischer Habgier« kämpfte.[38] Er verbrachte den größten Teil des Krieges in Berlin mit dem Versuch, eine irische Brigade auf die Beine zu stellen und die deutsche Unterstützung für einen irischen Aufstand zu gewinnen. 1916 hatten die Deutschen jedoch genug von ihm – und er von ihnen: Sie seien »Schurken«, deshalb seien sie »bei der Welt verhasst«.[39] Enttäuscht, körperlich angegriffen und ohne Verbindung sowohl zu den irisch-amerikanischen Nationalisten als auch zu den Verschwörern in Irland, erfuhr er von dem für Ostern 1916 geplanten Aufstand und wurde von einem deutschen U-Boot an die irische Westküste gebracht. Er hoffte den Aufstand, den er für aussichtslos hielt, noch verhindern zu können. Doch er wurde verhaftet und später wegen Hochverrats hingerichtet. Auch eine deutsche Waffenlieferung – die viel kleiner war als erbeten – wurde abgefangen. Die Briten fürchteten eine massive deutsche Unterstützung, und die irischen Rebellen hofften darauf, aber sie kam nie.

So wie Deutschland das britische Empire zu unterminieren versuchte, bemühten sich die Briten umgekehrt um das Gleiche bei den deutschen Verbündeten. Sie versuchten, einen arabischen Aufstand gegen das Osmanische Reich zu entfachen, und setzten ihre Hoffnungen auf unzufriedene Untertanenvölker Österreich-Ungarns. Dabei waren sie nicht viel erfolgreicher als die Deutschen im britischen Empire. Das Osmanische Reich wurde von regulären Truppen besiegt; T. E. Lawrences von ihm selbst dramatisierten Heldentaten waren militärisch unbedeutend. Was Österreich-Ungarn betraf, blieb das Habsburger Heer, das Symbol der multiethnischen Zusammensetzung des Reichs, fast bis zum Ende des Krieges intakt. Nur wenige Tschechen, zum Beispiel, desertierten oder legten die Waffen nieder, auch wenn österreichisch-deutsche Nationalisten und manche hohen Militärs das Gegenteil behaupteten – vermutlich, um von militärischer Inkompetenz abzulenken. Später erzählten tschechische Nationalisten diese Legende mit Freuden weiter, um ihre eigene Sache zu fördern.[40]

Die Geschehnisse in den deutschen Kolonien waren eindeutiger. Sie wurden einfach übernommen oder erobert. Tsingtau und die deutschen Besitzungen im Pazifik gingen Ende 1914 verloren. In Afrika wurde das exponiert gelegene Togo binnen eines Monats überrannt. Deutsch-Südwestafrika unterlag einer Kombination aus britischer Seemacht und südafrikanischen Bodentruppen. Der Gouverneur musste im Juli 1915 einen Waffenstillstand schließen. In Kamerun wurde eine gemeinsame Operation britischer, französischer und belgischer Truppen Anfang 1916 erfolgreich beendet. Nur in Deutsch-Ostafrika gelang es dem britischen Militär und seinen südafrikanischen, belgischen und portugiesischen Verbündeten nicht, die Oberhand zu gewinnen. Die dortigen deutschen Truppen unter dem Befehl Paul von Lettow-Vorbecks taten erfolgreich, was ihre Kameraden anderswo vergeblich versucht hatten: Sie zogen sich ins Landesinnere zurück, wichen offenen Schlachten aus und führten einen Guerillakrieg, wie ihn die Buren vor ihnen gegen die Briten geführt hatten. Die kleine deutsche Truppe streckte erst im November 1918 die Waffen.[41]

Lettow-Vorbeck selbst wurde bei der Rückkehr nach Deutschland als »Löwe von Afrika« gefeiert und als Militärkommandeur selbst von Gegnern wie dem Südafrikaner Jan Smuts anerkannt. Dies war jedenfalls das Bild des Krieges in Afrika, das in Erinnerung blieb: das Bild eines Krieges von Weißen. Die im Vergleich mit der Westfront relativ kleine Zahl europäischer Gefallener dürfte auch ein Grund gewesen sein, warum Afrika als Nebenschauplatz angesehen wurde, als »Ice-Cream War« – weil man in der Sonne hinschmolz –, um den Originaltitel eines 1982 erschienenen Romans von William Boyd zu zitieren.[42] Damit ignoriert man allerdings die Bedeutung der Afrikaner, die von jeder europäischen Armee in Afrika rekrutiert wurden. Als die Deutschen in Togo kapitulierten, bestand ihre Truppe aus 300 Europäern und 1200 Afrikanern. In Lettow-Vorbecks Truppe war das Verhältnis noch größer: 155 Deutsche und 1168 »Askaris«, einheimische Soldaten. Außerdem verfügte sie über 3500 afrikanische Träger. Für diese Feldzüge wurden weit mehr Träger angeheuert als Kräfte für andere Aufgaben. Bei den Briten waren es Hunderttausende, bei den Belgiern im Kongo 250 000 (die weniger als 20 000 belgischen Soldaten dienten). Ihre Todesrate war erschreckend hoch. Tote forderte auch die von europäischen Kommandeuren angewandte Taktik der verbrannten Erde; nicht zuletzt Lettow-Vorbeck, der Veteran des Kampfs gegen den Boxeraufstand und des völkermörderischen Kriegs gegen die Herero, griff zu diesem Mittel. In Ostafrika kamen während des Krieges schätzungsweise 650 000 afrikanische Träger und Zivilisten ums Leben.[43]

Der koloniale Kriegsschauplatz unterstreicht die Asymmetrie der Ressourcenverteilung zwischen Mittelmächten und Alliierten. Großbritannien und Frankreich konnten Soldaten, Arbeiter und ökonomische Mittel in einem Ausmaß mobilisieren, wie es den Mittelmächten nicht möglich war. Über eine Million Inder kämpften für Großbritannien, hauptsächlich im Nahen Osten. In Afrika fochten zumeist Nigerianer, Kenianer und Südafrikaner (schwarze und weiße). In den britischen Verbänden kämpften außerdem 450 000 Kanadier und 330 000 Australier. Frankreich mobilisierte Hunderttausende von Soldaten aus Französisch-West- und -Äquatorialafrika, deren Todesrate in den letzten Kriegsjahren zwei- bis dreimal höher war als diejenige weißer französischer Truppen. Darüber hinaus stützten sich Großbritannien und Frankreich auf koloniale Arbeitskräfte, die zum einen die Kriegsmaschine am Laufen hielten und zum anderen Abgaben leisteten. Indien trug 1917, neben den jährlich für Kriegsausgaben gezahlten 20 bis 30 Millionen Pfund, 100 Millionen Pfund zur Begleichung britischer Kriegsschulden bei. Diese Ausbeutung der Kolonien verschärfte die vor dem Krieg entstandenen Unruhen. Auf lange Sicht schürte sie Befreiungsbewegungen von Cochinchina über Indien bis Algerien. Kurzfristig verstärkte sie das Übergewicht der Alliierten. Sie konnten strategische Güter importieren, wie Zinn, Kautschuk und Jute (die für Sandsäcke für die Schützengräben gebraucht wurde) und auf den Weltmärkten erwerben, was immer sie wollten, von Pferden bis Phosphaten. Grundlage dafür war die Herrschaft über die globalen Seewege.[44]

Eine für den Ausgang des Krieges entscheidende Konsequenz daraus war die britische Seeblockade, die Deutschland von den Weltmärkten abschnitt, von denen es inzwischen abhing. Vor dem Krieg hatte es ein Viertel der benötigten Lebensmittel importiert. Dieser Nachschub versiegte abrupt, und auch die Versuche, über das neutrale Skandinavien argentinisches Getreide und Fleisch einzuführen, wurden blockiert. Auch der Viehfutterimport brach zusammen, ebenso wie die Einfuhr chilenischer Nitrate, des Ausgangsstoffs für die Düngerherstellung. Dies verringerte die einheimische Agrarproduktion, die bereits durch den Abgang so vieler Bauern und Arbeiter zum Militär geschwächt war, zusätzlich. Hinzu kamen grobe politische Fehler, wie die summarische Schlachtung von Schweinen im Jahr 1915 – durch die Getreide für den Markt frei gemacht werden sollte –, und organisatorische Probleme bei Versorgung und Rationierung. Die grundlegende Ursache der Krise war jedoch die alliierte Blockade. Der künftige britische Premierminister David Lloyd George versicherte seiner Frau eine Woche nach der britischen Kriegserklärung, es gehe darum, »den deutschen Junker [zu] schlagen, aber keinen Krieg gegen das deutsche Volk« zu führen.[45] Die Blockade bedeutete jedoch genau dies. Man kann nachlesen, was dies im Alltag hieß. In München waren die Kinder von Thomas Mann gezwungen, im Garten gesammelte Schnecken zu essen. »[D]er Hunger war größer als der Widerwille«, schrieb Golo Mann später.[46] Die Australierin Ethel Cooper, die während des Krieges in Leipzig lebte und in ihren Briefen ein ums andere Mal auf die Lebensmittelknappheit zurückkam, verglich die Besessenheit von diesem Thema selbst mit derjenigen von Polarforschern, die »von Essen redeten und träumten«.[47] Sie und andere in ihrem Umkreis nährten sich auch von Krähen und Raben, Walrossfleisch und Ratten und stöberten auf dem Land nach Essbarem.

Dies sind Berichte von Angehörigen des Bürgertums. Der Mangel war nicht gleichmäßig verteilt. Heer und Marine wurden bei der Lebensmittelzuteilung bevorzugt, ebenso große Firmen mit eigenen Kantinen, wie Maschinenbau- und Munitionsunternehmen. Das Land und Kleinstädte konnten sich relativ gut selbst versorgen, auch wenn ihre Bewohner sich über staatliche Requirierungen und mitternächtliche Überfälle von Großstädtern beklagten. Der Schwarzmarkt, auf dem bei Kriegsende rund ein Viertel der verfügbaren Lebensmittel gehandelt wurden, war die Einkaufsstätte gut betuchter städtischer Bürgerfamilien; allerdings hatte der Kriegsdruck auf die Einkommen des mittleren und unteren Bürgertums zur Folge, dass viele sich dies nicht mehr leisten konnten. Es verbreitete sich Unmut sowohl über »jüdische Schwarzmarkthändler« als auch über gut bezahlte Facharbeiter. Städtischen Arbeitern ging es in der Regel schlecht, obwohl eine Vergleichsstudie zwischen London, Paris und Berlin ergeben hat, dass die in Berlin im Vergleich zu den anderen beiden Hauptstädten höhere Sterblichkeit nach 1916 hauptsächlich auf die Verarmung des Bürgertums zurückzuführen war.[48] Am schlimmsten dran waren diejenigen, die in öffentlichen Einrichtungen untergebracht waren, in Krankenhäusern, Nervenheilanstalten und Gefängnissen. Unter ihnen waren die höchsten Todesraten zu verzeichnen. Anderswo verhungerten, dank einer Mischung aus Schwarzmarkt, Selbstversorgung, Diebstahl und »Streckung« von Rationen, nur wenige. Aber der ständige Hunger blieb nicht folgenlos. Die Zahl der an Tuberkulose Verstorbenen stieg erheblich, ebenso wie die Sterblichkeit im Kindbett.[49] In den Städten war die Sterblichkeitsrate 65 Prozent höher als vor dem Krieg. Laut deutschen Lebensversicherern war die Sterblichkeitsrate der Zivilbevölkerung 1918 fast so hoch wie diejenige der Soldaten auf den Schlachtfeldern.[50]

Im Imperialen Verteidigungsausschuss in London hatte man im Vorhinein besprochen, wie Großbritannien im Kriegsfall »Deutschland von der Welt isolieren« sollte.[51] Ein erster Schritt war die rücksichtslose Kappung deutscher Seekabel, aber das Deutsche Reich und seine Verbündeten zu isolieren hieß auch, sie vom Nachschub von Lebensmitteln, Rohstoffen und Industriegütern abzuschneiden. Ferner wurde deutsches Auslandsvermögen eingezogen, Überseeinvestitionen wurden konfisziert, Filialen deutscher Handelsbanken im britischen Empire enteignet und knapp die Hälfte der deutschen Handelsflotte der Vorkriegszeit beschlagnahmt oder versenkt.[52] Deutschland reagierte auf verschiedene Weise auf diesen einengenden »Ring aus Stahl«. Doch jede dieser Reaktionen schadete seinem Ansehen in der Welt, und eine von ihnen – der Übergang zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg – trug wesentlich zum Ausgang des Krieges bei.

Die alliierte Kontrolle über die globalen Ressourcen zwang die Mittelmächte zur verstärkten Ausbeutung der von ihnen besetzten Teile Europas. Deutschland kämpfte bis in die letzten Kriegstage jenseits seiner Grenzen. Zusammen mit Österreich hielt es große Teile West- und Osteuropas besetzt, aus denen man Dinge beziehen konnte, für die es keine anderen Lieferquellen mehr gab. Entsprechend wurden sie ausgeplündert. Rumänien lieferte zwischen 1916 und 1918 rund zwei Millionen Tonnen Getreide sowie eine halbe Million Schafe und Ziegen. Im besetzten Frankreich gab es bei Kriegsausbruch 350 000 Schweine, am Kriegsende waren es nur noch 25 000.[53] Das Bild war überall das gleiche, und zwar nicht nur bei Nahrungsmitteln. Die Besatzer transportierten Pferde, Viehfutter, Metalle und Treibstoff ab. Aus Rumänien kamen eine Million Tonnen Erdöl und aus Polen über sieben Millionen Tonnen Holz; dort ließen Forstbeamte, die vor dem Krieg in Kamerun die Ressourcenausbeutung gelernt hatten, das Hartholz des Białowieża-Urwalds abholzen.[54]

Das deutsche Arbeitsregime variierte von Ort zu Ort erheblich. Am härtesten war es im Baltikum, im Gebiet des Oberbefehlshabers Ost, abgekürzt Ober Ost, wo bis August 1916 General Erich Ludendorff als technokratischer Militärdiktator herrschte. Investitionen in die Infrastruktur sollten die kulturelle Überlegenheit Deutschlands demonstrieren, während der Alltag der Bevölkerung mithilfe von Kontrollpunkten und Ausweisen kontrolliert wurde. Zwangsarbeit war die Regel. Wenn die Besatzung irgendwo die deutsche Herrschaft im besetzten Osten im Zweiten Weltkrieg vorwegnahm, dann in Ober Ost, auch wenn sie die Grausamkeit der nationalsozialistischen Besatzung nicht erreichte. Die schrankenlose Ausübung der Militärmacht hier stand im Gegensatz zu dem relativ gutartigen militärisch-zivilen Hybridsystem im benachbarten Generalgouvernement Warschau, wo der Einsatz örtlicher Arbeitskräfte auf der Tradition polnischer Saisonarbeiter in Deutschland aufbaute.[55] Aber auch dort war die Ausbeutung der Ressourcen von schweren Strafen für jene begleitet, die deutsche Anordnungen missachteten oder öffentliche Bekanntmachungen von den Wänden rissen. »Führe uns nicht in Versuchung, aber erlöse uns von den Deutschen«, beteten die Polen.[56] Als Deutschland im Dezember 1916 beschloss, ein unabhängiges Königreich Polen zu bilden, kam die Initiative zu spät und war zu stark vom vorherigen Verhalten kompromittiert, um die Polen für sich gewinnen zu können. Ob sie allerdings stärker kompromittiert war als die alliierte Ermunterung einer arabischen Unabhängigkeitsbewegung, bleibt eine offene Frage.

Im Westen war die Behandlung der Zivilbevölkerung hinter der französischen Front besonders hart. Sie war von Ausgangssperren, Deportationen und umfangreichen Requirierungen gekennzeichnet. Ganze Fabriken wurden zugunsten der militärischen Sicherheit abgerissen. Die gemischte militärisch-zivile Verwaltung in Belgien ging weniger drakonisch vor. Ein amerikanischer Diplomat beschrieb Moritz von Bissing, der 1914 bis 1917 Generalgouverneur von Belgien war, abschätzig als »einzigen deutschen General, der im Sitzen stolzieren konnte«.[57] Aber in Militärkreisen galt er wegen seines Verhaltens gegenüber Zivilisten als zu weich, »da er zu sehr um die Schonung der Belgier besorgt war«, wie General Karl von Einem feststellte.[58] Die Lage spitzte sich zu, als die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) unter den Generälen Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff 1916 den Einsatz belgischer Zwangsarbeiter verlangte. Bissing wies das Ansinnen dreimal zurück, bevor er im Oktober widerstrebend einlenkte. »Ich bin der Meinung, dass eine ausgepresste Zitrone keinen Wert hat und dass eine getötete Kuh keine Milch mehr gibt«, erklärte er selbst seine Haltung.[59] Sein Pessimismus wurde von dem nachfolgenden Fiasko bestätigt, als 60 000 Belgier in Lager in Deutschland deportiert wurden, wo viele von ihnen erkrankten und mindestens jeder Zwanzigste an Überarbeitung, Unterernährung und den Folgen unzulänglicher Unterbringung verstarb. Die Aktion wurde im Februar 1917 abgebrochen, allerdings erst, nachdem sie in neutralen und den Entente-Ländern öffentliche Empörung ausgelöst hatte.

Alles, was Belgien betraf, war wegen der dortigen Geschehnisse in den ersten Kriegswochen besonders heikel. Als der Vormarsch der deutschen Truppen von unerwartet starkem belgischen Widerstand aufgehalten wurde, hatten sie eine Reihe von Kriegsverbrechen begangen. Rund 6000 Zivilisten wurden summarisch hingerichtet, Geiseln genommen und als menschliche Schilde benutzt und ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht.[60] Dinant wurde geschleift, und 674 seiner Einwohner wurden getötet. Bei der Zerstörung von Löwen wurde auch die Universitätsbibliothek vernichtet. Die »belgischen Gräueltaten«, wie sie bald genannt wurden, waren vor allem auf die zweite Augusthälfte konzentriert. Sie hatten viele Ursachen – Frustration über den langsamen Vormarsch und das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen, Unerfahrenheit und Angespanntheit, antikatholische Vorurteile über ein »priesterbeherrschtes« Land und die feste Überzeugung, deutsche Soldaten würden von Irregulären beschossen, sogenannten Franc-tireurs, wie man sie aus dem Krieg mit Frankreich von 1870/71 kannte. Tatsächlich gab es 1914 im Gegensatz zu 1870 keine Angriffe von Irregulären. Dass deutsche Soldaten, wie Tagebücher zeigen, glaubten, es gebe sie, ist keine Entschuldigung für ihr Verhalten. Harry Graf Kessler, der einige Gräueltaten miterlebte, verglich sie mit dem Dreißigjährigen Krieg. Nach seiner Meinung hatten die Belgier sie sich allerdings selber eingebrockt. Die Weltöffentlichkeit sah es anders. Sie verdammte die Deutschen als barbarische »Hunnen«. Auch in den Entente-Ländern änderten manche ihre Einstellung. Britische Akademiker, die das Bündnis mit Russland gegen Deutschland, dessen Kultur sie bewunderten, anfangs kritisch gesehen hatten, verurteilten jetzt das deutsche Vorgehen. Viele französische Intellektuelle bekannten, dass ihre Hochschätzung der deutschen Kultur offenbar auf einer »optischen Täuschung« beruht habe, und benutzten jetzt das deutsche Wort »Kultur« als Bezeichnung des deutschen Mangels an zivilisierten Werten.[61] Auf der anderen Seite meldeten sich 93 prominente deutsche Gelehrte, Naturwissenschaftler und Schriftsteller, unter ihnen ausgewiesene Liberale wie Max Liebermann und Gerhart Hauptmann, im Oktober 1914 mit einem entrüsteten Aufruf »An die Kulturwelt« zu Wort, in dem sie die Vorwürfe gegen das deutsche Heer zurückwiesen und britischen und französischen Intellektuellen Heuchelei vorwarfen. Thomas Mann reklamierte später in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) den Begriff der Kultur, im Gegensatz zu britischem Materialismus und französischer Frivolität, exklusiv für die vermeintlich einzig wahre und tiefe deutsche Kultur.

Die Zerstörung von Löwen im August 1914 war eine der »belgischen Gräueltaten«, welche die alliierte Öffentlichkeit empörten und Deutschlands Ansehen in neutralen Ländern schadeten.

Doch Deutschland verlor den Propagandakrieg mit den Neutralen. Nach den belgischen Gräueltaten vom August 1914 haftete Deutschland der Ruf der Barbarei an. Die Bombardierung der Kathedrale von Reims im folgenden Monat unter zwielichtigen Umständen – hinter der Kathedrale befand sich möglicherweise französische Artillerie – schien diesen Ruf nur noch zu bestätigen. Die New York Times sprach vom »großen Verbrechen von Reims«.[62] Deutsche Taten in Frankreich und Belgien erregten weit mehr Empörung als vergleichbare Vorkommnisse in Ost- und Südosteuropa, von Afrika und Asien ganz zu schweigen. So wurde den belgischen Gräueltaten deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil als beispielsweise dem brutalen österreichischen Vorgehen in Serbien, wo Tausende von Zivilisten hingerichtet wurden und schlechte Behandlung und Epidemien den Tod von 300 000 Menschen verursachten – einem Zehntel der Bevölkerung.[63] Auch über die schlechte Behandlung deutscher Kriegsgefangener im Zarenreich verloren neutrale und alliierte Kommentatoren kein Wort, obwohl deren Todesrate bei 20 Prozent lag und damit wesentlich höher war als diejenige russischer Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft. Ebenso übersahen sie die Deportation Hunderttausender Volksdeutscher und Juden aus russischen Grenzgebieten im Rahmen einer »vollständigen Säuberung«. Bis Ende 1915 wurden über drei Millionen Menschen vertrieben; bis Anfang 1917 waren es fast sechs Millionen.[64]

Die Russen beriefen sich auf militärische Sicherheit. Dieselbe Rechtfertigung brachte auch das deutsche Militär in Nordfrankreich vor, ebenso wie die osmanischen Behörden, als sie im Mai 1915 mit der systematischen Verschleppung der armenischen Bevölkerung begannen. Ostanatolien liege zu nah an der Kaukasusfront, argumentierten sie, und die Armenier würden den russischen Feind unterstützen. Hinter diesen Behauptungen steckten Mordabsichten. Manche Armenier wurden auf der Stelle getötet. Die meisten wurden deportiert, manche mit Viehwagen, die übrigen auf im Kreis führende Todesmärsche geschickt oder in der syrischen Wüste ausgesetzt. Schon 1894 – 1896 und 1909 hatte es im Osmanischen Reich Massaker an Armeniern gegeben, aber diesmal war das Ausmaß größer. Zeitgenossen sprachen von einem »Massaker, das alle Massaker beendet«. Später sollte es als Völkermord eingestuft werden, als systematisches Vorgehen der Türken, das durch Erschöpfung, Hunger, Krankheit oder Hinrichtung zum Tod von mindestens zwei Dritteln der 1,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich führte.[65]

Welche Verantwortung, wenn überhaupt eine, trug Deutschland für die Handlungen seines osmanischen Verbündeten?[66] Manche haben die Ansicht vertreten, dass Deutschland ein Mittäter war oder sogar die Befehle gab, aber dafür gibt es keine Beweise. Der Plan für den Völkermord stammte von führenden Jungtürken, und ausgeführt wurde er überwiegend von paramilitärischen Einheiten, die von deren Komitee für Einheit und Fortschritt kontrolliert wurden. Einige sehr protürkische Angehörige der deutschen Militärmission stimmten begeistert zu. »Die Armenier werden jetzt – aus Anlass ihrer Verschwörung mit den Russen! – mehr oder weniger ausgerottet«, teilte der damals noch inoffizielle deutsche Marineattaché in Konstantinopel, Hans Humann, im Juni 1915 Berlin mit. Das sei »hart, aber nützlich«, fügte er hinzu.[67] Aber selbst diese unbarmherzige Einschätzung deutet darauf hin, dass er der türkischen Behauptung, die Armenier würden Verrat üben und stellten eine militärische Gefahr dar, glaubte oder glauben wollte. Kaum ein Deutscher hatte direkten Anteil am Völkermord, obwohl einige bei der Logistik der Deportationen berieten und die meisten die offizielle Linie akzeptierten. Selbst diejenigen, nach deren Ansicht die Deportationen weit über alles militärisch Gerechtfertigte hinausgingen, betrachteten sie als innertürkische Angelegenheit. Als die Zahl der Todesopfer bekannt wurde, schoben sie es auf Missmanagement.

Viele deutsche Stimmen protestierten gegen die Vorgänge – manche Militärs und sehr viel mehr Diplomaten, Lehrer und Missionare. Deutsche Konsuln bombardierten ihren Botschafter, Hans von Wangenheim, mit detaillierten Belegen, und auch deutsche Privatleute berichteten über die Gräuel, die sie gesehen hatten. Viele sprachen von »Vernichtung des armenischen Volkes«.[68] Wangenheim begann die offizielle Darstellung anzuzweifeln, berichtete entsprechend nach Berlin und legte in Konstantinopel Protest ein. Nachdem er krankheitsbedingt nach Deutschland zurückgekehrt war, setzte sein Vertreter die Proteste fort, ebenso wie der schließlich zu seinem Nachfolger ernannte Paul Wolff-Metternich. 1916 waren die »Gräuel« und »Massaker« in der deutschen Elite ein offenes Geheimnis. Arthur von Gwinner von der Deutschen Bank, welche die Bagdadbahn finanzierte, hörte von seinem Stellvertreter vor Ort von der türkischen Entschlossenheit, die Armenier »auszurotten«; führende Parlamentarier stellten bei einer Informationsreise Ähnliches fest. Missionare und Gelehrte lieferten Einzelheiten, die der evangelische Theologe Johannes Lepsius in einem für die türkischen Behörden vernichtenden Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei zusammenfasste. Aber diese Entrüstung löste nie eine breite öffentliche Debatte aus. Schuld daran war zum großen Teil die Zensur. Als Lepsius’ Schrift verboten wurde, hatte er zwar bereits 20 000 Exemplare verschickt, aber viele von ihnen wurden beschlagnahmt. Die Presse machte sich selbst mundtot. Das Auswärtige Amt übte allenfalls sanfte Kritik an der türkischen Politik, und Wolff-Metternich wurde zu einer isolierten Figur.

Der Hauptgrund für die unangemessene, gedämpfte Reaktion war die militärische und geopolitische Bedeutung des osmanischen Verbündeten. Der Beginn des Völkermords an den Armeniern fiel mit dem erfolgreichen türkischen Feldzug gegen die britischen und Empire-Truppen auf der Halbinsel Gallipoli zusammen. Die türkischen Streitkräfte banden insgesamt eine Million Entente-Soldaten. Es ist verständlich, dass die unter Druck stehenden Mittelmächte diese Unterstützung nicht verlieren wollten. Außerdem wussten die Entscheidungsträger in Berlin, dass sie kaum einen Hebel in der Hand hatten: Konstantinopel wischte die Proteste einfach beiseite. Es sollte hinzugefügt werden, dass weder Großbritannien noch Frankreich gegen die umfangreichen, gewalttätigen – allerdings nicht genozidalen – Deportationen aus russischen Grenzgebieten protestierte. Als London besorgt bei seinem Botschafter in Sankt Petersburg anfragte, was vorgehe, versicherte er, die Maßnahmen seien durch das verräterische Verhalten der Deportierten gerechtfertigt.[69] Gleichwohl war Deutschland, selbst bei großzügigster Lesart, durch das türkische Vorgehen beschmutzt, und dies zu Recht. Vier Mitarbeiter deutscher Missionen warnten das Auswärtige Amt in Berlin in einem Brief aus Aleppo davor, dem »Ehrenschild Deutschlands« drohten aufgrund des Vorgehens gegen die Armenier »[g]räßliche Flecken […] in der zukünftigen geschichtlichen Erinnerung«. Die Absender fühlten sich, wie sie hinzufügten, »doppelt zu diesem Bericht verpflichtet, zumal wir im Auslande die ungeheure Gefahr deutlich erkennen, die hier dem deutschen Namen droht«.[70] Zweieinhalb Monate zuvor, Ende Juli 1915, hatte die New York Times das britische Oberhausmitglied Lord Crewe mit den Worten zitiert, der deutsche Einfluss auf das Osmanische Reich sei »ein absoluter, ungezügelter Fluch«.[71]

Noch mehr Schaden wurde dem deutschen Ansehen durch den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zugefügt, dessen Ausrufung als »schlimmste Entscheidung des Krieges« und »Wendepunkt in der Weltgeschichte« bezeichnet worden ist.[72] Deutsche U-Boote, von denen es 1914 nur wenige gegeben hatte, wurden im Lauf des Krieges zu einer entscheidenden Waffe. Wenn Großbritannien die Weltmeere beherrschte, dann dominierte Deutschland deren Tiefen. Der deutsche U-Boot-Einsatz war eine indirekte Reaktion auf die britische Blockade. Beide Instrumente zogen die neutrale und die Handelsschifffahrt in Mitleidenschaft. Auf der Londoner Seerechtskonferenz von 1909 hatten sämtliche Teilnehmer, einschließlich Großbritanniens und Deutschlands, eine Erklärung über den Schutz der Handelsschifffahrt unterzeichnet, die jedoch von keinem einzigen Staat ratifiziert wurde und daher nicht in Kraft getreten war. Sowohl die britische als auch die deutsche Kriegsmarine behinderte während des Krieges den neutralen Schiffsverkehr. Der Unterschied bestand in der anormalen Position der U-Boote. Nach dem Völkerrecht sollten Schiffe, die im Verdacht standen, Munition an Bord zu haben, gewarnt und ihre Besatzung evakuiert werden, bevor man sie, sofern Munition gefunden wurde, versenkte. Dies war für U-Boote, die an der Wasseroberfläche höchst verwundbar waren und nicht über den Platz verfügten, um evakuierte Schiffsbesatzungen aufzunehmen, nur schwer durchführbar. Deutschland hatte die Gefechtsregeln bereits geändert, indem es seinen U-Booten erlaubte, Schiffe ohne vorherige Warnung zu beschießen. Dies geschah im März 1915 zum ersten Mal. Zwei Monate später wurde die Lusitania versenkt, ein Passagierschiff, das auch Munition nach England transportierte. Bei ihrem Untergang kamen 1200 Menschen ums Leben, einschließlich 128 Amerikaner, was einen diplomatischen Notenaustausch zwischen Washington und Berlin zur Folge hatte. Deutschland stellte die Praxis, Schiffe ohne Warnung anzugreifen, ein, aber sie wurde zu einem weiteren Symbol deutscher Grausamkeit. Die Wut breitete sich bis in die britischen und französischen Schützengräben aus. Wie aus Briefen und Tagebüchern hervorgeht, töteten alliierte Soldaten, nachdem sie von der Versenkung der Lusitania erfahren hatten, kaltblütig deutsche Soldaten, die sich ergeben wollten.[73]

Vor der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs im Jahr 1917 war Reichskanzler Bethmann Hollweg, der vor einer Zustimmung zurückschreckte, sowohl vom Admiralstab als auch von der Obersten Heeresleitung massiv unter Druck gesetzt worden. Die Marine versuchte mit Statistiken, die auf einer wilden Mischung aus Fehlkalkulation und Wunschdenken beruhten, zu beweisen, dass der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, indem er die britische Blockade mit einer eigenen beantwortete, Großbritannien aushungern und so binnen eines halben Jahres zur Aufgabe zwingen würde. U-Boot-Besatzungen wurden zu Nationalhelden, die in rasch auf den Markt geworfenen Groschenromanen gefeiert wurden. Anfangs war diese Politik auch erfolgreich, zum Teil, weil die U-Boote länger auf See blieben, aber im April war der Höhepunkt der versenkten Tonnage erreicht. Danach wendete sich aufgrund des alliierten Konvoisystems das Blatt. Unterdessen war eingetreten, was Bethmann Hollweg befürchtet hatte. Am 3. Februar hatten die Vereinigten Staaten die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen, und 16 Tage später hatten die Briten ein von ihnen abgefangenes und entschlüsseltes deutsches Telegramm an Washington weitergeleitet. Es kam vom deutschen Außenminister Arthur Zimmermann, der Mexiko versprach, ihm bei der »Rückeroberung« des im 19. Jahrhundert verlorenen Territoriums von drei südwestlichen Bundesstaaten der USA zu helfen, wenn es den Vereinigten Staaten den Krieg erkläre.[74] Mit dieser irrwitzigen Initiative, mit der er den amerikanischen Kriegseintritt vorwegnahm, setzte Zimmermann seine Bemühungen fort, »Untertanenvölker« gegen ihre (einstigen) Beherrscher aufzubringen, wie er es schon in Irland und Indien sowie im Nahen Osten versucht hatte. Im Fall von Mexiko war das Ergebnis katastrophal. Nachdem Präsident Woodrow Wilson den Text der Depesche veröffentlicht hatte, verschärfte sich die antideutsche Einstellung der Amerikaner. Die Vereinigten Staaten hatten erst kurz zuvor eine nach dem Putsch in Mexiko im Jahr 1913 begonnene Militärintervention nach drei Jahren beendet. Jetzt kam zu der größeren Provokation des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs hinzu, dass Deutschland die Monroe-Doktrin herausforderte. Am 6. April erklärten die Vereinigten Staaten Deutschland den Krieg.

Schauen wir uns die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs für einen Moment durch die deutsche Brille an. Das Völkerrecht und die sogenannte Prisenordnung, die regelte, wie U-Boote sich verhalten sollten, waren zweideutig. Die Regeln waren mit Blick auf Überwasserschiffe verfasst worden, was bedeutete, dass U-Boote auftauchen mussten, um Handelsschiffe zu warnen. Aber wie sah die Sache aus, wenn diese bewaffnet oder als zivile Schiffe verkleidete Hilfskreuzer waren? Das größere moralische Problem war, dass die Versenkung eines Schiffs ohne vorherige Warnung, bei der unschuldige Menschen ertranken, sich in ihren Folgen nicht von dem langsamen Verhungern unterschied, dem deutsche Zivilisten durch die alliierte Blockade ausgesetzt wurden. Genau dies brachte die deutsche Seite vor, und manche Amerikaner pflichteten ihr bei. Vor seinem Rücktritt als Wilsons Außenminister drängte William Jennings Bryce den Präsidenten, die Verurteilung der Versenkung der Lusitania gerechterweise durch die Verurteilung der alliierten Blockade auszubalancieren. Wilson wies das Ansinnen zurück.[75] Er übte zwar gelegentlich Kritik an der Blockade, aber seine Sympathien lagen bei den Alliierten. Dies traf für die meisten Amerikaner zu. Außerdem hatten die Vereinigten Staaten aufgrund der Kredite, die sie laufend an die Alliierten vergaben, ein zunehmendes finanzielles Interesse an deren Sieg. Aus all diesen Gründen war die amerikanische Neutralität vor dem April 1917 eher eine Täuschung.

Dennoch war der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten eine weitreichende Veränderung. Eine unumkehrbare langfristige Folge bekamen die Deutschamerikaner zu spüren, einen Ausbruch antideutscher Gefühle wie zuvor in Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland und wie später in Brasilien, nachdem dieses Land im November 1917 Deutschland den Krieg erklärt hatte.[76] Die Reaktionen in den Vereinigten Staaten nahmen viele Formen an. Eines der Ziele war die deutsche Kultur. Früherer Unmut über deutsche »Überlegenheit« trat jetzt offen zutage. Deutsche Dirigenten und Hunderte von Orchestermusikern verloren ihre Anstellungen oder wurden deportiert; manche gerieten sogar in Lebensgefahr. In der Chicago Post ereiferte sich ein Autor, mit der Einführung des Symphonieorchesters habe eine »Teutonisierung unserer Musik in Amerika« begonnen.[77] Deutsche Komponisten wurden aus dem Repertoire verbannt, deutsche Bücher verbrannt, Deutschlehrer entlassen. In Harvard wurde die Adolphus Busch Hall, deren Bau vor dem Krieg begonnen worden war, um die von Deutschland gespendete Kunstsammlung aufzunehmen, zwar 1917 fertiggestellt, aber wegen der antideutschen Stimmung erst 1921 eröffnet.[78] In Pittsburgh wurde Beethoven verboten, in Boston die Brezel. Im Zentrum des Sturms stand die deutsche Sprache. Sauerkraut, hamburger und dachshunds erhielten akzeptablere Namen: Liberty Cabbage, Liberty Steak und Liberty Pups. Städte, Straßen und Parks wurden auf Dauer umbenannt, um sie von ihrem »teutonischen« Makel zu säubern: Die Berlin Avenue in St. Louis, zum Beispiel, wurde zur Pershing Avenue. Aus Schulen und sogar Kirchen wurde die deutsche Sprache verbannt. Ein Politiker aus Iowa mutmaßte: »90 Prozent der Männer und Frauen, die Deutsch unterrichten, sind Verräter.«[79] Dies war die Atmosphäre, in der Mobs Deutschamerikaner angriffen und lynchten. Die Attacken gingen nach dem Krieg in Form von Kampagnen gegen die deutsche Sprache und »Bindestrich-Amerikaner« mit zweifelhafter Loyalität weiter. Die Anfeindungen versetzten einer deutschamerikanischen Kultur den Todesstoß, die schon vor dem Krieg an den Rändern auszufransen begonnen hatte, jetzt aber der furchtbaren Plötzlichkeit des Angriffs von außen endgültig zum Opfer fiel.

Die größte unmittelbare Folge des amerikanischen Kriegseintritts war natürlich seine Auswirkung auf den Kriegsausgang. Die US-Marine verstärkte die britische Blockade Deutschlands und beteiligte sich an dem zum Schutz vor deutschen U-Booten geschaffenen Konvoisystem. Die amerikanische Armee, die 1914 kleiner war als die belgische, wurde durch Einberufungen rasch vergrößert. Im Juni 1917 traf General John J. Pershing mit einem ersten Kontingent von 14 000 Soldaten in Europa ein. Die amerikanischen Expeditionstruppen wuchsen bis Januar 1918 auf 175 000 und bis Mai auf eine Million Mann an. Zu diesem Zeitpunkt überquerten jeden Monat eine Viertelmillion amerikanische Soldaten den Atlantik, viele von ihnen auf beschlagnahmten deutschen Schiffen. Auch der materielle und finanzielle Beitrag der Vereinigten Staaten zur alliierten Kriegsanstrengung war von entscheidender Bedeutung. 1916 überholte die amerikanische Industrieproduktion diejenige Großbritanniens und seines Empire. Während des Krieges und zum Teil seinetwegen spannten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal ihre Muskeln als globaler Wirtschaftsriese und Kreditgeber an. Nach ihrem Kriegseintritt flossen unablässig Munition, zivile Güter und Kredite nach Großbritannien und Frankreich. Ab Mitte 1917 gaben die Vereinigten Staaten pro Tag fast 43 Millionen Dollar für den Krieg aus, mehr als jeder andere Kombattant.[80]

Der amerikanische Kriegseintritt war einer von zwei Gründen, weshalb 1917 zu einem entscheidenden Jahr wurde, zu einer Wasserscheide in der Geschichte sowohl der Welt als auch Europas.[81] Der andere waren die beiden Revolutionen in Russland. Im Februar wurde der Zar als erster der Monarchen Europas, die während des Krieges ihren Thron verloren, gestürzt. Dies eröffnete die Chance für einen Separatfrieden im Osten. Reichskanzler Bethmann Hollweg hatte sich stets bemüht, die deutschen Kriegsziele vage zu halten – allerdings keineswegs bescheiden –, für den Fall, dass sich eine Gelegenheit ergab, einen Partner aus der alliierten Koalition herauszubrechen. In informellen Gesprächen in Stockholm steckten die Abgesandten beider Seiten, Matthias Erzberger und Josef Kolyschko, im März und April die Bedingungen für einen Waffenstillstand und Friedensschluss ab. Sie konnten dies indes nur, weil sie beide keine offiziellen Vertreter ihrer Regierungen waren. Kolyschko war in den Augen einiger Mitglieder des russischen Kabinetts zu deutschfreundlich. Erzberger andererseits reiste zwar mit Bethmann Hollwegs Segen nach Stockholm, war aber angewiesen worden, zuzuhören und nicht zu reden, was dem redseligen Erzberger noch nie leichtgefallen war.[82]

Die Gespräche führten zu nichts, ebenso wenig wie, aus denselben Gründen, die anderen Friedensfühler des Jahres 1917, etwa diejenigen von Österreich-Ungarn und Papst Benedikt XV. Aufgrund der Opfer, die sie alle bereits gebracht hatten, war keine Seite bereit nachzugeben. Friedensvorschläge von Kombattanten enthielten regelmäßig unannehmbare Bedingungen. Russland mag 1917 eher bereit gewesen sein als Deutschland – und auf jeden Fall eher als Großbritannien und Frankreich –, einen Frieden zu schließen, der den Vorkriegszustand wiederhergestellt hätte. Aber selbst Russland wäre in Bezug auf Polen oder die Kontrolle der Dardanellen keinen Kompromiss eingegangen. Trotz ständiger Kritik der Bolschewiken auf der Linken wollte die Regierung von Ministerpräsident Georgi Lwow im Frühjahr und Sommer 1917 den Krieg nicht beenden, sondern fortführen, nur eben effektiver, als es der Zar getan hatte. Deshalb setzte Russland im Juni eine neue Offensive in Gang.

Die deutsche Seite war ebenso unnachgiebig. Zur Zeit der Gespräche zwischen Erzberger und Kolyschko war zwischen dem gemäßigten Bethmann Hollweg und den Falken im OHL alles klar. Aber da Erzberger mit seinem russischen Gegenüber eigenmächtig über einen Waffenstillstand diskutierte, hatte Ludendorff eine Chance, die Gespräche zu torpedieren. Er ließ Kolyschko wissen, dass die OHL den in Stockholm besprochenen gemäßigten Bedingungen niemals zustimmen werde. Daraufhin wurden die Gespräche abgebrochen. Die OHL zwang Bethmann Hollweg mit Rückendeckung des Kaisers sowie einflussreicher Wirtschaftsgruppen und Annexionisten, ein Minimalprogramm der deutschen Kriegsgewinne zu akzeptieren, das auf einen Diktatfrieden im Osten hinauslief. In Bethmann Hollwegs Augen waren die Forderungen »Phantasien«, aber er hatte keinen Handlungsspielraum.[83] Damit war die Hoffnung auf einen Separatfrieden geplatzt. Stattdessen ließ die deutsche Regierung Wladimir Iljitsch Lenin in einem berühmt gewordenen plombierten Eisenbahnzug durch Deutschland nach Russland fahren, um die Provisorische Regierung zu unterminieren; während der Zug durch Frankfurt am Main rollte, arbeitete Lenin an seinen »Aprilthesen«, in denen er eine zweite Revolution forderte. Gleichzeitig startete die OHL an der Ostfront eine Flugblattkampagne, um die russische Armee zu demoralisieren.

Kriegsmüdigkeit und Antikriegsstimmung waren 1917 überall zu spüren. Am offensichtlichsten war dies in Russland, wo im Oktober eine zweite Revolution Lenin und seine Bolschewiken an die Macht brachte. Aber auch in Frankreich war die Stimmung ähnlich. Dort lösten die enormen Verluste in der Nivelle-Offensive in diesem Jahr Meutereien und anschließende Streiks aus. Auch in Großbritannien drückten die Blutbäder von Ypern und Passendale zusammen mit dem ausbleibenden Sieg auf die Moral. In Italien brachen Antikriegsunruhen aus; dann kam die Demütigung von Caporetto, wo ein militärischer Zusammenbruch 30 000 Gefallene und Verwundete zur Folge hatte und 370 000 italienische Soldaten in Kriegsgefangenschaft gerieten. Überall, wo die Zensur es zuließ, forderten liberale und sozialistische Stimmen ein Ende des Krieges und einen Frieden ohne Annexionen.

Deutschland war 1917 dem Zusammenbruch nicht näher als Frankreich oder Italien, von Russland ganz zu schweigen. Aber die sozialen Spannungen in Deutschland nahmen zu. Trotz des bei Kriegsausbruch von Gewerkschaftsführern gegebenen Versprechens, nicht zu streiken, fanden 1917 500 Streiks statt, an denen sich 1,5 Millionen Menschen beteiligten. Viele von ihnen wurden von einer radikalen Bewegung von Fabrik-Obleuten organisiert. Ursachen waren sich verschlechternde Arbeitsbedingungen, Unzufriedenheit über die Lebensmittelknappheit und zunehmenden Versorgungsmängel bei Alltagsdingen wie Streichhölzern und Seife. Gleichzeitig verschärfte sich die politische Polarisierung. Anfang 1917 spaltete sich die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) von der SPD ab und forderte einen Frieden ohne Annexionen sowie innere Reformen. Im Herbst des Jahres wurde eine neue rechtsgerichtete Partei gegründet, die Deutsche Vaterlandspartei (DVLP), die für ein Maximalprogramm von Annexionen eintrat und Kritikern vorwarf, sie würden die Kriegsanstrengung untergraben. Ihre Gründer waren der ehemalige Marinechef Admiral Tirpitz und Wolfgang Kapp, der später einen erfolglosen Putsch gegen die Weimarer Republik anführen sollte. Mit ihrer kompromisslosen Haltung und ihrem Antisemitismus markierte die Vaterlandspartei den Auftritt einer neuen Rechten in der deutschen Politik. Sie zog binnen eines Jahres 1,25 Millionen Mitglieder an. Eines von ihnen war der Bayer Anton Drexler, der später die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) gründete, die sich bald darauf in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei umbenennen sollte (NSDAP).

1917 fand ein tiefgreifendes Revirement der politischen Führung Deutschlands statt. Bethmann Hollweg legte aus Sorge darüber, dass in Deutschland passieren könnte, was in Russland geschehen war, einen Vorschlag für eine Wahlrechtsreform vor, der jedoch von Konservativen zu einem vagen Versprechen verwässert wurde. Ende Juni, als klar wurde, dass der uneingeschränkte U-Boot-Krieg das Ziel, Großbritannien aus dem Krieg zu werfen, nicht erreichen würde und die Aussicht auf einen Separatfrieden mit Russland geschwunden war, drängten die Sozialdemokraten den Reichskanzler, Annexionsforderungen zurückzunehmen und innere Reformen durchzuführen. Bald darauf bildeten die Oppositionsparteien im Reichstag einen Interfraktionellen Ausschuss, die Vorform einer künftigen parlamentarischen Regierung, und Erzberger kündigte an, eine Friedensresolution in den Reichstag einzubringen. Deutschlands zweite »Julikrise« hatte ein paradoxes Ende: Die Friedensresolution wurde vom Reichstag verabschiedet, dann aber ignoriert. Bethmann Hollweg war sechs Tage vorher vom Kaiser entlassen worden, weil das OHL und preußische Konservative ihn nicht mehr gebrauchen konnten. Sie vermochten seiner Konversion zu inneren Reformen nicht zu folgen und konnten, da die Vereinigten Staaten inzwischen Kriegsteilnehmer waren, auf seine »diplomatischen« Fähigkeiten verzichten.

1917 war nicht nur für Russland, sondern auch für Deutschland das entscheidende Jahr, aber das Ergebnis war – für den Augenblick – sehr unterschiedlich. Noch erhellender ist ein Vergleich der Geschehnisse in Deutschland mit denjenigen bei den drei Westalliierten im Moment der Krise. David Lloyd George in Großbritannien, Georges Clemenceau in Frankreich und Vittorio Emanuele Orlando in Italien gingen aus ihnen allesamt als mächtige, charismatische zivile Kriegsführer hervor. Sie belegten Max Webers Annahme, die er 1917 in einer Reihe von ätzenden Zeitungsartikeln darlegte, dass ein Vorteil eines parlamentarischen Systems in seiner Fähigkeit bestehe, effektive Führer auszuwählen.[84] Der Reichstag ließ mit der Friedensresolution seine Muskeln spielen, aber Bethmann Hollweg musste gehen, weil das Heer das Vertrauen in ihn verloren hatte. Wer sein Nachfolger wurde, war irrelevant. Die Macht lag bei der OHL und deren rechtsgerichteten Unterstützern. Selbst der Kaiser trat zunehmend in den Hintergrund. Damit wurde offenbar, was seit Kriegsausbruch latent vorhanden gewesen war.

Nach dem Juli 1917 wurde Hindenburgs und Ludendorffs »stille Diktatur« immer deutlicher sichtbar. Im Innern wurden Notstandsgesetze gegen Proteste genutzt. Wilhelm Groener, einer der wenigen Generäle, die überzeugt waren, dass der Krieg »[g]egen die Arbeiter überhaupt nicht [zu] gewinnen« war, wurde als stellvertretender Kriegsminister entlassen, weil seine Einstellung als zu hart gegenüber Kriegsgewinnlern und zu weich gegenüber Gewerkschaften galt.[85] Manche der in Ober Ost umgehenden eugenischen Fantasien schwappten in die Heimat über. Die OHL forderte ein Verhütungsverbot und die steuerliche Bestrafung unverheirateter Männer, die ihre »natürlichen Pflichten« gegenüber der Nation nicht erfüllten. Außerdem hielt sie an aggressiven Kriegszielen fest und trat für Annexionen oder die Kontrolle über fremde Territorien ein, um die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Erdöl sicherzustellen. Dies traf insbesondere für Gebiete im Osten zu, wo nach Waffenstillständen mit Russland und Rumänien die harten Friedensverträge von Brest-Litowsk und Bukarest geschlossen wurden.

Ende 1917 sah die militärische Lage für die Mittelmächte immer noch günstig aus, obwohl die Alliierten ihnen, was die ökonomischen Ressourcen betraf, haushoch überlegen waren. Italien war bei Caporetto besiegt worden, Russland und Rumänien waren aus dem Krieg ausgeschieden, und es trafen weiterhin amerikanische Truppen in Europa ein. Die Balfour-Deklaration vom November 1917, mit der die Alliierten die Juden für sich gewinnen wollten, war zum Teil ein Versuch, die Initiative zurückzugewinnen. Sie beruhte auf der Annahme, die der Zionistenführer Chaim Weizmann gern ins Feld führte, dass die Deutschen, sollten die Alliierten es nicht tun, den Juden sicherlich ihr Heimatland anbieten würden.[86] Später im selben Monat druckte der Daily Telegraph einen offenen Brief ab, in dem Lord Lansdowne, der bis Juli 1916 dem Kriegskabinett angehört hatte, zu einem Verhandlungsfrieden riet.[87] Nach der Einnahme Jerusalems durch alliierte Truppen im Dezember konnte Großbritannien Soldaten an die Westfront verlegen. Allerdings konnte Deutschland dies nach dem Sieg über Russland ebenfalls tun. Von 44 Divisionen aus dem Osten verstärkt, waren die deutschen Truppen an der Westfront im Frühjahr 1918 zum ersten Mal seit 1914 wieder zahlenmäßig überlegen.

Am 21. März startete die OHL mit dem »Unternehmen Michael« ihre Frühjahrsoffensive. Den Anfang machte ein langer Artillerie- und Infanterieangriff auf einer Breite von 80 Kilometern – laut Winston Churchill, der ihn miterlebt hatte, der »furchtbarste Angriff, den die Kriegsannalen zu verzeichnen haben«.[88] Bis zum 15. Juli folgten vier weitere Angriffswellen. Die Deutschen kamen 70 Kilometer voran, in Artilleriereichweite von Paris. Aber die Offensive war ein weiteres Vabanquespiel der deutschen Militärführung; erneut rollten die Würfel. Der Vormarsch überdehnte die Versorgungslinien und erschöpfte die Truppen. Während den Alliierten immer mehr amerikanische Truppen zur Verfügung standen, fehlten den Deutschen Reserven, um die riesigen Verluste ihrer Offensive auszugleichen. Allein in der Anfangsoffensive fanden 240 000 deutsche Soldaten den Tod oder wurden schwer verwundet. Insgesamt betrug die Zahl der Gefallenen oder Verwundeten auf deutscher Seite rund 700 000. Einen Teil der Soldaten, die den Sieg im Osten sicherten, hätte man besser im Westen einsetzen sollen. Ab Juni sprachen die Zahlen immer deutlicher für die Alliierten. Wie der deutsche Vormarsch im August und September 1914 und die ersten Monate des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs im Jahr 1917 war der berauschende Anfangserfolg der Frühjahrsoffensive von 1918 nicht zu halten. Im Juli schlugen die Alliierten zurück. Am 22. Juli gab Ludendorff den Befehl zum Rückzug von der Marne, und nur etwas mehr als zwei Wochen später waren die deutschen Linien zusammengebrochen. Der deutsche Widerstand war von der epidemischen Ausbreitung der Spanischen Grippe beeinträchtigt, für welche die deutschen Soldaten aufgrund ihrer mageren Verpflegung und Erschöpfung besonders anfällig waren. Im Sommer führte eine Krise der Moral der Truppe zu vermehrter Desertion und einem steilen Anstieg der Massenkapitulation. »Mit Leuten, die sich gefangen geben, ist kein Krieg zu gewinnen«, klagte General von Einem.[89] Was die einfachen Soldaten anging, machte das Hochgefühl des Frühlings mit seinem Versprechen auf baldigen Sieg und Kriegsende im Sommer und Herbst Niedergeschlagenheit und Verzweiflung Platz.

Der Architekt der Frühjahrsoffensive, Ludendorff, blieb für die zunehmende Sorge über die militärische Lage in der Obersten Heeresleitung unzugänglich. Nach einer vernichtenden Niederlage an der Somme suchte er nach einem Sündenbock. Mitte August versicherte er dem Kaiser immer noch, dass der Sieg weiterhin möglich sei. Seine nervliche Überlastung und seine willkürlichen Entscheidungen führten zur Ernennung eines neuen Chefs der Operationsabteilung in der OHL und zur Hinzuziehung eines Psychologen. Der Arzt riet ihm zu mehr Schlaf, Leibesübungen und – weniger überzeugend – dazu, nach dem Aufstehen am Morgen deutsche Volkslieder zu singen. Ludendorff beherzigte erstaunlicherweise den ärztlichen Rat. Im August und September war man sich in der OHL uneins darüber, ob er ersetzt werden und Deutschland um einen Waffenstillstand ersuchen sollte. Unklar war auch, wer um die Waffenruhe bitten sollte, und zu welchen Bedingungen. Ein besserer Zeitpunkt dafür wäre der April gewesen. Aber selbst im Juli hätte ein geordneter Rückzug hinter den Rhein zusammen mit der Aufgabe Belgiens und anderen Zugeständnissen die militärische und politische Lage der Alliierten verkompliziert. Ende September war die bulgarische Armee besiegt, das Osmanische Reich dabei, einer alliierten Offensive in Palästina zu unterliegen, und das österreichische Heer in Auflösung begriffen. Doch selbst dann glaubten alliierte Militärführer noch, dass Deutschland lange durchhalten konnte. Auch Lloyd George glaubte dies. Stattdessen schockierte Ludendorff Kaiser Wilhelm II. Ende September mit der überraschenden Mitteilung, dass der Krieg verloren und ein sofortiger Waffenstillstand nötig sei; man stehe vor der Wahl Waffenstillstand oder Katastrophe. Dieses Alles-oder-nichts-Denken war typisch für Ludendorff und machte ihn in gewisser Weise zur vollkommenen Verkörperung des deutschen Militärs.

Ludendorff und die OHL unternahmen jetzt den dreisten Versuch, der deutschen Zivilbevölkerung und den Politikern, denen sie stets mit Verachtung begegnet waren, die Schuld an der Niederlage in die Schuhe zu schieben. Dies war die Geburtsstunde der Dolchstoßlegende über ein »im Feld unbesiegtes« Heer, die eine gewisse Glaubwürdigkeit erhielt, weil Ludendorff sich aus der Verantwortung gestohlen hatte, als deutsche Truppen noch 800 Kilometer von Berlin entfernt auf französischem Boden kämpften. Ludendorff informierte seine Stabsoffiziere, dass er dem Kaiser geraten habe, jetzt »diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir so weit gekommen sind. […] Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben!«[90] Ludendorffs Suppe wurde im vergifteten Kelch der Reichskanzlerschaft überreicht, die jetzt an den vierten und letzten Amtsinhaber der Kriegszeit übergeben wurde, Prinz Max von Baden. Es sagt etwas aus über das kaiserliche Deutschland, dass dessen reformerischster Kanzler ein Prinz war, allerdings ein liberal gesinnter, der neben Vertretern der anderen Parteien, welche die Friedensresolution unterstützt hatten, zum ersten Mal auch Sozialdemokraten in die Regierung holte.

Max von Baden war zu Recht überzeugt, dass ein sofortiges Waffenstillstandsersuchen dem Eingeständnis der Niederlage gleichkäme, und versuchte Ludendorff und Hindenburg deshalb dazu zu bewegen, es hinauszuschieben. Doch sie lehnten ab. So sandte der neue Kanzler in den frühen Morgenstunden des 4. Oktober eine Note mit der Bitte um Waffenstillstand an US-Präsident Wilson. Dass die Oberste Heeresleitung darauf bestanden hatte, die Note abzusenden, und zwar sofort, wurde nicht öffentlich gemacht. Einen Monat lang blieb alles offen, während vor dem Hintergrund von militärischem Zusammenbruch und allgemeiner Unzufriedenheit Entscheidungen getroffen wurden. Im Innern wurde eine Reihe von Reformen beschlossen, die jahrelang blockiert worden waren, wie die Abschaffung des berüchtigten Dreiklassenwahlrechts in Preußen. Gleichzeitig reagierte die neue Regierung auf eine Reihe amerikanischer Noten, in denen sehr harte Bedingungen für einen Waffenstillstand gestellt wurden. Ludendorff, der in keiner Weise mit der Niederlage in Verbindung gebracht werden wollte, riet dazu, den Krieg fortzuführen, überforderte aber am Ende die Geduld des Kaisers und wurde entlassen. Am 8. November reisten die deutschen Unterhändler mit Matthias Erzberger an der Spitze nach Frankreich und setzten widerstrebend ihre Unterschriften unter das Waffenstillstandsabkommen, das Deutschland drückende Bedingungen auferlegte. Es trat am 11. November in Kraft.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die politische Landschaft grundlegend verändert. Die inneren Reformen und die Waffenstillstandsbemühungen fanden statt, während die Macht der Armee – zumindest vorübergehend – gebrochen war, obwohl ein Militärputsch, wie er im September 1917 in Russland gegen die Provisorische Regierung versucht worden war, möglich zu sein schien. Stattdessen erlebte Deutschland seine eigene Version der bolschewistischen Revolution. Entfacht wurde sie durch die Meuterei von Matrosen in Kiel und Wilhelmshaven, nachdem die Marineleitung – der die Waffenstillstandsverhandlungen nicht passten und die nach der Untätigkeit von Tirpitz’ viel gerühmten Schlachtschiffen während des Krieges um ihren Ruf besorgt war – der Flotte befohlen hatte, als Geste des Widerstands zu einem zum Scheitern verurteilten Vorstoß auszulaufen. Schon im vorangegangenen Jahr war es zu Meutereien gekommen. Aber diese waren ernster. Die Matrosen sprachen sich gegenseitig als »Genosse Bolschewik« an. Aus der Meuterei wurde eine Revolte und aus dieser, während der Aufruhr sich ins Inland ausbreitete, eine Revolution. 1918 war bisher schon ein Jahr zunehmender Unruhe gewesen. Jetzt, in der ersten Novemberwoche, wurden überall in Deutschland Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Wilhelm II. floh in die Niederlande, und revolutionäre Massen eroberten die Straßen von Berlin. Das Kriegsministerium wurde von einem Soldatenrat besetzt. Am 9. November um 12 Uhr mittags gab Max von Baden die Abdankung des Kaisers bekannt und ernannte den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zu seinem eigenen Nachfolger im Amt des Reichskanzlers. Zwei Stunden später trat Philipp Scheidemann, ein weiterer Sozialdemokrat aus Max von Badens Regierung, auf den Westbalkon des Reichstagsgebäudes und rief die Republik aus.

Die Weimarer Republik

Am 9. November 1918 wurde Deutschland zur Republik erklärt. Im folgenden Jahr wurde sie zur Weimarer Republik, nachdem eine im Januar 1919 gewählte Nationalversammlung in der thüringischen Stadt zusammengetreten war und dort eine Verfassung ausgearbeitet hatte, die im August 1919 in Kraft trat. Die Wahl im Januar war die erste in der deutschen Geschichte gewesen, in der Frauen wahlberechtigt waren. Aber warum Weimar? Ein Grund war die Absicht, das neue Deutschland mit dem »guten« Deutschland von Goethe und Schiller zu verbinden. Dies hatten die Mitte-links-Parteien im Sinn, die in der Nationalversammlung die Mehrheit hatten und in Gedanken immer auch in Versailles waren, wo die Alliierten in denselben Monaten über Deutschlands Schicksal berieten. Außerdem war die Wahl einer anderen Stadt als Berlin ein Wink an andere Teile des Landes, die dem, wofür die preußische Hauptstadt stand, skeptisch gegenüberstanden, weshalb auch Frankfurt am Main und Nürnberg als Tagungsorte im Gespräch waren. Aber es gab noch einen weiteren Grund, Berlin zu meiden. Die Hauptstadt war Schauplatz ständiger revolutionärer Unruhen, bei denen das Innere des Reichstags verwüstet worden war. Weimar konnte durch einen Militärkordon geschützt werden. Man brauchte einen Passierschein, um die Stadt betreten zu dürfen, und 4000 Freiwillige Landjäger bezogen mit Maschinengewehren in Fenstern und auf Dächern Posten. Dies war das Umfeld, in dem 423 Delegierte im Weimarer Staatstheater berieten und 1000 Journalisten ihren Beratungen folgten.[91] Erst im August 1919 zog die Regierung wieder auf Dauer nach Berlin zurück.

Die Weimarer Republik begann, wie sie enden sollte, mit Gewalttätigkeiten. Diese Gewalt war mit einem breiteren Nachkriegsaufruhr in ganz Europa verknüpft, der von territorialen Streitigkeiten, revolutionärer und konterrevolutionärer Gewalt und der Bewegung von Millionen Menschen über umstrittene Grenzen hinweg verursacht wurde. Dieser Aufruhr hielt bis weit in die 1920er-Jahre an.

Ein Hauptgrund für die anhaltenden Konflikte waren die Maßnahmen zur Herstellung des Friedens. Im Januar 1919 kamen in Paris Vertreter von über zwei Dutzend Alliierten zusammen, mit den großen Drei Großbritannien, Frankreich und Vereinigte Staaten als bestimmenden Mächten. Sie beschlossen die Friedensbedingungen, die im Mai den Mitgliedern der entsetzten deutschen Delegation präsentiert wurden, deren Wunschdenken sie dazu verleitet hatte, auf mildere Bestimmungen zu hoffen. Am 28. Juni unterzeichneten Mitglieder der sozialdemokratischen Regierung widerstrebend den Friedensvertrag, auf den Tag genau fünf Jahre nach der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand. Die Vertragsbedingungen waren niederschmetternd. Deutschland verlor ein Zehntel seiner Bevölkerung, ein Siebentel seines Territoriums, ein Viertel seiner Kohlelagerstätten und die Hälfte seiner Eisenproduktion. Im Osten musste es Posen und Teile von Westpreußen und Oberschlesien an Polen abtreten, während ein Teil der bisherigen deutschen Provinz Westpreußen herausgeschnitten wurde, um einen polnischen »Korridor« zur Ostsee zu schaffen. Westpreußens Hauptstadt Danzig wurde eine »Freie Stadt«. Das Memelland kam unter alliierte Verwaltung und schließlich zu Litauen. Im Westen wurden Elsass und Lothringen wieder Frankreich angegliedert; Eupen und Malmedy wurden belgisch. Das Saarland sollte vom Völkerbund verwaltet werden, Frankreich aber das Recht auf die Kohleförderung erhalten, und ein Landstreifen an der Rheingrenze wurde »entmilitarisiert«. Nordschleswig kam zu Dänemark. Deutschland verlor seine Kolonien. Seine Armee wurde auf 100 000 Mann begrenzt, und der Besitz von Panzern, U-Booten und Militärflugzeugen wurde ihm verboten. Ferner wurde ihm untersagt, Bündnisverträge mit Österreich zu schließen, und ihm wurde der Beitritt zum Völkerbund verwehrt. Schließlich sollte es Reparationen von vielen Milliarden Mark zahlen und wurde, wie in Artikel 231 des Vertrags ausgeführt, als »Urheber« für den Krieg »verantwortlich« gemacht.

US-Präsident Wilson hatte die europäischen Mächte im Januar 1917 davor gewarnt, wie ein »Friede ohne Sieg« aussehen würde: Er wäre ein Frieden, »der dem Besiegten aufgezwungen ist«, der »nur mit dem Gefühl der Demütigung hingenommen« würde, »unter Härten, mit unerträglichen Opfern, und er würde einen Stachel zurücklassen, ein Rachegefühl, eine bittere Erinnerung«.[92] Genau so empfanden die Deutschen den Versailler Vertrag, als rachsüchtigen Siegfrieden. Dieses Gefühl wurde quer über das politische Spektrum geteilt, am lautesten und dauerhaftesten aber auf der Rechten, wo die Niederlage am schärfsten geleugnet und die Legende, nach der Deutschland von Verrätern in der Heimat einen Dolchstoß in den Rücken erhalten habe, zu einem Glaubensartikel wurde.[93] Auch manche Nichtdeutsche betrachteten den Versailler Vertrag als einen unvernünftig harten, »karthagischen« Frieden. Der berühmteste von ihnen war ein Mitglied der britischen Delegation in Versailles, der Ökonom John Maynard Keynes.

Hatten sie recht? Nur teilweise. Tatsache ist, dass die Alliierten sich untereinander nicht einig waren, dass die Franzosen stets eine schärfere Haltung einnahmen als die Angelsachsen und Deutschland davon profitierte. Frankreich hatte darauf gedrängt, sowohl Danzig als auch ganz Oberschlesien ohne Volksabstimmung Polen zu übergeben. Außerdem hatte Paris das Saarland annektieren und das linke Rheinufer besetzen wollen. Der Versailler Vertrag ist auch in Bezug darauf bemerkenswert, was er nicht enthielt. Eine Präambel, in der die deutsche Kriegsschuld festgestellt wurde, war fallen gelassen worden. Die Alliierten hatten sich gegen einen Tribut entschieden und stattdessen den völkerrechtlich abgesicherten Weg gewählt, aufgeschlüsselte »Reparationen« zu verlangen, die – insbesondere im Fall von Frankreich und Belgien – den erlittenen Verlusten entsprechen sollten, in der Folgezeit aber wiederholt reduziert wurden.[94] Der Verlust der Kolonien war, wie so vieles in dem Vertrag, ein schwerer Schlag für den deutschen Stolz, konnte aber mit Blick auf die koloniale Vorkriegsbilanz und die Kolonialkosten, die Deutschland jetzt nicht mehr tragen musste, als Segen betrachtet werden. Deutschland könne »ruhig schlafen, wenn in China oder Marokko die Gewehre losgehen«, wie der Pazifist Carl von Ossietzky es ausdrückte.[95] Zudem waren die deutschen territorialen Verluste angesichts der historischen Identität und ethnischen Zusammensetzung der umstrittenen Grenzregionen nicht ungerechtfertigt. Drei Millionen der 6,5 Millionen Menschen, die in den »verlorenen« Gebieten lebten, waren Nichtdeutsche. Im Osten hatte man die neuen Grenzen tatsächlich mit großer Sorgfalt gezogen. Den »polnischen Korridor«, zum Beispiel, hatte man so schmal wie möglich gehalten und darauf geachtet, die Verkehrswege möglichst wenig zu beeinträchtigen. Am Ende blieb Deutschland trotz der Verluste intakt und eine europäische Großmacht – mehr wie Frankreich nach Napoleon denn wie Deutschland nach Hitler.

Außerdem waren Deutschlands Verluste weniger hoch als diejenigen seiner mitteleuropäischen Verbündeten Österreich, Ungarn und Bulgarien. Nimmt man die Regelungen für diese Staaten mit in den Blick, erkennt man, dass die deutschsprachigen Länder Teil einer nach dem Krieg durchgeführten größeren Umwälzung früherer Reiche waren, die manchmal durch Verträge, häufig aber auch mit Gewalt erfolgte. Infolge des Krieges brachen vier multiethnische Reiche zusammen: diejenigen der Romanows, der Habsburger, der Osmanen und der Hohenzollern. Die »Erschütterungszonen«, die sie hinterließen, waren nach dem Krieg noch jahrelang Schauplätze gewalttätiger Konflikte, die vom Erbe des Militarismus, von der Erbitterung über die Niederlage und dem Bemühen, in ethnisch gemischten Territorien neue Nationalstaaten aufzubauen, entfacht wurden. Über das östliche Mitteleuropa hinweg flammte die Gewalt auf.[96] Volksdeutsche spielten dabei, mit einigen bedeutenden Ausnahmen, keine herausragende Rolle. In Lettland kämpften deutsche Freikorpsverbände, zu denen nicht weniger als 40 000 Mann gehörten, auf brutale Weise zuerst im Auftrag lokaler Behörden gegen die Bolschewiken und dann gegen Letten, um die deutsche Präsenz zu sichern.[97] Im neuen tschechoslowakischen Staat riefen ultranationalistische Kräfte unter den deutschsprachigen Einwohnern »deutsche Provinzen« aus und träumten davon, Teil eines österreichischen oder großdeutschen Vaterlandes zu werden. Nachdem die tschechoslowakische Armee der aufstrebenden Bewegung ein Ende gemacht hatte, verbreitete sich im deutschen Grenzgebiet rasch das Gerücht, eine »tschechische Invasion« stehe bevor.[98] Vor allem aber rumorte es an der deutsch-polnischen Grenze. Im März 1921 fand in Schlesien unter alliierter Aufsicht eine Volksabstimmung statt, die zu einer kurzzeitigen polnischen Revolte und der Gegengewalt deutscher Freikorpseinheiten führte. Bei den Unruhen kamen zweitausend Menschen ums Leben.[99]

Anderswo ging die Grenzziehung nach dem Krieg zumeist weniger gewalttätig vonstatten. Zwei Volksabstimmungen in Schleswig verliefen friedlich, und auch in Elsass-Lothringen und im Saarland geschah nichts, was den Blutbädern in Lettland und an der deutsch-polnischen Grenze gleichgekommen wäre. Aber im Rheinkorridor kam es zu Gewalt. Ein berüchtigter Fall blieb freilich überwiegend rhetorischer Art. Nachdem im besetzten Rheinland 25 000 französische Soldaten aus Nordafrika, dem Senegal und Madagaskar stationiert worden waren, wurde eine hässliche rassistische Kampagne gegen die »schwarze Schmach am Rhein« in Wort und Bild in Gang gesetzt, unter anderem mit dem 1921 entstandenen gleichnamigen Film von Carl Boese.[100] Karikaturen zeigten die Vergewaltigung deutscher Frauen und Mädchen durch halbtierische »Barbaren«. Ihren Höhepunkt erreichte die Kampagne 1920/21. Von der Regierung in Berlin angefacht, griff sie den verbreiteten Groll über den Verlust der deutschen Kolonien auf, richtete sich aber auch an ein internationales Publikum. Ihr Ziel war es, die französische Besatzungsmacht und die Bestimmungen des Versailler Vertrags gleich mit zu diskreditieren. Die politische Ausrichtung war allerdings nicht eindeutig. Die Regierung arbeitete mit Organisationen wie der Rheinischen Frauenliga zusammen, welche die »Schwarze Schmach«-Propaganda international verbreitete und die Unterstützung von britischen und amerikanischen Frauenorganisationen gewann. Der britische Labourpolitiker E. D. Morel, ein scharfer Kritiker der früheren belgischen Gewalt im Kongo, veröffentlichte 1920 ein Pamphlet mit dem Titel The Horror on the Rhine, in der er Frankreich als eine imperialistische Macht attackierte, die weit entfernt lebende Untertanenvölker ausbeute, während sie deutsche Frauen deren angeblich zügellosem sexuellem Verlangen aussetze.[101] Dem Rassismus auf der Linken entsprach ein rechtes Gegenbild, das ultranationalistische Organisationen wie der »Deutsche Notbund gegen die Schwarze Schmach« verkörperten, dessen Gründer und Vorsitzender, Heinrich Distler, das Drehbuch für Boeses Film schrieb. Die bösartige Kampagne von 1920/21 hinterließ eine hasserfüllte Unterströmung, die in die langfristige Stigmatisierung der sogenannten »Rheinlandbastarde« einfloss.

An der Rheingrenze kam es in den Jahren 1918 – 1923 aber auch zu unmittelbarerer Gewalt, als manchmal angenommen wird. Die Zukunft der Region war ungeklärt, und eine buntscheckige Gruppe politischer Abenteurer setzte sich dafür ein, sie von Deutschland abzuspalten und eine neutrale – in Wirklichkeit aber profranzösische – Republik zu schaffen, die vielleicht unter dem Schutz des Völkerbunds stehen sollte. 1919 wurde in Speyer ein separatistischer Putschversuch unternommen. Einige führende französische Figuren, wie der Befehlshaber der französischen Rheinarmee, sprachen sich für die Entwaffnung des westlichsten Standbeins der Deutschen aus, sosehr Briten und Amerikaner – solange sie noch dort waren – auch betonten, dass dies nicht annehmbar sei.

Überspannt wurde all dies von der Frage nach dem Umfang der deutschen Reparationen, über den immer noch gestritten wurde, und der Lieferung materieller Entschädigungen. Das Ruhrgebiet im nördlichen Rheinland war der große Preis, weil sich dort der größte Teil der Deutschland verbliebenen Kohle-, Eisen- und Stahlproduktion befand. Die französischen Planungen für eine Besetzung des Ruhrgebiets reichten ins Jahr 1918 zurück. Ursprünglich war sie als militärische Sicherheitsmaßnahme gedacht, wurde jedoch in zunehmendem Maß als Mittel betrachtet, Reparationsleistungen zu erhalten. 1921 besetzte Frankreich als Reaktion auf die deutsche Weigerung, anstehende Reparationszahlungen zu leisten, die Flusshäfen von Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort. Gleichzeitig wurden die Planungen für die vollständige Besetzung vorangetrieben. »Früher oder später wird sie kommen«, prophezeite der britische Außenminister Lord Curzon fatalistisch.[102]

Im Januar 1923 verlor Frankreich schließlich die Geduld mit den deutschen Unterhändlern und nutzte ausgebliebene Holzlieferungen als Vorwand, um das gesamte Ruhrgebiet zu besetzen. Dabei besetzten sie auch gleich die rechtsrheinischen Gebiete zwischen den militärischen französischen Brückenköpfen mit. Die deutsche Regierung rief zu Nichtkooperation und passivem Widerstand auf. Dies entsprach der Einstellung der meisten Einwohner des Ruhrgebiets, war aber fast sicher die falsche Politik. Deutschland hätte die Besetzung auch stillschweigend hinnehmen, moralische Entrüstung äußern und sofortige Verhandlungen fordern können. Angesichts der britischen und amerikanischen Einstellung hätte es auf diese Weise wahrscheinlich schon 1923 eine Einigung erzielt, wie sie dann 1924 zustande kam, nur ohne die zwischenzeitlichen Beschwernisse.[103] So wie die Dinge lagen, reagierte Frankreich auf den passiven Widerstand damit, dass es Tausende von Beamten entließ und durch Franzosen ersetzte. Zudem wurden »Saboteure« vor Kriegsgerichte gestellt. Im Herbst gab die deutsche Regierung den französischen Forderungen nach, aber erst, nachdem ihre Politik des Gelddruckens, um die Wirtschaft während der Krise in Gang zu halten, die bereits beschleunigte Inflation – deren Ursachen im Krieg zu suchen waren – dramatisch verschlimmert hatte. Diese Entwicklung endete mit der berüchtigten Hyperinflation vom November 1923, als der Dollar 4,2 Billionen Mark wert war. Die politischen Kosten dieser »verkehrten Welt« sollten später bezahlt werden.[104]

Die Ruhrkrise löste eine letzte separatistische Anstrengung aus. Rheinische Separatisten waren seit dem Kriegsende im Hintergrund von Frankreich unterstützt worden, aber jetzt handelten sie von sich aus und brachten Paris, das darauf reagieren musste, in Verlegenheit. Manche der Putschversuche und Rathausbesetzungen der frühen 1920er-Jahre hatten einen operettenhaften Zug. In diesem Fall waren die Separatisten nicht nur relativ wenige, sondern auch schlecht organisiert. Ihre Aktionen grenzten an Brigantentum. Aber in der ersten Woche des November 1923 wehte die rheinische rot-weiß-grüne Trikolore in vielen Städten im Rheinland. Der letzte Nachkriegsversuch, die deutsche Westgrenze mit Gewalt neu zu ziehen, wurde mit Gewalt beantwortet. Acht Monate zuvor, im März, waren der Separatist Josef Smeets von deutschen Nationalisten angeschossen und sein Schwager getötet worden. Ein halbes Jahr später gab es in Düsseldorf eine Schießerei zwischen Separatisten und Nationalisten, die als »Blutsonntag« in die Geschichte einging. Zwei Monate danach forderte ein weiteres Scharmützel bei Bonn über hundert Tote. Das Ende der sogenannten Revolverrepublik in der Pfalz war ähnlich grausam. Franz-Josef Heinz, selbst ernannter Regierungschef der Autonomen Pfalz, wurde Anfang Januar 1924 zusammen mit seinen Hauptberatern in einem Hotel in Speyer beim Verdauungsdrink nach dem Abendessen von Nationalisten ermordet. Einige Wochen später schloss ein Mob die Reste der pfälzischen Separatistenbewegung im Rathaus von Pirmasens ein, steckte es in Brand und erschoss alle, die zu fliehen versuchten. Am nächsten Tag wurden 15 Leichen aus den Trümmern geborgen.[105]

Dieses Blutvergießen war die deutsche Version der Grenzlandgewalt, die überall in Europa ausbrach. Ähnliche Wucht entwickelten die revolutionäre und die konterrevolutionäre Gewalt, die von 1918 bis 1923 wüteten. Rote und Weiße bekämpften sich in Mitteleuropa ebenso erbarmungslos wie in Russland und mit denselben Parolen. Es war ein gesamteuropäischer Konflikt, der sich von Russland bis Norditalien und Spanien erstreckte. Aber die Ereignisse in Deutschland waren besonders bedeutsam, weil Anhänger und Gegner der Revolution sie gleichermaßen als für die Zukunft entscheidend betrachteten.

»Die gewöhnlichen Menschen sind wütend, aber welchen Sinn hat ein wütendes Schaf.« So lautet der verächtliche Tagebucheintrag von Ethel Cooper, nachdem die Staatsmacht die Redaktionsräume einer radikalen Zeitung durchsucht hatte.[106] Es ist ein bekannter Spott: Lenin höhnte einst, die deutschen Genossen würden erst eine Bahnsteigkarte lösen, bevor sie den Bahnhof erstürmen.[107] Doch das Klischee ist falsch. Nachdem 1918 die Monarchie gestürzt worden war, bemühten sich gemäßigte Sozialdemokraten, die Revolution in sichere parlamentarische Bahnen zu lenken. Dabei hatten sie nicht nur mit rechten Versuchen, die neue Republik zu zerstören, zu kämpfen, wie dem von dem rechtsgerichteten Beamten Wolfgang Kapp angeführten, aber von Teilen der Armee angezettelten Putsch von 1920 sowie Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle von 1923, sondern auch mit wiederholten Versuchen der Linken, ein revolutionäres oder bolschewistisches System in Deutschland zu etablieren. Letztere begannen mit dem Spartakusaufstand vom Januar 1919 und der bayerischen Räterepublik vom April desselben Jahres, setzten sich fort mit der Roten Armee des Ruhraufstands im Frühjahr 1920 und der sogenannten Märzaktion von 1921 und endeten mit dem Deutschen Oktober 1923. Sie alle wurden niedergeschlagen.

Das Verhalten Friedrich Eberts und seiner Genossen wurde scharf kritisiert, insbesondere der Einsatz von Freikorps und regulären Truppen zur Niederschlagung des Spartakusaufstands, bei der die radikalen Führer des Spartakusbundes Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden. Wurde der SPD von zeitgenössischen Konservativen vorgeworfen, das alte Regime durch einen Dolchstoß hinterrücks zu Fall gebracht zu haben, wird ihr von Historikern eher angekreidet, nicht tief genug zugestochen zu haben. Diese Kritik hat einiges für sich. Die unanständig rasche Bereitschaft der SPD, die Kräfte der »Ordnung« gegen die soziale Revolution einzusetzen, ermutigte Konservative und hatte aufgrund des ausgebliebenen Großreinemachens zur Folge, dass viele Antirepublikaner ihre Posten behielten. Die Justiz mit ihrer bemerkenswerten Nachsicht gegenüber konservativen politischen Mördern, die Prominente wie Matthias Erzberger und Walter Rathenau getötet hatten, war nur ein Beispiel dafür. Sozialdemokratische Unterlassungs- und Begehungssünden trugen zweifellos zur Spaltung und Erbitterung der Linken bei, die sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik als katastrophal erweisen sollte.

Aber die Bilanz der SPD weist Einträge in beiden Spalten auf. An der Spitze der Weimarer Koalition – zu der neben ihr die katholische Zentrumspartei und die Deutsche Demokratische Partei (DDP) gehörten – leitete sie den Aufbau der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland und führte weitreichende und von der Industrie gehasste Sozialleistungen ein, ohne zu diktatorischen Mitteln zu greifen wie die Bolschewiken in Russland. Und sie erreichte all dies, während sie unter dem Druck der Politik der Pariser Friedensmacher stand, denn die alliierte Blockade blieb bestehen, bis der Versailler Vertrag im Juni 1919 unterschrieben wurde. Kritiker mögen einwerfen, Ebert, der bekannte, er hasse die soziale Revolution »wie die Sünde«[108], habe nur getan, was er sowieso tun wollte – was zutrifft –, anstatt den Basisradikalismus der Räte- und Obleute-Bewegung gegen die alten Eliten einzuspannen, wie er es hätte tun können und müssen – was eine eher zweifelhafte Annahme ist. Die von der Revolution entfesselten radikalen Kräfte waren für jede Partei schwer zu kontrollieren, nicht nur für die SPD, sondern auch für diejenigen links von ihr. Die Revolution war extrem, chaotisch und anarchisch. Ihre grimmige Kraft rührte aus Kriegsmüdigkeit und den Erniedrigungen her, welche die Arbeiter während des Krieges hinnehmen mussten: Arbeitsmobilisierung, Einschüchterung durch das Militär, gefährlich beschleunigte Produktionslinien, Hunger. Der plötzliche Zusammenbruch des alten Regimes im November 1918 katapultierte bisher unorganisierte Gruppen auf die Straßen. Für Arbeiter jeder Art, insbesondere für junge, war die Revolution eine Gelegenheit, mit den Autoritäten und »denen da oben« alte Rechnungen zu begleichen. Und die schätzungsweise zwei Millionen Gewehre, die illegal in Umlauf waren, trugen auch kaum zur Beruhigung der Lage bei.[109] Selbst Rosa Luxemburg, die wahrscheinlich mehr Vertrauen in die Vernunft der »Massen« hatte als jeder andere Revolutionär in Europa, sah das Problem der zersplitterten, disparaten lokalen »Revolutiönchen«, die das Bild in Deutschland prägten.[110]

Eine Revolution »ohne Drehbuch« also?[111] In vieler Hinsicht ja. Aber keine Revolution geschieht völlig ohne Drehbuch und sogar Choreografie. Aber Gemäßigte und Radikale waren Erben eines breiten Repertoires des praktischen wie verbalen Aktivismus der Zeit vor 1918. Sozialdemokraten konnten die Welt der Arbeiterbibliotheken und Radfahrvereine, »anständigen« Gewerkschaften, gut organisierten Maidemonstrationen und Wahlkämpfe heraufbeschwören, während Radikale auf Massenstreiks, Straßendemonstrationen und eine fernere Geschichte des Barrikadenbaus und der direkten Machtausübung verweisen konnten. Als ihr im November 1918 die Revolution in den Schoß fiel, wollte die SPD sie zügeln; den von Lenin und seinen Genossen angebotenen »russischen Wahnsinn« (Philipp Scheidemann) wies sie zurück.[112] Die Linke bezog ihre Anregungen derweil aus näherer und weiterer Ferne. Karl Artelt, ein Anführer der Kieler Matrosenmeuterei und späterer Funktionär der Kommunistischen Partei, hatte als Angehöriger des in Tsingtau stationierten deutschen Ostasiengeschwaders die chinesische Revolution von 1911 miterlebt. Später, 1917, kam er mit französischen und belgischen Radikalen in Kontakt, mit denen zusammen er im Gefängnis saß, nachdem er wegen der Verbreitung von Streikmaterial im Kieler Marinestützpunkt verhaftet worden war. Auch Irland spielte eine Rolle. Als Oberstleutnant William Roddie während des Spartakusaufstands in Berlin eintraf, um für das britische Kriegsministerium die Lage in Deutschland zu erkunden, war er verdutzt, als ein Taxifahrer ihm mitteilte, dass der Mann, der mit einem Maschinengewehr vom Brandenburger Tor herabschoss, zu »Roger Casements Iren« gehöre.[113] Revolutionäre waren mobil, manchmal zwangsweise. Nachdem Béla Kuns Ungarische Räterepublik Anfang August 1919 gestürzt worden war, emigrierten er und viele seiner Mitstreiter nach Österreich, von wo aus einige weiter nach Deutschland gingen und eine »Achse Budapest-Berlin« etablierten.[114] Zu ihnen gehörte der ungarische Kommunist Alexander Rado, der 1919 von Budapest nach Österreich floh und 1922 nach Deutschland weiterzog, wo er eine führende Rolle bei den kommunistischen Umsturzplanungen in Mitteldeutschland im Oktober des folgenden Jahres spielte.[115]

Die Russische Revolution, der Béla Kun und Alexander Rado nacheiferten, hatte in Deutschland die gleiche Wirkung: Sie verstärkte das Gefühl des Möglichen. Führende deutsche Radikale unterhielten enge Beziehungen nach Russland. Rosa Luxemburg war im Zarenreich geboren und als Schülerin in Warschau aktiv gewesen, bevor sie als 18-Jährige nach Zürich floh, von wo sie zehn Jahre später nach Berlin zog. Ihre Freundin Sophie Ryss aus Charkow ging zum Studium nach Deutschland, wo sie Karl Liebknecht heiratete.[116] Durch Luxemburgs viele Briefe an Ryss zieht sich die Hoffnung auf Russland, die sich auch in einem Brief an Clara Zetkin ausdrückt, in dem sie die Februarrevolution als »kleine Ouvertüre« bezeichnete und »ein Echo in der gesamten Welt« voraussagte.[117] Auch Ernst Däumig, einen Sprecher der Arbeiterrätebewegung und zeitweisen USPD-Vorsitzenden, der sich kurzzeitig den Kommunisten anschloss, beeindruckten die Ereignisse tief. Nach der Oktoberrevolution verkündete er: »Wir sind nicht nur bloße Zuschauer der Ereignisse in Rußland, sondern nehmen mit ganzer Inbrunst daran teil. Wir wollen aus den Vorgängen lernen und sie dann nutzbringend bei den kommenden Kämpfen zur Erlösung der Menschheit aus den Klauen des Kapitalismus anwenden.«[118]

Ebenso inspirierend wirkte die Russische Revolution auch auf jüngere Zeitgenossen. Ernst Reuter, später während des Kalten Krieges als Regierender Bürgermeister von West-Berlin weltberühmt, dreißig Jahre vorher aber noch ein unbekannter Radikaler, erlernte die kommunistische Politik in russischer Kriegsgefangenschaft.[119] Max Hoelz, der für sein linkspolitisches Banditentum im Vogtland bekannt wurde, war noch ein unpolitischer, eher christlich als sozialistisch geprägter junger Mann, als er an der Ostfront kämpfte und von der Russischen Revolution erfuhr. Die Nachrichten machten einen »ungeheuer starken Eindruck, auch auf uns Nichtsozialisten«, schrieb er später. Keiner der deutschen Soldaten habe geglaubt, dass die Revolution auf Russland beschränkt bleiben würde.[120]

Die Rote Armee war eine weitere russische Institution, die in Deutschland übernommen wurde. In mehreren Regionen bildeten sich selbst ernannte rote Armeen, um eine radikalere Revolution in Gang zu setzen. Die erste wurde während der tragischen Ereignisse in Bayern gegründet. Im April 1919 wurde in München unter Führung von Intellektuellen wie Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam eine bayerische Räterepublik ausgerufen. Die gut gemeinte, aber ineffektive, von intellektuellen Bohemiens geführte sozialistische Republik wurde nach einer Woche gestürzt und durch ein stärker am russischen Modell orientiertes Regime ersetzt, an dessen Spitze die beiden in Russland geborenen Kommunisten Eugen Leviné und Max Levien standen. Sie bauten eine 30 000 Mann starke Rote Armee auf. Ihr Versuch, kompromissloslose sowjetische Methoden in Deutschland einzuführen, endete in Gewalt, mit der Tötung von Geiseln, die einen Ausbruch von »weißem Terror« zur Folge hatte. Toller, der die Geiseln zu retten versuchte, beschrieb später, wie Münchener Kinder Rote Armee spielten und ihre Gegner in Schuppen oder Keller sperrten, wobei sie schrien: »Hoch die Roten!«, und: »Nieder die Weißen!« Diese Spiele zu hören sei furchtbar gewesen, aber die Wirklichkeit sei noch furchtbarer gewesen. Toller lehnte die von seinen Nachfolgern vertretene Art des Klassenkampfs ab. Ihm gefiel es nicht, dass der »magische Glanz« der bolschewistischen Revolution und die Worte »In Russland haben wir es anders gemacht« jede Diskussion beendeten.[121] Aber Toller hatte ebenso wie Leviné und Levien auch viel zu verantworten. Innerhalb eines Jahres, 1919, als die sozialen Entbehrungen größer waren als jemals zuvor und Deutschlands politische Zukunft noch in den Sternen stand, fügten der revolutionäre Theaterdonner einiger Münchener Salonkommunisten und die ideologische Strenge der Räterepublik der linken Sache erheblichen Schaden zu und trugen dazu bei, dass die Stadt sich über Nacht in eine Hochburg der autoritären Rechten verwandelte.

Die zweite Rote Armee in Deutschland wurde in diesen turbulenten Jahren als Reaktion auf den Kapp-Putsch an der Ruhr aufgestellt. Sie umfasste mindestens 50 000 Mann. Der Aufstand, den sie im März 1920 auslöste, war die größte Arbeiterrevolte, die in dieser Zeit in Deutschland ausbrach. Die Rote Ruhrarmee kontrollierte große und kleine Städte. Nicht weniger als 300 000 Bergarbeiter folgten während Verhandlungen zwischen den Aufständischen und der wiedereingesetzten Regierung in Berlin dem Aufruf zum Generalstreik. Die breite Unterstützung, welche diese Rote Armee an der Ruhr genoss, unterschied sie von ihrer Münchener Namensschwester. Außerdem wurde der Arbeiterradikalismus von einem anderen Motiv angetrieben: Er war vor allem ein Nebenprodukt eines vom Kapp-Putsch hervorgerufenen glühenden Antimilitarismus. Das Ende war jedoch erschreckend ähnlich. Reguläre Truppen und Freikorpseinheiten schlugen den Aufstand nieder, wobei über tausend Angehörige der Roten Ruhrarmee ums Leben kamen, viele in Gefangenschaft oder bei einem »Fluchtversuch«. Wiederum hatte der weiße Terror die Oberhand gewonnen.[122]

Die radikale Linke war sich in der Überzeugung einig, dass die Ereignisse in Deutschland Teil eines größeren Kampfs waren. Auch Moskau war dieser Ansicht. Der Vorsitzende der im März 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale (Komintern), Grigori Sinowjew, erklärte im folgenden Monat, in Deutschland kämpfe man »nun auf jenen entscheidenden Posten […], an denen sich das Schicksal der proletarischen Revolution in ganz Europa entscheiden wird«.[123] Die gescheiterten Experimente in Ungarn, Bayern und der ebenso kurzlebigen Slowakischen Räterepublik dämpften die Hoffnungen nicht. In Berlin wurde ein westeuropäisches Sekretariat der Komintern eröffnet, wo Agenten, bevor sie auf den Balkan oder nach Spanien gingen, neue Identitäten und Pässe bekamen. Berlin war der »Wartesaal der Weltrevolution«.[124] Selbst 1920, als die Rote Armee im Polnisch-Sowjetischen Krieg auf Warschau vorrückte und in Spanien und Italien kommunistische Revolutionen immer noch möglich zu sein schienen, blieb Deutschland für Lenin und die Bolschewiken der Hauptpreis. Es war das industriell höchstentwickelte Land mit der größten Arbeiterschaft. Aber 1920 markierte den Höhepunkt realistischer sowjetischer Hoffnungen. Ähnlich wie an der Ruhr erlitt die radikale Linke auch in Italien und Spanien eine Niederlage, und im Osten wurde die Rote Armee vor Warschau zurückgeschlagen.

Die Aussichten auf eine Revolution im Westen waren nie so gut gewesen, wie Moskau glaubte. Sowohl in Deutschland als auch in Italien und Spanien waren die radikalsten linken Bewegungen regionale oder arbeitsplatzgebundene Formen des Aktivismus, die sich nur schwer zu einer Revolution im leninistischen Sinn zusammenfügen ließen.[125] Sie entsprachen eher dem, was Lenin in seiner 1920 verfassten Schrift Der »Linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus verurteilte. Zweimal innerhalb von drei Jahren versuchte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) jedoch, durch – fehlgeschlagene – Aufstände die Geschichte zu beschleunigen. Die katastrophale Märzaktion von 1921 mit ihrer »Offensivtheorie« – nach der man den Aufstand nur entfachen musste, die Arbeiter würden sich ihm dann schon anschließen – und die versuchten Provokationen mit inszenierten Angriffen auf Gebäude der KPD waren Beispiele eines verzweifelten politischen Abenteurertums, das den deutschen Kommunisten von Sinowjew und Komintern-Abgesandten wie Béla Kun aufgenötigt wurde. Die letzte Katastrophe war der Versuch der Machtergreifung durch den Oktoberaufstand von 1923, mit dem man sich die Ruhrkrise zunutze machen wollte. Der Entschluss dazu war in Moskau getroffen worden, das sowjetische Berater entsandte, die helfen sollten, »Rote Hundertschaften« aufzustellen. Doch der Aufstand wurde abgebrochen, bevor er begonnen hatte, weil er offensichtlich aussichtslos war. Nur in Hamburg machte man weiter, was hundert Aufständische das Leben kostete. Der gescheiterte »Deutsche Oktober« stärkte die reaktionäre Rechte und vergiftete das Verhältnis zwischen den verschiedenen Fraktionen der Linken zusätzlich, da die Kommunisten kurz zuvor in Mitteldeutschland in Koalitionsregierungen mit linken Sozialdemokraten eingetreten waren, die sich jetzt verständlicherweise betrogen fühlten.[126]

Radikale Linke überquerten mit Leichtigkeit Grenzen. Der Ungar Alexander Rado, der im Oktober in Leipzig kommunistische Kampfeinheiten befehligt hatte, ging im folgenden Frühjahr nach Moskau weiter. Ruth Fischer, die spätere Vorsitzende der KPD, reiste vor dem Oktober 1923 zwischen Berlin und Moskau hin und her. Ein weiterer unermüdlicher Grenzgänger war der Großrevolutionär Karl Radek. Der im Habsburgerreich geborene Radek hatte während der Russischen Revolution von 1905 in Warschau gekämpft und sich danach als sozialdemokratischer Journalist in Deutschland niedergelassen, bevor er während des Ersten Weltkriegs in die Schweiz zog, von wo aus er 1917 als einer von Lenins Begleitern mit dessen plombiertem Zug nach Russland fuhr. Als Deutschlandexperte der Komintern pendelte er in den frühen 1920er-Jahren ständig zwischen Moskau und Berlin hin und her.[127]

Auch die ultranationalistische Rechte überquerte Grenzen. Deutsche, österreichische und ungarische paramilitärische Gruppen arbeiteten eng zusammen. Erich Ludendorff, jetzt ein erbitterter Feind der Weimarer Republik, und der ungarische Admiral Miklós Horthy, beide in der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre geborene Militärs und entschiedene Gegner der Nachkriegsordnung, standen in Verbindung zueinander. Im Sommer 1920 trafen sie sich insgeheim in Budapest und Bayern, um ihre Pläne zur Unterdrückung der Revolution und zur Errichtung autoritärer Regime in Deutschland und Ungarn zu koordinieren. Die Angehörigen der paramilitärischen Gruppen in Europa hatten viel gemein. Die Erfahrungen der jungen Männer in den Zwanzigern, welche die Reihen der deutschen Freikorps füllten, glichen denjenigen junger Männer von nichtproletarischer Herkunft in ihrem Alter anderswo, selbst in Staaten, die im Krieg neutral gewesen waren, wie Spanien, oder in nominellen Siegerländern wie Italien, aber vor allem in den mitteleuropäischen Erschütterungszonen der zusammengebrochenen Reiche. Dort wurden paramilitärische Verbände von denselben Erfahrungen mit Krieg, Niederlage, Gebietsverlust und revolutionärem Aufruhr zusammengeschweißt. Das mentale Fundament dieser Männer war gleich. Sie waren gewalttätig, ultranationalistisch, antibolschewistisch, antisemitisch, hypermaskulin und antifeministisch.[128]

Der politische Nachkriegsaufruhr hatte eine weitere, umfangreichere und häufig verzweifelte Art der Grenzüberquerung zur Folge: Kein vorheriger Konflikt hatte derart viele Flüchtlinge hervorgebracht. Am Ende des Krieges verließen 10 Millionen Menschen ihre Heimat. Manchmal waren dort neue Länder entstanden, in denen sie sich unwillkommen fühlten und es oft auch waren. Manche waren staatenlos geworden; andere hatten sich aufgrund von Revolution oder Bürgerkrieg auf den Weg gemacht. Was Deutschland betraf, wechselte eine große Zahl von Menschen in beiden Richtungen über die neuen Landesgrenzen. Jüngst enteignete Balten- und Russlanddeutsche, deren unfreiwillige Entwurzelung 1914 begonnen hatte, gingen nach Deutschland. Außerdem kamen Deutsche aus den »verlorenen Gebieten« im Osten und aus Elsass-Lothringen, zusammen rund 1,3 Millionen. Ein Fünftel aller Volksdeutschen, die in abgetretenen Gebieten lebten, zog nach Deutschland um. Aber nicht nur Deutsche strömten dorthin, sondern auch 100 000 Juden, die vor Pogromen in der Ukraine und Galizien flohen, den Grenzländern der zusammengebrochenen russischen und habsburgischen Reiche. Rund 40 000 dieser sogenannten Ostjuden wanderten weiter in die Niederlande, die Vereinigten Staaten oder nach Palästina. Aber die Mehrheit siedelte sich in Deutschland an, vor allem in Berlin. Ihre prekäre Existenz dort beschrieb ein ebenfalls in Galizien geborener Jude, der Journalist und Schriftsteller Joseph Roth, auf eindringliche Weise.[129] Berlin war auch der bevorzugte Zielort einer anderen Gruppe osteuropäischer Flüchtlinge, von Russen, die vor Revolution und Bürgerkrieg flohen. Eine halbe Million von ihnen ging nach Deutschland. In Berlin ließen sie sich vor allem in Charlottenburg – das den Spitznamen Charlottengrad erhielt – und Schöneberg nieder – Sankt Petersburg am Wittenbergplatz.[130] Gleichzeitig zog eine große Zahl von Russen in die umgekehrte Richtung, ehemalige Kriegsgefangene, alles in allem fast zwei Millionen, die nach und nach in die Heimat zurückkehrten, die letzten 1921. Auch über 100 000 im Krieg internierte »feindliche Ausländer« verließen das Land, Briten, andere Europäer, Australier und Neuseeländer,[131] ebenso eine große Zahl von Polen, darunter viele, die lange Zeit in Deutschland gelebt hatten, jetzt aber nach Osten in den neuen polnischen Staat gingen, während Deutsche aus den »verlorenen Gebieten« nach Westen zogen. Im Vergleich mit dem Schicksal von Griechen und Türken in denselben Jahren war es ein relativ friedlicher Bevölkerungsaustausch.

Ethel Cooper unterhielt sich 1916 mit einem Leipziger Kaminkehrer, der ihr voller Bitterkeit sagte, nach dem Krieg würden alle, die noch am Leben seien, auswandern.[132] Tatsächlich wanderten nach 1918 Deutsche aus, aber weniger als erwartet, und bis 1924 waren die meisten Ausreisewilligen gegangen. Die unkonventionellste Gruppe unter ihnen waren die 150 Kommunisten, die 1920 in die Sowjetunion auswanderten, um als Pioniere einer »Ansiedlung Ost« beim Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion zu helfen. Dafür hatte der Leipziger Kommunist Alfons Goldschmidt, der überzeugt war, dass das neue russische Regime das Beispiel »deutscher Arbeit« willkommen heißen würde, eine Organisation mit diesem Namen gegründet. Doch als die angehenden Pioniere in Kolomna, südlich von Moskau, eintrafen, stellten sie fest, dass ihre »Fabrik im Wald« baufällig und voller feindseliger Russen war. Die Lebensbedingungen waren unerträglich, und die meisten der Deutschen kehrten nach Hause zurück.[133]

Lateinamerika war ein gewöhnlicheres Ziel deutscher Auswanderer. Es wurde vom deutschen Auswärtigen Amt und vom neu geschaffenen Reichsamt für deutsche Einwanderung, Rückwanderung und Auswanderung (Reichswanderungsamt) bevorzugt, die Auswanderer ermutigten, in Länder zu emigrieren, in denen es bereits deutsche Siedlungen gab, und so zur »Erhaltung des Deutschtums im Auslande« beizutragen. Von den rund 140 000 Deutschen, die ab 1919 nach Lateinamerika auswanderten – fast so viele wie in den vorangegangenen siebzig Jahren –, ließen sich die meisten jedoch nicht in den ländlichen »deutschen« Siedlungen nieder, sondern in Großstädten wie Sāo Paulo und Buenos Aires. Ihr Weggang war jedoch ein Ausreißer. Nach den ersten Nachkriegsjahren erreichte die Auswanderung während der Weimarer Republik nie ein Niveau wie im 19. Jahrhundert. Die Zahl der Auswanderer hinkte nicht nur weit hinter derjenigen von Briten und Italienern hinterher, sondern auch hinter derjenigen von Polen und Portugiesen.[134]

Das Jahr 1924 markierte in dieser Hinsicht wie in vielem anderen einen Wandel. In diesem Jahr endeten die Ruhrkrise und die Serie der Nachkriegsaufstände. Die Hyperinflation machte ökonomischer Stabilität Platz, und der Dawes-Plan regelte die deutschen Reparationszahlungen neu. Der Architekt dieser Politik, Gustav Stresemann, schwenkte auf einen Kurs der Kooperation mit den Westalliierten ein, dessen Höhepunkt die 1925 geschlossenen Verträge von Locarno bildeten. Außerdem trat der seltene Fall ein, dass die Kultur sich im selben Rhythmus wandelte wie Politik und Wirtschaft. Die schroffe expressionistische bildende Kunst, Literatur und Kinokunst der unmittelbaren Nachkriegszeit wich der kühleren sogenannten Neuen Sachlichkeit. Die Jahre 1924 – 1929 werden für gewöhnlich als goldene Zeit zwischen den Krisen der Anfangs- und Endzeit der Weimarer Republik gesehen. Waren sie es wirklich? Und wie kalibrierte Deutschland nach der Feindseligkeit und den abgebrochenen Beziehungen der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre sein Verhältnis zur Welt neu?

Die deutsche Wirtschaft war während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgrund der alliierten Blockade und des Verlusts seiner Kolonien weitgehend entglobalisiert worden. Die deutschen Auslandsinvestitionen waren um über 90 Prozent zurückgegangen.[135] Ein positiver Aspekt der Inflation bestand, zumindest bis die Hyperinflation einsetzte, darin, dass deutsche Waren auf dem Weltmarkt billig angeboten werden konnten. Die Folge war ein Exportboom, der zu Vollbeschäftigung führte und es der Regierung erlaubte, Geld für Sozialprogramme auszugeben. Wenigstens auf kurze Sicht überstand Deutschland die Weltwirtschaftskrise von 1920/21 besser als seine Konkurrenten. Es ist sogar möglich, dass der vom Export getragene deutsche Boom anderen Ländern aus dem Nachkriegstief heraushalf.[136]

Langfristige Anstrengungen, die globalen ökonomischen Verbindungen Deutschlands wiederherzustellen, hatten gemischte Ergebnisse. Mit Lateinamerika, zum Beispiel, wuchs der Handel die ganzen 1920er-Jahre hindurch, und deutsche Unternehmen waren an Bau- und Elektrifizierungsprojekten beteiligt, wie etwa einem großen Elektrifizierungsprogramm in Kolumbien, an dem sich deutsche Banken als Kreditgeber beteiligten.[137] Aber es sah nicht überall rosig aus. Kredite an andere Länder zu vergeben weckte im Auswärtigen Amt die Sorge, dies könnte die deutsche Behauptung, keine Reparationszahlungen leisten zu können, untergraben. Daneben schlugen zwei größere Probleme zu Buche: zum einen die »Nationalisierungspolitik«, die sich in Lateinamerika ausbreitete, und zum anderen die zunehmende regionale Dominanz der Vereinigten Staaten, die es unmöglich machte, den Vorkriegsstatus zurückzuerlangen. Und dies alles galt schon, bevor die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise den deutschen Handel mit der Region um drei Viertel schrumpfen ließ.[138]

Lateinamerika war exemplarisch für die deutschen Schwierigkeiten, die zum Teil auch alle anderen europäischen Wirtschaften hatten. Der deutsche Anteil am Welthandel sank zwischen 1913 und den späten 1920er-Jahren um fast ein Drittel, als die globale Produktion und der Handel zwischen nichteuropäischen Ländern wuchsen. Die großen Gewinner der ökonomischen Entwicklung der Nachkriegszeit waren die Vereinigten Staaten, Kanada und Japan. Außerdem nahm der Welthandel aufgrund der Unsicherheit des globalen Finanzsystems und der überall eingeführten Zölle langsamer zu als in den erhitzten Vorkriegsjahren. Die deutsche Wirtschaftsleistung erreichte in den späten 1920er-Jahren wieder das Vorkriegsniveau, aber die Wirtschaft stand vor zwei grundlegenden Problemen, die beide mit den Vereinigten Staaten zu tun hatten.

Das eine war die »Rationalisierung«, die zwar die Produktivität erhöhte, aber auch die Arbeitslosigkeit. An der Ruhr führte die Mechanisierung der Kohleförderung zu einer drastischen Verringerung der benötigten Bergarbeiter, von knapp 550 000 im Jahr 1922 auf rund 350 000 sieben Jahre später.[139] Dieser Umbau ließ die Arbeitslosenquote, die in den frühen 1920er-Jahren so niedrig gewesen war, während der sogenannten goldenen Jahre stetig steigen. Im Frühjahr 1929, ein halbes Jahr vor dem Wall-Street-Crash, lag sie bei annähernd drei Millionen. Aber die Rationalisierung kostete nicht nur Arbeitsplätze, sondern führte auch zur Beschleunigung des Arbeitsablaufs in Bergwerken, Fabriken und Büros.[140] Diese Entwicklung war eng mit den Namen zweier Amerikaner verbunden. Der eine, Frederick Taylor, lieferte mit seinem Zeitstudienansatz im Rahmen einer »wissenschaftlichen Betriebsführung« mit dem Ziel, die Effizienz der Produktion zu steigern, kurz Taylorismus genannt, die grundlegende Theorie der Rationalisierung. Der andere, Henry Ford, wurde in Deutschland ebenfalls mit einem Ismus geehrt, dem Fordismus. Sein Buch Mein Leben und Werk verkaufte sich in Deutschland 200 000-mal, und in den 1920er-Jahren wurden mehr als fünfzig Bücher über ihn geschrieben. Ford verkörperte für verschiedene Menschen Verschiedenes, und Auseinandersetzungen über den Fordismus waren im Grunde Meinungsverschiedenheiten über die Verwendung des amerikanischen Wirtschaftsmodells in Deutschland. Nach Ansicht von Industriellen beruhte Amerikas Erfolg auf einem schnellen Arbeitstempo, hoher Produktivität und dem Fehlen von Arbeitsschutzgesetzen. Gewerkschafter und Sozialdemokraten entgegneten, dass eine fortgeschrittene Technologie sowie hohe Löhne und der durch sie ermöglichte Massenkonsum dem amerikanischen Erfolg zugrunde lägen. Dies waren Stellvertreterdebatten für den erbitterten Klassenkampf, der die Weimarer Politik aufwühlte.[141]

Die übermäßige Abhängigkeit von ausländischem Kapital war ein weiteres ökonomisches Problem, das hinter der Erholung der deutschen Wirtschaft lauerte. Sie war ebenfalls ein amerikanisches Thema, denn die Vereinigten Staaten waren Deutschlands größter Gläubiger. Zwischen 1924 und 1930 lieh sich Deutschland 28 Milliarden Mark, von denen zwei Drittel investiert und der Rest als Reparationen weitergegeben wurden.[142] Daraus entstand ein perfektes Dreieckssystem: Die Vereinigten Staaten liehen Deutschland Geld, mit dem es Reparationszahlungen an Frankreich und Großbritannien leistete, die ihrerseits damit ihre riesigen Kreditschulden bei den Vereinigten Staaten beglichen. Die deutsche Abhängigkeit von ausländischem Kapitel war zum Teil eine Folge der Inflation, die zuerst innere Ersparnisse auffraß, die in Deutschland hätten investiert werden können, und dann eine Kapitalflucht nervöser potenzieller Investoren bewirkte, die eine weitere Inflation befürchteten. Dadurch geriet Deutschland in Abhängigkeit von ausländischem Kapitel – das zwar ins Land floss, aber zum einen zu relativ hohen Zinssätzen und zum anderen zum Preis größerer Verwundbarkeit, wie sich zeigte, als 1929 kurzfristige Darlehen aufgekündigt wurden.

Trotz des Verlusts des Saarlands und des oberschlesischen Kohlenreviers waren die Schwerindustrien rund um Kohle, Eisen und Stahl ein bedeutender Teil der deutschen Wirtschaft geblieben. Es war immer noch ein »Jahrhundert des Stahls«, wie ein französischer Minister während der Ruhrbesetzung bemerkte.[143] Deshalb war das Ruhrgebiet für Frankreich so wichtig. Kann man sich die Besetzung einer von der Produktion von Oberhemden oder Schreibmaschinen geprägten Region vorstellen? Die Schwerindustrie verkörpert sowohl das Kriegsglück in künftigen Konflikten als auch die harte Währung von Reparationen. Deutsche Schwerindustrielle waren berüchtigt für ihre Trusts und Kartelle. Aber solche Absprachen gab es auch in Chemie, Optik und Elektrotechnik, Industrien, die Deutschland zu einem globalen Wirtschaftsschwergewicht gemacht hatten. Das klassische Beispiel dafür ist der Chemieriese IG Farben. Alte wie neue Wirtschaftszweige mussten mit schwierigeren Umständen fertigwerden als vor dem Krieg. Die größten Probleme hatte jedoch die Landwirtschaft. Wie Rohstoffproduzenten überall mussten Gutsbesitzer und Kleinbauern gleichermaßen mit niedrigen Preisen und zudem weniger Zollschutz als vor dem Krieg zurechtkommen. Das sollte politische Folgen haben.

Zeitgenossen waren von der Wirtschaft des Massenkonsums fasziniert. Damit sind Tanzhallen und Bars, Phonographen, Kino und Radio, modische Kleidung und Make-up sowie Sport jeder Art gemeint, zusammen mit neuen Zeitschriften, die sich diesen Aktivitäten widmeten. Der halbdokumentarische Spielfilm Menschen am Sonntag von 1930 porträtiert diese Welt, die vor allem eine Welt junger Leute war, wohlwollend, aber auch mit satirischen Anklängen. Die Regisseure Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer, die Drehbuchautoren Billy Wilder und Curt Siodmak sowie Kameramann Fred Zinnemann machten später allesamt erfolgreich Karriere in Hollywood. Der Film erzählt von einer Gruppe junger Leute, die miteinander flirten und streiten, ausgehen und ein Wochenende am See genießen, bevor sie am Montagmorgen wieder arbeiten gehen. Die Laiendarsteller, die sich selbst spielen, haben »typische« moderne Berufe – Schallplattenverkäuferin, Taxifahrer, Mannequin, Komparse beim Film, Weinverkäufer. In Annies Zimmer hängen Fotos von Schauspielern an der Wand, in Erwins solche von Schauspielerinnen, und sie streiten sich darüber, ob Annie ihren Hut mit auf- oder abwärts gebogener Krempe tragen soll. Am Anfang des Films geht der charmante Wolfgang mit Christl Eis essen, als sie sich treffen, nachdem ihre Verabredungen nicht aufgetaucht sind. Später trinken Wolfgang und Erwin Bier und überlegen, ob sie zu einem Fußballspiel gehen sollen. Als die Paare sich an einem See entspannen, hören sie von einem tragbaren Phonographen Musik.[144]

Diese Kultur hatte Vorkriegsursprünge, bildete sich aber erst nach dem Krieg endgültig heraus. Berichten zufolge eilten Städter während des Spartakusaufstands sogar bei Gewehrfeuer und an Barrikaden vorbei zu Kinos und Tanzlokalen.[145] Später berühmt gewordene Zeitgenossen, welche die Goldenen Zwanziger in jungen Jahren erlebt haben, wie der Publizist und Historiker Sebastian Haffner, erzählen in ihren Memoiren von Tennisvereinen, Tanzmusik und modisch gekleideten jungen Frauen.[146] Die in zwei Varianten auftretende Unterhaltungskultur, eine für die obere und eine für die untere Mittelschicht, zog auch die Aufmerksamkeit der schärfsten Gesellschaftskritiker der Weimarer Zeit auf sich. Siegfried Kracauer beschrieb die eine Variante in seinem Aufsatz »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino«, in dem er der kapitalistischen Massenkultur mit ätzenden Worten bescheinigt, nur entleerte, eskapistische Erfahrungen anzubieten.[147] Joseph Roth berichtete in seinen Zeitungsartikeln über ein breites Spektrum von Vergnügungsstätten der Ober- und Unterschicht, von Filmtheatern und Vergnügungsparks über das Berliner Sechstagerennen bis zu Trinkstuben, in denen er die »Schadenfreude« genoss, die ihm »der Anblick des industrialisierten Frohsinns bereitet[e]«.[148] In einem anderen Artikel dachte er über die bevorstehende Ankunft des Wolkenkratzers in Deutschland nach, nicht ohne eine typische beißende Schlussbemerkung: »Ach! – Schon liest man, daß ein großer Unterhaltungspalast im ersten Wolkenkratzer Berlins errichtet werden soll. Mit Kinos, Tanzbasar, Likördiele, Negerkapellen, Varieté, Jazzband.«[149] Er meinte neue Tänze wie Shimmy und Charleston, welche die deutschen Städte im Sturm eroberten, und die Musiker, die sie spielten, wie die Chocolate Kiddies – mit dem jungen Duke Ellington – und den großen Saxofonisten Sidney Bechet.[150]

Die Tiller Girls 1926 in einem Berliner Varieté. Für den Kritiker Siegfried Kracauer war die beim Publikum beliebte Tanztruppe lediglich ein Beispiel der »Fließband«-Unterhaltung.

Deutsche nannten ihre Version der Roaring Twenties die »verrückten zwanziger Jahre«. Kino, Wolkenkratzer, Cocktails und Jazz standen alle für »amerikanisch«. Die vermeintliche »Amerikanisierung« der Gesellschaft war in der Weimarer Republik ein Gegenstand heftigen Streits. Zweifellos gab es einen wachsenden amerikanischen Einfluss auf die Kauf- und Ausgabegewohnheiten. So kamen Mitte der 1920er-Jahre 40 Prozent der in den Kinos gezeigten Filme aus Hollywood. Die Ford Motor Company eröffnete eine Fabrik in Köln, Coca-Cola eine Abfüllanlage in Essen, und als der Bostoner Rasierklingenhersteller Gillette im Zuge seiner Kampagne, den »modernen« europäischen Männern zu genauso glatt rasierten Gesichtern zu verhelfen wie ihren amerikanischen Pendants, in Deutschland auf seinen Hauptkonkurrenten stieß, erwarb er kurzerhand einen Kontrollanteil an ihm.[151] Sowohl Coca-Cola als auch Gillette vertrauten ihre Reklame in Deutschland ab 1927 der neu eröffneten Berliner Niederlassung des amerikanischen Werbegiganten J. Walter Thompson (JWT) an, zu dessen Kunden auch Kodak, Kellogg’s und Wrigley gehörten.[152] Selbst das moderne Büro, wie dasjenige von JWT in Berlin, wirkte mit seiner Schreibzentrale und seinen Rohrpoströhren amerikanisch. Das Büro und die in ihm arbeitenden Angestellten zogen ebenfalls die Aufmerksamkeit von Gesellschaftskritikern auf sich, unter ihnen wiederum diejenige von Siegfried Kracauer.[153] Ein weiteres Feld war der Einzelhandel mit dem Kaufhaus und Ladenketten. Das Kaufhaus war schon vor dem Krieg nach Deutschland gelangt. Konservative verdammten es als »jüdische« Einrichtung, die angeblich kleinen Ladenbesitzern schade, gerissene Geschäftspraktiken einsetze und die Kleptomanie befördere, alles Vorwürfe, die schon in den 1880er-Jahren vorgebracht worden waren und in den 1920er-Jahren fast unverändert wiederholt wurden.[154] Das Modell der Ladenkette kam erst 1927 nach Deutschland, als in Bremen die erste deutsche Woolworth-Filiale ihre Tore öffnete. Im nächsten Jahr folgten weitere 23. Ironischerweise waren es die vielgescholtenen Kaufhäuser, wie Tietz und Karstadt, die auf diese amerikanische »Invasion« im Einzelhandel reagierten, indem sie in Konkurrenz zu Woolworth ihrerseits Filialen eröffneten.[155]

Die Verbreitung der Kaufhäuser und Ladenketten ging in Deutschland weit langsamer vonstatten als in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Aber der Streit über sie erregte die Gemüter, da es nicht nur darum ging, was man kaufte und wo man es kaufte, sondern sich auch Fragen nach der Identität und der Zukunft der Gesellschaft stellten. Wie bei den Debatten über das Kino und die Tanzhalle taten sich generationelle Bruchlinien auf. Auch Geschlechterfragen spielten eine große Rolle. An Kaufhäusern war schon vor dem Krieg bemängelt worden, dass sie überwiegend Frauen beschäftigten und den ungezügelten Kauf von »Luxusgütern« durch ihre wohlhabenden Kundinnen zuließen. In den 1920er-Jahren tauchte ein neuer Typ von Konsumentinnen auf, die »moderne Frau«, für die häufig auch die englische Form »modern girl« benutzt wurde. Wie ihre Pendants in anderen Ländern – »flapper« (USA), »garçonne« (Frankreich), »modan garu« (Japan) und »modeng xiaojie« (China) – trug die moderne Frau Lippenstift, Nagellack sowie Make-up und benutzte Deodorant und feine Seifen. Sie rauchte Zigaretten, ging auf Stöckelschuhen und bevorzugte Glockenhüte, war chic, kosmopolitisch, sexuell abenteuerlustig und ließ sich nichts vormachen.[156] Eine solche Weiblichkeit kam bei konservativen Deutschen nicht gut an. Viele deutsche Männer waren besorgt über die »Verweiblichung« der deutschen Gesellschaft und die damit einhergehende Erosion »männlicher« Tugenden. Die Kritik an der »Amerikanisierung« geschah häufig stellvertretend für diejenige an der »Verweiblichung« in diesem negativen Sinn.

Mit der »Weimarer Kultur« wird für gewöhnlich die Infragestellung der Geschlechterrollen verbunden. Wenn die Schauspielerinnen Carola Neher und Marlene Dietrich ihre Handschuhe zuschnürten und wie die Schriftstellerin Vicki Baum in Sabri Mahirs »Studio für Boxen und Leibeszucht« am Kurfürstendamm trainierten, wiesen sie das Bild weicher Weiblichkeit zurück und demonstrierten selbstbewusst ihre eigene Muskelkraft.[157] In Dietrichs Fall unterschied sich ihr androgynes Erscheinungsbild stark von der Figur der bestrumpften Kabarettsirene Lola Lola, die sie 1930 in dem Spielfilm Der blaue Engel spielte, der ikonischen Verkörperung »gefährlicher« weiblicher Sexualität.[158] Dietrich selbst war bisexuell. Offenheit und die Bereitschaft, unterschiedliche sexuelle Identitäten auszuprobieren, ist ein weiteres Kennzeichen, das man mit der Weimarer Kultur verbindet, vor allem mit Berlin. In den 1920er-Jahren war »der Himmel nicht irgendwo über uns, sondern hier auf Erden, in der deutschen Hauptstadt«, erinnerte sich die Ärztin und Sexualwissenschaftlerin Charlotte Wolff, die begeistert in Berlins lesbische Szene eintauchte.[159] In der Stadt gab es zahlreiche Bars und Privatklubs für homosexuelle Frauen, die sozial vom Club Montbijou West, in den frau nur auf Einladung eines Mitglieds hineinkam, bis zu lärmenden, manchmal von Gewalt geprägten Treffpunkten wie der Taverne reichten. Zeitungen wie Die Freundin, die auf dem Titelblatt Aktfotos abdruckte, waren an Zeitungskiosken leicht erhältlich. Kein Wunder, dass in einem Leserbrief an Die Freundin aus Brooklyn der relative Mangel an Freiheit für lesbische Amerikanerinnen selbst in New York beklagt wurde: »Amerika ist eben in dieser Beziehung 50 Jahre zurück hinter Deutschland.«[160] Berlin wurde in den 1920er-Jahren zum »internationalen Zentrum weiblicher Homosexualität«.[161]

Gleiches galt für männliche Homosexualität. Allerdings war nicht jeder schwule Besucher verzaubert. Brian Howard, ein früherer Oxford-Dandy und das mögliche Vorbild für die Figur des Anthony Blanche in Evelyn Waughs Roman Wiedersehen mit Brideshead, fand Berlin »unsagbar hässlich und ganz, ganz schrecklich«, und in den Augen des amerikanischen Schriftstellers und Komponisten Paul Bowles war es »der am wenigsten amüsante Ort, den ich jemals gesehen habe«.[162] Aber dies war eine Minderheitenansicht, und selbst Howard machte Ausnahmen, was die Musik und die Stickereien im Kaiser-Friedrich-Museum, dem heutigen Bode-Museum, betraf.[163] Die wahrscheinlich bekanntesten ausländischen Enthusiasten waren die jungen Engländer W. H. Auden und Christopher Isherwood, Letzterer, weil er in seinen Berlin Stories und mit der Gestalt der Sally Bowles, halb Femme fatale, halb Camp-Figur, ein nachhaltiges Bild von Zeit und Ort hinterlassen hat. Man könnte sagen, Isherwood hat für die englischsprachige Welt das Weimarer Berlin »erfunden«, das moderne Babylon, so wie Dickens das viktorianische London »erfand«. Auden und »Herr Issywoo« führten englische Freunde wie Stephen Spender ins schwule Berlin ein. Auch andere Oxford- und Cambridge-Absolventen fanden ihren Weg dorthin, von denen einige sich dem Kreis um den Oxforder Altphilologen Maurice Bowra anschlossen, dem Anführer der »Homintern«, wie der Schriftsteller Jocelyn Brooke die Gruppe nannte.[164]

Angezogen wurden sie von rund hundert Schwulenlokalen und der im Vergleich zu England größeren Leichtigkeit, Sexualpartner zu finden. Dies traf auch auf junge amerikanische Homosexuelle zu, wie den Maler Marsden Hartley und den Architekten Philip Johnson. Wie die lesbische amerikanische Schriftstellerin Djuna Barnes erzählt, war Berlin »voll mit Kerlen aus Amerika, die sich junge Burschen billig kauften«, was zweifellos einen Teil seiner Anziehungskraft ausmachte.[165] Audens Beispiel folgend, hielt Isherwood seine sexuellen Begegnungen sorgfältig fest. Die meisten seiner Bekanntschaften, eine verwirrende Parade von Bertholds, Ottos, Heinzen, Piepsen, Frantzen und so weiter, waren Gelegenheitsstricher. Aber Berlin hatte mehr zu bieten als käufliche Jungen: Es konnte der Schlüssel zur Akzeptanz seiner wahren Identität sein. Isherwood erklärte später, für ihn sei die Stadt eine Offenbarung gewesen, weil er sich dort »Aug in Aug seinem Stamme gegenübersah«, dessen Existenz er zuvor verleugnet hatte.[166] Wenn man ihn 1929 gefragt hätte, warum er nach Berlin zurückgekehrt sei, hätte er wahrheitsgemäß geantwortet: »Heimatsuche. Ich will nachschauen, ob sie hier ist.«[167] Auden seinerseits erlebte in Berlin sein Coming-out und löste seine Verlobung mit einer jungen Engländerin. Außerdem lernte er, obwohl sein Deutsch nicht gut war, das Wort »schwul«. Dieses heute noch gebräuchliche, aus dem Berliner Dialekt stammende Wort wurde in Deutschland schon Jahrzehnte, bevor das englische Pendant »gay« aufkam, verwendet. Im Englischen war Auden, wenn er sich selbst bezeichnen wollte, gezwungen, die verfügbaren Worte zu benutzen, wie »queer« oder »pansy«, die allesamt eine herabwürdigende Konnotation hatten.[168] Aber in Deutschland konnte er »schwul« sein.

1930 hatte Berlin über zwei Millionen Besucher. Es war aufregend, und man konnte dort billig leben. Nicht nur ausübende oder angehende Schriftsteller und bildende Künstler fühlten sich durch die Explosion von kreativem Talent und Experimentierfreude in buchstäblich jeder Kunstgattung angezogen. Häufig entstand das Neue aus der Mischung und Neukombination vorhandener Kulturformen. Alfred Döblins Romanfeuerwerk Berlin Alexanderplatz von 1929 gewinnt seine außerordentliche Kraft gerade aus der Gegenüberstellung der Geschichte des Franz Biberkopf mit Schlagern, Großstadtklängen, Reklamesprüchen und Berichten über Ereignisse wie den Weltmeisterschaftsboxkampf zwischen Gene Tunney und Jack Dempsey von 1927. Die aus dem zeitgenössischen Kino und Jazz entliehenen abrupten Szenenwechsel und synkopischen Rhythmen ahmen das aktuelle Straßenleben nach, während sorgfältig eingefügte Passagen aus dem Buch Hiob und griechischen Tragödien die Handlung kommentieren.[169] Umgekehrt wurde der Roman bald in ein Hörspiel und dann in einen Film umgewandelt.[170]

Ein anderes Beispiel ist der Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, der sich für seine scharfen politischen Dialoge bei Populärkultur und Varieté bediente, amerikanische Schauplätze wählte, Drehbücher schrieb und das neue Medium Radio für eine neue Art des lehrhaften Hörspiels nutzte, das Lehrstück (das erste war 1929 Der Lindberghflug). Außerdem verwandelte er in der international erfolgreichen Dreigroschenoper, für die Kurt Weill die vom Jazz beeinflusste Musik schrieb, die etablierte Form des Musikdramas. Schon vorher hatte Ernst Krenek mit Jonny spielt auf eine Jazzoper komponiert, in deren Mittelpunkt eine verführerische afroamerikanische Figur steht, wie sie auch im Varieté und in Schlagern der Zeit, wie Friedrich Hollaenders »Jonny« von 1920, auftauchten.[171] Die Weimarer Hochkultur eignete sich populäre Kulturformen an. Der Jazz ist ein herausragendes Beispiel dafür. Deutsche Kritiker schrieben ein ums andere Mal vom »Jazz als Rettung« oder »Jazz als Ausgangspunkt«.[172] Der Dichter Yvan Goll empfahl den schwarzen Jazz als verjüngende Kraft und gelangte zu dem in Frageform gekleideten provozierenden Schluss: »Brauchen die Neger uns? Oder brauchen nicht eher wir sie?«[173]

Goll war in Lothringen geboren und, wie er selbst es ausdrückte, »durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet«.[174] Er lebte in Paris, reiste aber häufig nach Berlin, wo er eine Geliebte und Künstlerfreunde hatte, mit denen er zusammenarbeitete. Manchmal schien es, als würde jeder irgendwann nach Berlin gehen. Der im eher provinziellen Augsburg geborene Brecht zog zuerst nach München, dann nach Berlin. Dies war ziemlich typisch. Das Weimarer Berlin wurde zu dem Kulturtreffpunkt, und zwar noch mehr als vor dem Krieg, da das konservative München jetzt weniger einladend wirkte. Es zog Deutsche und Österreicher aus der Provinz an, einschließlich einiger, die, wie Joseph Roth und der Theaterschriftsteller Carl Zuckmayer, blieben, obwohl sie es kalt und sogar hassenswert fanden. Daneben kamen Polen, Tschechen, Skandinavier und Türken sowie Hunderte indischer Studenten und Intellektueller, die das Viertel um die Kantstraße in Charlottenburg herum in »Kleinasien« verwandelten.[175] Auch russische Emigranten ließen sich in Charlottenburg nieder. Zuerst kamen Konservative, die vor der Revolution geflohen waren, wie Vladimir Nabokov; ihnen folgten 1921/22 Schriftsteller und bildende Künstler, die anfangs die Revolution unterstützt hatten. In den 1920er-Jahren war Berlin das intellektuelle Zentrum der russischen Diaspora, mit über vierzig russischen Verlagen sowie einer Vielzahl russischer Cafés, Buchhandlungen, Zeitungen und Zeitschriften. Marc Chagall, Marina Zwetajewa und Boris Pasternak lebten in Berlin.[176]

Wenn man mit einem Wort zusammenfassen will, wie die Menschen in den 1920er-Jahren Berlin sahen, seine Ansichten und Töne, seine sexuelle Offenheit, kulturelle Experimentierfreude und schiere Energie, dann lautet es »Modernität«. Ausländer sprachen ständig von ihr. Die junge Amerikanerin Emily Pollard, eine Nichte des Gouverneurs von Virginia, war seit dem Moment, in dem sie auf dem Flughafen Tempelhof aus dem Flugzeug gestiegen war, tief beeindruckt von der Stadt. »Deutschland«, notierte sie in ihrem Tagebuch, »ist uns in der Anpassung an die Modernität weit voraus.« Nach Ansicht des französischen Schriftstellers Roger Martin du Gard wurde dort der »neue Mensch, der Mensch der Zukunft« geschaffen.[177] Eine der größten Leistungen des Weimarer Berlin bestand darin, dass es die Idee für sich akzeptiert hatte, die Verkörperung der Modernität zu sein.[178] Das Berlin der 1920er-Jahre gilt heute als zeitweiliger Träger des Staffelstabs der Modernität, den im 19. Jahrhundert Paris getragen hatte und der in den 1940er-Jahren an New York überging.

Ein weiterer ikonischer Ort der Modernität in der Weimarer Republik war das Bauhaus, das 1919 in Weimar gegründet wurde, 1925 nach Dessau umzog und seine kurze, aber glänzende Karriere in Berlin beendete. Seine von Marcel Breuer entworfenen Stahlrohrstühle stehen ebenso sinnbildhaft für die Weimarer Kultur wie Marlene Dietrichs bestrumpften Beine in Der blaue Engel oder »Die Moritat von Mackie Messer« aus der Dreigroschenoper. Das Bauhaus brachte Kunst und Design unter einem Dach zusammen – einem Flachdach natürlich –, indem es die schönen Künste mit Handwerk und Technologie verband und das Ornament der Funktion unterordnete oder, besser gesagt, darauf beharrte, dass die Form der Funktion zu folgen habe, was bedeutete, dass alles, von der Teekanne bis zur Typografie, auf unnötige Schnörkel verzichten konnte. Den Vorläufer des Bauhauses vor dem Krieg hatte der Belgier Henry van de Velde geleitet, und die Weimarer Gründung war sowohl hinsichtlich des Personals als auch in Bezug auf Ideen bewusst international. Zu den Bauhaus-Lehrern gehörten die Schweizer Paul Klee und Johannes Itten, der Russe Wassily Kandinsky, der Ungar László Moholy-Nagy und der Deutschamerikaner Lionel Feininger. Unter den Gastdozenten waren ein tschechischer Maler und ein holländischer Designer. Der russische Konstruktivist El Lissitzky kam zu Besuch. Russland war von Anfang an ein wichtiger Bezugspunkt. Zwischen dem Bauhaus und dem WChUTEMAS, der in den 1920er-Jahren gegründeten Moskauer künstlerisch-technischen Hochschule, bestanden viele Parallelen. Sie folgten denselben Grundsätzen, wurden vielfach von denselben Debatten erschüttert und standen in vielem miteinander im Austausch.

Der Kulturaustausch war ein Problem für die Weimarer Republik. Deutschland war durch den Krieg sowohl kulturell als auch wirtschaftlich entglobalisiert. Dies war besonders in den ersten Nachkriegsjahren zu spüren. Dem Land wurde nicht nur der Beitritt zum Völkerbund verwehrt, es war auch von kulturellen und akademischen Zusammenkünften, Sportveranstaltungen und sogar vom Rotary Club ausgeschlossen; als der Club nach Europa expandierte, bestanden die Franzosen darauf, keine Deutschen zuzulassen.[179] Bei der Gründung des International Research Council (für Naturwissenschaften) und der Union Académique Internationale (für Geisteswissenschaften) im Jahr 1919 blieben Deutschland und Österreich außen vor. Auf akademischen Konferenzen waren Deutsche nicht willkommen, und das Deutsche war auf ihnen keine offizielle Sprache mehr.[180] Französische und belgische Wissenschaftler verhielten sich besonders ablehnend. Auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung verurteilten allerdings einige bedeutende Gelehrte die summarische Ablehnung deutscher Beiträge. In den Augen des französischen Historikers Marc Bloch war der Chauvinismus seines elsässischen Kollegen Jacques Flach »vulgär und absurd«, und der belgische Historiker Henri Pirenne warnte davor, einen »modischen Kreuzzug« gegen deutsche Gelehrsamkeit zu führen. Eher mittelmäßige Historiker hielten dagegen, dass es, anstatt »von den Deutschen zu lernen«, Zeit sei »umzulernen«.[181] Auch in Großbritannien gab es eine Gegenreaktion, insbesondere gegen die Unterzeichner der Erklärung zur Verteidigung der deutschen Kultur vom Kriegsanfang. War Ernst Troeltsch vor dem Krieg ein gefragter Gastdozent gewesen, wurden jetzt Einladungen nach Oxford und Cambridge aufgrund lautstarker Proteste zurückgezogen.[182] Deutsche Gelehrte verschlimmerten ihre Lage freilich selbst, indem sie sich in Selbstmitleid ergingen, den Chauvinismus, den sie während des Krieges an den Tag gelegt hatten, nicht reflektierten und nicht darüber nachdachten, woher die Bitterkeit nach dem Krieg kam.

In der Anfangszeit der Weimarer Republik bemühten sich Kulturbeamte neuer Art, die die Bedeutung von Soft Power erkannten und die Kultur als Mittel ansahen, das deutsche Ansehen in der Welt wiederherzustellen, um die Überwindung der Isolation. Der Kunsthistoriker Johannes Sievers, der zunächst im preußischen Kultusministerium gearbeitet hatte und seit 1918 die Kulturabteilung des Auswärtigen Amts leitete, war einer von ihnen. Zu seinen Erfolgen gehörte, dass er deutschen Künstlern 1922 die Teilnahme an der Biennale von Venedig ermöglichte. Aber es gab Grenzen des Erreichbaren. Selbst in der Mitte der 1920er-Jahre lehnten Franzosen deutsches Kunsthandwerk ab. Auf einer internationalen Ausstellung dekorativer und industrieller Kunst 1925 in Paris war das Bauhaus nicht vertreten, und selbst dem Schweizer Le Corbusier wurde vorgeworfen, er neige zum »style boche«.[183] Bei der Musik lagen die Dinge einfacher. Schon Anfang der 1920er-Jahre reisten die Berliner Philharmoniker wieder zu Gastspielen nach Paris und London, obwohl es in Frankreich – wie in den Vereinigten Staaten – weiterhin Vorbehalte gegen das deutsche Repertoire gab. Einige französische Kritiker lehnten deutsche Musik in Debussys Nachfolge aus ästhetischen Gründen ab. Ihre Argumente ähnelten denjenigen französischer Historiker: Die deutsche Musik sei »schwer« und pompös, widerspreche dem gallischen Geist und könne deshalb kein Vorbild sein. Dies was das genaue Spiegelbild der deutschen Auffassung, dass die eigene Musik »tief« und die französische oberflächlich sei.

Die Weimarer Kulturdiplomatie machte ihrem Namen alle Ehre. Albert Einstein repräsentierte auf Vortragsreisen das vom Militarismus unbefleckte »andere« Deutschland. Das Auswärtige Amt pflegte hinter den Kulissen die Beziehungen zu Ländern, die im Krieg neutral gewesen waren, wie Spanien. Manche heute vertraute Instrumente der Kulturdiplomatie stammen aus der Mitte der 1920er-Jahre, wie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und die 1925 neu gegründete Alexander-von Humboldt-Stiftung, die den Austausch von Studenten und Wissenschaftlern organisierte. Aber es gab in der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts einen grundlegenden Konflikt zwischen der Förderung solcher kulturellen Kontakte und der Unterstützung der Auslandsdeutschen. Ein großer Teil ihres Budgets ging in Form von Zuschüssen für deutsche Schulen und Bibliotheken an Letztere. In Polen und der Tschechoslowakei erfolgte diese Unterstützung verdeckt.[184]

In vielen Fällen ging der Kulturaustausch auf individuelle Kontakte zurück. Ein spektakuläres Beispiel dafür, was Einzelne erreichen konnten, wenn sie zum richtigen Netzwerk gehörten, war ein künstlerischer Austausch zwischen Deutschland und Indien in den Jahren 1922/23, in dessen Rahmen das Bauhaus 175 Werke nach Kalkutta auslieh, während 113 Werke moderner bengalischer Künstler in Berlin ausgestellt wurden.[185] Die Idee ging auf eine junge, in Mähren geborene Expertin für indische Kunst zurück, Stella Kramrisch, nach deren Ansicht die deutsche und die indische künstlerische Moderne vieles gemeinsam hatten. Sie sprach die Idee einer Bauhaus-Ausstellung in Kalkutta zum ersten Mal im Gespräch mit dem bengalischen Schriftsteller Rabindranath Tagore an, den sie in England kennengelernt hatte. Um das Projekt zu verwirklichen, brauchte es aber auch einen Unterstützer auf Bauhaus-Seite. Diese Person war Johannes Itten, der an der Wiener Universität gelehrt hatte, als Kramrisch dort ihre Dissertation schrieb, und später ans Bauhaus gewechselt war. Als Anhänger des Zarathustrismus mit einer Neigung zu östlicher Spiritualität war er der perfekte Partner für Kramrischs Vorhaben. Zentrale Figur bei der Organisierung der Ausstellung indischer Kunst in Berlin war der antikolonialistische Intellektuelle und Kunsthistoriker Benoy Kumar Sarkar, der mit einer Österreicherin verheiratet war und seit 1921 in Berlin lebte. Er gewann die Unterstützung des Orientalisten Carl Heinrich Becker, der 1921 kurzzeitig amtierender preußischer Kultusminister war und anschließend den Posten des Staatssekretärs im Kultusministerium bekleidete. Als einer der geistigen Väter der deutschen Kulturdiplomatie setzte sich Becker beim Direktor der Nationalgalerie für die Idee ein. Die beiden Ausstellungen in Kalkutta und Berlin waren der Beginn eines jahrzehntelangen künstlerischen Austauschs zwischen Deutschland und Indien.

Die abgebrochenen Beziehungen zu den Westalliierten wiederherzustellen war schwieriger. Das Auswärtige Amt bemühte sich über die Internationale Kommission für geistige Zusammenarbeit des Völkerbunds darum.[186] Die Kulturbeziehungen mit Frankreich verbesserten sich, nachdem Deutschland den Vertrag von Locarno unterzeichnet hatte, das Schlüsselelement von Stresemanns Politik, durch die Anerkennung der neuen deutschen Westgrenze mit den Alliierten ins Reine zu kommen, in der Hoffnung, so ihre Unterstützung für eine eventuelle Revision der Ostgrenze zu gewinnen. Der »Geist von Locarno« brachte einen Wandel mit sich, aber nicht alle deutschen Diplomaten waren von der Bedeutung der Kulturdiplomatie überzeugt. Nichtregierungsorganisationen waren kühner. Die pazifistische Deutsche Liga für Menschenrechte veranstaltete im Juni 1922 im Reichstagsgebäude eine eintägige Konferenz, an der auch ihre französische Schwesterorganisation teilnahm. Außerdem organisierte sie Veranstaltungen, die das gegenseitige Verständnis auf beiden Seiten der deutsch-französischen Grenze fördern sollten. Franzosen hielten, allen Zwischenrufen zum Trotz, regelmäßig Vorträge in Deutschland, und umgekehrt. Die führenden Figuren der Liga waren die üblichen Verdächtigen: der ultimative Kosmopolit Harry Graf Kessler, der altgediente Pazifist Ludwig Quidde und der ewige Stachel im Fleisch von Militaristen allerorten Albert Einstein. Die Liga förderte den Schüleraustausch und unterstützte Initiativen wie die Idee des katholischen Pazifisten Marc Sangnier, in Frankreich ein »Locarno der Jugend« zu organisieren.[187] Richard Schirrmann, der Gründer des Deutschen Jugendherbergswerks, wollte durch den Internationalen Jugendherbergsverband »Friedensbrücken« bauen.[188] Alle diese Anstrengungen waren politisch der linken Mitte zuzurechnen.

Links außen trug die Kultur einen anderen internationalistischen Stempel. Deutsche Agitpropgruppen wie die Roten Raketen und das Rote Sprachrohr, die auf Straßen sowie in Fabriken und Arbeitervereinen auftraten, waren vom sowjetischen Vorbild inspiriert.[189] In den 1920er-Jahren wurde Berlin außerdem zu einem Treffpunkt antikolonialistischer Intellektueller, die es in die Hauptstadt eines Landes zog, das keine Kolonialmacht mehr war. Der junge Jawaharlal Nehru maß Berlin, wo indische Nationalisten mit ihren Pendants aus China, Indonesien und Nordafrika zusammentrafen, strategische Bedeutung bei. Die Schriften dieser Intellektuellen und ihre Vorträge in Diskussionsveranstaltungen verliehen den Kulturdebatten der kommunistischen Linken und ihrer Sympathisanten eine wahrhaft globale Dimension. Auch was die Form betraf, war die Kultur der Linken modern. Eine neue Art des Reisejournalismus berichtete in nicht herablassender Weise über nichteuropäische Welten. Arthur Koestler und Egon Erwin Kisch waren Stars dieses Genres. Ihre Kollegin, die Amerikanerin Agnes Smedley, die in den 1920er-Jahren in Berlin mit einem indischen Kommunisten zusammenlebte, war noch dabei, sich einen Namen zu machen. Ein weiteres bedeutendes Kommunikationsmedium war die Fotografie. Der unermüdliche kommunistische Organisator Willi Münzenberg gründete 1921 die Zeitschrift Sowjetrußland im Bild, die nach ihrer Umbenennung in Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) zu einem Riesenerfolg wurde. Mit wöchentlich einer halben Million verkauften Exemplaren war die AIZ 1930 die zweitgrößte deutsche Zeitschrift. Sie verlieh dem Klassenkampf im Innern und dem antikolonialen Kampf im Ausland visuellen Ausdruck. Auch im Kino fand der »rote Orientalismus« in Form kommunistischer Filmproduktionen wie Der Kampf um die Erde und Gandhi (beide 1930) seinen Niederschlag.[190]

Urban, selbstbewusst modern, experimentierfreudig, internationalistisch, links: Das sind die Attribute, die man – zu Recht – mit der »Weimarer Kultur« verbindet. Schaut man jedoch über sie hinaus auf die Weimarer Kulturen im Plural, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Das 1927 eingeweihte riesige, pompöse Denkmal für die Schlacht bei Tannenberg war ebenfalls ein Produkt der Weimarer Kultur. Es repräsentierte die immer noch florierende, von Nachkriegsressentiments gestärkte Kultur des Militarismus. Der Held von Tannenberg, der fast 80-jährige Paul von Hindenburg, hielt bei der Einweihung eine nationalistisch gestimmte Rede.[191] In deutschen Städten wurden Denkmäler zur Erinnerung an die verlorenen Kolonien errichtet, die in der deutschen Vorstellungswelt weiterhin einen bedeutenden Platz einnahmen. Verlage brachten eine Vielzahl von Memoiren, Romanen und Abenteuerbüchern über die Kolonien heraus. Hans Grimms 1926 erschienener Kolonialroman Volk ohne Raum, der das deutsche Selbstmitleid fütterte und den Slogan mit ominösem Unterton prägte, wurde ein Bestseller.[192] Universitätsstädte wie Marburg und Göttingen waren damals so konservativ, wie sie heute links sind. Professoren verteidigten aus hochmütiger Verachtung sowohl für die Massenkultur als auch für modernistische Experimente die »traditionelle deutsche Kultur«, während ihre Studenten die nationalistische Rechte bevorzugten. Der Hass auf die Linke und die Furcht vor ihr waren beiden gemeinsam.[193] Selbst die Stadt, die der Republik ihren Namen gegeben und anfangs das Bauhaus beherbergt hatte, wurde zu einer Bastion von kulturell konservativem Antirepublikanismus. Weimar vertrieb 1924 das Bauhaus, nachdem die Rechte in Thüringen eine Mehrheit gewonnen hatte. Goethe wurde für die nationalistische Sache vereinnahmt, ebenso wie Nürnberg Albrecht Dürer zur Galionsfigur machte.[194]

Die Energie und Sichtbarkeit der »Moderne« provozierte einen Rückschlag, insbesondere in Fragen der Moral und der nationalen Identität. Religiöse Moralapostel verdoppelten ihre Anstrengungen, »Schund und Schmutz« in der neuen Republik auszumerzen, und wurden 1926 mit einem Gesetz belohnt, das die Jugend vor der »Unmoral« schützen sollte. Auf dem Land, wo das Kino und das Radio noch kaum angekommen waren, blieben die kulturellen Aktivitäten weiterhin größtenteils in geistlichen Händen, und die bevorzugte Lektüre war sogenannte Heimatliteratur. Das ländliche Deutschland hegte weiterhin einen tief sitzenden, von der konservativen Presse bestärkten Abscheu vor der »dekadenten« Großstadt. In den letzten Jahren der Weimarer Republik, nachdem der Börsenkrach an der Wall Street im Oktober 1929 eine weltweite Wirtschaftskrise ausgelöst hatte, die Deutschland besonders hart traf, war die Kultur unmissverständlich politisiert. Wie hätte sie auch von einer Krise solchen Ausmaßes unberührt bleiben und wie hätte die politische Reaktion nicht teilweise auch durch sie vermittelt werden können? Zwei Spielfilme, die 1930 in die Kinos kamen, symbolisierten die Polarisierung: Das Flötenkonzert von Sans-souci, einer der ersten Tonfilme, den viele Deutsche sahen, war eine konservative Lobpreisung Friedrichs des Großen mit antifranzösischer Botschaft, während Im Westen nichts Neues, die Hollywood-Version von Erich Maria Remarques gleichnamigem Antikriegsroman, in Deutschland schon nach einer Woche verboten wurde, nachdem bereits die Premiere in Berlin von gewalttätigen Demonstrationen begleitet war, mit der SA, der sogenannten Sturmabteilung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), an der Spitze.[195]

»Wenn ich [das Wort] Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.« Dieser häufig Hermann Göring oder Joseph Goebbels zugeschriebene und falsch – »… greife ich zur Pistole« – zitierte Satz stammt in Wirklichkeit aus Schlageter, einem Theaterstück des nationalsozialistischen Schriftstellers Hanns Johst über einen Freikorps-Soldaten, der von den Franzosen hingerichtet wurde. Die höhnische Brutalität entspricht dem, was man von Nationalsozialisten erwartet, eine Verurteilung alles dessen, was mit der Weimarer Kultur verbunden wird. Es ist nicht falsch, die NSDAP als Partei der Negation zu betrachten, angefangen mit der Ablehnung der Revolution und der Republik, die aus ihr hervorging. Sie wies alles zurück, was international oder kosmopolitisch oder »undeutsch« war oder zu sein schien: den Versailler Vertrag, Stresemanns Vertrag von Locarno samt dem »Geist von Locarno«, den Dawes-Plan und den Young-Plan, die beide von amerikanischen Bankern ersonnen worden waren, die Anwesenheit von »Ostjuden«, »jüdische« Kaufhäuser, moderne bildende Kunst, Architektur, Literatur, modernes Theater, die allesamt als ausländisch und fremd galten, den Jazz, diese amerikanische »Bastardmusik«, Homosexualität und Verhütung, langhaarige Männer und kurzhaarige Frauen, Pazifismus und natürlich Sozialismus und Kommunismus, weil der Klassenkampf in ihren Augen ein undeutsches Produkt des »jüdisch-bolschewistischen« Marxismus war.

Diese Einstellung fand bei den Deutschen großen Anklang, was den Stimmenanteil der NSDAP von bloßen 2,6 Prozent bei der Reichstagswahl von 1928 auf 37,3 Prozent bei der Wahl vom Juli 1932 und die Zahl ihrer Reichstagsmandate von 12 auf 230 anwachsen ließ. Damit stellte sie die stärkste Parlamentsfraktion, war aber deutlich von einer absoluten Mehrheit entfernt. In einem Parlament mit sechs anderen großen und sieben kleineren Parteien besaß sie damit jedoch erhebliches Gewicht. Ihre Wähler kamen aus allen Schichten und Regionen, allerdings nicht in gleicher Zahl. Es ist häufig gesagt worden, die Partei habe ihren Erfolg der Propaganda zu verdanken gehabt, doch dies erklärt nicht, warum ihre Botschaft bei einigen Teilen der Bevölkerung erfolgreicher war als bei anderen. Katholiken und Arbeiter konnte sie kaum für sich gewinnen. Die Katholiken blieben überwiegend der Zentrumspartei treu, und viele Arbeiter wechselten von der SPD zu den Kommunisten, aber der gemeinsame Stimmenanteil der beiden Linksparteien blieb gleich. Große Verluste zugunsten der NSDAP erlitten die konservativen und liberalen Parteien sowie die kleinen Protestparteien mit einem einzigen Anliegen, deren Anhänger in Scharen zu den Nationalsozialisten überliefen. Anders ausgedrückt, erfolgreich war die NSDAP besonders bei nicht der Arbeiterklasse angehörenden Protestanten.

Der Nationalsozialismus sprach geschickt die Ängste und Ressentiments dieser Gruppen an. Bei Lehrern und den »kleinen Leuten«, die in die Angestelltenschicht aufgestiegen waren, bestanden sie in erster Linie in der Gefahr oder Realität der Arbeitslosigkeit und der Demütigung, die sie mit sich brachte. Unternehmer rieben sich an der Macht der Gewerkschaften und der großzügigen Weimarer Sozialgesetzgebung. Ärzte fürchteten eine Ausweitung der staatlichen Krankenversicherung und einen »überfüllten« Berufsstand. Ladenbesitzer störte die Konkurrenz »jüdischer« Kaufhäuser und sozialistischer Konsumgenossenschaften. Auf dem Land, wo die Nationalsozialisten am besten abschnitten, nutzten sie alten Hass und neue Probleme aus. Die Massenarbeitslosigkeit ließ die Nachfrage nach Getreide und Milch einbrechen und führte dazu, dass Gruppen städtischer Arbeiter aufs Land fuhren und Felder plünderten. Die Nationalsozialisten gaben der Weltwirtschaftskrise die Schuld an der Notlage der Bauern und die Schuld an der Weltwirtschaftskrise dem »jüdischen« Finanzkapital an der Wall Street. Gleichzeitig gaben sie politische Schlagworte aus, die alle diese Gruppen ansprachen. So hieben sie unablässig auf den Versailler Vertrag ein, forderten eine Rückkehr zur »traditionellen Moral« und griffen die Linke an. Außerdem verlangten sie nach »Recht und Ordnung«, was angesichts der berüchtigten Gewalttätigkeit der SA unverständlich erscheinen mag. Aber ihre Gewalt war selektiv, sie richtete sich gegen jene, die von NS-Wählern als gefährlich betrachtet wurden, insbesondere Kommunisten. Fotografien zeigen gut gekleidete Bürger, die dem Vorbeimarsch von Braunhemden gleichmütig zuschauen.

Wie konnte die NSDAP die konventionellen Rechtsparteien überholen, die viele ihrer Ziele und Strategien teilten? Die Antwort darauf führt zur Propaganda zurück. Die Nationalsozialisten erweckten mit ihren Aufmärschen und Versammlungen weit mehr als die anderen Rechtsparteien einen Eindruck von Kraft und Dynamik. Vor der Reichstagswahl von 1930 hielt die NSDAP in nur einem halben Jahr 34 000 Versammlungen ab. Auf dem Land erzielten ihre motorisierten Kolonnen aus Autos, Motorrädern und Lautsprecherwagen eine große Wirkung. Wie ein Württemberger Aktivist berichtete, machten die Menschen in Kleinstädten und Dörfern, »die noch nie einen Motorsturm gesehen hatte, […] große Augen«, wenn sie sie sahen.[196] Die Politik auf diese Weise zu dramatisieren war die NS-Version des Agitprop. Damit unterstrich die NSDAP ihre Behauptung, anders als die Konservativen nicht zum »System« zu gehören. Aber noch etwas anderes wirkte zu ihren Gunsten, es betraf sowohl die Substanz als auch den Stil. Als die Weltwirtschaftskrise die ländlichen Regionen erreichte, waren die traditionellen Konservativen rasch dabei, sich selbst zu helfen, indem sie die Osthilfe genannte Unterstützung für große Agrarbetriebe in Anspruch nahmen, während sie gleichzeitig von einer gemeinsamen Landfront redeten. Aber diese Strategie, so erfolgreich sie in der Vergangenheit gewesen war, verfing nicht mehr. Die Kleinbauern stimmten für Hitler. Die konservativen Eliten, die auf dem Land jahrzehntelang eine demagogische Politik betrieben hatten, wurden von einer populistischen Partei, die diese Kunst perfektioniert hatte, demagogisch ausgestochen.

Es kam vieles zusammen, das die Nationalsozialisten an die Macht brachte. Die Weltwirtschaftskrise polarisierte die Politik und verkleinerte den Spielraum für Manöver im Reichstag. Da Kommunisten und Nationalsozialisten ihren Stimmenanteil vergrößerten, aber eine Regierungsbeteiligung ablehnten, blieb nur eine Möglichkeit: eine Abfolge von Reichskanzlern, die ab März 1930 ohne verlässliche Reichstagsmehrheit mithilfe von Notverordnungen regierten. Dies untergrub die Legitimität der Weimarer Demokratie und verlieh der Behauptung der Nationalsozialisten, sie würde nicht funktionieren, eine gewisse Glaubwürdigkeit. Die Linksparteien trugen eine gewisse Mitschuld an Hitlers Aufstieg zur Macht. Die Kommunisten lehnten die Demokratie ab und waren während des Streiks bei der Berliner Verkehrsgesellschaft von 1932 sogar bereit, die Unterstützung einer nationalsozialistischen Organisation anzunehmen. Beides folgte aus ihrer Annahme, dass die Weltwirtschaftskrise das Todeszucken des Kapitalismus darstelle und ein kommunistisches Deutschland hervorbringen werde. Daher ihre katastrophale Politik, die Sozialdemokratie als den eigentlichen Feind zu bekämpfen. Die SPD ihrerseits nahm eine allzu abwartende Haltung ein und erkannte zu spät, welche Gefahr heraufzog. Durch die Weltwirtschaftskrise wurde die Kluft zwischen beiden Parteien, die bereits durch ihre Ideologie und die Erinnerung an die Nachkriegsrevolution voneinander getrennt waren, noch tiefer. Die SPD war die Partei älterer Arbeiter, die eher in Arbeit waren, die KPD diejenige jüngerer Arbeiter, die eher arbeitslos waren – 1932 hatten 85 Prozent der Parteimitglieder keine Arbeit. Eine kleine Tragödie der Weimarer Republik war der Anblick von arbeitslosen Kommunisten, die, als die Massenarbeitslosigkeit das Sozialversicherungssystem unterminierte, sozialdemokratische Fürsorgebeamte angriffen.

Ohne Frage trug die Rechte weit mehr direkte Verantwortung für den Sturz der Demokratie. Konservative untergruben die Republik durch ständige Kritik und verliehen den Nationalsozialisten einen ehrbaren Anschein, weil sie so viele ihrer politischen Forderungen teilten. Junker, Offiziere, die evangelische Kirche und Unternehmer: Sie alle gelangten zu der Auffassung, dass ihre Ziele sich mit denen der NSDAP überschnitten, auch wenn sie nicht mit ihnen identisch waren. Auf lokaler Ebene verhalfen prominente Bürger Hitler und seiner Partei zu Ansehen. Wenn ein Bürgermeister oder ähnlich hochgeachteter Bürger die NSDAP unterstützte, ein Tierarzt oder Auktionator hier, ein Förster oder Gutsverwalter dort, dann zogen sie andere mit sich. In Universitätsstädten konnte die Partei in die Professorenschaft und die Gesellschaften der Gebildeten eindringen. Bei all dem profitierten die Nationalsozialisten davon, dass sie sich als Außenseiter darstellten, die nicht vom »System« befleckt seien, aber auch von der Unterstützung von Insidern.

Auf nationaler Bühne verhalfen die Eliten Hitler zur Macht. Nach dem Scheitern des Marschs auf die Feldherrnhalle hatte er keinen neuen Versuch unternommen, die Macht mit Gewalt zu erobern. Gewalt blieb eine Waffe, die auf der Straße benutzt wurde, aber nicht gegen den Staat. Hitlers Chance kam 1933. Zwischen März 1930 und Januar 1933 hatten drei Reichskanzler per Notverordnung regiert. Als der letzte von ihnen, General Kurt von Schleicher, im Dezember 1932 sein Amt antrat, hatte die NSDAP einen Teil ihres Schwungs verloren. In der Reichstagswahl im vorangegangenen Monat war sie zwar stärkste Partei geblieben, hatte aber Stimmen und Mandate verloren. Doch dann bot Reichspräsident Hindenburg Hitler am 30. Januar die Kanzlerschaft an, und dieser wurde der dreizehnte und letzte Kanzler der Republik. Der frühere Generalfeldmarschall war die perfekte Verkörperung der deutschen Eliten, die Hitler in der Hoffnung, ihn zügeln und ihrem Willen unterordnen zu können, an die Macht brachten.

Nationalsozialismus

Die Nationalsozialisten behaupteten, die einzig legitime Art der Revolution durchzuführen, eine »nationale Revolution«. Deutschland trat aus dem Völkerbund aus, und die NS-Führer verdammten wiederholt den Internationalismus und betonten ein ums andere Mal die zentrale Bedeutung von »Volk« und »Volksgemeinschaft«. Ihr Regime förderte pseudogermanische Kulte, beschwor die Vorzüge der »echtdeutschen« Kultur gegenüber der »entarteten Kunst« und verurteilte »kosmopolitische« Werte. Trotzdem war es, ebenso wie es Einfluss auf das Ausland ausübte, seinerseits von ausländischen Ideen und politischen Bewegungen beeinflusst. Selbst der Begriff »Nationalsozialismus« stammte von einem Franzosen, dem Nationalisten Maurice Barrès.[197] Der Nationalsozialismus kann mit anderen Regimen der 1930er-Jahre verglichen werden, rechten wie linken, und er ist mit ihnen verglichen worden. Diesen Vergleich will ich hier untersuchen, und zwar vornehmlich mit Blick auf das Regime und seine Innenpolitik in den Vorkriegsjahren.

Womit kann man besser beginnen als mit dem selbst ernannten »Führer«? Hitler ähnelte der Hauptfigur von Joseph Conrads Roman Das Herz der Finsternis. »Ganz Europa war daran beteiligt gewesen, Kurtz zustande zu bringen«, sagt Marlow, der Erzähler des Romans.[198] Auch zur Erzeugung des deutschen Diktators hatte ganz Europa beigetragen. Hitler verglich sich selbst mit dem italienischen Faschistenführer Benito Mussolini und wurde von anderen mit ihm verglichen. Der Marsch auf die Feldherrnhalle von 1923 war Hitlers Versuch, Mussolinis Marsch auf Rom im Jahr zuvor nachzuahmen. Außerdem bewunderte er Kemal Atatürk als einen rücksichtslosen, antireligiösen Führer, der das türkische Schicksal gewendet hatte.[199] In Mein Kampf übernahm er Gedanken, Begriffe und ganze Passagen aus dem extrem antisemitischen Buch Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain, dem in England geborenen Schriftsteller, der Richard Wagners Schwiegersohn wurde.[200] Auch die Botschaft der berüchtigten antisemitischen Fälschung Die Protokolle der Weisen von Zion, die durch rechtsgerichtete russische Emigranten in Deutschland verbreitet wurde, sog Hitler auf.[201] Aber nicht nur »ganz Europa« half bei der Erzeugung Hitlers mit. Er bewunderte Chiang Kai-shek ebenso wie Atatürk als Verfechter eines starken Staats. Zu seinen Idolen zählte auch Henry Ford, von dem ein großes Porträt in seinem Arbeitszimmer hing. Einem Journalisten, der ihn danach fragte, erklärte er: »Ich betrachte Ford als meine Inspiration.« Er besaß die deutsche Ausgabe von Fords Buch Der internationale Jude, in dem es heißt, Deutschland sei, »vielleicht mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, das Land der Welt, das unter dem stärksten jüdischen Einfluss – von innen und von außen her – steht«.[202] Auch ein anderer Amerikaner stand bei Hitler hoch im Kurs, der Rassentheoretiker Madison Grant, in dessen Buch Der Untergang der großen Rasse (1916) die historischen Leistungen der inzwischen bedrohten »nordischen« Rasse gefeiert wurden. Hitler schrieb ihm, nachdem er die 1925 erschienene deutsche Ausgabe gelesen hatte, einen begeisterten Leserbrief, in dem er sein Buch als »meine Bibel« bezeichnete.[203]

Der Nationalsozialismus als Bewegung hatte, bei allen ultranationalistischen Zügen, auch viele nichtdeutsche Grundlagen und Affinitäten. Wie also passte er in die politische Landschaft der Zeit? Um darauf zu antworten, kann man zunächst zwei Linien ziehen, eine gerade zwischen dem Kommunismus am linken und dem Nationalsozialismus am rechten Ende, wo neben ihm auch die anderen europäischen Faschismusversionen zu finden waren. Die andere Linie ist ein Hufeisen, wiederum mit dem Kommunismus auf der linken und dem Nationalsozialismus auf der rechten Seite, die sich diesmal jedoch dicht nebeneinander befinden und fast berühren. Hier haben kommunistische und faschistische Regime mehr gemeinsam, als sie trennt. Die Gerade erscheint mir jedoch überzeugender zu sein, auch wenn das Hufeisen einleuchtende Aspekte besitzt. Ich werde im Folgenden beiden Linien abwechselnd folgen, weil beide erhellende Vergleiche ermöglichen und einige der nichtdeutschen Ideen und Praktiken enthüllen, die Eingang in den Nationalsozialismus und das »Dritte Reich« fanden.

Italien gab dem Faschismus seinen Namen. Es war die Heimat der ersten faschistischen Bewegung und das erste Land, in dem der Faschismus an die Macht gelangte. In Deutschland folgte man den Ereignissen in Italien aufmerksam. Für die Linke war der Aufstieg des italienischen Faschismus eine Warnung, für die Rechte eine Quelle der Hoffnung. Mit ihm sympathisierende deutsche Schriftsteller und Publizisten bemühten sich um eine Audienz beim »Duce«.[204] Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man feststellt, dass der Faschismus als eine Art Modell diente.[205] Vieles von dem, was man als den äußeren Stil des Faschismus betrachtet, wurde in Italien erfunden und dann zum Standard im gesamten europäischen Faschismus, einschließlich des Nationalsozialismus. Zu den Grundelementen des faschistischen Stils zählten das Führerprinzip, Aufmärsche und Massenversammlungen, ein eigener Gruß, eine kämpferische Rhetorik, dramatische Embleme und Uniformen. Jede Bewegung hatte ein eigenes Emblem. Der italienische Prototyp waren die »fasces«, ein um eine Axt gebundenes Rutenbündel. Die ungarische Bewegung hatte ein Pfeilkreuz, die rumänische ein eisernes Schild oder Gitter, die britische einen Blitz in einem Kreis, von Gegnern als »flash in the pan« (wörtlich: Blitz in der Pfanne, gleich Eintagsfliege oder Strohfeuer) verspottet. Die Nationalsozialisten hatten natürlich ihr Hakenkreuz. Was die Uniformen betraf, so gab es sie in jeder faschistischen Bewegung und jeder Farbe, außer Rot, denn die Roten waren der Feind. Wohin man auch schaut, überall sieht man Schwarz-, Grau-, Grün- oder Blauhemden. Die Nationalsozialisten entschieden sich für braune Uniformen, wenn auch erst 1924, drei Jahre nach der Gründung der SA.[206]

Das äußere Bild der Aufmärsche, Massenversammlungen und dramatischen Symbole verweist auf den performativen Aspekt des Faschismus, das Element des »Spektakels«, das Hitlers Bewegung mit ihren Pendants anderswo gemeinsam hatte.[207] Der deutsche Literatur- und Kulturkritiker Walter Benjamin, der später zu einem Opfer des Nationalsozialismus wurde, gehörte zu den Ersten, die darauf aufmerksam machten, dass der Faschismus auf »eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus[läuft]«.[208] Der alljährliche Parteitag in Nürnberg ist das beste Beispiel dafür. Derjenige von 1934, an dem nicht weniger als 700 000 Menschen teilnahmen, wurde von der »Bergfilm«-Darstellerin und Regisseurin Leni Riefenstahl gefilmt und im folgenden Jahr unter dem Titel Triumph des Willens in die Kinos gebracht. In den Augen des französischen faschistischen Schriftstellers Robert Brasillach waren die Nürnberger Massenversammlungen »die höchste Kunstschöpfung unserer Zeit«.[209] Diese Art theatralischer Politik war unverkennbar faschistisch. Die Aufmärsche und Gesänge waren überwiegend symbolischer Art, ein Ersatz für Entscheidungsfindung, der dem doppelten Zweck diente, die Bevölkerung zu disziplinieren und abzulenken.

Der Faschismus mochte überall gleich aussehen und klingen, war aber nicht überall gleich erfolgreich. Will man die deutsche Entwicklung verstehen, hilft ein Blick darauf, wo der Faschismus an die Macht kam und wo nicht – und aus welchen Gründen dies in einem großen Teil Europas nicht der Fall war. In Nordwesteuropa kamen die faschistischen Bewegungen nirgendwo der Macht nahe, außer sie wurden während des Krieges als Marionettenregime installiert. Die britische Union of Fascists, Léon Degrelles Rexisten in Belgien, die Croix de Feu in Frankreich und Vidkun Quislings Nasjonal Samling in Norwegen blieben allesamt Randerscheinungen. Die gefestigten parlamentarischen Systeme in diesen Ländern waren in der Lage, die Erschütterung der Weltwirtschaftskrise abzufedern, und keines von ihnen trug die zusätzliche Last eines verlorenen Krieges und eines verhassten Friedensvertrags wie den, der die Weimarer Republik unterminierte. In Ost- und Südeuropa dagegen wurden in der Zwischenkriegszeit in einem Land nach dem anderen parlamentarische Systeme gestürzt: in Polen, Litauen, Jugoslawien, Rumänien, Griechenland, Spanien und Portugal. Aber an ihre Stelle traten konservativ-autoritäre Regime alten Stils, welche die alten Eliten repräsentierten – Adel, Militär, Kirche und Monarchie, wo sie noch existierte – und in der Sprache von Hierarchie, Ordnung und Gehorsam redeten, ohne die radikale Rhetorik und die Massenmobilisierung des Faschismus. Viele von ihnen waren brutal, und manche beteiligten faschistische Parteien oder Ideen, insbesondere diejenigen von Francisco Franco in Spaniern und Antonio de Oliveira Salazar in Portugal. Es gab sogar Regime, die gegen heimische faschistische Bewegungen vorgingen, obwohl sie selbst deutlich faschistisch eingefärbt waren. Dies war in Rumänien und Österreich der Fall. In Letzterem hatten die »austrofaschistischen« Regierungen von Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg die Nomenklatur des »Führerstaats« und viele Attribute des Faschismus übernommen, aber den Forderungen einheimischer Nationalsozialisten widerstanden, bis Schuschnigg im März 1938 von deutschen Truppen gestürzt wurde.[210] Die Trennlinie zwischen faschistischen und autoritär-faschistischen Regimen lässt sich allerdings nicht klar ziehen.

Gleichwohl bleiben Italien und Deutschland die einzigen Länder, in denen Faschisten dank eigener breiter Unterstützung in der Bevölkerung an die Macht kamen, auch wenn die Unterstützung der traditionellen Eliten unverzichtbar war. Die Ähnlichkeit zwischen beiden Regimen geht über »Duce« und »Führer« hinaus. Deutschland und Italien teilten eine miteinander verknüpfte Geschichte im 19. Jahrhundert; beide waren »verspätete Nationen« mit verspätet erworbenen Kolonialreichen. Im Ersten Weltkrieg standen sie auf verschiedenen Seiten, aber viele Italiener waren von den bescheidenen Gewinnen im Zuge des Friedensprozesses enttäuscht. Wenn Deutschland ein grollender Verlierer war, dann war Italien ein grollender Sieger. Die faschistischen Bewegungen beider Länder verschmolzen radikale Feindseligkeit gegenüber dem Establishment mit Ultranationalismus und Ablehnung des marxistischen Sozialismus – Mussolini als ehemaliger Sozialist, Hitler als Mitglied einer Partei, die Deutsche Arbeiterpartei hieß, bevor er sie übernahm und umbenannte. Beide übten Druck auf ein parlamentarisches System aus, das von einer Krise erschüttert wurde. Paramilitärische italienische Schwarzhemden und deutsche Braunhemden richteten ihre Gewalt gegen die Linke. Bilder von jungen Männern, die auf Lastwagen stiegen, um im Namen der Nation in Kämpfe mit Roten zu fahren, gehörten zum Nimbus beider Bewegungen. Sowohl Mussolini als auch Hitler lösten sich von der frühen Ausrichtung auf die Arbeiterschaft und schufen sich eine festere Basis unter der Landbevölkerung, wobei anfangs für den einen die Po-Ebene und für den anderen Schleswig-Holstein eine Schlüsselregion war.[211] Und beide kamen mit verfassungsmäßigen Mitteln an die Macht, dank Eliten, die ihnen die Tür öffneten. König Viktor Emmanuel III. war für Mussolini, was Hindenburg für Hitler war: der Mann, der den Schlüssel zur Macht in Händen hielt.

Die beiden Regime verfolgten eine ähnliche Politik mit gegenseitigen Anleihen. Die Vergleichspunkte sind ebenso erhellend wie die Unterschiede, die keinen Vergleich zulassen. Nationalsozialismus und italienischer Faschismus waren gleichermaßen einfallsreich, was die Mittel betraf, mit denen sie Menschen an sich banden. Sie glaubten an das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche, wobei Letztere mit einer Brutalität angewandt wurde, die autokratische Herrscher des 19. Jahrhunderts hätte erbleichen lassen. Die offene, schamlose Feier der Gewalt gehörte zum Kern des Faschismus, und Faschisten feierten sie nicht nur, sondern übten sie auch aus. Sie bedrohten, inhaftierten, folterten und exilierten ihre Gegner. In Italien erreichte die Gewalt vor der Machtübernahme der Faschisten ihren Höhepunkt. Zwischen 1920 und 1922 wurden rund 2000 Antifaschisten ermordet, weitere tausend in den folgenden vier Jahren.[212] In Deutschland erreichte die Gewalt nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler ein neues Niveau, insbesondere nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, den die Nationalsozialisten selbst gelegt hatten.[213] Er bot ihnen den Vorwand, im folgenden Monat ein Ermächtigungsgesetz zu verabschieden, das Hitlers Regierung mit einer neuen, umfassenden Machtfülle ausstattete. Außerdem löste es eine Welle von Razzien gegen die Büros linker Gegner aus. Diejenigen, die ergriffen wurden, kamen in improvisierte »wilde Konzentrationslager« in örtlichen Parteizentralen, Gasthäusern und selbst einzelnen Wohnungen, in denen sie geschlagen oder sogar getötet wurden. Bis Ende 1933 wurden mindesten 130 000 Personen vorübergehend in »Schutzhaft« genommenen, von denen Hunderte, wenn nicht Tausende ums Leben kamen. Das erste förmliche Konzentrationslager wurde im März 1933 in Dachau bei München eröffnet – zur Warnung für Regimegegner, mit höchstmöglicher Medienbegleitung.[214]

Das NS-Regime sperrte weit mehr seiner Gegner ein als sein italienisches Pendant. Schon vor der Radikalisierung während des Krieges war es wesentlich gewalttätiger als dieses. Im Hinblick auf die Gewalt am nächsten kamen ihm in den 1930er-Jahren Francos Aufstandstruppen, die ein außerordentliches Blutbad anrichteten, den sogenannten »spanischen Holocaust«, dem während des Bürgerkriegs 200 000 Männer und Frauen diesseits der Kampflinien zum Opfer fielen, und nach dessen Ende noch einmal mindestens 20 000, die von den siegreichen Kräften hingerichtet wurden.[215] Diese Gewalt in Spanien erinnert an die lange, bis zur Französischen Revolution zurückreichende Geschichte konterrevolutionären, »weißen« Terrors, deren jüngste Episoden man nach dem Ersten Weltkrieg erlebt hatte. Der Nationalsozialismus sollte auf einzigartige Weise genozidal werden. Doch bis 1939 wies seine Gewalt, wie diejenige der Franquisten in Spanien, zumindest eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem weißen Terror auf.

Die Komintern hatte ihre eigene Ansicht über die Ursprünge der nationalsozialistischen Gewalt. Nach ihrer Meinung war das Dritte Reich »die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«.[216] Der Jargon ist erbärmlich, aber die Frage nach dem Verhältnis zwischen Faschismus und Kapitalismus bleibt grundlegend. Schon vor seinem Machtantritt versicherte Mussolini der Confindustria, dem Verband italienischer Unternehmer und Handelskammern, dass der Faschismus die Interessen seiner Mitglieder nicht beeinträchtigen werde. Zehn Jahre später vermittelte Hitler in einem ähnlichen Augenblick – und nicht in NS-Uniform, sondern in Schlips und Kragen – dem Industrie-Club Düsseldorf dieselbe Botschaft. Dieses Versprechen wurde von beiden Regimen zumeist auch eingehalten.

Die italienische Geschäftswelt hätte ein nichtfaschistisches autoritäres Regime vorgezogen. Großgrundbesitzer, nicht Industrielle, riefen als Erste die squadristi, wie die Schwarzhemden auch genannt wurden, zu Hilfe, um Gewerkschaftsaktivitäten zu unterdrücken. Als Mussolini die radikaleren Elemente seiner Partei an den Rand drängte, Streiks verbot und die Gewerkschaften durch zahme staatliche Organisationen ersetzte, ließen sich aber auch die Unternehmer gewinnen. Unternehmer oder ihre Vertreter standen an der Spitze der sogenannten korporativen Wirtschaftsordnung. Auch die meisten deutschen Unternehmer hätten eine nichtnationalsozialistische Lösung der Krise von 1929 bis 1933 vorgezogen, wenn es denn eine für sie gegeben hätte. Dennoch besaßen die Nationalsozialisten bei ihrem Machtantritt mehr Unterstützung vonseiten der Großunternehmen, insbesondere der Schwerindustrie, als die italienischen Faschisten bei ihrem. Mehr Unterstützung erhielten sie allerdings von kleineren Unternehmen, und diejenige der Großindustrie war keineswegs so groß, wie John Heartfields brillante, aber irreführende Fotomontage Der Sinn des Hitlergrußes von 1932 unterstellt, auf der eine riesige Gestalt ein Geldbündel in Hitlers erhobene Hand legt und die Legende darunter erklärt: »Kleiner Mann bittet um große Gaben.« Nach 1933 drängte die NSDAP ihren »sozialistischen« Flügel, der von Figuren wie Otto Wagener und Gottfried Feder repräsentiert wurde, an den Rand. Das Regime verbot, wie in Italien, Streiks und ersetzte die unabhängigen Gewerkschaften durch die Deutsche Arbeitsfront mit dem Parteigetreuen Robert Ley, der von der IG Farben kam, an der Spitze. Die Anwendung des Führerprinzips auf die Betriebsführung stärkte die Autorität der Bosse über die Arbeiter, während das von der Weimarer Republik geerbte System der Mitbestimmung durch Betriebsräte zuerst verwässert und dann ganz abgeschafft wurde. Die sogenannten »Sozialen Ehrengerichte«, die vorgeblich Arbeiter vor der Willkür von »Betriebsführern« schützen sollten, waren kaum mehr als paternalistische Augenwischerei.

Das Privatkapital konnte sicherlich nicht frei schalten und walten. Die staatliche Exportkontrolle behinderte mit ihren Restriktionen alle Wirtschaftszweige, insbesondere den Finanzsektor. Industrien oder Unternehmen, deren Kooperationsbereitschaft zu wünschen übrig ließ, mussten mit Vergeltung rechnen. Von den Stahlbaronen an der Ruhr konnten sich die einen, die sich anpassten, wie Friedrich Flick, über gute Geschäfte freuen, während es anderen, wie Paul Reusch, weniger gut erging.[217] Chemieunternehmen beugten sich im Allgemeinen und wurden belohnt. Privatunternehmen spielten eine wichtige Rolle bei der unablässigen Suche des Regimes nach Ersatzstoffen, die eng mit dem Ziel der Selbstversorgung in Kriegszeiten verknüpft war. IG Farben investierte erheblich in synthetischen Treibstoff, von dem der Konzern 1938 fast 900 000 Tonnen produzierte. Mit dem 1936 verkündeten Vierjahresplan, der in Hermann Görings Verantwortung fiel, begann eine neue Phase zentraler Leitung, sogar »Kommandowirtschaft«, allerdings nicht durch die Absetzung führender Industriemanager, sondern durch ihre Einbeziehung in den Staatsapparat. Am Ende profitierten weder die Aktionäre (die Dividenden wurden kontrolliert) noch die Arbeiter (denen zwar die wieder erreichte Vollbeschäftigung zugutekam, deren Reallöhne aber nur wenig stiegen) oder die Kleinunternehmer (deren Probleme zunahmen), sondern die Besitzer und Manager der Großunternehmen, die Gewinne uneingeschränkt anhäufen und reinvestieren konnten.

Das Schicksal kleiner Unternehmer, Handwerker und Ladenbesitzer, also des Mittelstands, einer von Hitlers wichtigsten Wählergruppen, hatte etwas Ergreifendes an sich. Im Zuge der wirtschaftlichen Vorbereitungen auf den Krieg warf das NS-Regime den kleinen Unternehmen vor, sie würden Arbeitskräfte »horten«, und maßregelte sie brutal. In Berlin sank die Zahl unabhängiger Unternehmen in den Friedensjahren des Dritten Reichs um ein Viertel. Kleinunternehmen waren von den Nationalsozialisten, wie zuvor von den Konservativen, stets als das »gesunde Rückgrat des Vaterlandes« hofiert worden. Doch jetzt wurde der »kleine Mann« sowohl aus traditionellen als auch aus modernen Sektoren verdrängt.[218] Nach einem beißenden zeitgenössischen Witz ereiferte sich Hitler gegenüber Göring über einen Kriminellen, für den die bloße Hinrichtung nicht ausreiche, denn er verdiene einen quälend langsamen, schmerzvollen Tod. »Wie wäre es, wenn man ihn einen kleinen Laden aufmachen ließe?«, schlug Göring vor.[219] Kleinbauern – ebenfalls treue Wähler der Nationalsozialisten – erging es nicht besser. Agrarproduzenten profitierten von stabileren Preisen, und diejenigen mit großen Betrieben, wie die adligen Junker, konnten sie in einen Fideikommiss umwandeln. Aber die bäuerlichen Einkommen hielten nicht mit dem Wirtschaftswachstum Schritt, die Schulden wuchsen, und die von den Nationalsozialisten in ihren Wahlkämpfen so sehr beklagte »Landflucht« erreichte nach 1933 neue Höhen.

Diese Beschleunigung der Urbanisierung verweist auf den modernen, technokratischen Aspekt des NS-Regimes – ebenfalls eine Parallele zu Italien. Das offensichtliche Symbol der Technokratie im Dritten Reich war die Motorisierung. Wenn man allgemein etwas über das NS-Regime »weiß«, dann, dass unter ihm die ersten Autobahnen gebaut wurden. Sie hatten keine vorrangig militärische Bestimmung, wie man früher glaubte, sondern dienten verschiedenen Zwecken.[220] Wie durch andere öffentliche Arbeiten auch sollten durch ihren Bau die Arbeitslosigkeit verringert und die wirtschaftliche Erholung beschleunigt werden. Hitler selbst war automobilbegeistert, und der Autobahnbau war ein klassisches Propagandaprojekt, das die Dynamik des neuen Regimes demonstrieren sollte.

Aber war die Autobahn tatsächlich etwas Neues oder spezifisch Nationalsozialistisches? Die erste Autobahn war eine italienische Autostrada, und die Pläne für ein Autobahnnetz quer durch Europa wurden bereits in den 1920er-Jahren von Ingenieuren und staatlichen Planern breit diskutiert.[221] Mit dem von der NS-Propaganda verbreiteten Gedanken, die Autobahnen würden großartige »Ausblicke« in die Natur ermöglichen, wurde in den 1920er- und 1930er-Jahren auch für den Bau der amerikanischen Parkways geworben. Was das deutsche Projekt unterschied, war seine ideologische Verbrämung. Die Nationalsozialisten griffen bei europäischen Technokraten seit Langem in Umlauf befindliche Ideen auf und kleideten sie in nationalistische Gewänder: Deutsche Autofahrer würden durch deutsche Landschaften fahren. An den Autobahnen wurden unter Aufsicht des obersten »Landschaftsanwalts« Alwin Seifert »einheimische Arten« angepflanzt. Dass der über eine »Versteppung« Deutschlands besorgte Naturschützer Seifert ästhetisches Beiwerk zu die Natur durchschneidenden Betonbändern entwarf, war typisch für die nationalsozialistische Betonung der äußeren Erscheinung.[222]

Es ist unmöglich, über die Motorisierung zu sprechen, ohne den Volkswagen zu erwähnen. Der Autobesitz in Deutschland hinkte demjenigen in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und Frankreich hinterher, und Hitler war von der Idee eines Autos für das Volk begeistert. Auch hierbei gab es einen italienischen Vorläufer. Giovanni Agnelli, Mitgründer und 1920 bis 1940 Präsident des Fiat-Konzerns, hatte in Amerika Fords Neuerungen gesehen und machte sich daran, seine eigene gigantische Fabrik in Turin zu errichten, die 1923 im Stadtteil Lingotto eröffnet wurde. Mussolini verlangte von Agnelli, ein Auto zu bauen, das weniger als 5000 Lire kostete, aber der daraufhin gebaute Fiat 500A war erheblich teurer. In Deutschland waren weder die deutschen Hersteller noch die amerikanischen Firmen, die einen großen Teil des deutschen Markts beherrschten, daran interessiert, ein preiswertes Auto zu bauen. Deshalb bat Hitler den Ingenieur und Automobilmanager Ferdinand Porsche, der eine eigene Autofirma gegründet hatte, sich in Michigan zu informieren und dann ein deutsches Pendant zu Fords Model T zu bauen. Das neue Volkswagenwerk (VW) im ebenso neuen Wolfsburg sollte eine voll integrierte, moderne Produktionsstätte wie die Ford-Fabrik in River Rouge in Michigan werden. Es wurde vom Chefingenieur von River Rouge entworfen, der in den 1920er-Jahren aus Deutschland ausgewandert war und 1937 zurückkehrte, um für VW zu arbeiten. Doch es erwies sich als unmöglich, wie geplant frühere Ford-Maschinen zu erwerben. Bis zum Kriegsbeginn, als die Produktion auf Kübelwagen für die Armee umgestellt wurde, stellte die Fabrik nie mehr als Prototypen her. Aber immerhin 340 000 Deutsche, überwiegend Mittelschichtangehörige, zahlten – in Umkehr des von Ford und anderen amerikanischen Unternehmen eingeführten Kreditsystems – regelmäßig Raten für ein Auto ein, das sie nach der letzten Einzahlung zu erhalten hofften. Mit ihren Einzahlungen wurde das Werk in Wolfsburg errichtet, während sie selbst ihre materiellen Wünsche in die Zukunft projizierten.[223]

Gestärkt wurde das Volkwagen-Programm durch die Massenorganisation Kraft durch Freude (KdF), die Freizeitorganisation der Deutschen Arbeitsfront. Auch dafür gab es ein italienisches Pendant: Dopolavoro (Nach der Arbeit).[224] Beide Organisationen boten Freizeitaktivitäten an, die Angebote der Kirche und anderer Institutionen ersetzten (in Deutschland) oder ergänzten (in Italien). In Deutschland reichten die Aktivitäten von Fußballvereinen über Schwimmkurse bis zu billigen Zugfahrten zu Konzerten in den Städten. Die Nationalsozialisten brüsteten sich mit den preiswerten KdF-Reiseangeboten, womit für die meisten Tagesausflüge in den Schwarzwald oder Harz gemeint waren, für ausgewählte wenige aber auch Reisen nach Madeira oder in norwegische Fjorde. Ob es nun die Aussicht auf eine Kreuzfahrt oder die unmittelbare Gelegenheit war, etwas zu tun, was bisher der gebildeten Elite vorbehalten war, wie den Berliner Philharmonikern unter Wilhelm Furtwängler zu lauschen, die NS-Propaganda stellte es als Zeichen ihrer Absicht dar, alte Hierarchien und Klassenschranken niederzureißen. Wenn es so etwas wie eine nationalsozialistische »soziale Revolution« gab, dann in dieser Hinsicht – im Reich von Einstellungen und Verhaltensweisen. KdF behauptete, wie andere NS-Organisationen auch, eine Volksgemeinschaft aufzubauen. Dass dies enge Grenzen hatte, braucht kaum betont zu werden. Die offensichtlichste war diejenige, die Menschen aufgrund ihrer »Rasse«, ihres »asozialen« Verhaltens oder ihrer politischen Ansichten ausschloss. Außerdem stimmte es trotz aller Propagandabehauptungen einfach nicht, dass KdF Klassen- und andere Schranken überwand. So gab es etwa Spannungen zwischen städtischen Touristen aus dem protestantischen Norden und katholischen Landbewohnern oder zwischen KdF-Touristen und auf sie herabblickenden deutschen Privatreisenden.[225]

Kraft durch Freude zielte wie Dopolavoro mit ihren Angeboten darauf ab, die Bevölkerung, insbesondere die Arbeiterklasse, zu entpolitisieren, auch wenn vollkommene Konformität nicht zu erreichen war. Damit hatte die Organisation durchaus einen gewissen Erfolg. Wenn Arbeiter, die bisher sozialistischen Sportvereinen angehört hatten, vorsichtig entsprechende KdF-Treffpunkte aufsuchten, weil sie sonst nirgendwohin gehen konnten, stellten sie häufig erleichtert fest, dass man »kaum ein ›Heil Hitler‹« hörte und es – jedenfalls an der Oberfläche – »nichts Nationalsozialistisches« gab.[226] Gleichwohl mussten sie ihre politische Überzeugung spätestens an der Tür in sich verschließen. Auch der Massenkonsum faschistischer Art trug zur Entpolitisierung bei: Die Welt des professionellen Sports, Hochglanzzeitschriften und Spielfilme festigten sowohl das deutsche als auch das italienische Regime. Italienische Filmregisseure ahmten den Hollywood-Stil nach, auch wenn das als Telefoni Bianchi bekannte Genre von Filmkomödien genuin italienisch war. Auch die meisten nach 1933 gedrehten deutschen Spielfilme sollten unterhalten, ob es sich nun um Dramen, Abenteuerfilme, Komödien oder Musikfilme handelte. Viele spielten in exotischer Umgebung, manche wurden sogar dort gedreht. Zwischen 1933 und 1939 wurden rund 65 deutsche Spielfilme, die im Ausland spielten, auch dort gedreht – in Großbritannien, Frankreich, Italien, Ungarn und sogar den Vereinigten Staaten. Das deutsche Kino hatte zudem einen größeren Anteil ausländischer Stars als Hollywood; die Schwedin Zarah Leander dürfte der berühmteste von ihnen gewesen sein. Natürlich waren manche Spielfilme der NS-Zeit – schätzungsweise einer von sieben – offensichtliche Propagandastreifen, einschließlich solch abstoßender Produktionen wie des antisemitischen Machwerks Jud Süß von 1934. Bei anderen war die Botschaft – etwa über Autorität – weniger offensichtlich, aber dennoch vorhanden. Aber das herausragende Merkmal des NS-Kinos war seine Rolle als eskapistische »Traumfabrik«.[227]

Die vom Kino vorgeführten Träume ähnelten denjenigen vom Volkswagen und vom Reisen oder vom Umzug in ein neues Zuhause. 1937 bestaunten eine Million Deutsche den modernen Komfort der auf der Ausstellung »Schaffendes Volk« aufgebauten Modellhäuser.[228] Insgesamt verzeichnete die moderne Werbung in NS-Deutschland eine Blüte, obwohl ihr, wie anderen Branchen auch, die Juden fehlten, die einst in ihr gearbeitet hatten. Reklame im amerikanischen Stil, der sich weniger auf das Design stützte und mehr Text verwendete, erlebte einen Aufschwung wie nie zuvor, einschließlich der Weimarer Republik.[229] War all dies »Amerikanisierung« oder Massenkonsum nationalsozialistischer Art? Es kombinierte Elemente von beidem. Die Nationalsozialisten schrieben den Text auf Reklamen gern in Frakturschrift, aber dies war keine verbindliche Vorschrift; außerdem zogen sie deutsche Wörter Fremdwörtern vor, aber auch die Wortwahl wurde den Firmen überlassen. Heinrich Hunke, der unter anderem Präsident des Werberats der Deutschen Wirtschaft war, wies auch das Verlangen von Gesundheitsstellen von Staat und Partei zurück, die Reklame für solch beliebte Konsumgüter wie Zigaretten und Alkohol zu verbieten. Wandte die Reklame sich jedoch an die »deutsche Frau«, war die zugrunde liegende Botschaft, wer damit gemeint war, und wer nicht, nicht zu verkennen.[230] Bilder von materiellem Überfluss – und das Versprechen von mehr – wurden auch unablässig verwendet, um die Beliebtheit des Regimes zu fördern. Selbst zutiefst amerikanische Produkte, wie die Screwball-Komödie und Busby-Berkeley-Musikfilme, wurden als durch und durch deutsch präsentiert. Coca-Cola ist das beste Beispiel dafür. Der Verkauf von Coca-Cola nahm im Dritten Reich stark zu, aber ihre amerikanische Herkunft wurde so gut verschleiert, dass deutsche Kriegsgefangene in den Vereinigten Staaten überrascht feststellten, dass Coke kein deutsches Produkt war.[231]

Das Versprechen materieller Freuden, selbst wenn es in die Sprache der angeblich klassenlosen »Volksgemeinschaft« verpackt war, vertrug sich schlecht mit den voreingenommenen Werten der deutschen Provinz, welche die Nationalsozialisten während ihres Aufstiegs an die Macht angesprochen hatten. Außerdem stieß es jene Elemente in der NS-Partei vor den Kopf, die den »Materialismus« verabscheuten und eine »gesündere« Gesellschaft schaffen wollten. Der Nationalsozialismus war wie andere Spielarten des Faschismus ein potenziell instabiles Amalgam von Werten und Impulsen. Die Nationalsozialisten versprachen den Deutschen die Früchte der Modernität, aber setzten auch Kampagnen in Gang, die vorurteilsvolle Moralisten zufriedenstellten. Ein bevorzugtes Ziel war die kulturelle Dekadenz. Ein berüchtigtes Beispiel dafür war die Ausstellung »Entartete Kunst«. Die von Juli bis November 1937 in München gezeigte Auswahl modernistischer Kunstwerke war eine Warnung vor allem, was als »undeutsch« galt, und auf einem Handzettel sowie im Ausstellungsführer wurde den erwachsenen Besuchern – Minderjährige waren nicht zugelassen – mitgeteilt, warum sie das, was sie sahen, verachten und hassen sollten. Über zwei Millionen Menschen besuchten bei kostenlosem Eintritt die Ausstellung, die anschließend auf Tour ging.[232] Die Verfolgung von Homosexuellen und die ständige Betonung des gesunden deutschen »Volkskörpers« standen für denselben Moralismus. Auch für diese gegen die Dekadenz gerichteten Kampagnen gab es italienische Pendants. Am verblüffendsten ist vielleicht die Kampagne des futuristischen und faschistischen Intellektuellen Filippo Tommaso Marinetti gegen die Spaghetti, die angeblich »keine Nahrung für Kämpfer« waren.[233]

Marinetti war eine betont maskuline Figur. Er verachtete Frauen und verfolgte bei Männern alles, was nach »Verweiblichung« aussah.[234] Die italienischen Faschisten betonten wie die deutschen Nationalsozialisten vehement die unterschiedlichen Geschlechterrollen. Frauen aus der Lohnarbeit zurück in Haus und Familie zu drängen war ein Mittel, mit dem das Problem der Arbeitslosigkeit bekämpft werden konnte, aber auch eine ideologisch begründete Politik. Männer hatten viril zu sein, Frauen mütterlich. Beide Regime waren pronatalistisch und versuchten Paare mit verschiedenen materiellen Anreizen zu ermuntern, Kinder zu bekommen. Mussolini bezeichnete dies typisch bombastisch als »Schlacht um die Geburtenrate«. Ab 1933 wurden kinderreiche Paare – mit zwölf oder mehr lebenden Kindern – jedes Jahr zu einer Feier in den Palazzo Venezia in Rom eingeladen. In Deutschland erhielten Mütter mit einer großen Zahl von Kindern für fünf, sechs beziehungsweise sieben Kinder ein Bronze-, Silber- oder Goldabzeichen, wie es in Frankreich schon seit Anfang der 1920er-Jahre vergeben wurde; allerdings lag dort die Messlatte höher, bei fünf, acht beziehungsweise zehn Kindern.[235] Deutschland trieb diese Politik jedoch weiter als alle anderen Länder. Selbst bei der Pflegeelternschaft wurde jetzt die zentrale Rolle der Mutter betont, anstatt beiden Elternteilen gleiches Gewicht beizumessen.[236]

Von klerikal-konservativer Seite wurde diese Politik begrüßt. Aber faschistische und geistliche Ansichten passten nicht immer so gut zusammen. Die Familie war häufig der Ort, an dem Spannungen zutage traten. Die italienischen Faschisten stellten die Familie als etwas Heiliges dar, betonten aber auch, was Männer, Frauen und Kinder dem »Duce« und der Nation zu verdanken hätten.[237] In Deutschland waren die Zusammenstöße zwischen dem Regime und religiösen Konservativen ernster. In Italien hatte das faschistische Regime immerhin die Kruzifixe in die Klassenzimmer zurückgebracht, während man sie in Deutschland aus ihnen zu entfernen versuchte, was eine der längsten Widerstandsaktionen gegen das NS-Regime auslöste, in deren Verlauf Familienväter mit Unterstützung katholischer Priester ihre Ablehnung demonstrierten.[238] Auch in anderer Hinsicht gerieten die Nationalsozialisten mit konservativen Familienwerten aneinander. Das Hauptziel des Regimes war die »Volksreinheit«, was bedeutete, dass es einerseits zwar »unwerte« uneheliche Mütter verurteilte, andererseits aber »rassisch wertvolle« deutsche Frauen ermunterte, außereheliche Kinder zur Welt zu bringen. Das bekannteste Beispiel dafür sind die Heime für unverheiratete Mütter des Vereins Lebensborn, den die SS – die Schutzstaffel der NSDAP, die sich zu einem Staat im Staate entwickelte – 1935 gegründet hatte.[239] Die andere Seite der Medaille war die janusköpfige Abtreibungspolitik des NS-Regimes. Die linksgerichteten Sexualreformer der Weimarer Republik wurden verfolgt und ins Exil getrieben, und die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs aus medizinischen Gründen wurde abgeschafft. SS-Chef Heinrich Himmler richtete 1936 eine »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung« ein. Andererseits wurde in Fällen, in denen die Schwangerschaft eine Folge von »Rassenmischung« war oder die Mutter als »erbgeschädigt« galt, zur Abtreibung ermuntert.[240]

All dies verweist auf die zentrale Bedeutung von Eugenik und »Rassenhygiene« in der NS-Politik. Wenn italienische Faschisten über la razza redeten, hatte das Wort weniger eine biologische denn eine kulturelle Bedeutung, und es war nicht der Antrieb ihrer Politik. Das Dritte Reich dagegen war ein Rassenstaat. Die »Rasse« wurden zum bestimmenden Faktor der Staatsbürgerschaft, der Arbeitsmöglichkeiten, des Zugangs zu Fürsorgeleistungen, der Wahl des Ehepartners und des Rechts auf Fortpflanzung. Letztlich bestimmte sie über Leben oder Tod. Innenminister Wilhelm Frick drückte es 1933 so aus: »Wir müssen wieder den Mut haben, unseren Volkskörper nach seinem Erbwert zu gliedern […].«[241] Dies bedeutete, im »Volkskörper« die »Rassereinen«, Gesunden, Produktiven und Anständigen vom Rest, den aus NS-Sicht »Rassefremden«, Ungesunden, Unproduktiven und Asozialen, zu trennen. Die Nationalsozialisten verteilten die Mittel der Fürsorge-, Gesundheits- und Familienpolitik ungeniert zugunsten der ersten Gruppe um. Der Leiter der Wohlfahrtsabteilung der Nationalen Volkswohlfahrt (NSV) machte unmissverständlich klar, dass »eine Wohlfahrtspflege nationalsozialistischer Prägung grundsätzlich erbbiologisch und rassenhygienisch orientiert« sei. »Ihr gilt nicht der Satz von der Gleichheit der Staatsbürger. Sie weiß, dass die Erbanlage die Menschen ungleich in ihrem Wert für das Wohl des Ganzen macht.«[242] Plakate in Arztpraxen und Dia-Serien wie »Blut und Boden« verbreiteten die Botschaft. Ein Diapositiv aus der Serie weist über Bildern eines »erbkranken Mannes« und einer lächelnden Familie darauf hin, dass Ersterer den Staat 5,50 Reichsmark am Tag koste und Letztere von dieser Summe einen Tag leben könne.[243]

Dies war die hässliche Sprache der Eugenik, die in den 1930er-Jahren viele verwendeten. Vom Engländer Francis Galton, Darwins Schwager, erfunden, hatte die Eugenik im frühen 20. Jahrhundert überall Anhänger. Sie war keine verrufene Pseudowissenschaft, sondern »ehrbare« Wissenschaft, die untrennbar mit der entstehenden Disziplin der Genetik verbunden war.[244] Ihre ersten Verfechter hatte sie in Großbritannien, Skandinavien und den Vereinigten Staaten, aber sie verbreitete sich rasch in ganz Europa sowie in Lateinamerika und Japan. 1912 fand in London ein erster internationaler Eugenikkongress statt, und die Grundideen der Eugenik waren in den 1930er-Jahren überall auf der Welt in Schulbüchern zu finden. Die Schlüsselbegriffe waren »Rassenhygiene«, »Rassenverbesserung«, »gutes und schlechtes Blut«, »das Gesunde« und »das Defekte«, »Degeneration« und »Regeneration«. Sogar Fricks Behauptung, das Volk nach dem »Erbwert« zu gliedern erfordere Mut, gehörte zum üblichen Vokabular. Der Offizier Leonard Darwin, der Sohn des Wissenschaftlers, hatte auf dem ersten Eugenikkongress dasselbe gesagt.

Die von den Nationalsozialisten aufgegriffenen eugenischen Ideen waren an sich nicht ungewöhnlich, sondern wurden international weithin geteilt. Aber sie nahmen nicht überall dieselbe Form an. Häufig waren sie ein untergeordnetes Element in progressiven und feministischen Programmen, oder ihre Zwangsaspekte wurden abgelehnt. Dass diese Ideen allgemein verbreitet waren, sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre nationalsozialistische Anwendung einzigartig radikal war. Fast keine Idee oder Praxis der Nationalsozialisten war originär; was herausragte, waren vielmehr die brutale Kraft und der kompromisslose Zwang, mit denen sie umgesetzt wurden, sowie das Ausmaß, in dem dies geschah.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Sterilisation. Freiwillige Sterilisationen wurden überall auf der Welt durchgeführt. Auch unfreiwillige Sterilisationen gab es schon eine Generation vor den Nationalsozialisten, etwa in Skandinavien, Japan und den Vereinigten Staaten.[245] Das Beispiel der USA war wegen des intensiven Austauschs zwischen deutschen und amerikanischen Eugenikern besonders wichtig. Die Rockefeller-Stiftung finanzierte Forschungen über »Rassenhygiene«, die der in der Schweiz geborene Psychiater und Eugeniker Ernst Rüdin in München durchführte. In den Vereinigten Staaten wurde das erste Gesetz, das Zwangssterilisationen erlaubte, 1907 in Indiana verabschiedet; 29 weitere Bundesstaaten folgten diesem Vorbild. Als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1927 das Virginia Statute bekräftigte, machte Richter Oliver Wendell Holmes die viel zitierte Bemerkung: »Drei Generationen von Schwachsinnigen sind genug.«[246] In Aufsätzen im Journal of the American Medical Association und im New England Journal of Medicine war regelmäßig von »Ungeeigneten« und »Defekten« die Rede. Das 1933 in Deutschland erlassene »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« – zu dessen Hauptverfassern Rüdin gehörte – baute sowohl auf den Arbeiten amerikanischer Eugeniker als auch auf den Ideen einheimischer Figuren auf.

Amerikanische Eugeniker schauten jedenfalls voller Neid auf die deutsche Gesetzgebung.[247] Sie ging über die Sterilisationsgesetze anderer Länder hinaus und schloss diejenigen ein, auf die Eugeniker überall abzielten: Menschen, die unter »angeborenem Schwachsinn«, Schizophrenie, manischer Depression, Epilepsie, Chorea Huntington, Taubheit oder schweren erblichen körperlichen Missbildungen litten, sowie »Asoziale«, wie Alkoholiker.[248] Aber es umfasste auch Blinde, für deren Einbeziehung in die US-Gesetzgebung der amerikanische Eugeniker Harry Laughlin sich vergeblich eingesetzt hatte. Warum bezog das Dritte Reich Blinde ein? Wahrscheinlich, weil dies, so klein ihre Zahl war, die angebliche wissenschaftliche »Stichhaltigkeit« der Maßnahme stärkte.[249] Dies war außergewöhnlich kaltblütig, ebenso wie das Ausmaß, in dem das NS-Regime Zwangssterilisationen durchführte. Während die amerikanischen Gesetze hauptsächlich die Insassen von psychiatrischen Krankenhäusern und Gefängnissen betrafen, richtete sich das deutsche Gesetz gegen die gesamte Bevölkerung, und die Ärzte wurden gedrängt, jeden infrage Kommenden zu melden. Infolgedessen wurden in nur elf Jahren 400 000 Deutsche von Erbgesundheitsgerichten zur Zwangssterilisation verurteilt, während in den Vereinigten Staaten zwischen 1907 und den frühen 1940er-Jahren »nur« rund 30 000 Menschen zwangssterilisiert wurden.

Bei den betroffenen Deutschen handelte es sich um vermeintliche »Gemeinschaftsfremde«, die angeblich »geschädigt« oder »abartig« waren. An anderen störte das NS-Regime ihr vermeintlich »fremdes Blut«. Drei rassisch definierte Gruppen waren im Dritten Reich der Verfolgung ausgesetzt: Die erste war die kleine, aber deutlich erkennbare schwarze Bevölkerungsgruppe, schwarze Deutsche aus früheren Kolonien wie Kamerun, Togo und Deutsch-Ostafrika, aber auch Schwarze aus Liberia und Südafrika sowie den Vereinigten Staaten und der Karibik. Wer von ihnen deutsche Papiere besaß, erhielt nach 1933 einen »Fremdenpass«, und alle wurden Gegenstand von Gesetzen zur Verhütung von »Rassenmischung«. Viele verloren ihre Arbeit und wurden – wenn auch nicht überall – von öffentlichen Plätzen verbannt. Eine Untergruppe der schwarzen Bevölkerung, 385 sogenannte »Rheinlandbastarde«, wurde 1937 zur Sterilisation gezwungen, ebenso wie andere »Gemischtrassige«, die als besonders gefährlich für die »Rassereinheit« angesehen wurden.[250] In der Durchführung variierte die Behandlung willkürlich von Ort zu Ort. Die meisten Betroffenen, aber nicht alle, wurden aus der Deutschen Arbeitsfront herausgehalten und durften nicht in die Hitlerjugend oder den Bund Deutscher Mädel (BDM) eintreten. Der größte Druck wurde auf gemischte Paare ausgeübt, die man zur Trennung zwingen wollte.[251] Perfekte Beispiele für die grausame Absurdität der Kategorie der »Rasse« sind Fotos von Mandenga Ngando in der Uniform des Reichsarbeitsdiensts und Ekwe Ngando in derjenigen der Wehrmacht, beide von Kameraden umgeben, wenn man gleichzeitig erfährt, dass ihre Eltern, ein Kameruner und eine Deutsche, in Hannover zur Scheidung gezwungen wurden.[252]

Die zweite rassisch definierte Gruppe bestand aus den Sinti und Roma, damals »Zigeuner« genannt. 1939 lebten in Deutschland und Österreich zusammen rund 30 000 Sinti und Roma. Sie waren schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik marginalisiert worden, aber nach 1933 verschlechterte sich ihre Lage drastisch. Wie die Schwarzen wurden sie zum Gegenstand einer Gesetzgebung, die ihnen untersagte, »Arier« zu heiraten oder sexuelle Beziehungen zu ihnen einzugehen. Außerdem nahm man sie ins Visier, weil sie in zwei Kategorien zu passen schienen, von denen die Nationalsozialisten besessen waren: diejenige der »Mischlinge« und diejenige der »Asozialen« und »Arbeitsscheuen«. Nach Ansicht des Psychiaters Robert Ritter, des Direktors der »Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle« des Reichsgesundheitsamts und ab 1941 Leiters des Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) der SS, konnte das »Problem«, das sie angeblich darstellten, »nur als gelöst betrachtet werden […], wenn die Mehrheit der asozialen und nutzlosen Zigeunermischlinge in großen Arbeitslagern untergebracht worden ist und der Fortpflanzung dieser Mischlingsbevölkerung ein Ende bereitet ist. Nur dann werden die zukünftigen Generationen des deutschen Volkes von dieser Last befreit sein.«[253] 1934 wurde am Rand von Köln ein improvisiertes Internierungslager errichtet. Andere Städte folgten dem Beispiel. Eines der berüchtigtsten Lager wurde 1936 am Vorabend der Olympischen Spiele in Berlin-Marzahn am Ostrand der Stadt zwischen Rieselfeldern und einem Friedhof errichtet. Diphtherie und Tuberkulose waren in dem Lager epidemisch. Ritters Assistenten vermaßen und fotografierten die Insassen und nahmen ihnen Blutproben ab, um die verschiedenen »Rassetypen« zu bestimmen. Außerdem wurden mehrere Hundert Sinti und Roma Opfer von Zwangssterilisationen. Nachdem Himmler sie als »artfremde und minderwertige Rasse« eingestuft hatte, wurden 1937 und 1938 weitere Großrazzien durchgeführt.[254] »Wie die Juden hatten wir ein Zuhause dort, Geschäfte«, sagte die Sintiza Katja H. »Wir Sinti waren aufrechte Deutsche. Wir dachten, uns könne nichts passieren. Wir waren in Deutschland verwurzelt, es war unsere Heimat.«[255]

»Wie die Juden …« Was den Juden angetan wurde, ist zum Definitionsmerkmal von Hitlers Regime geworden, und es war beispiellos. Dies traf schon auf die Verfolgung der Juden in Deutschland vor 1939 zu, erst recht aber auf den während des Krieges begangenen Völkermord. Die Mischung aus Brutalität und Bürokratie, alten Vorurteilen und neuer Pseudowissenschaft machte die NS-Politik einzigartig. In den Vorkriegsjahren entwickelte sich das Vorgehen gegen die Juden, ihre Verfolgung, Ausschließung, Isolierung und Demütigung, ungleichmäßig, mit einer deutlichen Radikalisierung in den Jahren 1938/39. Aber das Muster der Kopplung von physischer Gewalt mit staatlicher Diskriminierung war von Anfang an vorhanden. SA-Männer und Parteiradikale griffen schon unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten Juden auf der Straße an und stürmten jüdische Geschäfte, bis ihre Energie aus Furcht, dass die Reichswehr und die öffentliche Meinung im Ausland negativ auf den anhaltenden Aufruhr reagieren würden, in den »Judenboykott« vom 1. April 1933 kanalisiert wurde. Abseits des Blickfelds ausländischer Beobachter gingen die Attacken auf jüdische Geschäfte jedoch weiter. Im selben Monat wurde das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, wie es harmlos betitelt war, verabschiedet. Es schloss Nichtarier – außer, für den Augenblick, Weltkriegsveteranen – von vielen Tätigkeiten im öffentlichen Dienst aus. Andere Gesetze sorgten dafür, dass Juden aus Orchestern und Theatern entlassen wurden, und beschränkten die Zahl jüdischer Schüler und Studenten. Auch die Arisierung jüdischer Geschäfte und Firmen begann schon 1933.

1935 kamen Gewalt und staatliche Diskriminierung erneut zusammen. Gauleiter wie Joseph Goebbels in Berlin und Julius Streicher in Franken griffen die Unzufriedenheit in der SA und unter jungen Parteimitgliedern über die nicht energisch genug vorangetriebene antijüdische Kampagne auf und verstärkten sie. Im Frühjahr kam es zu vermehrten Angriffen auf Juden, die eher konservative Angehörige der politischen Elite wie Innenminister Frick und Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht veranlassten, Hitler dazu zu drängen, die Dinge durch Gesetze in »geregelte« Bahnen zu lenken. Das Ergebnis waren die Nürnberger Gesetze, ein Meilenstein der nationalsozialistischen »Judenpolitik«. Das Reichsbürgergesetz nahm Juden die Bürgerrechte, indem es ihnen die Staatsbürgerschaft aberkannte und sie zu »einfachen« Staatsangehörigen herabstufte. Das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« verbot neue Eheschließungen oder sexuelle Kontakte zwischen »Ariern« und »Nichtariern«. Wie im Fall der Ehen von Deutschen und Afrikanern wurde außerdem Druck auf bestehende gemischte Ehepaare ausgeübt, sich zu trennen oder scheiden zu lassen, wobei auf unerhörte Weise in die intimste Lebenssphäre eingegriffen wurde, was bei den Betroffenen sowohl feiges als auch mutiges Verhalten hervorrief. So erwiderte ein Mann, dem gesagt wurde, dass er sich leicht von seiner jüdischen Frau scheiden lassen könne, wenn er als Grund »unüberwindliche Abneigung« angebe, dass dies wegen »unüberwindlicher Zuneigung« unmöglich sei.[256] Jüdische Kinder mussten in der Schule getrennt von ihren »arischen« Klassenkameraden sitzen und durften nicht an schulischen Aktivitäten teilnehmen. Sie mussten ostentativ in SA- oder SS-Uniformen gekleideten Lehrern zuhören, die im »Rassenkundeunterricht« über die angebliche Andersartigkeit von Juden schwadronierten.

Der schrittweise Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft geschah in allen Lebensbereichen. Juden stellten fest, dass ihre Kunden oder Klienten wegblieben. Ihnen wurden Kredite verweigert, sie wurden in Geschäften nicht bedient und in Hotels abgewiesen. Sie wurden auf der Straße beleidigt und mussten mitansehen, wie auf Bürgersteigen und an öffentlichen Orten wie Kinos und Parks immer mehr Schilder mit der Aufschrift »Juden unerwünscht« auftauchten. All dies isolierte die Juden und zwang sie, sich aus der Öffentlichkeit in ihr Zuhause zurückzuziehen. Die Schraube drehte sich auch während der scheinbar ruhigen Jahre 1936/37 weiter, als das Regime öffentliche antisemitische Bekundungen und neue Maßnahmen vermied. Ein Hauptgrund dafür war, dass es die Olympischen Spiele von 1936 als Propagandaschaufenster nutzen wollte, weshalb verhindert werden musste, dass ausländische Besucher mit »Unannehmlichkeiten« konfrontiert wurden. Die Vorbereitung auf die Spiele bot den Vereinigten Staaten auch die Gelegenheit, mit einem Boykott zu drohen, wenn zum deutschen Team keine jüdischen Sportler zugelassen wurden. In dieser Hinsicht gaben Hitler und deutsche Sportfunktionäre Versprechen ab, die sie dann brachen, wobei allerdings hinzugefügt werden muss, dass sie ihre Zusicherungen gegenüber IOC-Mitgliedern abgaben, die mit ihrer Sache sympathisierten und nach Gründen suchten, aus denen sie einen Boykott zurückweisen konnten. Zu Letzteren gehörte der einflussreiche schwedische Delegierte Sigfrid Edström, der an seinen amerikanischen Kollegen Avery Brundage schrieb, er sei zwar »ganz und gar nicht« für die Verfolgung von Juden in Deutschland, verstehe aber vollauf, dass die Lage sich verändert habe, weil »ein großer Teil der deutschen Nation nicht von den Deutschen selbst, sondern von den Juden geführt« worden sei. »Selbst in den USA«, fügte er hinzu, »könnte der Tag kommen, an dem man die Aktivitäten der Juden beenden muss.« Brundage seinerseits hielt diesen Tag bereits für gekommen. Er antwortete Edström, die »jüdisch beherrschte Presse von New York« sei »gegen die Nazis voreingenommen«, und bei einem Deutschlandbesuch im Jahr 1934 teilte er seinen Gastgebern mit, sein Herrenklub in Chicago verwehre Juden die Mitgliedschaft.[257]

Die Olympischen Spiele waren ein Propagandaerfolg. Aber auch nachdem die für die internationalen Besucher errichteten Kulissen abgebaut worden waren, änderte sich die nationalsozialistische Judenpolitik nicht sofort. Anfang 1937 feierte Hitler den vierten Jahrestag seiner Machtübernahme und brüstete sich damit, dass er Deutschland wieder groß gemacht habe, setzte aber keine neuen Maßnahmen gegen die deutschen Juden in Gang. Rund ein Drittel von ihnen war inzwischen emigriert. Diejenigen, die zurückgeblieben waren, waren isoliert und verarmten zusehends. In dieser Zeit waren in NSDAP, SA, SS und Auswärtigem Amt sowie unter »Fachleuten« der »Rassenkunde« verschiedene Ansichten zur »Judenfrage« im Gespräch. Hitler hielt sich zurück, auch wenn er sein »Endziel«, alle Juden aus Deutschland zu entfernen, wiederholt betonte. Er war über die öffentliche Meinung im Ausland besorgt, zumal Schacht ihm geraten hatte, die wirtschaftliche Erholung nicht durch radikale Schritte zu gefährden.

Der gewalttätige Umschwung von 1938 war mit einer Radikalisierung der Außenpolitik verbunden. Im November 1937 schockierte Hitler die Militärführung mit Äußerungen über einen künftigen Krieg um »Lebensraum« im Osten. Im Februar des nächsten Jahres wurden sowohl zwei führende konservative Militärs, der Kriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht Werner von Blomberg und der Oberbefehlshaber des Heeres Werner von Fritsch, als auch Wirtschaftsminister Schacht und Außenminister Konstantin von Neurath entlassen. Damit waren die vorsichtigen Stimmen zum Schweigen gebracht, und es folgte ein neuer Angriff auf die deutschen Juden. Der »Anschluss« Österreichs im März 1938 war von Gewalttätigkeiten gegen Juden begleitet, die an die Geschehnisse nach Hitlers Machtantritt fünf Jahre zuvor erinnerten. In Deutschland wurde die zwangsweise Arisierung von in jüdischem Besitz befindlichen Unternehmen verstärkt vorangetrieben und bis zum Ende des Jahres nahezu abgeschlossen. Die Rechte jüdischer Gemeinden als Rechtspersonen und Grundeigentümer wurden aufgehoben, und den verbliebenen jüdischen Ärzten und Rechtsanwälten wurden ihre Berufszulassungen entzogen und ihre Titel aberkannt. Nur einige Hundert durften als »Krankenbehandler« beziehungsweise »Konsulenten« von Juden weiterhin in ihrem Beruf tätig sein. In der sogenannten »Juni-Aktion« wurden 1500 angeblich »asoziale« jüdische Männer, von denen viele sich kleinerer Vergehen wie Verkehrsverstößen schuldig gemacht hatten, in Konzentrationslager geschickt. Alle Juden wurden verpflichtet, ihren Namen »Israel« oder »Sarah« hinzuzufügen und ein J für »Jude« in ihren Reisepass – und ab Januar 1939 auch in ihren Ausweis – stempeln zu lassen. Gleichzeitig sprach die Annexion eines Landes mit fast 200 000 jüdischen Bürgern ins deutsche »Großreich« dem erklärten Ziel des NS-Regimes Hohn, Deutschland »judenfrei« zu machen. Während Hitler seine aggressive Außenpolitik forcierte, was zur Herbstkrise um die Tschechoslowakei führte, wurden im Innern seine Ansichten über den jüdischen »inneren Feind« in die Tat umgesetzt.

Eine dieser Aktionen, das Vorhaben, alle nichtdeutschen Juden aus dem Land zu vertreiben, löste den schlimmsten Gewaltausbruch im Deutschland der Vorkriegszeit aus. Ende Oktober 1938 wurden 18 000 polnische Juden festgenommen und zur polnischen Grenze gebracht. Als Polen sich weigerte, sie aufzunehmen, wurden sie ohne Nahrung und Schutz im Grenzgebiet zurückgelassen. Unter ihnen waren auch Angehörige von Herschel Grynszpan, einem 17-Jährigen, der in Deutschland aufgewachsen war, erfolglos versucht hatte, nach Palästina auszuwandern, und seit 1936 zusammen mit einer Tante und einem Onkel illegal in Frankreich lebte. Am 7. November ging er in die deutsche Botschaft in Paris und schoss auf deren dritten Sekretär, den jungen Ernst vom Rath, der zwei Tage später an seiner Verletzung verstarb. Dies wurde zum Vorwand dafür, eine Welle von Gewalt und Zerstörung gegen die jüdische Gemeinde in Deutschland zu entfachen, die unter dem euphemistischen Begriff »Reichskristallnacht« in die Geschichte einging. Die von Hitler abgesegneten und von Goebbels, der schon immer zu den radikalen Antisemiten in der Partei gehört hatte, inszenierten Angriffe der Nacht vom 9. auf den 10. November waren keineswegs »spontan«, wie das Regime behauptete, sondern wurden von Parteiaktivisten und SA-Männern in Zivilkleidung angeführt. Sie zerstörten Hunderte von Synagogen und beschädigten Tausende andere. Jüdische Geschäfte wurden verwüstet, jüdische Wohnungen und Häuser geplündert und ihre Bewohner misshandelt. Außer an zerbrochenes Glas erinnerten sich Opfer später häufig an durch die Luft wirbelnde Federn von zerrissenen Bettdecken und Kopfkissen.[258] Man weiß von fast 100 getöteten Juden, aber die wahre Zahl liegt wahrscheinlich höher, und in sie sollten auch mehr als 600 Selbstmorde und die Todesfälle in den Konzentrationslagern, in die rund 35 000 jüdische Männer gebracht wurden, eingerechnet werden. Selbst Deutsche, die »moderate« Maßnahmen gegen Juden befürworteten, waren entsetzt über die Gewalt und die Zerstörung von Eigentum. Nach dem Pogrom wurden die deutschen Versicherungen angewiesen, Juden keine Leistungen auszuzahlen. Stattdessen kassierte der Staat die Zahlungen als »Schadensersatz«. Darüber hinaus wurde den deutschen Juden für die Ermordung vom Raths kollektiv eine »Sühneleistung« von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Bis Ende 1938 und im folgenden Jahr wurde die Schraube dann weiter angezogen und der Ausreisedruck erhöht, obwohl die absichtlich herbeigeführte Verarmung der Betroffenen ihnen die Emigration erschwerte.

War am nationalsozialistischen Antisemitismus der Jahre 1933 – 1939 irgendetwas einzigartig? Pogrome hatten das Bild Europas seit Jahrhunderten entstellt. In jüngerer Zeit waren sie in Deutschland weniger üblich gewesen als in Russland und Polen. Angriffe auf Sinti und Roma waren im ländlichen Deutschland vor 1914 verstörend häufig gewesen, aber physische Angriffe auf Juden waren zwischen der Revolution von 1848 und den 1920er-Jahren selten. Wenn vor dem Ersten Weltkrieg infolge von Ritualmordvorwürfen ein antisemitischer Gewaltausbruch drohte, wie 1891 in Xanten und 1900 in Konitz, griffen die preußischen Behörden rasch ein.[259] Die Folgen des Krieges und vor allem die Tatsache, dass die Nationalsozialisten jetzt die Macht in Händen hielten, machten die physische Gewalt von 1933 und 1938 denkbar. Antisemitismus gab es selbstverständlich in faschistischen und rechtsgerichteten Bewegungen überall in Europa, wo der Vorwurf gegen Juden, sie seien »Christusmörder«, und die Ritualmordlegende eine ältere, religiöse Tradition des Judenhasses fortsetzten. Wie Konservative im 19. Jahrhundert vor ihnen redeten auch die Faschisten von den Juden als Kirchenfeinden, wobei sie ihre vermeintlich bösartige Rolle bis zur Französischen Revolution zurückverfolgten, und es gab ein empfängliches Publikum für die Protokolle der Weisen von Zion, jene rechtsgerichtete russische Fälschung, der zufolge eine jüdische Verschwörung die Weltherrschaft anstrebte. Nach der Oktoberrevolution stieß der Mythos einer »jüdisch-bolschewistischen« Verschwörung daher auf offene Ohren. Als Michael Kardinal von Faulhaber, der Erzbischof von München und Freising, im November 1936 Hitler in Berchtesgaden besuchte, beglückwünschte er ihn zu einer zwei Monate zuvor gehaltenen Rede, in der er im Zusammenhang mit dem (jüdischen) Bolschewismus von »Untermenschen« gesprochen hatte, die »als Bestien in Spanien hausen«.[260] Francos Anhänger hätten ihm ebenfalls applaudiert.

Die Bigotterie der deutschen und spanischen Faschisten überlappte sich, aber der Judenhass war für Letztere kein grundlegender Glaubensartikel wie für Hitler und ergebene Nationalsozialisten. Ein Grund dafür ist, dass der nationalsozialistische Antisemitismus rassistisch und pseudowissenschaftlich war. Aber dies waren andere auf der Eugenik beruhende Politikansätze im protestantischen Nordeuropa auch. Was in Deutschland fehlte, waren die politischen Restriktionen, die in Großbritannien und Skandinavien den möglichen Schaden eugenischer Lehren begrenzten. Politik und Ideologie spielten gleichermaßen eine Rolle: Das NS-Regime ging gegen die Juden vor, wie es dies tat, weil es dazu in der Lage war. Aber auch die Ideologie war anders: Der Nationalsozialismus verschmolz unterschiedliche Arten des Antisemitismus zu einem Amalgam, zu dem es anderswo kein Äquivalent gab. Als zusammengesetzter Feind wurde »der Jude« aus allen Gründen verfolgt, die sich Antisemiten im Lauf der Jahre zusammengereimt hatten: als Krimineller, Sexualverbrecher und Meistermanipulator, als jemand ohne nationale Loyalität, als dekadenter kultureller Modernist und parasitärer Finanzkapitalist, aber auch als Revolutionär und dreckiger, nicht assimilierbarer »Ostjude« beziehungsweise glatter, nur allzu gut assimilierter Arzt oder Rechtsanwalt. Der nationalsozialistische Antisemitismus brachte alte und neue Hassformen in einer einzigartig toxischen Mischung zusammen.

Die nationalsozialistischen Methoden waren gleichermaßen eklektisch, zum Teil aufgrund der Spannung zwischen dem populistischen und dem bürokratischen Flügel der Bewegung. Die antijüdische Politik der Jahre 1933 – 1939 durchlief das gesamte Spektrum von offener Gewalt über Überwachung, Verbote, Boykotte, Vertreibungen und Inhaftierung bis zu diskriminierender Gesetzgebung. Manche dieser Maßnahmen hatten eine Vorgeschichte in Deutschland. Rassisch definierte Gruppen hatte man schon vor 1914 aufmerksam beobachtet und mit Vorschriften überzogen: Sinti und polnische Saisonarbeiter ebenso wie russische Juden, die Deutschland auf dem Weg in die Vereinigten Staaten durchquerten. Viele Hotels hatten de facto jüdische Gäste ausgeschlossen, während antisemitische Schriftsteller Christen aufforderten, jüdische Geschäfte zu boykottieren. Zudem wurden zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen 1871 und 1914 französische, dänische und polnische Staatsbürger aus Deutschland ausgewiesen.

Keinen Präzedenzfall aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatten die Konzentrationslager (KZ), die ursprünglich für politische Gegner des Regimes gedacht waren, in die aber, als der Krieg näher rückte, immer mehr Juden eingesperrt wurden. Sie sollten zu der Institution werden, die in ihrer genozidalen Variante das Hauptkennzeichen des NS-Regimes darstellt. Das KZ hatte eine komplizierte Entstehungsgeschichte. Die Deutschen entliehen es von den Briten, die es ihrerseits von den Spaniern übernommen hatten. General Valeriano Weyler, der »spanische Schlächter«, wurde im Spanisch-Kubanischen Krieg von 1895 bis 1898 für seine Taktik bekannt, Zivilisten in spanisch gehaltene Städte zu treiben, eine Praxis, die in den Philippinen entwickelt worden war. Diese Taktik der reconcentración wandten die Briten im Burenkrieg an, in dem Lord Kitchener Zivilisten in Lagern »konzentrierte«, um sie von den Guerillakämpfern zu trennen, und die Deutschen folgten in Südwestafrika ihrem Beispiel.[261] Dies alles geschah in Kolonien, aber bis 1914 war der Begriff des Konzentrationslagers in Großbritannien und Frankreich in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Das Internierungslager Ruhleben, in dem Deutschland während des Ersten Weltkriegs alliierte Gefangene inhaftierte, wurde als »das Berliner Konzentrationslager« bezeichnet.[262]

Ein weiterer zentraler Aspekt der Judenpolitik des Dritten Reichs war kolonialer Herkunft: die Ablehnung von Mischehen. Tatsächlich war keine einzige Maßnahme in allen deutschen Kolonien in gleicher Weise durchgeführt worden. In Deutsch-Südwestafrika wurden gemischtrassige Ehen 1905, auch rückwirkend, generell verboten. In Samoa, wo zwischen einem Viertel und einem Drittel der deutschen Beamten mit indigenen oder »Halbblut«-Frauen verheiratet waren und Gouverneur Wilhelm Solf persönlich darauf beharrte, dass die Kinder aus solchen Ehen denselben Rechtsstatus wie ihre Väter besaßen und trotz ihrer Hautfarbe Weiße seien, erging dieses Verbot erst 1912.[263] In Tsingtau, wo mehrere reiche chinesische Einwohner mit deutschen Frauen verheiratet waren, wurde ein Gesetz gegen Mischehen nicht einmal ernsthaft erwogen.[264] Kurz, die Rasse war eine unsichere Kategorie, deren Bestimmung von örtlichen Gegebenheiten abhing. Es gibt keine direkte Entwicklungslinie von Windhoek nach Nürnberg, von den ehemaligen deutschen Kolonien zur Rassenpolitik des NS-Regimes.[265] Aber die Kolonien hatten das Thema der gemischtrassigen Ehen auf die Agenda gesetzt, was eine Flut eugenischer Schriften von Figuren wie Eugen Fischer nach sich zog. Fischer gehörte zu den Rassentheoretikern, die das Denken mitprägten, das zu den NS-Rassengesetzen der 1930er-Jahre führte.

Direktere Anregungen bezogen die Verfasser der Nürnberger Gesetze jedoch von anderer Seite: aus den Vereinigten Staaten. Die Nationalsozialisten interessierten sich sehr für Amerika, verfolgten die Behandlung der afroamerikanischen Bevölkerung aufmerksam und berichteten über sie. Dies war taktisch begründet. Wann immer die Vereinigten Staaten die deutsche Judenpolitik kritisierten, wies ein NS-Politiker oder eine Zeitung auf amerikanische Lynchmorde hin – Goebbels’ Propagandaministerium führte eine umfangreiche Akte zu dem Thema.[266] Aber das Interesse der Nationalsozialisten am US-Rassenregime ging über die Entlarvung amerikanischer Heuchelei hinaus. Die Vereinigten Staaten waren in Rassenfragen eine direkte Quelle und Anregung. Die Nationalsozialisten bewunderten die Jim-Crow-Gesetze, aber vor allem die Staatsbürgerschafts- und Rassentrennungsgesetze wurden von deutschen Juristen bei der Formulierung der beiden wichtigsten Nürnberger Gesetze durchforstet, des Reichsbürgergesetzes und des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Die in Virginia und anderen US-Südstaaten gültige »Ein Tropfen«-Regel hielt man jedoch für zu radikal, um sie in Deutschland, wo die Juden gesellschaftlich viel stärker integriert waren als die Schwarzen in Amerika, anwenden zu können. Und eine Kategorie wie das »octoroon« – ein schwarzes Urgroßelternteil bei ansonsten weißen Vorfahren – hätte aus nationalsozialistischer Perspektive den Ausschluss von Menschen bedeutet, die zu sieben Achteln »arisch« waren.[267]

Die Parallelen waren für Beobachter in beiden Ländern dennoch offensichtlich. Sie gingen auch über die Nürnberger Gesetze hinaus. Als das IOC-Mitglied Charles Sherrill, ein früherer Diplomat, vor dem NSDAP-Parteitag von 1935 Deutschland besuchte, um die NS-Behörden zu drängen, wenigstens einen Juden in die deutsche Olympiamannschaft aufzunehmen, bezeichnete er dies, wie seine Gastgeber dankbar vermerkten, als symbolische Geste ähnlich der amerikanischen Tradition des »Alibinegers«.[268] Die amerikanische Heuchelei fiel nicht nur Deutschen auf. Schwarze Publikationen wie die Philadelphia Tribune, der Chicago Defender und die Zeitschrift der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), The Crisis, brachten Artikel und Karikaturen, die auf die Parallelen zwischen den Grausamkeiten des Ku-Klux-Klan und dem, was die SA den Juden in Deutschland antat, hinwiesen.[269] Doch es gab Unterschiede. Der afroamerikanische Intellektuelle W. E. B. Du Bois, der nie vergaß, dass er in den 1890er-Jahren auf dem Campus von Harvard mehr Rassenfeindschaft erlebt hatte als an der Berliner Universität, und Deutschland weiterhin bewunderte, war sich dennoch im Klaren darüber, was sich in den fünf Monaten, die er 1936 in Deutschland verbrachte, vor seinen Augen abspielte. »Die Kampagne gegen die Juden«, schrieb er im Pittsburgh Courier, »übertrifft an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Kränkung alles, was ich jemals gesehen habe, und ich habe viel gesehen.«[270]

Ebenso wichtig wie ein Blick auf die nichtdeutschen Ideen und Praktiken, welche die Nationalsozialisten beeinflussten, ist es, sich den umgekehrten Prozess anzuschauen: die Anziehungskraft des Nationalsozialismus auf andere. Vor dem Hintergrund des fanatischen Nationalismus, der allen Faschismusvarianten gemeinsam war, mag es seltsam klingen, von einem »Faschismus ohne Grenzen« zu sprechen. Aber die faschistischen Bewegungen waren durch viele Bande verknüpft.[271] Manche kamen spontan zustande. Intellektuelle und junge Leute, insbesondere solche aus dem Bürgertum, kamen im Studium, auf Reisen oder einfach durch ihre Lektüre mit faschistischen Ideen in Berührung und fanden sie attraktiv. Dann entstanden faschistische Parteien. In den 1920er-Jahren war es Mussolinis Italien, das den Glanz des Neuen ausstrahlte. Italien unterstützte Faschisten in Belgien und Österreich; es half sogar bei der Ausbildung der kroatischen Ustascha und der ukrainischen OUN. Aber nach 1933 wurde immer deutlicher Deutschland das Leuchtfeuer. In den 1920er-Jahren hatte die britische Union of Fascists in ihrem Programm den korporativen Staat nach italienischem Vorbild in den Vordergrund gestellt und sich kaum mit Rassenfragen beschäftigt. Über den italienischen Botschafter in London erhielten sie finanzielle Unterstützung aus Rom. 1936 ergänzten sie ihren Namen um die Worte »and National Socialists«; danach wurde der korporative Staat nicht mehr erwähnt, und der Antisemitismus trat in den Vordergrund. Aus Berlin kamen bescheidene finanzielle Mittel. Überall in Europa nahm der deutsche Einfluss auf die lokalen Faschisten zu. Eine Folge davon war, dass ihre Programme rassistischer wurden. Selbst in osteuropäischen Ländern, die autoritär, aber (noch) nicht faschistisch regiert wurden, brachen die Nürnberger Gesetze Tabus und beeinflussten unter anderem das rumänische Staatsbürgerschaftsgesetz von 1938 und die ungarischen Rassengesetze von 1938/39.[272] Das bemerkenswerteste Beispiel für diesen Einfluss kommt aus Italien. Mussolini hatte jüdische Unterstützer aus der Industrie und jüdische Mitstreiter. Am Marsch auf Rom im Jahr 1922 hatten 200 Juden teilgenommen. Amerikanische jüdische Verleger zählten Mussolini 1933 sogar unter die »zwölf größten christlichen Unterstützer der Juden«.[273] Doch dann erließ Italien 1938 Gesetze, welche die deutschen Rassengesetze imitierten, allerdings mehr aufgrund einer diplomatischen Anpassung als aus echtem oder starkem heimischen Ressentiment.

Hitler und Mussolini im Mai 1938, zur Zeit des zweiten Treffens zwischen den beiden Diktatoren in Rom, auf der Titelseite von La Tribuna Illustrata.

Italien und Deutschland waren bei der Schaffung einer internationalen faschistischen Front gleichzeitig Partner und Rivalen. Beide Regime förderten die Gründung ausländischer Ableger, ob nun von Italienern in London oder Deutschen in Buenos Aires.[274] Beide nahmen für sich in Anspruch, die europäische Kultur gegen liberal-internationalistische und kommunistische Angriffe zu verteidigen. Auf diesem Gebiet ging Italien mit der Gründung der Comitati d’Azione per l’Universalità di Roma (Aktionskomitees für die Universalität von Rom) im Jahr 1933 voran. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg konterte die italienische Version der faschistischen »Erneuerung« Europas mit einer stärker rassistisch geprägten Vorstellung von »Krisis und Neubau Europas«.[275] Deutschland gründete eigene Institutionen mit der Aufgabe, die europäische Kulturlandschaft neu zu gestalten: die Union nationaler Schriftsteller und den Ständigen Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten (beide 1934) und die Internationale Filmkammer (1935). Diese kulturellen Dachorganisationen verstanden sich nicht internationalistisch im Sinne der existierenden Völkerbundorganisationen, sondern inter-nationalistisch. Italien war dabei ebenso der Juniorpartner wie bei der 1936 verkündeten diplomatischen Achse Berlin – Rom. Das 1938 geschlossene deutsch-italienische Kulturabkommen war ein Gegenstück zur italienischen Übernahme der deutschen Rassengesetze. Es besiegelte den Vorrang der deutschen »völkischen« Vorstellung von Kultur bei einer künftigen Neuordnung Europas.[276] Ein weiteres Beispiel des »transnationalen Nazismus« auf diesem Gebiet war das ebenfalls 1938, zwei Jahre nach dem Abschluss des Antikominternpakts, unterzeichnete Kulturabkommen mit Japan.[277]

Der Faschismus ist ein »reisendes politisches Universum« genannt worden,[278] und heute ist klar, wie umfangreich der Austausch zwischen den faschistischen Bewegungen war. Dies wirft ein neues Licht auf das Dritte Reich. Aber was ist, wenn man den Nationalsozialismus aus der entgegengesetzten Perspektive betrachtet: als einen der beiden »bösen Zwillinge« der modernen Geschichte neben dem sowjetischen Kommunismus?[279] Waren diese beiden Regime nicht die einander berührenden Enden des Hufeisens? Der Totalitarismus hat eine interessante Geschichte. Dieser von Mussolini zur Beschreibung seines Regimes in Italien geprägte Begriff wurde in den 1930er-Jahren sowohl auf das italienische als auch auf das deutsche und das sowjetische Regime angewandt. Aber allgemeine Verbreitung fand er erst im Kalten Krieg, als er von Journalisten und der breiten Öffentlichkeit benutzt wurde, um die Ähnlichkeit von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus zu bezeichnen.[280] Weil er so offensichtlich als politische Waffe benutzt wurde, stieß der Begriff häufig auf Skepsis. Aber politische Vereinnahmung bedeutet nicht notwendigerweise, dass eine Sichtweise falsch ist; immerhin wird auch »Faschismus« häufig als politisches Etikett missbraucht. Etwas zu vergleichen bedeutet jedoch nicht, eine Ähnlichkeit zu konstatieren, von Gleichheit ganz zu schweigen. Schaut man sich den Nationalsozialismus und den Sowjetkommunismus von allen Seiten an, entsteht tatsächlich ein erhellendes Bild von Ähnlichkeiten und Unterschieden, Parallelen und Divergenzen.[281]

Zuerst dazu, wie man es nicht tun sollte. Der westdeutsche Historiker Ernst Nolte stellte in den 1980er-Jahren die Behauptung auf, der Nationalsozialismus sei eine Antwort auf den »Klassenmord« und die barbarischen »›asiatischen‹ Taten« der Bolschewiken gewesen; seine Existenz und seine späteren Verbrechen seien daher als Reaktion und sogar präventive Handlungen zu betrachten. Damit löste er einen großen »Historikerstreit« aus, in dem seine Kollegen seine Argumente fast einhellig zurückwiesen.[282] Dennoch ist es die Frage wert, was die Nationalsozialisten, wenn überhaupt etwas, von der Linken gelernt hatten. Einige faschistische Führer kamen aus der sozialistischen Bewegung, wie Mussolini, der Brite Oswald Mosley und der Franzose Marcel Déat. Ein weiterer französischer Faschist, Jacques Doriot, hatte sogar der Kommunistischen Partei angehört. In Deutschland war kein prominenter Linker zu den Nationalsozialisten übergelaufen, noch hatte ein prominenter Nationalsozialist einen linken Hintergrund. Hitler war jedoch Vorsitzender einer Partei geworden, die sowohl das Wort »sozialistisch« als auch das Wort »Arbeiter« im Namen hatte. Wie Faschisten anderswo entliehen sich auch die Nationalsozialisten von der Linken entwickelte Techniken der Massenmobilisierung, allerdings um sie völlig anders zu nutzen. Sie waren gewissermaßen moderne Nachfahren jener unorthodoxen Führungsgestalten des 19. Jahrhunderts, die sich einer populistischen Sprache bedienten, um Massenunterstützung für ein autoritäres Regime zu gewinnen. Der französische Kaiser Napoleon III. war einer von ihnen, was erklärt, warum manche heterodoxen Kommunisten der Zeit, wie Leo Trotzki, darüber nachdachten, ob der Faschismus nicht eine Form des »Bonapartismus« sei.[283]

Heute dürften die meisten Menschen darin übereinstimmen, dass der Faschismus selbst eine revolutionäre Bewegung war, auch wenn er nicht die wirtschaftliche Basis der Gesellschaft und ihre Eigentumsbeziehungen revolutionierte, sondern »nur« Politik, Kultur und Einstellungen. Dies bleibt ein fundamentaler Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion. Ein weiterer großer Unterschied der beiden Diktaturen ist ihre Lebensdauer. Die eine bestand 74 Jahre, die andere gerade einmal 12. Die eine erwies sich als entwicklungsfähig und reproduzierte sich politisch unter Lenin, Stalin, Malenkow, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Tschernenko und schließlich Gorbatschow, der unwillentlich zum Totengräber des Systems wurde; die andere hatte nur Hitler an der Spitze, der seinerseits, wenn auch auf völlig andere Weise, zum Totengräber seines Systems wurde. Ein Vergleich, soll er sinnvoll sein, sollte sich daher auf die Regime unter Hitler und Stalin beschränkten.

Das nationalsozialistische und das stalinistische Regime waren beide diktatorische Einparteiensysteme. Beide bezogen ihre Stärke aus der Überzeugung, dass die liberale Demokratie ein schwaches, altmodisches politisches System sei, dem die Kraft fehle, die aktuellen Probleme zu bewältigen. Beide glaubten, sie würden eine neue Art der Gesellschaft und sogar einen »neuen Menschen« schaffen. Beide übten eine strenge Kontrolle über die Medien aus und betrieben unablässig Propaganda. Beide brachten Konformisten und Opportunisten hervor: Sowjetbürger lernten »Bolschewistisch« zu sprechen, während ihre Pendants in Deutschland sich den Jargon der »Volksgemeinschaft« aneigneten. Alles wahr. Aber ist unter diesen Merkmalen auch nur ein einziges, das nicht ebenso auf Mussolinis Italien zutrifft? Vielversprechender ist ein vergleichender Blick auf die Rolle der Jugend in der Propaganda beider Seiten: Beide schufen Kulte um Märtyrer wie Herbert Norkus – dessen Geschichte durch den Roman Hitlerjunge Quex und den gleichnamigen Spielfilm rasch ins öffentliche Gedächtnis gehoben wurde – und Pawel Morosow, der seinen eigenen Vater anzeigte.[284] Die Propaganda beider Regime pries jugendliche Informanten – die in Wirklichkeit selten waren.[285] Dass solche Märtyrerkulte entwickelt wurden, wirft die Frage auf, ob der Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus »säkulare Religionen« mit eigenen Glaubensbekenntnissen und Ritualen waren. Vielleicht. Aber der Inhalt der Rituale war höchst unterschiedlich. Nationalsozialistische Märtyrer waren immer »Blutzeugen«, die Fahne immer eine »Blutfahne«. Dafür gab es in sowjetischen Ritualen keine Entsprechung. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass der Begriff »säkulare Religion« zwar im Fall der Sowjetunion, die eine rücksichtslose Säkularisierung vorantrieb, einen gewissen Sinn besitzt, aber für NS-Deutschland nicht zutrifft, wo ein großer Teil der Mythenbildung und der Feier von Märtyrern mit dem Segen von Geistlichen stattfand. Immerhin priesen protestantische Geistliche Hitler als »Retter« und »politischen Luther«, und ein evangelischer Pfarrer namens Gerhard Meyer bezeichnete ermordete SA-Männer als moderne Märtyrer, die auf den Spuren Jesu wandelten.[286]

Sicher kann man Vergleichspunkte zwischen Hitler und Stalin finden. Es gab offensichtliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden, dem »Führer« und dem »Woschd« (Oberhaupt, Führer). Um beide wurde ein Kult charismatischer Führung geschaffen. Sie wurden als heroische Figuren und dennoch aus dem Volk kommende gewöhnliche Männer dargestellt. Beide veranlassten ihre Untergebenen, ihre Wünsche zu erraten, um sie vorwegnehmend zu erfüllen, was ein hoher deutscher Beamter »dem Führer entgegenarbeiten« genannt hat.[287] Beide waren theatralisch, launenhaft und neigten zu Wutausbrüchen, die ihre Umgebung in Angst und Schrecken versetzten. Beide ignorierten unwillkommene Wahrheiten und versuchten, die Verantwortung für die Folgen unpopulärer Maßnahmen von sich abzuwälzen. Und beide waren mörderische Diktatoren. Aber es gab auch gravierende Unterschiede zwischen ihrem persönlichen Stil und ihrer Art der Herrschaftsausübung. Stalin war ein Mann von Komitees, ein Geschöpf des Apparats, der durch das Parteisekretariat aufgestiegen war, während Hitler die Bürokratie hasste und als Hemmschuh ansah. Während Stalin bis spät in die Nacht wach blieb, um politische Papiere zu lesen und Todesurteile zu unterschreiben, blieb Hitler bis spät nachts wach, um endlose Monologe zu halten, welche die Anwesenden, die krampfhaft ihre Augen offen hielten, in den Wahnsinn trieben. »[E]r kann Führer sein, so viel er will, schließlich wiederholt er doch immer die gleichen Dinge und ödet seine Zuhörer an«, beklagte sich Goebbels’ Frau, Magda.[288] Kurz, Hitlers Herrschaftsform war eher wirklich charismatischer Art, während Stalin eher auf bürokratische Weise herrschte. Stalin griff aktiver in den Entscheidungsprozess ein, während Hitler sich eher heraushielt. Stalin erzeugte bei seinem Hofstaat mehr Unsicherheit, während Hitler quasifeudale Treuebeziehungen pflegte.

Selbst in ihrer Brutalität unterschieden sich die beiden brutalen Diktatoren. Dies galt auch für die Regime, an deren Spitze sie standen. Beide waren Terrorregime, die – wenn auch nicht nur – auf Zwang beruhten, das heißt auf einem System von Überwachung, Repression und außerjuristischer Bestrafung mit einem umfangreichen Lagerkomplex, in den Gegner gesperrt wurden. Die Ähnlichkeiten reichten bis zur Aussonderung und Verfolgung sogenannter Asozialer sowie ethnischer Minderheiten.[289]

Doch es gab auch große Unterschiede, selbst in der Art, wie Terror und Gewalt angewandt wurden – hier ist die Rede von den Jahren vor 1939. Zwei Hauptunterschiede ragen heraus: Der erste ist das Ausmaß der direkten polizeilichen Überwachung. Die Geheimpolizei der Sowjetunion, das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD), beschäftigte im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße 20-mal mehr Menschen als die Geheime Staatspolizei (Gestapo) des Dritten Reichs. Die Effektivität der Gestapo beruhte auf den zahlreichen Denunziationen aus der Bevölkerung. Die deutsche »Volksgemeinschaft« kontrollierte sich sehr viel stärker selbst, als es die sowjetische Gesellschaft der 1930er-Jahre tat.[290] Der zweite große Unterschied ist, dass es bedeutend weniger gefährlich war, in Hitlers Deutschland zu leben als in Stalins Sowjetunion – wenn man »Arier« war, sich politisch bedeckt hielt und nicht auffiel. Dies traf insbesondere für die Mitglieder der Staatsparteien der beiden Regime zu. Die Russische Revolution fraß, wie die Französische vor ihr, ihre Kinder. Bolschewiken wurden der Abweichung, Häresie und Verschwörung mit dem Feind bezichtigt. Zu den Opfern gehörten Parteiführer wie Lew Kamenew, Grigori Sinowjew und Nikolai Bucharin. In NS-Deutschland geschah nichts Vergleichbares. Es gab keine ideologische Orthodoxie, und Parteimitglieder ergingen sich nicht in Selbstkritik. Im Dritten Reich fand nur eine einzige Säuberung statt, die sogenannte »Nacht der langen Messer«, in der am frühen Morgen des 30. Juni 1934 SS und Polizei zu einer Tagung versammelte prominente SA-Männer, einschließlich SA-Führer Ernst Röhm, festnahmen. Mit Röhm wurden unmittelbar darauf oder später etwa 200 SA-Mitglieder in einer Reihe außergerichtlicher Hinrichtungen erschossen. Zu den Opfern, die im Zuge dieser Säuberung ebenfalls den Tod fanden, gehörten der ehemalige führende Nationalsozialist Gregor Strasser, der sich 1932 mit Hitler überworfen hatte, und die beiden früheren konservativen Gegner Gustav von Kahr und Kurt von Schleicher. Hitler beglich alte Rechnungen, indem er ausführte, was die Reichswehr wollte, und die paramilitärische SA zurechtstutzte. Es war eine gewalttätige und zynische Episode, aber sie blieb ein einmaliger brutaler Ausreißer. Führende Nationalsozialisten wie Hans Frank erlaubten sich dem »Führer« gegenüber ein erstaunliches Maß an Widerspruch. Figuren der mittleren Ebene, wie Alwin Seifert, äußerten häufig recht deutlich Kritik an der offiziellen Politik, ohne sich eine Bestrafung einzuhandeln.

Es muss kaum betont werden, dass denjenigen, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder politischen Überzeugungen außerhalb der »Volksgemeinschaft« standen, keine derartige Nachsicht gewährt wurde. Sie wurden allein aus dem Grund verfolgt, dass sie waren, wer sie waren. Deutsche, die Widerstand zu leisten versuchten, indem sie Untergrundzellen bildeten, im Ausland gedruckte oppositionelle Zeitungen verteilten oder ihre Meinung auf Häuserwände schrieben, wurden relativ schnell aufgespürt und hart bestraft. Wer überlebte und aus dem Gefängnis oder Lager entlassen wurde, hatte die Wahl, den Widerstand wiederaufzunehmen, sich zurückzuziehen oder den Sozialdemokraten und Kommunisten zu folgen, die ins Ausland gegangen waren, als Hitler an die Macht kam. Rund 5000 Sozialdemokraten waren emigriert. Fast alle waren in Europa geblieben, »mit dem Gesicht nach Deutschland« gerichtet, wie Otto Wels es ausdrückte,[291] der im März 1933 im Reichstag als einziger Redner gegen die Annahme des Ermächtigungsgesetzes gesprochen hatte. Er war nach Prag gegangen, wo sich die Exilführung der SPD etabliert hatte, und dann nach Paris, wo er 1939 starb. Die Tschechoslowakei war ein bevorzugtes Ziel emigrierter deutscher Sozialdemokraten. Andere waren nach Frankreich, Großbritannien, in die Niederlande und nach Skandinavien gegangen. Der 22-jährige Herbert Frahm emigrierte nach Norwegen, wo er den Decknamen annahm, unter dem er berühmt werden sollte: Willy Brandt. 1937 hielt er sich als Berichterstatter über den Bürgerkrieg eine Zeit lang in Spanien auf.

Spanien wurde zu einem Treffpunkt von Deutschen verschiedener linker Fraktionen. Rund 5000 Deutsche verteidigten in den Reihen der Internationalen Brigaden die Republik. Drei Viertel von ihnen waren Kommunisten. Kommunisten hatten Deutschland in größerer Zahl verlassen als Sozialdemokraten, manche in Richtung Westen, andere in Richtung Sowjetunion. Rund 4000 deutsche Kommunisten gingen in die Sowjetunion, bevor diese aus Misstrauen gegenüber nichtrussischen Einwanderern 1935 ihre Tore schloss. Die meisten von ihnen wurde zweimal zu Opfern, das erste Mal unter Hitler und das zweite Mal unter Stalin. In der Paranoia der Zeit wurde ihnen Trotzkismus, Sabotage und Fahnenflucht vom Schlachtfeld des Klassenkampfs vorgeworfen. Fünf der 16 Angeklagten im ersten Moskauer Schauprozess im August 1936 waren deutsch-jüdische Emigranten. Insgesamt wurden 70 Prozent der in die Sowjetunion emigrierten deutschen Kommunisten während der Säuberungen verhaftet. Für die meisten bedeutete dies den Tod.[292] Damit schloss sich ein dunkler Kreis. Ultrakonservative Russen waren vor der Revolution nach Deutschland geflohen und hatten dort die äußerste Rechte mitgeprägt; jetzt verloren deutsche Kommunisten, die vor der nationalsozialistischen »Revolution« geflohen waren, durch das Stalin-Regime ihr Leben.

Sozialdemokraten und Kommunisten bildeten eine winzige Minderheit unter den Hunderttausenden, die aus Hitler-Deutschland flohen; sie stellten nicht mehr als einen von 25 Flüchtlingen. Die große Mehrheit der Emigranten waren Juden. Eine halbe Million mitteleuropäischer Juden entkam Hitler, 320 000 aus Deutschland und 180 000 aus Österreich und der besetzten Tschechoslowakei. Damit entkamen drei Fünftel der deutschen Juden, ein etwas höherer Anteil als aus Österreich, aber ein deutlich geringerer als aus Böhmen und Mähren. Sie gingen in drei Wellen: 1933/34, nach der Verkündung der Nürnberger Gesetze von 1935 und 1938/39. Auszuwandern und einen aufnahmebereiten Ort zu finden war nicht einfach. Die Nationalsozialisten wollten die Juden aus Deutschland entfernen, erlaubten ihnen aber nicht, ihr Eigentum mitzunehmen. Bis 1938/39 waren die Juden, so verzweifelt sie emigrieren wollten, völlig verarmt. Dies war einer der Gründe dafür, dass liberale Demokratien wie Großbritannien, Frankreich, Dänemark und die Schweiz zögerten, eine größere Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Gegner führten ins Feld, die jüdischen Konkurrenten würden die freien Berufe »überschwemmen«, und elitäre Antisemiten bliesen ins selbe Horn. Hinzu kamen verbreitete Vorurteile, die führende Politiker davor zurückschrecken ließen, sich für die jüdischen Flüchtlinge einzusetzen. Dies alles erschwerte ihre Aufnahme. Ein weiteres Hindernis war die nicht ganz unbegründete Furcht in den Demokratien, dass sie durch eine weitere Öffnung ihrer Tore rechtsgerichtete Regierungen in Polen und Rumänien ermuntern würden, schärfere antijüdische Gesetze zu erlassen, um ihre eigenen Juden aus dem Land zu jagen.[293] Daher verwundert es nicht, dass der Präsident der Zionistischen Weltorganisation, Chaim Weizmann, 1936 erbittert feststellte, die Juden sähen sich einer Welt gegenüber, die »in Orte geteilt ist, wo sie nicht leben können, und andere, wohin sie nicht gelangen können«.[294]

Die von US-Präsident Franklin D. Roosevelt initiierte Konferenz von Évian im Juli 1938, auf der über das Schicksal der europäischen Juden gesprochen wurde, hatte kaum praktische Ergebnisse. Einige europäische Demokratien verschärften 1938/39, als Juden einen Zufluchtsort am dringendsten benötigten, sogar ihre Einreisebestimmungen. Gewiss kamen 1939 50 000 von 70 000 zugelassenen Juden nach Großbritannien, unter ihnen im Zuge der Kindertransport-Aktion 10 000 unbegleitete Kinder. Aber die britische Regierung hielt eisern daran fest, nur wenige Juden ins britische Mandatsgebiet Palästina einzulassen. Auch die britischen Dominions verhielten sich ausgesprochen zugeknöpft. Neuseeland ließ 1939 nur 754 deutsche und 1100 europäische Flüchtlinge insgesamt ins Land, und nicht alle von ihnen waren Juden; die Zahl der Anträge war zehnmal so hoch gewesen.[295] Rund 5000 deutsche und österreichische Emigranten gingen nach Britisch-Indien. Durch Berufs- und Geschäftsnetzwerke erhielten manche Flüchtlinge Angebote von dem Subkontinent, wo ihr Fachwissen gefragt war, etwa in der Medizin, den Naturwissenschaften und der Textilindustrie. Manchmal gaben auch nichtberufliche Gründe den Ausschlag. So bürgte der Brite Frederick Gordon Pearce, der in Indien eine Schule leitete, für einen österreichischen Zahnarzt namens Alfred Holloszytz und dessen Familie, die er vor Jahren durch die Theosophische Gesellschaft kennengelernt hatte und deren Gast er gewesen war: »Ich kann, ohne zu zögern, bezeugen, dass sie Personen von gutem Charakter und untadeligen Ansichten sind, die sich an keiner Bewegung beteiligen werden, die der Regierung Unannehmlichkeiten bereitet. Sie sind an Politik nicht interessiert.«[296]

Ein weiterer Zielort für mitteleuropäische Juden, den man nur ein Jahrzehnt zuvor kaum in Erwägung gezogen hätte, war Schanghai. Zu der dortigen kleinen Gemeinde von Juden aus Bagdad und Russland gesellten sich nach 1933 17 000 Flüchtlinge.[297] Daneben gab es noch Bolivien, das – als eines von wenigen lateinamerikanischen Ländern, die in den 1930er-Jahren Juden willkommen hießen – 20 000 Flüchtlinge aufnahm. Eine indirekte Rolle spielte dabei in Gestalt von Moritz »Mauricio« Hochschild die alte deutsche Bergbautradition. Hochschild hatte nach dem Studium an der Freiberger Bergbauakademie, das er 1905 abschloss, rund um die Welt als Bergbauingenieur und Metallspekulant gearbeitet, bevor er in Bolivien ein Unternehmen gründete, das ihn zu einem der Zinnbarone des Landes machte. Als ausländischer Jude identifizierte er sich mit den Flüchtlingen und holte persönlich mehrere Tausend von ihnen nach Bolivien. Die Regierung gab in der Hoffnung, Landarbeiter zu gewinnen, Visa aus, aber die Neuankömmlinge waren urbane Bürger, die sich denn auch überwiegend in den Städten niederließen. Hochschilds Bemühung, eine ländliche Siedlung zu finanzieren, scheiterte. Das »Hotel Bolivia«, wie es genannt wurde, war eine zum größten Teil städtische Einrichtung.[298] In der Dominikanischen Republik, einem eher ungewöhnlichen Beispiel eines jüdischen Zufluchtsorts, war dies anders. Nach der Konferenz von Évian bot der dominikanische Diktator Rafael Trujillo an, 100 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Nach dem jüngsten Massaker seiner Armee an Tausenden von Haitianern wollte er sein internationales Ansehen aufpolieren, insbesondere bei den Vereinigten Staaten. Außerdem wollte er Siedler ins Land holen und so dessen Bevölkerung »weißer« machen; aus demselben Grund hatten südamerikanische Herrscher schon früher – nichtjüdische – deutsche Einwanderer angeworben. Eine dominikanische Siedlungsorganisation wurde gegründet, knapp 500 Juden kamen ins Land, und eine Siedlung mit Rinderzucht und Milchproduktion wurde aufgebaut, nicht ohne Spannungen zwischen den traumatisierten Flüchtlingen und den Einheimischen. Das Projekt endete jedoch abrupt, weil die Vereinigten Staaten den Flüchtlingen die nötigen Transitvisa verweigerten.[299]

Kuba war eine wichtige Zwischenstation für Juden auf der Reise in die Vereinigten Staaten. Was dies bedeutete, hat der aus Berlin stammende Peter Fröhlich in seinen Memoiren auf lebendige Weise beschrieben. Er war als Jugendlicher mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten gelangt, wo die Familie bei Verwandten unterkam, ihren Namen in Gay anglisierte und Peter Gay zu einem hoch angesehenen Geschichtsprofessor in Yale wurde. Er beschreibt die quälende Unsicherheit in Kuba und erzählt von den Selbstmorden unter den jüdischen Flüchtlingen, die ihrem Ziel, Amerika, zum Greifen nah waren, dann aber nicht einreisen durften. Washington legte ihnen viele Steine in den Weg. Präsident Roosevelts Handlungsspielraum war durch das System von Einwanderungsquoten und den Widerstand sowohl in seinem eigenen Regierungsapparat als auch der oppositionellen Republikanischen Partei, in der manche den New Deal als »Jew Deal« bezeichneten, eingeschränkt. Trotz dieser Hindernisse erreichte er einiges. Insgesamt fanden 120 000 deutsche und österreichische Juden sowie weitere 100 000 aus anderen europäischen Ländern in den Vereinigten Staaten Zuflucht.[300]

Viele der aus Mitteleuropa entkommenen Juden wären nicht nur aufgrund ihres Judentums in Gefahr gewesen, sondern auch wegen ihrer politischen Überzeugungen oder weil sie mit geistigen Strömungen identifiziert wurden, die bei Nationalsozialisten als »undeutsch« galten. Albert Einstein ist ein gutes Beispiel dafür. Auch nichtjüdische Emigranten waren aus verschiedenen Gründen gefährdet. Manche waren als Linke bekannt oder aktiv; andere mussten wegen ihrer Musik, Malerei, ihrer Schriften oder Filme vielleicht nicht um ihr Leben fürchten, aber doch um ihren Lebensunterhalt. Viele hatten vor ihrer Emigration ihre Posten oder Anstellungen und damit ihre Einkünfte verloren. Bei allen war der Lauf ihres Lebens durch Hitler gewaltsam unterbrochen worden. Wegzugehen ist nie einfach, weshalb so viele Juden es hinauszögerten, manchmal zu lange und mit tödlichen Folgen. Wegzugehen bedeutete, Familie, Freunde, Nachbarschaften, kulturelle Gewohnheiten und nicht zuletzt die deutsche Sprache aufzugeben. Nur noch zu Hause oder mit anderen Flüchtlingen Deutsch sprechen zu können war schmerzlich. Beruflich war der Umzug an einen Ort, wo man kein Deutsch sprach, für diejenigen, die übertragbare Fähigkeiten besaßen, wie der völlig unpolitische Zahnarzt in Indien, wahrscheinlich am einfachsten, aber selbst dann waren Zulassungs- und Anerkennungsfragen zu klären. »Was fängt ein Neurologe aus Berlin in Australien an? Was beginnt ein Rechtsanwalt aus Frankfurt am Main in Guatemala?«, fragte Thomas Manns Sohn Klaus.[301] Selbst Emigranten, die Dinge in einer »internationalen Sprache« schufen, wie Architekten, Physiker oder Musiker, standen vor Problemen. Viele nach Großbritannien emigrierte jüdische Komponisten hatten dort, nicht zuletzt aufgrund einer schwarzen Liste mit ihren Werken, die der Komponist Ralph Vaughan Williams und andere der BBC aufgezwungen hatten, schwer zu kämpfen.[302]

In einer fremden Sprache zu arbeiten und den alltäglichen Kontakt mit der eigenen zu verlieren war besonders für Schauspieler und Schriftsteller, für welche die Sprache alles war, eine enorme Herausforderung. Es stimmt, dass die »Alchemie des Exils« – die Notwendigkeit, mit einer anderen Kultur zurechtzukommen und eine neue Identität zu erproben – eine Quelle von Kreativität sein kann. Der Philologe und Literaturkritiker Erich Auerbach, ein jüdischer Kriegsveteran, der seine Stellung an der Universität von Marburg verloren hatte, ging 1936 nach Istanbul, wo er eines der großen literaturwissenschaftlichen Werke des 20. Jahrhunderts schrieb, Mimesis. Hätte er seine Gedanken über Sprache und Kultur auch ohne die Exilerfahrung entwickelt?[303] Ein Gegenbeispiel ist Heinrich Mann, Thomas Manns älterer Bruder und selbst ein angesehener Schriftsteller. Er war zunächst in die Tschechoslowakei geflohen, bevor er wie vor ihm sein Bruder nach Südkalifornien ging, wo ein Versuch, sich als Drehbuchautor in Hollywood zu etablieren, aufgrund seines schlechten Englisch scheiterte und er tief unglücklich war, wozu sicherlich auch der Selbstmord seiner Frau, Nelly, beitrug.[304]

Bertolt Brechts Schicksal steht für beide Seiten des Exils, die abschüssige und die aufwärts führende. Er verließ Deutschland im Februar 1933 zunächst in Richtung Dänemark, wo er mit den üblichen Problemen emigrierter Schriftsteller zu kämpfen hatte: dem Verlust von Büchern und Papieren, der Schwierigkeit, seine Werke zu veröffentlichen, ausbleibenden oder unregelmäßig gezahlten Tantiemen. Als Dramatiker hatte er sogar noch mehr verloren. Das NS-Regime, klagte er, habe ihn proletarisiert: »Sie haben mir nicht nur mein Haus, meinen Fischteich und meinen Wagen abgenommen, sie haben mir meine Bühne und mein Publikum auch geraubt.«[305] Ihm wurde seine Staatsbürgerschaft entzogen, er hatte Schwierigkeiten, seine Stücke auf die Bühne zu bringen, und musste aus der Ferne mitansehen, wie in Moskau Freunde von ihm den Säuberungen zum Opfer fielen. Dennoch schrieb er in diesen Jahren seine besten Stücke – Leben des Galilei, Mutter Courage und ihre Kinder, Der gute Mensch von Sezuan – und einige seiner besten Gedichte. Dann ging er, als er aus Dänemark fliehen musste, wie Heinrich Mann nach Los Angeles, wo er alles hasste, vom Essen über die Fröhlichkeit bis zur »Kloake« Hollywood, der er die Schuld an der Rauschgiftabhängigkeit seines Schauspielerfreundes Peter Lorre gab.[306]

Südkalifornien war voller unglücklicher Emigranten. In den wohlhabenden Stadtteilen, wo die Berühmtheiten wohnten, in Santa Monica, Brentwood, Beverly Hills und Pacific Palisades, gab es Trunksucht und Verzweiflung und manchen Selbstmord. Und doch, welch außerordentlichen Beitrag zur amerikanischen Kultur leisteten Deutsche und Österreicher, die es dorthin verschlagen hatte. Sie erschufen ein »Weimar am Pazifik«.[307] Die zur Frankfurter Schule gehörenden Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno waren ebenso dort wie – neben Thomas und Heinrich Mann – die Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und Alfred Döblin. Viele hielten sich jedoch nur schwer über Wasser. Als Brecht Döblin besuchte, war dieser arbeitslos: »Er steht vor dem Nichts.«[308] Der Theaterregisseur Max Reinhardt besaß eine große Villa am Meer, aber die Schauspielschule, die er am Sunset Boulevard eröffnete, ging bankrott. Den emigrierten Filmregisseuren erging es besser. G. W. Pabst, Fritz Lang, Otto Preminger, die Brüder Siodmak und Billy Wilder: Sie alle waren dort und bereicherten Hollywood mit ihrem Talent. Die Filmindustrie zog auch die Berliner Kabarettgröße Friedrich Hollaender, der die Musik für mehrere Filme von Billy Wilder komponierte, und Erich Wolfgang Korngold an, den berühmtesten klassischen Komponisten, der sich der Filmmusik zuwandte. Auch Arnold Schönberg, der führende Theoretiker der Zweiten Wiener Schule, ließ sich in Los Angeles nieder, ebenso wie der Dirigent Otto Klemperer, der musikalischer Leiter des Los Angeles Philharmonic wurde.[309]

Angesichts der vorangegangenen Geschichte ist es nicht überraschend, dass insbesondere das amerikanische Musikleben von mitteleuropäischen Emigranten bereichert wurde. Weniger vorhersehbar war der große Einfluss, den sie jenseits der klassischen Musik ausübten. Hollywoods Drehbuchautoren sind nur ein Beispiel dafür. Brechts früherer Mitstreiter Kurt Weill erfand sich in den Vereinigten Staaten neu und komponierte populäre Musik, die lange als im Vergleich mit seinen früheren Werken zweitrangig angesehen wurde, heute aber neue Wertschätzung erfährt. Dann war da der enorme Beitrag zum amerikanischen Jazz zweier deutsch-jüdischer Emigranten, die in Berlin zusammen aufgewachsen waren. Alfred Lion, geborener Löw, ging 1933 nach Südamerika und von dort 1938 nach New York, wo er seinem Jugendfreund Jacob Franz »Francis« Wolff wiederbegegnete. Beide waren Jazzliebhaber, und so gründeten sie 1939, mit Anfang dreißig, die Schallplattenfirma Blue Note Records, die zu einem der bedeutendsten Jazzlabels der Geschichte wurde. Auch auf einem anderen Weg floss die deutsche Musikkultur in die amerikanische Kultur ein: durch die Lehre. Schoenberg, wie er sich nach seinem Umzug in die Vereinigten Staaten schrieb, lehrte an den Universitäten von Südkalifornien und Los Angeles. Studenten und Mitemigranten von Schönberg lehrten am Vassar College und der Neuen Schule für Sozialforschung in New York und dem Black Mountain College in North Carolina.

Die Neue Schule für Sozialforschung (gegründet 1919) und das Black Mountain College (1933) waren für Experimente offen. Letzteres orientierte sich zum Teil am Vorbild des Bauhauses. Die Neue Schule richtete 1933 eine »Exiluniversität« ein, die im folgenden Jahr als Reaktion auf die Ereignisse in Deutschland in »Graduiertenfakultät für Politik- und Sozialwissenschaften« umbenannt wurde. Beide Lehranstalten profitierten vom Zustrom mitteleuropäischer Emigranten, für die sie ein Zufluchtsort waren. Dies galt auch für das Institut für fortgeschrittene Studien (Institute for Advanced Study, gegründet 1930) in Princeton, das bald eng mit den Namen seines berühmtesten Angehörigen, Albert Einstein, und anderer deutscher Physiker sowie emigrierter Historiker assoziiert wurde. Diese Institutionen waren außergewöhnliche Lehr- und Forschungsstätten. Aber der Einfluss von Emigranten war überall im Land auf jedem Wissensgebiet zu spüren, in den Naturwissenschaften, insbesondere in Mathematik und Physik, ebenso wie in Kunstgeschichte, Literaturgeschichte, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Psychologie und Sozialwissenschaft. Bedeutende Angehörige des Bauhauses wurden in den Vereinigten Staaten zu prägenden Figuren in Architektur und Design. Josef und Anni Albers lehrten am Black Mountain College, bis Josef 1950 an die Yale University wechselte. Walter Gropius wurde Leiter der Harvard School of Design, an der er und sein Bauhaus-Kollege Marcel Breuer eine einflussreiche Generation von Architekten der Nachkriegszeit ausbildeten, wie Philip Johnson und I. M. Pei. Das kreative und gelehrte Talent, das nach 1933 den Atlantik überquerte, war der größte und konzentrierteste Fall von kulturellem und geistigem Transfer, den die Welt jemals gesehen hat.[310]

Die Vereinigten Staaten nahmen die meisten Emigranten auf und profitierten dementsprechend viel von ihnen, aber »Hitlers Geschenk« war rund um die Welt verteilt. Deutsche Emigranten verliehen dem geistigen Leben an den britischen Universitäten, insbesondere an denen von Oxford und Cambridge, eine neue Ernsthaftigkeit. Sie benötigten sie auch am meisten, obwohl es für die Studenten in Oxford sicherlich verstörend war, dass der Philosoph Ernst Cassirer seine ersten Vorlesungen dort auf Deutsch hielt.[311] Dagegen sprachen die erheblich jüngeren, in Tübingen geborenen Brüder Ludwig und Gottfried Ehrenberg perfekt Englisch, als sie auf das akademische Leben in Großbritannien Einfluss zu nehmen begannen, der eine unter dem anglisierten Namen Lewis Elton als Arzt und Experte für höhere Bildung, der andere unter dem Namen Geoffrey Elton als Historiker, der die Geschichte der Tudor-Ära neu interpretierte. Kein Sektor des britischen Kulturlebens blieb unberührt.[312] André Deutsch, George Weidenfeld und Tom Maschler wurden zur Konkurrenz für die vornehmen Familienverlage. Fritz Busch als musikalischer und Carl Ebert als künstlerischer Leiter waren die kreativen Gründer des Glyndebourne Festival, das die Aufführungspraxis von Opern in Großbritannien revolutionierte; der Wiener Musikimpresario Rudolf Bing war der Mitgründer des Edinburgh Festival. Drei Mitglieder des in London gegründeten Amadeus-Quartetts waren Wiener Juden, die sich nach dem »Anschluss« Österreichs ans Dritte Reich als 16-Jährige in Internierungslagern kennengelernt hatten. London wurde auch für die meisten Angehörigen der Familie Freud zur neuen Heimat. Lucian Freud, ein Enkel von Sigmund Freud, wurde später ein führender Vertreter der Londoner Schule figurativer Maler, ebenso wie Frank Auerbach, der mit einem Kindertransport nach England gekommen war. Beide gehörten der sogenannten zweiten Generation an, deren Angehörige Kinder oder Jugendliche waren, als sie Mitteleuropa verließen.[313] Hitlers Geschenk wirkte lange nach.

Und dies wahrhaft weltweit. Der Wiener Philosoph Karl Popper lehrte in Neuseeland, als er sein berühmtestes Buch, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, veröffentlichte. Auf der anderen Seite der Tasmansee wirkten die deutschen Emigranten Felix Werder und George Dreyfus, die beiden bedeutendsten modernen Komponisten Australiens, und die in Sydney beheimatete Musica Viva Society wurde von einem Flüchtling aus Wien gegründet.[314] Fritz Busch und Carl Ebert bewiesen ihr Talent über Glyndbourne hinaus. Sie arbeiteten zusammen in Buenos Aires; später war Busch musikalischer Leiter des Dänischen Radio-Symphonieorchesters und der Stockholmer Symphoniker, während Ebert, der 1940 bis 1947 in der Türkei lebte, das Konservatorium von Ankara mitaufbaute. Mehrere deutsche Kulturemigranten gingen nach Mallorca, unter ihnen Harry Graf Kessler; für die meisten war die Insel allerdings nur eine Zwischenstation.[315] Eine größere Gruppe politischer und kultureller Emigranten versammelte sich in Mexiko.[316] Zu ihr gehörte der linke Schriftsteller und Fotograf Franz Pfemfert, ein abenteuerlustiger Geist, der vor dem Ersten Weltkrieg als Herausgeber der Aktion die expressionistische Kunst und Literatur gefördert hatte. Er war Mitte fünfzig, als Hitler an die Macht kam und er mit seiner russischen Frau in die Tschechoslowakei und von dort nach Frankreich floh. Dort wurde das Ehepaar interniert, konnte fliehen und sich nach Lissabon durchschlagen, von wo es über New York nach Mexiko reiste. Dort hielten sie sich mithilfe von Trotzkis Witwe über Wasser; Pfemferts Frau war Trotzkis Übersetzerin gewesen. Obwohl Einstein sich für sie einsetzte, ließen die Vereinigten Staaten Pfemfert und seine Frau nicht herein.[317]

Nicht alle Emigranten waren im Exil erfolgreich, nicht alle waren Neuerer, nicht alle waren ihren Gastländern dankbar, und nicht alle blieben, als es nach 1945 möglich wurde, in die alte Heimat zurückzukehren. Aber wie im 17. Jahrhundert und nach 1848 hinterließen Auswanderer aus deutschsprachigen Ländern – nur diesmal in weit größerem Ausmaß – eine tiefe Spur in der Weltgeschichte. Ihre Flucht stellte sich als bloßes Vorspiel der weltgeschichtlichen Umwälzung heraus, die ab 1939 stattfand. Die Emigration war ein unwillentliches Geschenk Hitlers an die Welt. Den Zweiten Weltkrieg, den zerstörerischsten Konflikt der Menschheitsgeschichte, entfachte er dagegen willentlich.