Kapitel 2  
Brände

Deutschland und die Krise des 17. Jahrhunderts

Das 17. Jahrhundert war von sozialem und politischem Aufruhr geprägt. Überall auf der Welt brachen Aufstände aus. Krieg, Hunger und Krankheiten ließen Propheten vor dem Ende der Welt warnen. Die Hexenjagd wurde intensiviert. In seinem Studierzimmer in der Universität von Oxford hielt Robert Burton diesen Tumult in seinem umfangreichen Meisterwerk Anatomie der Melancholie fest, das 1621 erschien. In einer der endlosen, sich förmlich überschlagenden Listen, die das Buch zu einer faszinierenden Lektüre machen, stellte Burton fest, täglich erfahre man neue Nachrichten über »Krieg, Pest, Brand, Flut, Raub, Mord und Gemetzel, von Meteoren, Kometen, Gespenstern, Ungeheuern, Erscheinungen, von eroberten und belagerten Städten in Frankreich, in Deutschland und in der Türkei, in Persien, Polen und so fort, von tagtäglichen Aushebungen und Rüstungen und dergleichen, wie sie unsere stürmischen Zeiten aushecken, von frisch ausgetragenen Schlachten mit all ihren Erschlagenen, von Monomachien, Schiffsuntergängen, Piratereien und Kämpfen zur See, Friedensschlüssen, Bündnissen, Kriegslisten und neuem Waffengeschrei«.[1] Seine Zeitgenossen zeichneten – mit weniger Worten – ein ähnlich düsteres Bild der Krise: »Die Welt stand in Flammen«, erklärte einer von ihnen, und ein anderer befand, es seien »Tage des Schauderns«.[2]

1628, in dem Jahr, in dem die Anatomie der Melancholie in dritter Auflage erschien, traf ein Deutscher, der vor dem Krieg in seinem Heimatland geflohen war, in England ein. Samuel Hartlib war der Sohn eines Deutschen und einer Engländerin, einer Kaufmannstochter. Mithilfe einiger einflussreicher Unterstützer richtete er sich in London ein, setzte die Familientradition, englische Frauen zu heiraten, fort und kehrte nie wieder nach Deutschland zurück. Hartlib war Calvinist und verkörperte die von Fürsten und Druckwerken, aber auch von Emigranten wie ihm bewirkte explosive Ausbreitung des Protestantismus in Deutschland in den vorangegangenen hundert Jahren. Der puritanische Schriftsteller John Milton hieß ihn als »eine von der Vorsehung aus fernem Land hierher gesandte Person« willkommen. Hartlib war ein Universalgelehrter mit einer anscheinend unermesslichen Bandbreite von Interessen. Er wurde in seiner Wahlheimat und darüber hinaus zu einer einflussreichen Figur, einem Kulturvermittler, der sich im Zentrum eines umfangreichen Korrespondentennetzwerks befand, das ganz Europa umfasste und bis in die amerikanischen Kolonien reichte. Aus dem englischen Exil verfolgte er, was »in Frankreich, Spanien, Deutschland und anderen christlichen Ländern« geschah, und fasste es mit einem Wort zusammen: »Brände«.[3]

Für die Krise des 17. Jahrhunderts, die »Brände«, waren viele Ursachen verantwortlich. Überall in Europa bauten sich Spannungen zwischen Herrschern und ihren Untertanen, insbesondere mächtigen Akteuren wie Aristokraten und lokalen Ständen, auf. Man kann von einer Krise der Autorität oder Legitimität sprechen. Die neuen wirtschaftlichen Muster und sozialen Beziehungen, die sich im 16. Jahrhundert, zum Teil durch die Übersee-Expansion in neue Märkte, herausgebildet hatten, riefen ein Gefühl der Entwurzelung hervor. Außerdem wirkte sich der Klimawandel aus. Seit den 1590er-Jahren waren die Folgen der Kleinen Eiszeit spürbar. Infolge geringerer Sonnenfleckenaktivität und einer großen Zahl von Vulkanausbrüchen sanken die Temperaturen weltweit stark ab. Auch die uns mittlerweile vertrauten El-Niño-Effekte spielten in verschärfter Form eine Rolle. Nordwesteuropa erlebte einen Zyklus der Nordatlantischen Oszillation, der kältere Winter, feuchtere Sommer und mehr Stürme mit sich brachte.[4] Die Folgen waren katastrophal. »[E]s ist mehr kein rechter bestendiger Sonnenschein, kein steter Winter und Sommer«, klagte ein Pfarrer aus dem preußischen Stendal, »die Früchte und gewechs auff Erden werden nicht mehr so reiff, sind nicht mehr so gesund als sie wol ehezeit gewesen […].« Alle Geschöpfe würden »mehr und mehr in ihrer vermehrung nachlassen und abnemen«.[5] Kaltes Wetter verkürzte die Wachstumszeit von Pflanzen und verringerte die Anbaufläche. Am deutlichsten war dies in den höhergelegenen Regionen des Heiligen Römischen Reichs, wie den Alpen, zu beobachten, wo im 16. Jahrhundert ein stetiges Wachstum der Gletscher, die sich heute zurückziehen, begann, das 300 Jahre fortdauern sollte. In Katastrophenjahren wie 1617 und 1618 verursachten Missernten eine chronische Lebensmittelknappheit, und die unterernährten, verzweifelten Menschen waren besonders anfällig für die großen Todesboten: Blattern, Beulenpest, Typhus, Ruhr und Masern. Was die Blattern (Pocken) betrifft, scheinen durch den Kontakt mit Afrika und Amerika gefährlichere Stämme eingeschleppt worden zu sein, die bei erstmals an Blattern Erkrankten einen besonders schweren Verlauf bewirkten.

Auch durch Kriege wurden, wie es schon immer der Fall gewesen war, epidemische Krankheiten verbreitet; nicht umsonst wurde Typhus »Lagerfieber« genannt. Krieg bildete einen wesentlichen Aspekt der Krise des 17. Jahrhunderts. »Dies ist das Jahrhundert der Soldaten«, stellte der italienische Diplomat und Dichter Fulvio Testi 1641 fest.[6] Im 17. Jahrhundert wurden, Zählungen zufolge, weltweit mehr Kriege geführt als zu jeder anderen Zeit vor den 1940er-Jahren.[7] China und das Mongolenreich befanden sich ständig im Krieg. In Europa waren die Osmanen regelmäßig mit Feldzügen des Heiligen Römischen Reichs, Ungarns, Polen-Litauens, Russlands und Spaniens konfrontiert. Daneben fochten die christlichen Länder auch gegeneinander: Schweden zog gegen Polen in den Krieg und Polen gegen Russland; Frankreich kämpfte mit Spanien, Spanien mit den Niederlanden und diese mit England. Im 17. Jahrhundert waren in Europa nur drei Jahre ohne jeden Krieg.

Nirgendwo hinterließ der Krieg tiefere und schrecklichere Spuren als in deutschen Landen. Der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648) blieb in Deutschland bis zum 20. Jahrhundert als »der große Krieg« in Erinnerung.[8] Bauern wurden von marodierenden Heeren heimgesucht, die sich aus dem Land versorgten und auf der Suche nach Nahrung, Pferden und Geld Gräueltaten an der örtlichen Bevölkerung begingen. Die Landbevölkerung musste, wie ein schwäbischer Pfarrer festhielt, große Schrecknisse erdulden: »Versklavung der Heimat, schlimme Bedrohungen feindlicher Heerhaufen und roher Menschen, Plünderung, fruchtbaren, unbebauten Ackerboden, Räuberbanden, Blutvergießen, Verwüstungen, Feuersbrünste, Schändungen, Verfluchtes, Unordnung«.[9] Über den Dreißigjährigen Krieg sind rund 250 Augenzeugenberichte überliefert, die allesamt ein Bild des Grauens zeichnen, das die Bauern erlebten. Ein Ausweg war, in die nächstgelegene befestigte Stadt zu fliehen, was allerdings epidemische Krankheiten zur Folge hatte.[10] In Augsburg starben im Pestjahr 1527 fast 10 000 Menschen.[11] Im schlimmsten Fall konnte eine Stadt gebrandschatzt werden. Die Einnahme Magdeburgs durch kaiserliche Truppen im Mai 1631 war von Massenvergewaltigungen und Bränden begleitet, denen ein großer Teil der Stadt zum Opfer fiel. In einem Kloster beobachteten Mönche voller Entsetzen, wie ein 12-jähriges Mädchen von sechs Soldaten vergewaltigt wurde und an den Folgen starb.[12] Insgesamt kamen bei der sogenannten »Magdeburger Hochzeit« 20 000 Menschen ums Leben, was das Ereignis im kollektiven Gedächtnis der Deutschen zum herausragenden Beispiel der vom Krieg entfesselten Raserei machte. Es wurde auch zum Maßstab für anderswo begangene Gräuel, wie Oliver Cromwells Massaker in der irischen Stadt Drogheda.[13]

Im Dreißigjährigen Krieg verloren im Heiligen Römischen Reich mindestens fünf Millionen Menschen ihr Leben, wahrscheinlich aber eher sieben Millionen, das heißt zwischen 25 und 45 Prozent der Gesamtbevölkerung – und damit ein größerer Anteil als in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Die am schwersten betroffenen Gebiete – die einen diagonalen Streifen von Pommern und Mecklenburg im Nordosten bis nach Württemberg und an den Oberrhein im Südwesten bildeten – verloren über die Hälfte der Bevölkerung. Es dauerte drei ganze Generationen, bis die Bevölkerung wieder so zahlreich war wie vor dem Krieg. Auch das Verhältnis zwischen Mensch und Tier veränderte sich. Während die Menschen starben oder ihre Dörfer verließen, traf man jetzt Wölfe in größerer Nähe zu menschlichen Siedlungen an. Kein Wunder, dass die katastrophalen Folgen des Kriegs in der Erinnerung lebendig blieben. Sie wurden in Chroniken festgehalten, von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen in seinem ewigen Bestseller Simplicissimus (1668) in eine wirkungsvolle literarische Form gebracht und im 19. Jahrhundert von Gustav Freytag in populären Geschichtserzählungen einem neuen Publikum nahegebracht.

Die »Magdeburger Hochzeit« im Mai 1631 in der Darstellung durch den holländischen Illustrator Pieter van der Aa, 1698.

Als Freytag 1859 und 1867 seine Bilder aus der deutschen Vergangenheit veröffentlichte, hatte sich das Narrativ der deutschen Opferrolle bereits fest im kollektiven Bewusstsein etabliert. Nationalisten verurteilten das Eingreifen ausländischer Mächte in innere Angelegenheiten des Reichs und die Gräuel, die Deutsche infolge dessen von Nichtdeutschen angetan worden waren. Beides hatte einen wahren Kern. Zu dem Heer, das Magdeburg brandschatzte, gehörten Ungarn, Kroaten, Polen, Italiener, Spanier und Franzosen, und andere Mächte verlängerten durch ihre Einmischung den Krieg und machten ihn zerstörerischer. Zum Unglück für die Deutschen war das Heilige Römische Reich der Ort, an dem die strategischen und ideologischen Interessen der Großmächte aufeinanderprallten. Der schwedische König Gustav II. Adolf brachte es auf den Punkt, indem er feststellte, »alle Kriege Europas sind jetzt zu einem einzigen verknüpft«.[14] Der Krieg offenbarte die Verwundbarkeit der deutschen Lande, da sich ein Konflikt, der damit begann, dass Kaiser Ferdinand II. eine Revolte der böhmischen Stände niederzuschlagen versuchte, zu einem »europäischen Bürgerkrieg« auswuchs.[15] Es ist leicht zu verstehen, warum spätere nationalistische Historiker die Geschehnisse auf ihre Weise sahen und die Deutschen als passive Opfer darstellten, die zwischen die Mühlsteine tragischer politischer Spaltungen im Innern und räuberischer Ambitionen von Ausländern geraten waren.

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet war der Konflikt eine innere deutsche Krise, die ins übrige Europa überschwappte und andere Mächte in sich hineinzog, die glaubten, nicht unbeteiligt beiseite stehen zu können: Spanien und der Kirchenstaat traten auf habsburgisch-kaiserlicher Seite in den Konflikt ein, während Dänemark, Schweden, Frankreich und die Vereinigten Niederlande sich auf die andere Seite schlugen. Außerdem bewirkte der Krieg, dass die berüchtigte deutsche Soldateska über Europa verteilt wurde, beispielsweise nach Italien. Alessandro Manzonis großer historischer Roman Die Verlobten (1827) spielt 1630 in Norditalien, wo kaiserliche Truppen unter italienischem Kommando Amok laufen. Ihnen wird nachgesagt, die Pest zu verbreiten und alles zu zerstören, was auf ihrem Weg liegt. Sie sind »Freunde«, die drohen, stehlen und brandschatzen. Perpetua, die Dienerin des Priesters Don Abbondio, versucht ihren feigen Herrn zu trösten, indem sie vermutet, sich unter »recht Vielen« aufzuhalten biete Sicherheit. »Unter recht Vielen?«, erwidert der Priester. »Armes Frauenzimmer! Weißt Du nicht, dass jeder Lanzknecht hundert solche Leute verschluckt?«[16] Und wenn der »deutsche« Krieg eine der Ursachen der »allgemeinen Krise« war? Wenigstens ein Historiker hat diese Ansicht vertreten. Aber ob europäische Mächte nun dazu verleitet wurden, sich in deutsche Angelegenheiten einzumischen, oder sich genötigt fühlten, dies zu tun, das Ergebnis war dasselbe. Beides verbreitete Instabilität. Die Ereignisse in Deutschland stürzten ganz Europa in Aufruhr. Der Krieg veranlasste die Beteiligten, mehr Ressourcen aus ihren Bevölkerungen herauszupressen, und dies wiederum löste die Welle von Aufständen aus, die ein Kennzeichen dieser Zeit waren.[17]

Die Gründe der politischen Instabilität waren vielfältig – wirtschaftliche Not, epidemische Krankheiten, Kriegslasten. Dazu kam jedoch noch ein weiteres explosives Element, und dies war ein heimisches Produkt. Die europäische Krise war auch eine Folge der religiösen Spaltung. Die Gewalttätigkeit dieser Epoche war von neuen Formen religiösen Eifers befeuert, der sowohl in Blutbädern wie dem Massaker an Protestanten in der Bartholomäusnacht in Frankreich (1572) als auch in der Verbrennung einzelner Märtyrer in vorher und danach unvergleichlicher Zahl zutage trat.[18] Dies gilt auch für die organisierte Gewalt, die man Krieg nennt. Von den französischen Religionskriegen (1562 – 1598) und dem Spanisch-Niederländischen Krieg (1568 – 1648) bis zum Dreißigjährigen Krieg waren religiöse Überzeugung und religiöser Hass herausragende Triebkräfte der Gewalt. Der Dreißigjährige Krieg ist als »größter Religionskrieg Europas« bezeichnet worden.[19] Und obwohl er auf deutschem Boden ausgefochten wurde, war ausländischen Beobachtern durchaus bewusst, worum es ging. »Die Pfalz steht in Brand, die Religion steht in Brand, und alle anderen Länder stehen in Brand«, erklärte John Davies es 1620 im englischen Unterhaus.[20] Aus größerer Entfernung, aus Massachusetts, teilte John Winthrop seinen Freunden in London mit, er hoffe, Gott werde »den König von Schweden zu einem Werkzeug für den Sturz des Antichristen« machen – womit er den Papst meinte.[21]

Religiöse Spaltung

Die Reformation war eine in Deutschland und der Schweiz entstandene explosive Bewegung, welche die Geschichte Europas und der Welt umwälzte. Vielleicht sollte man besser von Reformationen sprechen, denn zu den betreffenden Bewegungen gehörte nicht nur Luthers Herausforderung des Papsttums, mit der alles begann, sondern auch die mit Johannes Calvin verbundene sogenannte Zweite Reformation radikaler Sekten, die fast von Anfang an auf den Plan traten, und die katholische Gegenreformation, die auf diese Strömungen reagierte. Die Schockwellen waren weithin spürbar. 1770 verknüpfte Raymond Revoir, der Abt von Sainte-Geneviève in Paris, die Neue Welt mit dem neuen Glauben: »Luther und Kolumbus tauchten auf, das ganze Universum erschauderte, und ganz Europa geriet in Aufruhr.«[22] Näher zu unserer Zeit und Vorstellungswelt entwickelte der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert eine Theorie, nach der Krisen Zeiten seien, in denen sich der Lauf der Geschichte beschleunigt und »Brüche« eine »ganze neue Existenz« schaffen. Nach seiner Ansicht war die Reformation eine solche Krise, denn sie hat nicht nur Deutschland tiefgreifend verändert, sondern auch eine »Weltveränderung« bewirkt.[23]

Das Welthistorische findet sich oft im Lokalen wieder, als Welt im Sandkorn. Schaut man genauer hin, erkennt man beispielsweise, dass die Reformation Universitäten wie diejenige von Wittenberg (lutherisch) und Heidelberg (calvinistisch) in Reiseziele eines internationalen Publikums verwandelte. Gleiches gilt für ihre katholischen Pendants in Wien und Ingolstadt. Andere Orte waren als »Kreuzungspunkt-Städte« wichtig, wie Straßburg und Zürich im Süden und Emden sowie die Ostseehäfen Danzig und Lübeck im Norden. All dies waren Orte, von denen aus sich das Wort und jene, die es übermittelten, über die Grenzen verbreiteten. Dies galt auch für Frankfurt am Main, das zu einer Zwischenstation auf dem Weg calvinistischer Flüchtlinge und einem Anlaufpunkt von William Penns Agenten in Europa wurde.[24]

Sehen wir uns einige der Menschen und Orte, der Verbindungswege und Institutionen an, die für die Verbreitung der Reformation über Deutschland hinaus bedeutsam waren, und fragen nach den Gründen für ihre Rolle. Ein guter Ausgangspunkt ist Skandinavien, weil an der Einführung der Reformation dort alle Vermittlungswege des neuen Glaubens beteiligt waren. Der Verlauf ähnelte demjenigen im Heiligen Römischen Reich: Es gab eine fürstliche Reformation, die den Bedürfnissen der Herrscher entsprach, aber auch eine Volksreformation. Am schwächsten war sie in Schweden, wo 1523 Gustav I. Wasa nach einer Reihe von Kriegen, welche die von Dänemark dominierte Kalmarer Union der skandinavischen Königreiche sprengten, König wurde. Aufgrund der jahrelangen Kämpfe waren viele Bischofsstühle unbesetzt, und über ihre Neubesetzung kam es zwischen dem neuen König und Rom zum Streit. Gustav Wasa kannte die lutherischen Ideen – wahrscheinlich durch seinen Kanzler, der zum Luthertum konvertiert war – und ermutigte und schützte deren Verfechter, wie den in Rostock, Leipzig und Wittenberg ausgebildeten Theologen Olaus Petri, der lutherische pastorale Schriften verfasste und in der Hauptkirche Stockholms predigte. Aber auch der Reichtum der Kirche war ein Motiv der schwedischen Reformation. Gustav Wasa suchte nach Geldquellen, aus denen er seine Schulden bei den hanseatischen Finanziers, die seine Kriege zur Loslösung Schwedens von Dänemark bezahlt hatten, begleichen konnte. Der katholischen Kirche gehörten in Skandinavien 40 Prozent des Landes und ein Drittel der städtischen Immobilien, und das alles, ohne Steuern zahlen zu müssen: eine reiche Beute.[25] Bei einem Treffen im Jahr 1527 brachte Gustav Wasa die Stände mit Zuckerbrot und Peitsche dazu, die Unabhängigkeit der Kirche zu beenden und Anhängern des neuen Glaubens das Predigen zu erlauben. Das Kircheneigentum wurde beschlagnahmt und zwischen Krone und Adel aufgeteilt. Dies war der Punkt: Die Säkularisation ging der Reformation voraus.[26]

Die religiöse Reform kam anfangs nur langsam voran, da der König mit Bauernaufständen zu tun hatte, bei denen Verärgerung über Steuern und Ablehnung des neuen Glaubens zusammenkamen. Doch dann nahm sie Fahrt auf. Gustav Wasa stellte klar, dass die lutherische Kirche der königlichen Hoheit unterstellt werden sollte, was er erreichte, indem er deutsche Berater wie den in Wittenberg ausgebildeten Georg Norman hinzuzog. Die anschließende Neuorganisation der Kirche war ein durch und durch fürstliches Unterfangen. Außerhalb von Stockholm, wo es eine deutsche Kaufmannsgemeinde gab und der evangelische Glaube von der Bevölkerung unterstützt wurde, war die schwedische Reformation etwas, das von oben nach unten durchgesetzt wurde. Außerdem war sie auch deutsch geprägt. Von der ersten Generation von Theologen, die unter dem Schutz das Königs standen, bis zu Norman und seinen Reformen gab es eine enge Verbindung mit Wittenberg, die auch später nicht abriss: Der Lutheraner, der die Reformation in die schwedische Dependance Finnland brachte, hatte in Wittenberg studiert, ebenso wie Axel Oxenstierna, der Gustav Adolf und seiner Nachfolgerin, Königin Christina, während des Dreißigjährigen Kriegs als Reichskanzler diente.

Auch für Dänemark war die Verbindung mit Wittenberg wichtig. Die berühmtesten Beispiele sind Hamlet, sein Freund Horatio und seine Schulkameraden Rosencrantz und Guildenstern, die allesamt in Wittenberg studiert haben. Aber es gab auch reale Pendants zu ihnen. So holten alle drei Herrscher, unter denen die dänische Reformation stattfand, in Wittenberg ausgebildete Theologen ins Land. Der erste, Christian II., eine komplexe Figur, die Kultiviertheit mit Grausamkeit verband, war durch Heirat mit Kaiser Karl V. verwandt, den er 1521 in den Niederlanden besuchte, wo er mit dem humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam über die Reformation diskutierte. Er stritt sich mit Rom und lud Anfang der 1520er-Jahre Wittenberger Lutheraner in sein Königreich ein, um dort zu predigen und ihn in Bezug auf Kirchenreformen zu beraten. Die gewagteste Einladung ging an einen von Luthers radikaleren Kollegen, Andreas Karlstadt, der jedoch nur kurz in Kopenhagen blieb, da er es angesichts der instabilen politischen Lage für besser hielt, nach Wittenberg zurückzukehren.[27] Kurz darauf wurde Christian II. von Angehörigen der dänischen Elite gestürzt und durch seinen Onkel ersetzt, der als Friedrich I. den Thron bestieg, während Christian als eher unwillkommener Emigrant nach Wittenberg ging, wo er, bis er in die Niederlande weiterreiste, bei dem Maler Lucas Cranach d. Ä. wohnte.[28]

Friedrich I. war vorsichtiger als sein Vorgänger, blickte aber ebenso begehrlich auf den Kirchenbesitz wie sein schwedischer Kollege Gustav Wasa. 1527 brach er mit Rom, gründete eine nationale Kirche und bereicherte sich selbst und den Adel durch die Säkularisation des Kirchenbesitzes. Der evangelischen Reform stand er jedoch aufrichtig wohlgesinnt gegenüber, zumal er von Hofräten umgeben war, welche die lutherische Sache voranbringen wollten. Die Reformation besaß in Dänemark eine breitere Unterstützung in der Bevölkerung als in Schweden. Das Land war stärker urbanisiert, und in den beiden Großstädten, die sich am Öresund gegenüberliegen, Kopenhagen und Malmö, hatten sich deutsche Kaufmannsgemeinden gebildet, in denen deutsche Wanderprediger den neuen Glauben predigten.[29] In Malmö gab es bald eine protestantische Druckerei, und Ende der 1520er-Jahre trat die Stadt zum neuen Glauben über.[30] Auch weiter nördlich, in Viborg, predigten zwei Wittenberger Geistliche, die zwar vom örtlichen Bischof abgelehnt wurden, aber die Rückendeckung des Magistrats hatten; zudem wurde der radikalere der beiden von Friedrich I. unter königlichen Schutz gestellt. In Schleswig, dem äußersten südlichen Teil des dänischen Königreichs, war die neue Botschaft schon vorher verbreitet worden. 1522 predigte ein weiterer Wittenberger Geistlicher, Hermann Tast, sie in Husum auf Niederdeutsch, und die »graue Stadt am Meer« zeigte sich empfänglich für sie.

Schleswig beförderte die Reformation in Dänemark. Herzog Christian von Schleswig-Holstein, der Sohn des Königs und künftige König Christian III., war ein ergebener Anhänger des Luthertums. 1521 hatte er am Reichstag zu Worms teilgenommen und Luthers Auftritt miterlebt. Er umgab sich mit lutherischen Beratern und ließ zwei deutsche Theologen kommen, um den neuen Glauben zu fördern. Sie entwarfen die lutherischen Glaubensartikel, die als Kirchenordnung von Hadersleben bekannt geworden sind. Es war die erste protestantische Kirchenordnung in Skandinavien – und eine der ersten überhaupt. In städtischen Gemeinden wurden evangelische Prediger ernannt, und altgediente Geistliche wurden ermahnt, sich in ihren Predigten an Luthers Bibelkommentare zu halten.

Als Friedrich I. 1533 starb, versuchten die dänischen katholischen Bischöfe mit Unterstützung ihrer Anhänger im Adel zu verhindern, dass Christian die Nachfolge antrat. Als Malmö und andere Städte sich widersetzten, kam es zu einem zweijährigen Bürgerkrieg, aus dem Christian als Sieger hervorging. Nach dem Einzug in Kopenhagen im Jahr 1536 als Christian III. ließ er die Bischöfe, die sich gegen ihn gestellt hatten, verhaften, das Kirchenvermögen beschlagnahmen und neue Bischöfe weihen, die seine Maßnahmen guthießen. Geweiht wurden sie von Johannes Bugenhagen, der zum inneren Kreis in Wittenberg gehörte und zwölf Jahre zuvor Luther und Katharina von Bora getraut hatte. Während seines Aufenthalts in Kopenhagen nahm Bugenhagen auch die Krönung Christians III. und seiner Königin vor. Doch damit nicht genug: Als Pommer, der Niederdeutsch sprach und sich von der dänischen Grenze bis nach Polen-Litauen mehr oder weniger gut verständlich machen konnte, wurde Bugenhagen zu einer Art Ein-Mann-Motor der lutherischen Reform im Norden, in Hamburg und Danzig ebenso wie in seiner Heimatprovinz Pommern.[31] In Dänemark führte er 1537 die neue, größtenteils von Wittenberger Theologen verfasste dänische Kirchenordnung ein. Im folgenden Jahr band sich Christian III. enger an den Protestantismus, indem er die Augsburger Konfession, ein Bekenntnis zum neuen Glauben, übernahm und sich dem Schmalkaldischen Bund protestantischer deutscher Fürsten anschloss.[32] In den nachfolgenden Jahrzehnten bemühten sich die Reformatoren, den neuen Glauben über die Städte hinaus auf dem Land zu verbreiten, indem sie neue Pfarrer entsandten, Schulen gründeten und ein System der Armenfürsorge errichteten. Gleichzeitig wurde die Reformation auch im zu Dänemark gehörenden Norwegen eingeführt, was sich allerdings – außer in Bergen, wo die Hanse eine Niederlassung besaß – als nur langsam vonstattengehender Prozess erwies.

In Skandinavien spielten also Fürsten, die dem neuen Glauben ergeben waren oder wenigstens dessen Nutzen erkannten, eine entscheidende Rolle. Aber sie wurden von der Kraft evangelischer Predigten sowie des gedruckten Worts mitgerissen, ob nun der Bibel, von Predigten oder von Luthers populären Schriften wie dem Kleinen Katechismus von 1529. Wo neue Kirchenordnungen eingeführt wurden, spielte auch die Musik eine Rolle. Ein Beispiel ist die von dem Reformator Joachim Slüter in Rostock entwickelte eigenständige Hymnodie, die in Dänemark und Schweden großen Einfluss hatte.[33] Auch die physische Anwesenheit von Deutschen als ständige Residenten oder als Besucher war für die Reformation in Skandinavien von Bedeutung, was in gleicher Weise für Nordost- und Mitteleuropa galt. Entlang der Ostseeküste und in den Handelsstädten im Inland mit ihren deutschen Gemeinden verbreiteten sich die lutherischen Ideen rasch, aber darüber hinaus war die Tätigkeit von Predigern und Organisatoren entscheidend. In den 1520er- und 1530er-Jahren predigten zwei Reformatoren im Baltikum und bauten dort eine lutherische Kirche mit ihrem Zentrum in Riga auf. Ein anderer Ausgangsort war Königsberg, wo 1644 eine lutherische Universität, die Albertina, gegründet wurde, die von einem Litauer geleitet wurde, der in Wittenberg bei dem Gelehrten und Reformator Philipp Melanchthon studiert hatte. Außerdem wurde Königsberg zu einem bedeutenden Verlagsort protestantischer Schriften. Dabei handelte es sich nicht immer um deutsche Drucke. Das erste auf Litauisch gedruckte Buch war eine in Königsberg gedruckte Ausgabe von Luthers Kleinem Katechismus, was darauf hindeutet, dass der neue Glauben auch die Litauisch sprechende Bevölkerung in ihren Bann zog.[34] Auch beim niederen polnischen Adel fand der neue Glaube Anklang, obwohl die polnischen Jagiellonen-Könige es für vorteilhaft hielten, städtische Protestanten und adlige Magnaten gegeneinander auszuspielen. Die komplexe politische Lage in Polen-Litauen, dem größten Staat im Europa des 16. Jahrhunderts, bot viele Gründe dafür, sich der protestantischen Bewegung anzuschließen, ob man nun Deutscher, Litauer oder Pole, Bürger oder Adliger war.

Auch in Böhmen gewann das Luthertum im niederen einheimischen Adel Konvertiten, aber die stärkste Unterstützung fand es bei der deutschen Bevölkerung der Städte. Dort glich das Muster – wie in den überwiegend von Deutschen bewohnten Städten in Polen-Litauen – dem Geschehen im Reich, wo Städte zum Protestantismus übertraten. Ein besonderes Beispiel für die Aufnahme evangelischer Ideen in einem städtischen Umfeld war Sankt Joachimsthal im böhmischen Erzgebirge. Die Stadt entwickelte sich rasch, als dort Silbervorkommen entdeckt und sächsische Bergarbeiter angezogen wurden, die ihren evangelischen Glauben mitbrachten. Auch die Bergwerksbesitzer waren Lutheraner. Mit dem Erzreichtum der Stadt wurden eine Lateinschule, eine Mädchenschule und ein Hospital finanziert. Sankt Joachimsthal erlangte in der lutherischen Tradition aus zwei Gründen Berühmtheit: Der eine war die Laufbahn von Johannes Matthesius, der Direktor der Lateinschule und ein langjähriger Kirchenprediger war; er hatte bei Luther studiert und wurde dessen erster Biograf. Der andere Grund war die Musik von Nikolaus Herman, der Kirchenorganist, Kantor und Lehrer an der Lateinschule war und Chöre von herausragender Qualität ausbildete. Außerdem komponierte er über 200 Kirchenlieder, die häufig Volksmusikelemente aufgriffen und an vorreformatorischen Choralgesang anknüpften. Einige von ihnen, wie »Erschienen ist der herrlich Tag«, gehören heute noch zum evangelischen Standardrepertoire. Der Rat der Stadt unterstützte Herman, indem er Berufsmusiker engagierte. In Sankt Joachimsthal wurde der Gesang mehr noch als anderswo zu einem zentralen Bestandteil des neuen Glaubens.[35]

Häufig war es eine einzige Person, die den neuen Glauben verbreitete. In Ungarn war dies Leonhard Stöckel, der in Wittenberg bei Luther studiert und in dessen Geburtsort Eisleben als Privatlehrer gearbeitet hatte, bevor er 1539 in seine Heimatstadt Bartfeld zurückkehrte, um eine Stelle an der dortigen Lateinschule anzunehmen. Bartfeld war eine der fünf »Freistädte« in Nordungarn. Seine Bewohner waren, wie die von Sankt Joachimsthal, überwiegend Sachsen, nur dass sie schon im 12. Jahrhundert dorthin gezogen waren, um Land zu bestellen, und nicht erst am Vorabend der Reformation, um Silber zu fördern. In den 1540er-Jahren traten sie zum Luthertum über. Stöckel, der bei seiner Heimkehr 29 Jahre alt war, wirkte als Lehrer und Proselytenmacher, aber auch als Stückeschreiber, der in seiner Historia von Susanna in Tragedien weise gestellet (1559) das Drama des Glaubenskampfs auf die Bühne brachte, wobei die tugendhafte Titelfigur die evangelische Kirche verkörperte, die vom Papst und den Osmanen bedroht wurde.[36]

Unter den Sachsen in Transsylvanien gab es in Gestalt von Johannes Honterus ein Pendant zu Stöckel. Honterus war in dem in einem engen Karpatental gelegenen Kronstadt geboren, einer der sieben von Sachsen in der Region gegründeten Städte – daher der Name »Siebenbürgen«. Mit lutherischen Ideen kam er während seines Studiums im Reich und des anschließenden Aufenthalts in Basel, wo er als Holzschneider und Verlagslektor arbeitete, in Berührung. 1533, mit 35 Jahren, kehrte er in seine Heimatstadt zurück, wo er zum Stadtpfarrer und Direktor der Lateinschule berufen wurde. (Lateinschulen oder Gymnasien spielten in Ostmitteleuropa eine herausragende Rolle bei der Religionsreform.) In den 16 Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1549 verließ er Kronstadt nur noch ein Mal, um Luther in Wittenberg zu besuchen. Honterus gründete die erste Druckerei in der Region, um seine eigenen Werke zu verbreiten, und später auch eine Papiermühle und eine Bibliothek. Zu seinen Werken gehört eine Weltbeschreibung in Versen und Karten.[37]

Deutschsprachige waren die ersten Konvertiten zum evangelischen Glauben, aber das Luthertum fand auch in der ungarischen Bevölkerung Widerhall. Manchmal missionierten Ungarischsprachige deutscher Herkunft, wie Gaspar Heltai, der in Wittenberg studiert hatte und nach Klausenburg in seiner Heimat Transsylvanien zurückgekehrt war, die örtliche Bevölkerung. Er gründete die erste Druckerei der Stadt sowie eine Papiermühle, eine Brauerei und eine öffentliche Badeanstalt. Unter den Reformatoren des 16. Jahrhunderts, die Heltai nachfolgten, ragen zwei Wittenberger Studienkollegen heraus: der Prediger und Schriftsteller Matyas Devai Biro, der als »ungarischer Luther« bekannt ist, und der Lehrer und Drucker Johannes Sylvester, der ein ungarisches Neues Testament herausbrachte. Am Rand von Ungarn breiteten sich evangelische Ideen auch bei anderen Volksgruppen, wie den Slowaken und Kroaten, aus.

In den frühen 1520er-Jahren hatten lutherische Ideen auch am Hof Eingang gefunden, aber erst die katastrophale Niederlage der Ungarn gegen die Osmanen in der Schlacht bei Mohács im Jahr 1526 ebnete der evangelischen Reform den Weg. Bei der osmanischen Brandschatzung der Hauptstadt Buda verloren der 20-jährige König Ludwig II. sowie viele katholische Bischöfe des Landes und ein großer Teil des Adels ihr Leben. Danach war die Autorität von Staat und Kirche geschwächt; zugleich stärkte die Katastrophe die Überzeugung, dass ein verrottetes System der Reinigung bedurfte, was die Idee einer Reform umso anziehender machte. Da das Königreich anschließend praktisch geteilt wurde, fiel es der religiösen Orthodoxie noch schwerer, ihre Macht wiederherzustellen, wodurch sich Reformatoren ein Freiraum öffnete. Außerdem stärkte es die Stellung von Großgrundbesitzern, die zum Luthertum übergetreten waren und jenen Schutz bieten konnten, die durch ihre evangelischen Predigten den Zorn lokaler Bischöfe auf sich gezogen hatten.

Krone und Bischöfe sowie Städte und Adel bildeten das Kräfteparallelogramm, in dem die Reformation überall in Europa vonstattenging – einschließlich Englands. Denn trotz aller Unterschiede der anglikanischen Kirche, die dort schließlich entstand, wird die Ausnahmestellung Englands leicht übertrieben. Die politischen Motive, die Heinrich VIII. veranlassten, mit Rom zu brechen, hatten speziell mit seinen Heiratsplänen zu tun, aber der Verlauf der englischen Reformation entsprach den Ereignissen in Skandinavien, insbesondere in Schweden. Die englische Reformation war wie ihre kontinentalen Pendants bei jedem Schritt von aus Deutschland kommenden Ideen geprägt. England unterhielt enge materielle und kulturelle Beziehungen zum Kontinent. Kaufleute und Gelehrte brachten evangelische Ideen über den Ärmelkanal, und in Gesprächskreisen wurden die Bücher und Pamphlete der Reformatoren diskutiert. Solche Zirkel entstanden in London und Oxford, wo der Buchhändler Thomas Garrett die zentrale Figur war. Die berühmteste protestantische Zelle traf sich im White Horse Inn in Cambridge. Zu ihren Mitgliedern gehörten William Tyndale, Hugh Latimer, Thomas Cranmer, Myles Coverdale, John Bale, Nicholas Ridley, Thomas Bilney und Robert Barnes. Ihr gemeinsames Interesse an evangelischen Ideen machte sie zu einem »kleinen Deutschland«.[38] Aus ihren Reihen kamen Haupt- und Nebendarsteller der englischen Reformation sowie einige der berühmtesten protestantischen Märtyrer Englands.

Heinrich VIII. machte sich schon früh mit Luthers Gedanken vertraut, und er verabscheute sie. Von Papst Leo X. zum Verteidiger des Glaubens ernannt, begann er protestantisches Gedankengut zu verfolgen. Dessen Anhänger widerriefen, verstummten oder gingen auf den Kontinent ins Exil. Robert Barnes emigrierte nach Deutschland, wo er Luther kennenlernte – beide waren ehemalige Augustiner –, und kehrte als vollends konvertierter Anhänger des neuen Glaubens zurück. Myles Coverdale, ein weiterer Augustiner und Verfasser der ersten vollständigen englischen Bibelübersetzung, ging 1528 ebenfalls auf den Kontinent, wo er sich insgesamt dreimal im Exil aufhalten sollte. William Tyndale verließ England 1524 und ging wie viele andere nach Wittenberg und reiste anschließend herum, um für seine Übersetzung des Neuen Testaments einen Verleger zu finden, der ersten auf Englisch. Der Druck begann 1525 in Köln, wurde wegen Widerstands gegen die Veröffentlichung abgebrochen und im folgenden Jahr rheinaufwärts in Worms, wo man gerade dabei war, zum evangelischen Glauben überzutreten, vollendet. Zusammen mit weiteren, in Antwerpen gedruckten Exemplaren wurden die Bücher über den Ärmelkanal nach England geschmuggelt. Als Tyndale 1536 auf Anordnung des Kaisers in Antwerpen verhaftet und in der Festung Vilvoorde nördlich von Brüssel auf dem Scheiterhaufen erdrosselt und verbrannt wurde, waren schätzungsweise 16 000 Exemplare seines Neuen Testaments in England im Umlauf.[39] Bei einer Bevölkerung von nicht mehr als 2,5 Millionen Menschen entspräche dies heute 350 000 Exemplaren.

Ein vorsichtigeres Mitglied der White-Horse-Gruppe, Thomas Cranmer, knüpfte eine eigene, persönliche Verbindung zum Kontinent, indem er 1532 die Nichte des bekannten lutherischen Theologen Andreas Osiander aus Nürnberg heiratete.[40] Es war allerdings keine Heirat eines verzweifelten Emigranten, sondern ein Zeichen für die veränderte Lage in England. Auslöser des Wandels war »des Königs große Angelegenheit«. Heinrich VIII. hatte seit 1527 versucht, seine Ehe mit Katharina von Aragon annullieren zu lassen, wobei er als Grund angab, es sei eine Sünde gewesen, die Witwe seines Bruders zu heiraten. 1529 wandte Katharina sich an Rom, und zwischen diesem Zeitpunkt und 1533 führte Heinrichs Streben nach Annullierung seiner Ehe zum Bruch mit Rom. Eine zentrale Rolle bei dieser Entwicklung spielte Cranmer. Er gehörte zu der Gruppe gemäßigter Theologen, die Heinrich 1532 nach Deutschland entsandte, um die Meinung der Gelehrten auf dem Kontinent einzuholen und Argumente zu finden, die das Verlangen des Königs unterstützten. Im folgenden Jahr wurde Cranmer zum Erzbischof von Canterbury ernannt, und in dieser Eigenschaft annullierte er schließlich Heinrichs Ehe, so dass die zweite Ehe des Königs mit Anne Boleyn den kirchlichen Segen erhalten konnte.

Cranmer war eine der beiden entscheidenden Figuren, die Heinrichs Reformation vorantrieben. Die andere war Thomas Cromwell, den die Welt, soweit sie ihn kannte, einst als denjenigen in Erinnerung hatte, der eine »Tudor-Revolution der Regierung« durchgeführt hatte; heute ist er vielen eher als überraschend sympathischer und erstaunlich moderner Held von Hilary Mantels historischer Romantrilogie Wolf Hall (Wölfe), Bring up the Bodies (Falken) und The Mirror and the Light (Spiegel und Licht) bekannt.[41] Der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Cromwell trat auf der politischen Bühne zum ersten Mal als Mitarbeiter einer Figur mit ähnlicher Herkunft in Erscheinung, des Kardinals Thomas Wolsey. Als ebenso rücksichtsloser wie geschickter Taktiker überlebte Cromwell dessen Sturz und wurde später Heinrichs rechte Hand, als die er Klöster und Stifte auflöste und die königliche Oberhoheit über die Kirche durchsetzte. Er selbst war ein diskreter, aber überzeugter Protestant mit Verbindungen zu Glaubensgenossen im In- und Ausland.[42] Einer seiner vertrauten Mittelsmänner war Stephen Vaughan, ein protestantischer Kaufmann und gelegentlicher königlicher Gesandter – er handelte unter anderem königliche Anleihen bei den Fuggern aus – mit Kontakten zu Emigrantennetzwerken auf dem Kontinent, der 1523 in Cromwells Dienste trat. Ein anderer guter Bekannter Cromwells in den 1530er-Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Macht, war Hans Holbein, der Maler der Gesandten. Holbein hatte England zum ersten Mal 1526 besucht, war dann 1532 zu einem längeren Aufenthalt zurückgekehrt und zum Hofmaler aufgestiegen. Sein schmeichelhaftes Porträt Heinrichs VIII. von 1536/37 ist bis heute eines der berühmtesten Bildnisse eines englischen Monarchen. Anne Boleyn, selbst eine protestantische Konvertitin, war eine mächtige Förderin sowohl Holbeins als auch Cromwells und Cranmers.

Als Holbein sein Porträt vollendete, war die Königin allerdings schon tot. Sie war, durch ein von Cromwell geschmiedetes Komplott gestürzt, 1536 hingerichtet worden. Vier Jahre später wurde Cromwell selbst, als Opfer einer Adelsfraktion religiöser Konservativer, aus fadenscheinigen Gründen hingerichtet. (Cranmer ist es zwanzig Jahre später ebenso ergangen.) Die englische Reformation war ein langwieriger, diskontinuierlicher Prozess, der durch Kämpfe am Hof zwischen Protestanten und Konservativen gekennzeichnet war, die beide ihre Überzeugungen nicht eindeutig zu erkennen gaben, und durch Revolten wie die »Pilgerfahrt der Gnade« von 1536/37 aufgehalten wurde, bei denen die Ablehnung religiöser Reformen durch wirtschaftliche Not verstärkt wurde. Heinrich VIII. schwankte zwischen verschiedenen Positionen, und nach seinem Tod im Jahr 1547 erlebte England eine neue Art von Instabilität, denn in den nächsten zwölf Jahren hatte es drei Monarchen: zuerst den jungen Edward VI., unter dem die Reformation mit größerem Eifer vorangetrieben wurde, dann seine katholische Halbschwester Maria Tudor, die den entgegengesetzten Kurs einschlug, und schließlich Heinrichs Tochter Elisabeth, die 1558 den Thron bestieg und für eine gewisse Stabilität sorgte.

Dieser stotternde Rhythmus löste mehrere Aus- und Einwanderungswellen aus, durch die England eng mit dem Kontinent verbunden blieb. Viele der ersten Emigranten der 1520er-Jahre kehrten im folgenden Jahrzehnt zurück, aber das 1540 von Heinrich angerichtete Blutbad, dem Robert Barnes und zwei andere Protestanten – und drei Katholiken – zum Opfer fielen, trieb radikale Reformatoren erneut ins Exil. So musste Myles Coverdale, der 1535 aus seinem ersten Exil zurückgekehrt war, wieder fliehen. Er arbeitete zunächst als Übersetzer in Straßburg, erwarb dann in Tübingen den Titel eines Doktors der Theologie und wurde Pfarrer in Deutschland. Aber nicht alle Emigranten von 1540 waren Geistliche. Der Kaufmann Richard Hilles, der spätere Mitgründer der Merchant Taylors’ School, einer Privatschule der Gilde der Tuchhändler, emigrierte ebenfalls und ließ sich in Straßburg nieder. Nach der Thronbesteigung Edwards VI. im Jahr 1547 kehrte sich die Wanderungsbewegung um. Erzbischof Cranmer, endlich frei von Heinrichs Ausflüchten, schlug einen entschiedeneren protestantischen Kurs ein. Sein geistiger Horizont war europäisch, und er nutzte die Verfolgung von Protestanten auf dem Kontinent unter Karl V., um führende Intellektuelle nach England zu locken. Die Zuwanderer übernahmen die Regius-Professuren in Oxford und Cambridge. Es gab sogar erfolglose Versuche, Melanchthon Wittenberg abspenstig zu machen. Die akademischen Theologen, die unter Edward VI. nach England kamen, drückten der anglikanischen Kirche ihren Stempel auf. So war in Cranmers zweitem englischen Gebetsbuch der Einfluss Martin Bucers zu spüren, und die Zweiundvierzig Artikel der Kirche von England von 1552 lehnten sich an süddeutsche protestantische Vorbilder an. Aber der kontinentale Einfluss reichte über die theologische Lehre hinaus. Protestantische Drucker aus Antwerpen, die vor der Verfolgung durch Karl V. in den Spanischen Niederlanden geflohen waren, brachten ihr Können nach England mit. In der Folge nahm die Zahl populärer evangelischer Traktate enorm zu.

Als Maria I. 1553 nach dem Tod ihres Halbbruders den Thron bestieg, drehte sich die Migrationsrichtung erneut um. Während Maria begann, die Veränderungen der Reformation rückgängig zu machen, flohen rund 800 Geistliche, Gelehrte, Studenten, Landadlige, Kaufleute und andere Vermögende mit ihren Haushalten auf den Kontinent. Sie entkamen damit der Verfolgung in England, durch die bis 1558 rund 300 Protestanten ihr Leben verloren, unter ihnen Cranmer. Unter den Flüchtlingen befand sich neben einem Dutzend früherer und künftiger Bischöfe auch der Historiker und Dramatiker John Bale, ein Mitglied der ursprünglichen White-Horse-Gruppe, der 1540 nach Cromwells Sturz aus England geflohen, nach Edwards Thronbesteigung zurückgekehrt und nun 1553 erneut ins Ausland gegangen war. Er reiste über die Niederlande nach Frankfurt am Main und von dort weiter nach Basel. Denselben Weg nahm sein guter Freund, der junge Gelehrte und Geistliche John Foxe, der sich zusammen mit seiner schwangeren Frau kurz vor seiner drohenden Verhaftung nach Holland eingeschifft hatte. In Straßburg und Basel erschienen die frühesten Fassungen seiner berühmten Actes and Monuments of These Latter and Perilous Days, besser bekannt als Foxe’s Book of Martyrs. Diese frühen Fassungen waren in Latein geschrieben. Die bedeutendere, die 1559 in Basel veröffentlicht wurde, umfasste vergleichsweise bescheidene 600 Seiten. Erst nach seiner Rückkehr nach England unter der Herrschaft Elisabeths I. erschien eine längere englische Fassung mit rund 1800 Seiten, in der Foxe ausführlicher und mit mehr grausamen Einzelheiten über die Opfer von »Maria der Blutigen« schrieb. Der Grundstock dieses Buchs, das wie wenige andere die englische protestantische Identität gegen den Katholizismus stärkte, war ein Produkt des Exils »im fernen Teil Deutschlands«.[43]

Die Orte, an denen sich die englischen Emigranten niederließen, sagen viel über den sich verändernden Charakter der Reformation aus. Die meisten Flüchtlinge begaben sich zuerst in die Niederlande, vor allem nach Antwerpen, und schwärmten von dort nach Deutschland aus, nach Emden im Norden, Wesel, Duisburg und Worms im Westen, nach Frankfurt am Main und in den Süden nach Straßburg, Basel, Aarau, Zürich und Genf. Diese Städte stellten einen Querschnitt durch den nichtlutherischen oder reformierten Protestantismus dar. Straßburg war schon früh ein Experimentierfeld oder Treibhaus für unterschiedliche Formen der Reformation. Aus dem Briefwechsel des Schweizer Reformators Heinrich Bullinger weiß man, dass er in den 1550er-Jahren mit nicht weniger als zehn englischen Emigranten in Straßburg in Kontakt stand.[44] Bullinger, der Huldrych Zwinglis Form des reformierten Protestantismus fortsetzte, empfing auch englische Flüchtlinge, die in Zürich, Aarau oder Basel Zuflucht gesucht hatten. Daneben gab es jene Spielart des reformierten Protestantismus, die in zunehmendem Maß mit ihm identifiziert wurde, nämlich den Calvinismus, dessen Schöpfer der aus Frankreich geflohene Konvertit Johannes Calvin war, der sich einige Zeit in Basel und Straßburg aufhielt, bevor er sich 1541 in Genf niederließ. Manche englischen Emigranten gingen in calvinistische Hochburgen im Norden, wie Emden oder Wesel, aber die größte marianische Exilgemeinde war mit rund 140 Haushalten diejenige in Genf selbst. Ihre Angehörigen übernahmen die presbyterianische Gottesdienstform, die sie später nach England mitbrachten. Genf war auch der Ort, in dem zwei weitere Grundpfeiler des englischen Protestantismus entstanden: die unter Aufsicht von Calvins Schwager William Whittingham entstandene Genfer Bibel und Myles Coverdales und John Knox’ im Frühjahr 1558 erschienenes berüchtigtes Buch First Blast of the Trumpet Against the Monstrous Regiment of Women (»Der erste Trompetenstoß gegen die monströse Weiberherrschaft«).

Diese in einem kurzen, aber intensiven kontinentaleuropäischen Exil geschaffenen Praktiken und Schriften sollten – wie Foxes Book of Martyrs – in der Heimat nachhaltigen Einfluss ausüben. Gleiches galt für die Risse, die unter den Emigranten aufbrachen, am augenfälligsten in der englischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Dort führten die Meinungsverschiedenheiten zwischen Anglikanern und radikalen Reformierten zu einem offenen Konflikt zwischen jenen, die sich auf die Seite von Richard Cox stellten, einer Schlüsselfigur der Kirche von England unter Edward VI., und den Anhängern des reformierten Protestanten John Knox. Es standen sich also »Coxiten« und »Knoxiten« gegenüber. Der Streit endete damit, dass Letztere aus der Exilkirche ausgeschlossen wurden und nach Genf weiterzogen. Längerfristig war in dem Frankfurter Konflikt bereits die Frontlinie sichtbar geworden, an der sich im elisabethanischen England die Verfechter eines gemäßigten Anglikanismus und theologische Radikale gegenüberstehen sollten, die sich selbst »die Frommen« nannten, für gewöhnlich aber als Puritaner bekannt sind.[45] Diese im Exil schärfer gewordene Auseinandersetzung sollte in der Zukunft, nachdem die Puritaner den Atlantik überquert hatten, sogar noch größere Bedeutung erlangen.

Von seiner Ursprungsregion in der Schweiz und in Süddeutschland breitete sich der Calvinismus über Europa aus – nach England und (insbesondere) Schottland, in die Niederlande, nach Frankreich, wo sich seine Anhänger Hugenotten nannten, sowie nach Polen und Ungarn, wo die reformierte Botschaft im östlichen Teil der Puszta besonders starken Widerhall fand, da der Vormarsch der Osmanen dort die alte klerikale Elite diskreditiert hatte. Der reformierte Protestantismus überquerte Grenzen leichter als das Luthertum, da er weniger als dieses eine fürstliche Reformation von oben darstellte. Aber auch Herrscher trugen zur Verbreitung bei. Ein Beispiel dafür ist der kosmopolitische polnische Adlige und Gelehrte Johannes à Lasco (Jan Łaski), dessen Wanderleben ihn in den Jahren nach 1540 nach Basel, Emden, London, Kopenhagen, Brandenburg und über Litauen zurück nach Polen führte. Diese bemerkenswerte Reihe von Grenzüberquerungen wäre ohne Förderer wie die Gräfin Anna von Oldenburg und einflussreiche Figuren im Umkreis Edwards VI. von England nicht möglich gewesen. Ein anderes Beispiel ist die Universität von Heidelberg, die durch fürstliche Förderung zum akademischen Mittelpunkt des Calvinismus wurde. Dank des reformiert-protestantischen Pfälzer Kurfürsten Friedrich III. stellte sie nach 1560 die Genfer Akademie in den Schatten und musste nur die Universität Leiden als gleichrangig neben sich dulden. Sie zog Studenten und emigrierte Gelehrte aus ganz Europa an.[46] So wie die ursprüngliche, lutherische Reformation ein deutsches Produkt war, trug auch die zweite Reformation einen deutlichen deutschen Stempel. Ihre Lehre kam in zunehmendem Maß aus Heidelberg, während der Kirchengesang, der die »Geheimwaffe« der reformierten Gemeinden darstellte, aus Straßburg kam.[47]

Der reformierte Protestantismus war seinem Naturell nach kämpferisch und international ausgerichtet. Beides passte gut zusammen. Es gab nicht nur einen internationalen Calvinismus, sondern, wie Kritiker feststellten, auch eine calvinistische Internationale.[48] Es ist interessant, über die moderne Analogie nachzudenken, allerdings sollte man die Parallelen mit disziplinierten, ideologisch motivierten Bewegungen des 20. Jahrhunderts nicht übertreiben. Es trifft sicherlich zu, dass der reformierte Glaube sich nach 1560 in verschiedenen Teilen Europas, vor allem in Frankreich und den Niederlanden, als Volksbewegung explosionsartig ausbreitete. Dies löste jedoch einen Gegenschlag aus, der zu Flüchtlingswellen führte, die wiederum den internationalen Charakter der Bewegung stärkten. Der Calvinismus war in einer Zeit, in der die Zahl religiöser Emigranten so hoch war wie noch nie, eine Reformation von Flüchtlingen.[49] Während des niederländischen Aufstands gegen die spanische Herrschaft verließen am Ende der 1560er-Jahre rund 100 000 Menschen die Niederlande in Richtung England oder Deutschland; weitere folgten im nächsten Jahrzehnt nach Ereignissen wie der Brandschatzung von Antwerpen im Jahr 1576. Die deutschen Lande nahmen etwa zweimal so viele von ihnen auf wie England. Wesels Einwohnerschaft verdoppelte sich durch die Ankunft von Flüchtlingen. Emden, an der Mündung der Ems direkt gegenüber den Niederlanden auf der anderen Flussseite gelegen, wurde zu einem bevorzugten Anlaufpunkt religiöser Emigranten. In den 1550er-Jahren hatte die Stadt bereits englische Protestanten, die vor der Verfolgung unter Königin Maria geflohen waren, aufgenommen. Jetzt veränderte sie sich: Der Zustrom holländischen Handelsreichtums ermöglichte es ihr, ein neues Rathaus zu bauen, und mit 530 Schiffen besaß sie eine der größten Handelsflotten Europas. Auch Drucker kamen nach Emden und machten es zu einem Publikationszentrum protestantischer Literatur.[50] Wie die politischen Emigranten des 20. Jahrhunderts bedeuteten die Flüchtlinge, die vor der »Spanischen Furie« geflohen waren, eine Bereicherung ihrer Aufnahmeländer, ob nun als Kaufleute, Handwerker, Drucker oder Verleger. Theodor de Bry und Levinus Hulsius, zum Beispiel, waren aus Lüttich beziehungsweise Gent geflohen und hatten sich in Frankfurt am Main niedergelassen, wo beide zu bedeutenden Verlegern von Reisebüchern wurden. Um 1600 lebten 3000 bürgerliche Emigranten aus den Niederlanden in der Stadt. Ihre Gemeinde war größer als die jüdische, die mit rund 2500 Mitgliedern immerhin eine der größten in Deutschland war.[51]

Die Emigrationswellen setzten sich im 17. Jahrhundert fort. Hunderttausende flohen nach der Niederschlagung des böhmischen Aufstands durch kaiserliche Truppen im Jahr 1620, und die Flucht von Protestanten aus Teilen des Reichs, in denen die zwangsweise Wiedereinführung des Katholizismus drohte, wurde zu einer ständigen Begleiterscheinung des Dreißigjährigen Kriegs.[52] Dies war der Hintergrund des Aufruhrs und der Unsicherheit, die Samuel Hartlib 1628 veranlassten, nach England zu emigrieren. Gegen Ende des Jahrhunderts, waren es dann wieder deutsche Lande, die eine neue Generation von Flüchtlingen aufnahmen. Nachdem die Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahr 1685 eine Zeit der Verfolgung eingeläutet hatte, verließen rund 200 000 Hugenotten Frankreich, von denen sich 40 000 in Deutschland niederließen. Von Brandenburg unter Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten, wurden sie regelrecht angeworben; seine Agenten sprachen in den Zwischenstationen Amsterdam, Köln, Hamburg und Frankfurt am Main neu eingetroffene Hugenotten an und boten ihnen Geld und Pässe, wenn sie nach Brandenburg kamen. Fast 20 000 siedelten sich in Brandenburg an. In Berlin bildeten sie bald ein Fünftel der Bevölkerung. Es waren nicht die wohlhabendsten Flüchtlinge – die gingen nach England oder in die Niederlande –, aber sie brachten handwerkliche Fertigkeiten mit. Auch die Landgrafschaft Hessen-Kassel umwarb sie und gründete sogar »Hugenottenstädte«, in denen die Zuwanderer unter sich leben konnten. Dies war sinnvoll, denn die Flüchtlinge regten zwar die Wirtschaft ihrer Aufnahmeländer an, stießen anfangs aber auf Ablehnung – wegen der ihnen gewährten Sonderrechte, ihrer geschäftlichen Erfolge, der fremden Sprache und nicht zuletzt ihrer anderen, kämpferischen Art der Glaubensausübung, die viele der Lutheraner, unter denen sie jetzt lebten, fast ebenso verabscheuten, wie es die katholischen Verfolger, vor denen die Hugenotten geflohen waren, taten.[53]

Dass reformierte Protestanten eher als Lutheraner bereit waren, Grenzen zu überqueren, war zum Teil schierer Notwendigkeit geschuldet. Um zu überleben, musste man manchmal an einen anderen Ort gehen. Dies traf umso mehr für die von Luther »Schwärmer« genannten Anhänger einer radikalen Reformation zu. Zu ihnen gehörten überwiegend Anabaptisten und ihre Ableger wie süddeutsche Wiedertäufer, holländische Mennoniten, die Herrnhuter Brüdergemeine und die schlesischen Schwenkfelder. Manche waren aktivistisch, andere quietistisch. Die meisten hegten eine millenaristische Hoffnung auf einen neuen Himmel auf Erden. Und die scheinbar festen geografischen Identitäten, die in ihren Namen festgeschrieben waren, vermittelten einen falschen Eindruck, denn in Wirklichkeit waren es Gemeinden, deren Mitglieder um der Selbsterhaltung willen häufig gezwungen waren fortzuziehen.[54] Eine weitere dieser Gemeinden, die Hutterer, floh aus Tirol nacheinander nach Mähren, Siebenbürgen und in die Ukraine. Solche Gruppen waren in ganz Europa zu finden, von Südrussland bis England, und ihre Ideen tauchten in politischen Krisenzeiten regelmäßig wieder auf.

Nach Ansicht des Historikers John Bossy sind diese Lehren im 17. Jahrhundert als »in einer christlichen Kultur verborgene Sporen« nach England gelangt. »Auf jeden Fall«, fährt er fort, »bekommt man, wenn man sich von der Geschichte des radikalen Christentums im Deutschland der 1520er- und 1530er-Jahre dem England der 1640er- und 1650er-Jahre zuwendet, unweigerlich das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein.«[55] Die Sporen gelangten über Europa hinaus. So wie englische Puritaner den Atlantik überquerten und französische Hugenotten in Florida eine Kolonie zu gründen versuchten, siedelten sich auch radikale protestantische Gemeinden – die Hutterer, die Mennoniten und andere – in der Neuen Welt an.[56] Manche von ihnen wurden zu wichtigen Vermittlern zwischen Alter und Neuer Welt. Ein Überrest der hussitischen Böhmischen Brüder, die nach der Niederschlagung des böhmischen Aufstands im Jahr 1620 über ganz Europa verstreut waren, gründete sich in Sachsen auf dem Gut eines mit ihnen sympathisierenden deutschen Adligen als Herrnhuter Brüdergemeine neu, deren missionarisches Netzwerk im 18. Jahrhundert dazu beitragen sollte, die atlantische Welt zusammenzubringen.[57]

Der Protestantismus wurde jedoch schon vor dem Beginn des 18. Jahrhunderts über die Grenzen Europas hinausgetragen, allerdings nicht durch systematische Missionierung, sondern von Einzelnen und kleinen Siedlergruppen.[58] Bei der katholischen Kirche, die im 16. Jahrhundert in zunehmendem Maß eine sowohl globale als auch universale Stellung für sich beanspruchte, sah die Sache anders aus. Ihre energische Reaktion auf die protestantische Herausforderung in Europa wurde von einer ganzen Reihe missionarischer Unternehmungen begleitet, die den katholischen Glauben nach Amerika, auf die Philippinen sowie nach Japan, China und Indien brachten. An dieser Aktivität waren viele Mönchsorden beteiligt, bekannte wie die Franziskaner, Dominikaner, Benediktiner und Augustiner ebenso wie weniger bekannte. In Neuspanien beispielsweise waren Orden wie die Mercedarier, Hieronymiten und Antoniter aktiv. Unter diesen Missionaren waren zweifellos auch Deutsche, obwohl genaue Angaben häufig fehlen.[59] Aber der Orden, der am engsten mit den Überseemissionen und allgemeiner mit weltweiter Mobilität in Verbindung gebracht wird, ist die Gesellschaft Jesu.[60] Die große Aufmerksamkeit, die ihre Tätigkeit auf sich zieht, ist zum Teil darin begründet, dass sie weitaus besser Akten führte als alle anderen Orden, und aus diesen Akten weiß man, dass Deutsche eine bemerkenswert große Rolle bei der Missionierung Amerikas und Asiens spielten.

Sie erfüllten sie jedoch erst seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts, denn zuvor war es deutschen Jesuiten nicht erlaubt, nach Amerika oder Asien zu reisen. Sie wurden zu Hause bei der Überwindung der Krise der katholischen Kirche gebraucht. Als der Hauptarchitekt der Gegenreformation im Heiligen Römischen Reich, Peter Canisius, 1561 vier deutsche Jesuitenbrüder für Überseemissionen vorschlug, erhielt er eine Abfuhr. Man brauche alle verfügbaren Priester in Mitteleuropa, wurde ihm mitgeteilt. Im folgenden Jahr wurde es deutschen Jesuiten in aller Form verboten, an Überseemissionen teilzunehmen.[61] In dem halben Jahrhundert danach kamen mehr Jesuiten ins Reich, als Jesuiten es verließen, da Canisius und seine Kollegen, zusammen mit anderen Orden wie den Kapuzinern, die deutschen Lande als frisch zu missionierendes Gebiet behandelten, wobei sie von deutschen Fürsten wie den Wittelsbachern in Bayern und – für gewöhnlich – den Habsburgern massiv unterstützt wurden.

Die Folgen waren dramatisch, verglichen mit der trostlosen Lage, in welcher die Kirche am Anfang war, als die meisten Städte und viele Fürsten des Reichs zum neuen Glauben übertraten und sich bei Katholiken Verzweiflung breitmachte. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatte sich die Reformation über die Hälfte Europas ausgedehnt und expandierte weiter; ein Jahrhundert später war dieser Anteil auf ein Fünftel geschrumpft. Die größten Veränderungen fanden in Mittel- und Osteuropa statt: in Österreich, Böhmen, Mähren und Polen-Litauen.[62] Im deutschen Kerngebiet war die Kirchenorganisation wiederaufgebaut und der katholische Gottesdienst gemäß der auf dem Konzil von Trient (1545 – 1563) beschlossenen Standardliturgie reformiert worden. Diese Erneuerung, die von vielen Vertretern der deutschen Kirchenhierarchie abgelehnt wurde, war zu einem großen Teil den ausländischen Jesuiten zu verdanken, die Canisius um sich versammelt hatte – der selbst Holländer war, aber in Köln studiert hatte. Zu den Maßnahmen gehörten der Kirchenneubau, die Gründung von Bildungseinrichtungen wie den Universitäten von Ingolstadt und Dillingen, an denen künftige Kirchenführer ausgebildet werden sollten, die Einrichtung von Druckereien, die Förderung von Laienbruderschaften und die Volksmission, mitsamt Freiluftaltären, Musik, Prozessionen und Kanonensaluten. Ein eher zeitgebundener Aspekt der katholischen Erneuerung war der »Kampf« gegen die Osmanen, der als katholische Verteidigung des Christentums stilisiert wurde. (Einige deutsche Jesuiten nahmen an den Missionen teil, die deutschen, ungarischen und slawischen Katholiken in osmanisch besetzten Gebieten Beistand leisteten.)[63] Gleichzeitig wurde der Märtyrer- und Heiligenkult wiederbelebt und auf neue Märtyrer, wie Franz Xaver, ausgedehnt und die Wallfahrt zu Orten wie Altötting und Mariazell gefördert.[64] Viele Praktiken, die man heute mit »traditionellem« deutschen (insbesondere bayerischen) Katholizismus verbindet, wie der Heiligen- und Reliquienkult, die Marienanbetung, Heiligenschreine und Wallfahrten, sind erst in dieser Zeit in vollem Umfang üblich geworden.

Waren die Institutionen und Praktiken der Gegenreformation in Deutschland Importe aus dem »Süden«? Dies glaubten jedenfalls manche deutschen Katholiken damals, die über den Einfluss der Jesuiten oder den italienischen Stil murrten. Doch dieser Vorwurf ist nicht ganz fair. Während einige der neuen vereinheitlichten Praktiken, wie der zuerst von Carlo Borromeo in Mailand eingeführte Beichtstuhl, tatsächlich aus Italien stammten, kamen andere, wie der Rosenkranz und die Begräbnismesse, aus dem »Norden«.[65] Hinzu kommt, dass die katholische Erneuerung in Mitteleuropa keineswegs nur eine von oben befohlene Initiative war, sondern die katholischen Laien durchaus einen Anteil an ihr hatten.[66] Gleichwohl wurde der mitteleuropäische Katholizismus auf zweierlei Weise von außen in eine neue Richtung gelenkt. Einerseits wurde von den Katholiken eine neue Art von Disziplin gefordert, was zur gleichen Zeit ganz ähnlich auch im Luthertum und im Calvinismus geschah. Dieses Anliegen war ein zentrales Thema des Konzils von Trient, das nicht nur durch neue liturgische Praktiken wie die verpflichtend vorgeschriebene lateinische Messe, sondern auch durch den Beichtstuhl und eine regelmäßigere Beichte als christliches Disziplinierungsinstrument verkörpert wurde. Buße war etwas, das man tat, Disziplin etwas, das man erlernen musste.[67] Als unermüdliche Religionslehrer und Beichtväter waren die Jesuiten eng mit dieser Entwicklung verbunden. Aber sie wurden zu Recht auch mit einem zweiten Aspekt der deutschen katholischen Erneuerung, die auf eigene Weise »südlich« war, identifiziert. Damit meine ich die von den Jesuiten bei der Verbreitung des Glaubens bevorzugte emotionale, »italienische« Methode, die in der Theatralik ihrer Mission in deutschen Landen zutage trat, allerdings bei der Bevölkerung nicht immer gut ankam. In dauerhafterer Form zeigte sich diese »sinnliche Anbetung« in den großen barocken Jesuitenkirchen. St. Michael in München, die in einigen Gestaltungsmerkmalen der Mutterkirche der Jesuiten in Rom ähnelt, ist ein Beispiel dafür, ebenso wie St. Mariä Himmelfahrt in Köln.[68]

Drei Jahre bevor 1618 in Köln der Grundstein für St. Mariä Himmelfahrt gelegt wurde, war das förmliche Verbot der Teilnahme an Überseemissionen für deutsche Jesuiten aufgehoben worden. Die Gegenreformation war inzwischen weit vorangekommen, und die Zahl der Priester im Jesuitenorden war enorm gestiegen.[69] Als im Januar 1616 an der Universität von Ingolstadt die Neuigkeit eintraf, dass vier ihrer Studenten nach »Indien« reisen durften, war die Freude groß. »Es ist unglaublich«, schrieb der Universitätslehrer Johann Irling an den Jesuitengeneral Mutio Vitelleschi, »mit welchem Jubel die außerordentliche […] Botschaft […] das ganze Colleg erfüllt hat. O ewig denkwürdiger Tag! Die Obern sahen sich gezwungen, bezüglich der Regel des Stillschweigens ein Auge zuzudrücken, damit die überströmenden Gefühle des Herzens einen Ausweg fänden. Keiner konnte mehr ein Buch anrühren, keiner den gewohnten Geschäften nachgehen, keiner sich ruhig halten […].« Einer der vier Auserwählten, Kaspar Rues, bestätigte in einem Brief die erregte Stimmung: »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich bin so voll des Jubels und außer mir vor Freude. […] Ich weiß auch nicht, was ich auf Erden Lieberes hätte wahrnehmen können. Ja, ich gehe, ich fliege, wohin der gute Gott, wohin der heilige Gehorsam mich ruft.«[70]

Überschäumender Eifer, Gehorsamsbeteuerung, Erlösungshoffnung, Faszination des »Exotischen«, die Annahme des möglichen Martyriums: Dies beseelte die jungen deutschen Jesuiten im 17. Jahrhundert. Kaspar Rues war keine Ausnahme. Nicolas Trigault, der in Belgien geborene Prokurator der Ordensprovinz Japan und China, stellte bei einem Besuch in Ingolstadt fest, dass »jeder dort vor Verlangen nach unserer Mission« brenne.[71] Im Archiv der Jesuiten in Rom werden Tausende von Briefen aus der Zeit zwischen 1615 und 1728 aufbewahrt, in denen Ordensbrüder darum bitten, auf eine Überseemission gesandt zu werden. Auch aus deutschen Landen kamen viele solcher »indipetae«, in denen die Bittsteller ihre philosophischen, sprachlichen und mathematischen Kenntnisse hervorhoben, ihre robuste Konstitution und ihren geistlichen Gehorsam betonten und sich häufig auf den Schwur, Missionar zu werden, beriefen, den sie bei ihrem Eintritt in den Orden geleistet hatten. Einer von ihnen hatte den Wortlaut seines Schwurs, mit Blut geschrieben, eingesandt.[72]

Die meisten Bittsteller wurden enttäuscht. Obwohl das Verbot aufgehoben war, wurde weiterhin eingewandt, dass die deutschen Lande Priester bräuchten. Selbst als die ersten Jesuiten in Ingolstadt sich 1616 auf ihre Abreise vorbereiteten, klagte der Präfekt: »Warum gehen sie in jene entlegenen Länder? Die Zeit ist nahe, wo wir in Deutschland selber ein Indien haben werden, für welches die Zahl der Arbeiter, die jetzt in der Provinz sind, nicht ausreichen wird.«[73] Nur 11 Prozent derjenigen, die eine Auslandsmission anstrebten, wurden angenommen. Manche versuchten es immer wieder. Philipp Jeningen, der Dutzende heimische Missionen in Bayern unternahm, wurde in den letzten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts 21-mal abgelehnt.[74] Er stammte aus der oberdeutschen Provinz, für welche die Quote der angenommenen Anträge am höchsten war – fast eins zu vier. Für die oberrheinische Provinz lag die Quote bei eins zu sechs und für die unterrheinische bei nur eins zu elf.[75]

Zwischen 1610 und den 1730er-Jahren nahmen 760 Jesuiten aus drei deutschen Kernprovinzen an Überseemissionen teil, wozu weitere rund 250 aus Österreich und Böhmen hinzukamen, so dass die Gesamtzahl bei über 1000 liegt.[76] Während des Dreißigjährigen Kriegs blieb die Zahl niedrig, stieg aber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts steil an, da die Zahl der verfügbaren deutschen Jesuiten deutlich zunahm – zwischen 1650 und 1670 hat sie sich mehr als verdoppelt. Ihre Ziele befanden sich in aller Welt. Einige wenige nahmen an der Missionstätigkeit im »Orient« – Ägypten, Syrien, Persien, Armenien und Griechenland – teil, und eine noch kleinere Zahl ging in portugiesische Außenposten in Afrika (Angola und Mosambik).[77] Doch die große Mehrheit wurde nach Lateinamerika und Asien entsandt.

Diejenigen, die nach Lateinamerika gingen, reisten über Lissabon oder Sevilla, nach 1720 auch über Cádiz, um sich dort für die monatelange Fahrt über den Atlantik einzuschiffen. Rund 15 Prozent von ihnen kamen nie dort an, weil sie Krankheiten, Schiffbruch oder Piraten zum Opfer fielen. Diejenigen, die ihr Ziel erreichten, wurden weit verteilt eingesetzt. Es gab deutsche Jesuiten in jeder der sechs lateinamerikanischen Jesuitenprovinzen und in Mexiko. Insgesamt waren es fast 500 Priester, zu denen über 250 »Brüder«, überwiegend Handwerker, hinzukamen. Sie stammten zum größten Teil aus Oberdeutschland.[78] Die zweitgrößte Gruppe bildeten böhmische und die kleinste Gruppe nieder- und oberrheinische Jesuiten.

Anders gesagt: So wie die Gegenreformation dem Katholizismus oberdeutscher Regionen, wie Bayern, einen »südlichen« Wesenszug hinzufügte, stellte die jesuitische Missionierung eine Globalisierung bayerischer Frömmigkeit dar. Vor der endgültigen Abreise notierte ein Heer von Inspektoren die Namen, die Nationalität und das Erscheinungsbild jedes Missionars – »Kein Metzger beguckt ein Kalb so, als wie wir von diesen Herren besehen und beschauet wurden«, schrieb einer von ihnen –, und die spanischen und portugiesischen Behörden standen deutschen Jesuiten häufig misstrauisch gegenüber.[79] Erst nach der Mitte des 17. Jahrhunderts, nachdem die Quote ausländischer Priester zweimal erhöht worden war, wurden sie in größerer Zahl zugelassen. Dennoch konnte die Frage der Loyalität Probleme aufwerfen. In Amazonien stellten die portugiesischen Behörden den Böhmen Samuel Fritz lange Zeit unter Hausarrest, weil sie ihn im Verdacht hatten, für Spanien zu spionieren.[80] Deutsche Jesuiten standen auch in dem Ruf, auf ihre spanischen Glaubensgenossen herabzublicken. Sicherlich ließ der Verfasser eines Leitfadens für deutsche Missionare ein gehöriges Maß an Herablassung erkennen, wenn er den Angesprochenen riet, sich vor Vertraulichkeiten zu hüten, denn: »Deutsche Aufrichtigkeit und spanische, besonders portugiesische, Geistesart passen schlecht zusammen.«[81]

Da deutsche Jesuiten in der Regel nach ihren spanischen, portugiesischen und italienischen Mitbrüdern in den Neuen Welten eintrafen, wurden sie häufig außerhalb der etablierten städtischen Missionszentren eingesetzt. Sie unternahmen viele Missionen zur Bekehrung indigener Völker, denen sie sich selbst als Priester, Lehrer, Ärzte und Pharmazeuten anboten – und oft auch als Mittelsmänner zu den spanischen oder portugiesischen Behörden. Außerdem zeichneten sie Landkarten, notierten lokale Sprachen, stellten Wörterbücher zusammen, fertigten Inventare der örtlichen Flora und Fauna an und verfassten umfangreiche ethnografische Schriften. Freilich gingen sie dabei häufig von überheblichen Annahmen aus. Missionare wollten Siedlungen errichten und hatten wenig Sympathie für die Lebensweise von Sammlern und Jägern. Sie brachten häufig höchst stereotype Vorstellungen über »Wilde« und »Barbaren« mit und fanden die Aufgabe, Eingeborene zu katechisieren, überaus anstrengend. In einem Brief an seinen ehemaligen Philosophielehrer in Graz gestand der Missionar Franz Xavier Zephyris ein, es treffe zwar zu, dass alle Geschöpfe Gottes Söhne von Adam seien, er habe aber »wehemütig […] in der That erfahren, daß ein Papagy ehender etwelche Wörter nachsprechen als ein indischer Knab das Creutz machen lehrne«.[82] Solche Einstellungen wurden im Lauf der Zeit jedoch aufgeweicht oder veränderten sich, und viele Jesuiten lebten jahrzehntelang unter den Völkern, die sie bekehrt hatten. Der Südtiroler Anton Sepp zum Beispiel schaute letztlich mit liebevoller Bewunderung auf die Guarani: Er sei, gesteht er ein, »der gäntzlichen Meynung, es befinde sich unter der Sonnen kein Volck das dergestalt sittsam und ruhig das Zeitliche seegne, als eben diese von der gantzen Welt verachtete, verlassene, arme und einfältige Indianer«.[83]

Alles, was deutsche und andere Jesuiten in Amerika taten, war zweischneidig. Die Kartografie machte die »neuen« Lande für europäische Augen lesbar und diente schließlich Staatengründern als Grundlage; dennoch beruhte sie sowohl auf Respekt vor lokalem Wissen als auch auf Beobachtung und könnte sogar im Interesse der indigenen Bevölkerung gelegen haben. Samuel Fritz’ beispiellos detaillierte und akkurate Landkarten des Amazonasgebiets, in dem er 15 Jahre arbeitete, sollten zeigen, dass die Indianer, bei denen er 38 Missionsstationen gegründet hatte, auf spanischem Boden lebten und brasilianische Sklavenjäger daher kein Recht hatten, sie zu entführen.[84] Dies war eine ausgesprochen praxisorientierte Herangehensweise an die Welt. Ein anderes Beispiel war das große pharmazeutische Netzwerk, das die Jesuiten in Lateinamerika aufbauten, um die Errungenschaften der westlichen Medizin für die indigenen Völker nutzbar zu machen; gleichzeitig hatten sie aber auch großen Respekt für deren Arzneien und Heilpraktiken. Die Jesuiten waren es, die Chinarinde als Malariamedizin in Europa einführten. Unter ihren Brüdern in Lateinamerika waren viele Deutsche, die eine Verschmelzung von europäischer und indigener Medizin anstrebten. Als der Bayer Joseph Zeitler ein Inventar der Apotheke in Santiago de Chile anfertigte, zählte er 900 sowohl europäische als auch indigene Arzneien.[85]

Die reducciónes – für Eingeborene errichtete Siedlungen – bildeten in den rund 150 Jahren der Tätigkeit der Jesuiten in Lateinamerika bis zu ihrer Vertreibung in der Mitte des 18. Jahrhunderts den Kern ihrer Mission. Zu diesem Zeitpunkt lebten rund 300 000 christianisierte Indianer in solchen Siedlungen. Das größte zusammenhängende Siedlungsgebiet und dasjenige, das am meisten Aufmerksamkeit auf sich zog, war der häufig so genannte »Jesuitenstaat«, der sich über Teile von Paraguay, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Brasilien erstreckte. In der 1606 geschaffenen Provinz Paracuaria lebten ein Jahrhundert später 120 000 Indianer in fünfzig Siedlungen. In ihr waren mehr Jesuiten tätig als in jedem anderen Teil Lateinamerikas mit Ausnahme Mexikos. Zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung arbeiteten 564 Jesuiten in der Provinz, darunter fast 400 Priester. Die Deutschen waren spät eingetroffen, doch dann kamen sie in beträchtlicher Zahl; am Ende waren es über hundert. Im Mittelpunkt der Siedlungen befand sich in der Regel ein großer Platz mit einer Kirche an der einen Seite und Langhäusern an den anderen drei Seiten. Sie waren auf der Grundlage der gemeinsamen Wirtschaft organisiert und produzierten Baumwolle, Tierhäute, Seile, Boote, Werkzeuge, Musikinstrumente und Yerba-Mate. Ihre Wirtschaft verband also indigene mit europäischen Elementen, und auch ihre Religionsausübung mischte in synkretistischer Weise christliche Zeichen und Symbole mit indigenen Ritualen.[86]

Die reducciónes bildeten eine autonome christlich-indianische Nation, eine Pufferzone, welche die indigenen Konvertiten einerseits vor portugiesischen Sklavenjägern und andererseits vor spanischen Kolonisten schützte. Aber die Siedlungen waren verwundbar und letztlich vom guten Willen zweier Reiche abhängig. 1750 zwang ein spanisch-portugiesischer Vertrag eine Guarani-Gruppe, ihr Land zu verlassen, wenn sie nicht versklavt werden wollte. Ihr Widerstand wurde von den beiden Mächten mit Gewalt unterdrückt, wobei sie sowohl gegen die Indianer als auch gegen deren jesuitische Verteidiger vorgingen. Durch die Vertreibung der Jesuiten verschwanden dann jene Institutionen und Personen, die zwischen den indigenen Völkern und den sie bedrohenden Räubern standen. Die reducciónes lösten sich auf, und viele ihrer Bewohner zogen sich in die Wälder zurück, aus denen sie gekommen waren. Nach und nach überwucherte der Regenwald die Jesuitenkirchen. Die Geschehnisse sind nicht ohne Pathos und Dramatik, wie der 1982 erschienene deutsche Bestseller Paracuaria über den Verlust der »Kunstschätze des Jesuitenstaats in Paraguay« zeigt.[87] Es war auch ein moralisches Drama. Die Jesuiten waren vor die Frage gestellt, ob sie die moralische Pflicht hatten, für ihre Schutzbefohlenen zu kämpfen. Dies war das Thema des Spielfilms Mission von Roland Joffé (1986). Aber die Frage zielt über den Augenblick der Entscheidung hinaus auf das Kernproblem der Begegnungen zwischen Europäern und indigenen Völkern. Der Jesuitenstaat in Paraguay stellte beinahe einen Labortest für die Zweideutigkeit dieser Begegnungen dar. War er ein »Paradies«, eine »wohlwollende europäische Diktatur«, eine »christliche Alternative zu Kolonialismus und Marxismus« oder ein Beispiel für »kulturellen Imperialismus«? Ein Autor spricht von »Konfrontation und Interaktion«, ein anderer von »Akkulturation«.[88] Tränen wurden fraglos auf beiden Seiten vergossen, als die Jesuiten ihre »Kinder« verlassen mussten. An den emotionalen Banden, die sich zwischen ihnen entwickelt hatten, kann kein Zweifel bestehen. Die Jesuiten waren selbstlos und fürsorglich; sie gaben viel, lernten aber auch viel und hielten es auf eine Weise fest, dass es von dauerndem Wert blieb. Die Guarani sollten es mit böswilligeren Europäern zu tun bekommen und ihre Lebensweise auf lange Sicht nicht bewahren können. Aber die Jesuiten waren diejenigen gewesen, die sie ermuntert hatten, diese Lebensweise aufzugeben, die sie wie Kinder behandelt und erschreckend verwundbar gemacht hatten.

Bei der Beschäftigung mit den Jesuiten in Paraguay schaut man weniger auf die spanischen Ordensbrüder als vielmehr auf die deutschen, österreichischen und böhmischen, die neben Flamen und Italienern herausragen. Auf den ersten Blick gilt dies auch für China. Ein Autor macht ein »Triumvirat großer Missionare des 17. Jahrhunderts« aus, das aus einem Italiener (Matteo Ricci), einem Flamen (Ferdinand Verbiest) und einem Deutschen (Adam Schall von Bell) besteht.[89] Angesichts der Feindseligkeit, die sie erregten, könnte man meinen, in China seien viele deutsche Jesuiten tätig gewesen. Franziskaner und nichtdeutsche Jesuiten klagten gleichermaßen, sie würden die chinesische Mission monopolisieren und wären besser in Europa geblieben.[90] Deshalb überrascht es, wie klein die deutsche Präsenz in der chinesischen Jesuitenmission war. Bis 1730 kamen weniger als dreißig deutsche, österreichische, böhmische und schweizerische Jesuiten nach China.[91] In China waren weitaus mehr portugiesische, italienische und französische Jesuiten tätig als mitteleuropäische.

Die meisten Jesuitenpater in China lebten in den Provinzen. 1631 waren elf Residenzen über mehr als die Hälfte der Provinzen verteilt, und 1661 gab es nur in zwei der insgesamt 15 Provinzen keine Residenz. Im unteren Jangtse-Tal, im Becken des Gelben Flusses in Shaanxi, in der Küstenregion von Fujian und anderswo kam man mit der Gewinnung von Proselyten und Konvertiten allerdings nur langsam voran.[92] Zur spärlichen Zahl der weiträumig verteilten Jesuitenpater gehörten auch Deutsche, die gelegentlich in den Missionsberichten erwähnt werden.[93] Aber die meiste Aufmerksamkeit zog in der Geschichtsschreibung die Residenz in Peking auf sich, wo Matteo Riccis Nachfolger seine Anpassungspolitik fortsetzten, wobei Deutsche – und einer im Besonderen – in erster Reihe standen. Dieser Politik lag eine machtvolle Logik zugrunde. Anders als das eroberte Lateinamerika blieb China ein intaktes Reich, und die Jesuiten mussten mit den lokalen Machthabern zusammenarbeiten. Sie gaben übereifrigen Franziskanern und Dominikanern die Schuld an der antichristlichen Reaktion und Verfolgung in Japan und misstrauten den Vertretern derselben Orden, die in China eintrafen, um Konvertiten zu gewinnen. Die Strategie der Jesuiten bestand darin, Chinesisch zu lernen, örtliche Empfindlichkeiten zu beachten, Gemeinsamkeiten von Christentum und Konfuzianismus hervorzuheben und den Kaiser und seine Beamten auf ihre Seite zu ziehen, indem sie zeigten, welche Vorteile europäische Gelehrsamkeit, insbesondere in den Naturwissenschaften, zu bieten hatte. Deshalb hatte die Missionarsgruppe, die 1619 in Macao eintraf, Bücher und wissenschaftliche Instrumente bei sich.

Derjenige, der in den mittleren Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts mehr als alle anderen für diese Strategie stand, war Adam Schall von Bell. 1591 als Sohn einer Adelsfamilie in Köln geboren, hatte er am Collegium Germanicum in Rom und anschließend an der Päpstlichen Universität Gregoriana studiert.[94] 1616 äußerte er seinen Wunsch, auf Mission zu gehen: »Ich, Adam Schall, obwohl höchst unwürdig, […] lege hiermit mein Verlangen dar: nämlich, nach Ostindien zu gehen, insbesondere nach China, was ich seit langem mit größtem Ernst tun möchte.«[95] Zwei Jahre später gehörte er zu einer kleinen Gruppe von Priestern, die sich in Lissabon einschifften und 1619 Macao erreichten. Nachdem er und seine Mitbrüder eine lange Wartezeit an diesem Tor zum chinesischen Kernland verbracht hatten, reiste Schall 1622 nach Peking. Abgesehen von einem kurzen Abstecher in die Jesuitenresidenz in Xi’an in der Provinz Shaanxi im Südosten des Landes, verbrachte er den Rest seines Lebens in der chinesischen Hauptstadt. Er war eine in vieler Hinsicht bemerkenswerte Persönlichkeit. Als frommer, auf vielen Gebieten gelehrter Mann besaß er in den 1640er-Jahren eine Bibliothek aus 3000 Büchern und lernte fließend Chinesisch sprechen. Er war ein fähiger Mathematiker und Astronom mit einem Hang zum Praktischen. So entwarf er Pläne für Befestigungen und eine Kanone und baute astronomische Instrumente.[96]

Diese Illustration aus Athanasius Kirchers China monumentis (1667) zeigt Adam Schall von Bell in Mandarinrobe, umgeben von astronomischen und mathematischen Instrumenten, die den Jesuiten Einfluss am chinesischen Kaiserhof verschafft hatten.

Schall und seine Kollegen verfolgten in diesen letzten Jahrzehnten der Ming-Dynastie in Peking die Strategie, sowohl unter den reformorientierten Gebildeten als auch, über die einflussreichen Eunuchen, unter den Frauen am Hof Konvertiten zu gewinnen und nach und nach das Vertrauen des Throns zu erwerben. Ein Schlüsselelement dabei war eine Kalenderreform. Das mathematische und astronomische Wissen der Jesuiten war für die Kalenderreform Papst Gregors XIII. im Jahr 1582 entscheidend gewesen. In Peking setzten die Jesuiten ihre Instrumente, trigonometrischen Tafeln und auf dem neuesten Stand befindlichen Sternkarten ein, um den kaiserlichen Kalender zu reformieren. Dies war dringend geboten, da der bisherige Kalender mittlerweile von Fehlern strotzte und man es für unmöglich hielt, dass der Kaiser als Herrscher über Zeit und Raum ohne einen korrekten Mondkalender auf richtige Weise herrschen konnte. Die Jesuiten waren erfreut, dem Kaiser die europäischen Methoden vorführen zu können. In den 1620er-Jahren war der deutsche Jesuit Johannes Schreck, auch Terrenz genannt, der bei Galilei studiert hatte und zusammen mit Schall in Macao eingetroffen war, der führende Kopf. Nach seinem Tod im Jahr 1630 trat Schall an seine Stelle und trieb die Kalenderreform weiter voran, indem er Fehler ausmerzte, den Zeitpunkt von Sonnenfinsternissen korrekt vorhersagte und die Unterstützung des Kaisers gewann. Während die Jesuiten ihre Stellung am Hof festigten, geriet die Dynastie jedoch in der chinesischen Version der Krise des 17. Jahrhunderts, von Bauernaufständen und Mandschu-Überfällen erschüttert, in Bedrängnis. Schall und seine Mitbrüder überstanden den gewalttätigen Übergang von der Ming- zur Qing-Dynastie ohne Blessuren, was ihnen den Vorwurf des Opportunismus einbrachte. Tatsächlich überstanden sie ihn nicht nur, denn Schall wurde 1645 Direktor des Astronomischen Amts, ein Posten, der für die nächsten 130 Jahre zumeist in jesuitischer Hand bleiben sollte.[97] Darüber hinaus wurde Schall zu einem engen Vertrauten des jungen Kaisers Shunzi und fast einem De-facto-Regenten. Der junge Monarch nannte Schall mafa, was auf Mandschu »Großvater« bedeutet. Er verbrachte im Palast und in dessen bewaldeten Gärten viel Zeit im Gespräch mit Schall. Gelegentlich suchte der junge Kaiser auch Schalls Räumlichkeiten auf.

Eine solche Nähe zur Macht provoziert Gegenreaktionen. Dies traf besonders auf Schall zu, der sich ständig im Kaiserpalast aufhielt und zwanzig Silberroben für Empfänge besaß. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass man dies als Höflingsgebaren und Ausdruck von Eitelkeit betrachten konnte. Zudem trug Schalls Persönlichkeit nicht zur Besänftigung bei. Selbst seine Verteidiger räumen ein, dass er sarkastisch, reizbar und schnell mit Kritik bei der Hand war, kurz ein Mann, mit dem nicht gut Kirschen essen war.[98] Es gab Klagen sowohl von Franziskanern, die immer schnell dabei waren, die Weltlichkeit von Jesuiten zu bemängeln, als auch von verärgerten Mitgliedern des eigenen Ordens, die das Gefühl hatten, bei den politischen Turbulenzen des Übergangs von der Ming- zur Qing-Dynastie von Schall im Stich gelassen worden zu sein. Die Vorwürfe betrafen zwei Bereiche: Der eine war der »Kalenderstreit«, in dem Schall beschuldigt wurde, dem chinesischen »Aberglauben« zu weit entgegenzukommen, indem er einen Kalender entwarf, der dem Kaiser die Tage anzeigte, an denen sein Handeln angeraten oder nicht angeraten war.[99] Der andere Bereich war persönlicher Art: Schall wurde vorgeworfen, dem Essen und Trinken sowie anderen leiblichen Genüssen zu sehr zugeneigt zu sein, von einem Angehörigen der niederländischen Gesandtschaft dubiose Bilder erworben und die Aufführung eines obszönen Theaterstücks arrangiert zu haben und sich generell auf eine Weise zu verhalten, die seinem Keuschheitsgelübde spotte. Als Schall auf Drängen des Kaisers Shunzi den Sohn seines Hausdieners adoptierte, kam das Gerücht auf, er sei sein leiblicher Sohn. Obwohl so gut wie sicher falsch, machte es in Peking rasch die Runde und gelangte bis nach Macao und Rom, und obwohl Schall die Rückendeckung seiner Oberen besaß, setzte sich das unangenehme Getuschel während der gesamten 1650er-Jahre fort.[100]

Erst 1664 entschied Rom schließlich den Kalenderstreit zugunsten von Schall; es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die Nachricht Peking noch vor dessen Tod erreichte. Im selben Jahr fand der innerkatholische Streit ein verzerrtes Echo vonseiten chinesischer Gegner am Kaiserhof, die ebenfalls Kritik an Schalls Arbeit im Astronomischen Amt übten. Shunzi war 1661 im Alter von 23 Jahren plötzlich gestorben, und in der Anfangszeit der Regierung seines Nachfolgers K’ang-hsi breitete sich eine antichristliche Stimmung aus. Schall wurde vorgeworfen, für die Beerdigung eines Kindes aus dem kaiserlichen Haushalt einen ungünstigen Tag gewählt zu haben. Sein Hauptgegner, ein Höfling namens Yang Guangxian, war mit einem muslimischen Astronomen befreundet, der auf Schalls Rat entlassen worden war. Hinter den Anwürfen stand also der Groll über den Einfluss, den Schall und andere Jesuiten ausübten. Der Orden galt nun als Gefahr für den Qing-Staat und wurde verfolgt; in einem Gerichtsverfahren in Peking wurden Schall und seine chinesischen Helfer zum Tod und andere ausländische Missionare zu vierzig Stockschlägen verurteilt und sollten ausgewiesen werden. Doch ein Erdbeben kurz nach der Urteilsverkündung wurde als göttliches Zeichen verstanden, und die Jesuiten – aber nicht die chinesischen Helfer – wurden begnadigt. Schall selbst starb 1666.

Die übrigen Jesuiten gingen für mehrere Jahre in ein inneres Exil in Kanton, wo sie sich neu organisierten, um Anfang der 1670er-Jahre, als sie sich wieder der kaiserlichen Gunst erfreuten, in ihre Residenzen zurückzukehren. In Peking nahmen sie wieder die Stellung ein, die Schall und Matteo Ricci vor ihm erlangt hatten. Während K’ang-hsis langer Herrschaft bis in die frühen 1720er-Jahre dienten sie ihm nicht nur als Astronomen – ein Feld, das weiterhin von Deutschen dominiert wurde –, sondern auch als Wissenschaftler auf anderen Gebieten sowie als Hersteller von Präzisionsinstrumenten, Musiker und nicht zuletzt Berater, die den Vorteil hatten, als Außenstehende nicht zum politischen System zu gehören. 1724 verbot der neue Kaiser Yongzheng jedoch das Christentum und verwies dessen Priester des Landes. Zu dem Bayern Ignaz Kögler, einem von Schalls deutschen Nachfolgern als Direktor des Astronomischen Amts, sagte der Kaiser, die Jesuiten könnten von Glück reden, dass sie mit dem Leben davonkämen.[101] Die Mission als ganze war zu Ende, abgesehen von einigen alten oder im Untergrund agierenden Priestern. Aber die Pekinger Jesuiten blieben, wo sie waren, und dienten dem Kaiser weiterhin. 22 Jahre später, nach Köglers Tod, folgte ihm ohne großes Aufheben der Österreicher August von Hallerstein an der Spitze des Astronomischen Amts.[102]

Was erreichten die jesuitischen Mandarine in Seidenroben? Eine Antwort lautet, dass sie durch ihre Unentbehrlichkeit für den Kaiserhof eine Atmosphäre schufen, in der man die Bekehrungsanstrengungen sowohl in den Provinzen als auch in der Hauptstadt fortsetzen konnte. Dies konnte man am Anfang des 17. Jahrhunderts, als Terrenz und Schall in Macao eintrafen, nicht als selbstverständlich voraussetzen. Auf dem Höhepunkt von Schalls Einfluss in den 1650er- und frühen 1660er-Jahren wurden jedes Jahr rund 10 000 neue Konvertiten gewonnen. Im Jahr 1700, nach der Verkündung des Toleranzedikts von 1692, dürfte es in China rund 250 000 Christen gegeben haben.[103] Aber dieser Erfolg war ungefestigt und wurde später teilweise zunichtegemacht. Die große jesuitische Illusion war indes der Glaube, den Kaiser bekehren zu können. Mit den Worten des Historikers Charles Boxer: »Die Väter hatten so viel Aussicht darauf, den Kaiser zu bekehren, wie darauf, den Mann im Mond zu bekehren.«[104] Abgesehen von der Bekehrung einzelner Chinesen bestand das Erbe der Jesuiten in dem reichen kulturellen Austausch, den zu institutionalisieren sie mitgeholfen hatten. Sie brachten europäische Literatur und Wissenschaft nach China und wurden am Kaiserhof als Mathematiker und Astronomen geschätzt – auch wenn sie nach den 1660er-Jahren nicht mehr führend darin waren wie zur Zeit der gregorianischen Kalenderreform. Gelegentlich traten sie als Koautoren einheimischer Gelehrter auf, wie bei dem 1627 erschienenen Buch Qi qi tu shuo (Abbildungen und Erklärungen wunderbarer Maschinen).[105] Außerdem lernten sie Chinesisch und konnten chinesische Schriften übersetzen und damit einem europäischen Publikum zugänglich machen. Diese Übersetzungstätigkeit kann man mit Recht als dauerhafteste Leistung der Jesuiten bezeichnen.[106]

Die in China und Amerika tätigen deutschen Jesuiten waren Teil einer weltweiten Mission mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die nichteuropäischen Gesellschaften, auf die sie gerichtet war. Aber welche Auswirkungen hatte sie auf Deutschland? Aus den von Herzen kommenden Bittschreiben von Möchtegern-Missionaren weiß man, wie sehr sie sich in diese fernen Weltteile wünschten. Das Heilige Römische Reich war von der Jesuitenmission auf allen Ebenen betroffen. Sie weckte das Interesse deutscher Fürsten, insbesondere der Wittelsbacher, die den größten und beständigsten Beitrag zur Finanzierung der Chinamission leisteten.[107] Mehr in die Breite ging die Wirkung auf die katholische Elite, aus deren Reihen der Nachwuchs der Jesuiten überwiegend kam. Da waren zum Beispiel ein österreichischer Steuerbeamter in Freiburg im Breisgau, ein Kölner Stadtrat, ein Mainzer Richter, ein ungarischer Graf, ein Bäcker aus Aichach bei Augsburg, der Bürgermeister von Olpe, ein Stadtbaumeister in Luxemburg und ein Stadtrat in Amberg: Sie alle hatten Söhne, die als jesuitische Missionare in Brasilien tätig waren. Mit anderen Worten, die weite Welt reichte bis in Gemeinden hinein, die fast wie eine Karikatur des selbstgenügsamen Hinterlands des Reichs wirken.[108]

Wie viele dieser Jesuitenpater jemals nach Deutschland zurückkehrten, ist unbekannt. Die meisten starben wahrscheinlich in Brasilien, ebenso wie diejenigen, die nach China gegangen waren, dort starben – Terrenz, Schall, Kögler, Hallerstein und andere, die eine gewisse Bekanntheit erlangten, wie Kilian Stumpf und Bernhard Diestel. Aber es gab sicherlich viele, und zwar nicht nur unter ihren Angehörigen und ehemaligen Schulkameraden, die sich an sie erinnerten und wussten, wer sie waren und wohin sie gegangen waren. Manche waren Märtyrer, deren Andenken in populären Schriften gepflegt wurde. Auch Dichtung und Theater brachten den Deutschen das globale Tätigkeitsfeld der katholischen Missionare nahe. Allegorische Abbildungen der vier bekannten Kontinente und der religiösen Mission gehörten zum Schmuck vieler gegenreformatorischer Kirchen – auf Altären und an Kanzeln ebenso wie auf Deckenfresken. Es waren stereotype Darstellungen der fernen Länder und ihrer Kulturen – mit Elefanten, Federkopfschmuck, Turbanen, Speeren –, die häufig das »göttliche Licht« zeigten, das die Missionare ihnen brachten. Besonders in Bayern waren solche Motive verbreitet, wie etwa der reiche Bildschmuck der Jesuitenkirche in Landshut und Georg Asams Deckenfresko in Tegernsee zeigen.[109] Auch in Druckwerke fand die Ikonografie der globalen Tätigkeit der Jesuiten Eingang, etwa in die sogenannten Thesenblätter, im 16. Jahrhundert üblich gewordene, nur aus einem Blatt bestehende grafische Ankündigungen von Disputationen zur Erlangung eines akademischen Grades. Ein von Johann Christoph Storer gezeichnetes und von Bartholomäus Kilian gestochenes Thesenblatt mit dem Titel Die Weltmission der Gesellschaft Jesu wurde von Studenten verschiedener katholischer Universitäten verwendet. Auf dem komplexen Bild sind Jesus und eine um einen Globus arrangierte Gruppe von Heiligen und der in die Welt hinausgehende Lichtstrahl des Glaubens zu sehen, wobei die Völker durch einen amerikanischen Indianer, einen Südasiaten aus Goa und einen afrikanischen Fürsten repräsentiert sind. Im Mittelpunkt des Bildes befindet sich eine herzförmige Weltkarte, auf der unter dem Motto »Durch Gottes- und Nächstenliebe« alle Jesuitenmissionen der Welt verzeichnet sind.[110]

Gelehrtennetzwerke

Eine besonders beeindruckende bildliche Darstellung der globalen Mission der Jesuiten findet sich in der Ars magna lucis et umbrae (»Die große Kunst von Licht und Schatten«) des deutschen Jesuiten Athanasius Kircher. Sie zeigt einen üppigen Baum, dessen Zweige und Blätter ihre Residenzen in aller Welt repräsentieren. In den Ecken ist in 34 Sprachen das Motto »Von Auffgang der Sonnen biß zum nitergang sey der Nam des Hern gepreyst« zu lesen. Das Bild diente auch als Weltzeituhr, denn mit seiner Hilfe konnte man die Zeit in jeder Jesuitenresidenz auf der Welt bestimmen.[111] Kircher war in der Nähe von Fulda geboren worden, verbrachte aber den größten Teil seines Lebens in Rom, wo er eine Art Informationszentrale betrieb, der Jesuiten aus aller Welt über astronomische, geografische, ethnografische, botanische und zoologische Entdeckungen berichteten und Fundstücke schickten. Viele der so gesammelten Artefakte erhielt das von Kircher gegründete Museum Kircherianum, ein Theatrum mundi. Kircher, dessen Ansehen in der akademischen Welt in jüngster Zeit erstaunliche Höhen erreicht hat, ist als letzter Mensch, der alles wusste, und erster Gelehrter von globalem Format bezeichnet worden.[112] Als Universalgelehrter, der mit Leonardo da Vinci verglichen wird, beschäftigte sich Kircher mit einer Vielzahl von Wissensgebieten, von Mathematik, Physik und Astronomie über Biologie, Medizin und Geologie bis zu Ethnografie, Linguistik, Musiktheorie, Sinologie und Ägyptologie. Er entwarf eine wissenschaftliche Rekonstruktion der Arche Noah, mitsamt sanitären Einrichtungen für ihre Passagiere, vermaß die Krater des Ätna und des Stromboli und interessierte sich für mechanische Apparate wie Automaten. Als Mathematiker wurde er von Leibniz bewundert, und zu seinen nach Hunderten zählenden Briefpartnern gehörten Wissenschaftler wie Pierre Gassendi.

Kirchers Interessen, Aktivitäten und Netzwerk kennzeichnen ihn als ein typisches, wenn auch ungewöhnlich schillerndes Mitglied der Res publica literaria oder Gelehrtenrepublik.[113] Dieser Begriff, der auf Cicero zurückgeführt werden kann, wurde am Ende des 15. Jahrhunderts von Erasmus von Rotterdam popularisiert. Er umfasst Geistliche, Beamte, Professoren, Archivare, Forscher und Ärzte, die Gelehrtennetzwerke bildeten, die sich über ganz Europa und darüber hinaus erstreckten. Die Gelehrtenrepublik war durch Bewegung gekennzeichnet. Sie war ein »Kaleidoskop aus in Bewegung befindlichen Menschen, Büchern und Dingen«, welche die Beschränkung durch »Nationen, Grenzen und manchmal ganze Welten« überschritten.[114] Im 16. Jahrhundert wurde das Reisen selbst zum Untersuchungsgegenstand: Das Genre von Handbüchern und Führern für Reisende entstand, und eine Infrastruktur aus ausgebauten Straßen, besseren Landkarten, Kutschdiensten und Gasthäusern erleichterte das Reisen.[115] Neue Postdienste wie der von der Familie Thurn und Taxis in Mitteleuropa betriebene sorgten für einen besseren Austausch innerhalb der Korrespondentennetze, die zudem von den Kommunikationswegen der Kaufleute profitierten, wie die engen Verbindungen zwischen frühen deutschen Humanisten und Kaufleuten in Städten wie Nürnberg belegen.[116]

Die frühen deutschen Humanisten, umherziehende Gelehrte wie Conrad Celtis, verbrachten allesamt einige Zeit in Italien, wo sie von der geistigen Revolution der Renaissance beeinflusst wurden. Dies gilt auch für Figuren wie den Baseler Arzt und Humanisten Theodor Zwinger im späten 16. Jahrhundert. Denkt man an diese Gelehrten oder auch an Erasmus, könnte man die Gelehrtenrepublik für eine im Wesentlichen humanistische Unternehmung halten, für das Gegenteil des Religionsstreits der Epoche, sogar für ein Gegenmittel. Der Historiker Friedrich Heer bezeichnet den Humanismus, mit einem Seitenblick auf den Kalten Krieg seiner eigenen Zeit, als »dritte Kraft […] zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters«.[117] Doch so einfach war es nicht, denn die Gelehrtenrepublik bezog ihre geistige Energie auch aus dem Zusammenstoß der religiösen Auffassungen. Kirchers beeindruckendes Informations- und Korrespondentennetz ist ein gutes Beispiel dafür. Jesuiten leisteten als Forscher, Gelehrte und Lehrer einen erheblichen Beitrag zur Gelehrtenrepublik. Ihre in Asien oder Amerika entstandenen Missionsschriften über naturwissenschaftliche, ethnografische, linguistische und viele andere Themen erschienen in allen großen katholischen Zentren in Deutschland.[118] Auch auf protestantischer Seite konnte die konfessionelle Identität Gelehrsamkeit und Forschung befördern. Immerhin bezeichnete der Lutheraner Ulrich von Hutten Nürnberg als erste Stadt, die ihre Tore dem guten Lernen geöffnet habe, und Luthers Mitstreiter Melanchthon nannte es ein neues Athen.[119] Die gegenseitige Befruchtung von spätem Humanismus und Luthertum in Schlesien brachte eine lebendige Literatur, Naturwissenschaft und Medizin hervor. Dort wurden auch von humanistisch gebildeten lutherischen Geistlichen die ersten deutschen landwirtschaftlichen Handbücher verfasst.[120] Ähnliche calvinistische Netzwerke sind ebenfalls leicht auszumachen.[121]

Bildung war ein entscheidendes Tätigkeitsfeld, dessen Bedeutung durch die konfessionelle Spaltung verstärkt wurde. Sie gehörte zu dem, was der Historiker Andrew Pettegree bei der Betrachtung der Reformation als »Kultur der Überredung« bezeichnet hat.[122] Lutheraner, Calvinisten und Katholiken hielten es gleichermaßen für notwendig, neue Schulen und Akademien zu gründen. Außerdem erkannten sie die Bedeutung tertiärer Bildung. Man könnte sogar von einem Bildungswettrüsten sprechen.[123] Die Spaltung und der Wettstreit zwischen den Konfessionen hatten zur Folge, dass sich einige der führenden Universitäten der damaligen Zeit etablierten, von Wittenberg über Heidelberg und Ingolstadt bis Wien. Sie alle waren im Zuge der Welle von Universitätsgründungen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vor Luthers Thesenanschlag entstanden, aber erst die von Reformation und Gegenreformation ausgelösten Dispute hoben sie aus der Menge heraus und bewiesen, dass Universitäten »explosive Orte« sein konnten.[124] Ein Beispiel dafür, wie religiöse Dispute das geistige Leben anregen und internationale Kontakte stärken konnten, zeigt ein Vergleich zwischen den Universitäten von Rostock und Wittenberg. Um 1500 zog die Rostocker Universität Studenten aus dem gesamten Nord- und Ostseegebiet an, doch als die Mecklenburger Herrscher zögerten, sich der Reformation anzuschließen, profitierte die erst 1502 gegründete Universität von Wittenberg davon, der sich viele Studenten, einschließlich ausländischer, zuwandten.[125]

Mit anderen Worten, viele Aktivitäten der Gelehrtenrepublik erfolgten in religiös definierten Gemeinden, von denen jede ihre eigenen Hindernisse und Grenzen für interesselose Erkenntnis errichtete – fürs Lehren, Forschen, Interpretieren, Debattieren, Vorstellen, Erinnern, Sammeln. Der Glaube war zwar keine Zwangsjacke, aber eine Beschränkung. Als sich die konfessionellen Fronten verhärteten, wurde es auch schwierig, sie zu überqueren. Beispielhaft dafür ist der flämische Gelehrte Justus Lipsius – dessen Namen ein EU-Ratsgebäude in Brüssel trägt –, der am Jesuitenkolleg in Köln und danach an der Universität von Löwen studiert hatte. Aber als er nach Jena berufen wurde, war das Bekenntnis zum Luthertum Voraussetzung, weshalb er ins katholische Köln und von dort nach Löwen zurückkehrte, bis der holländische Aufstand ihn 1578 veranlasste, eine Stellung in Leiden in den nördlichen Niederlanden anzunehmen. Lipsius versöhnte sich schließlich mit der katholischen Kirche und verbrachte seine letzten Jahre in Löwen. Diese Odyssee lässt einen Historiker, der sich mit Lipsius befasst hat, skeptisch auf die »kommunikative Gemeinde« der Gelehrten schauen.[126]

Lipsius’ Lebensweg macht die existenzielle Bedrohung deutlich, die von den religiösen Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts ausging. Die Folgen des Dreißigjährigen Kriegs spürte man in deutschen Landen besonders stark. Von ihnen waren Universitäten auf beiden Seiten der religiösen Spaltung betroffen. Tübingen wurde von Truppen besetzt, Leipzig war wiederholt umkämpft, die Universität von Gießen wurde geschlossen. Diejenige von Heidelberg wurde 1626 nach der Besetzung und Brandschatzung der Stadt ebenfalls geschlossen und später als katholische Universität wiedereröffnet. Lehrkörper und Studenten flohen in die Schweiz oder die Niederlande. Die Bestände der Bibliotheca Palatina, einer der größten Bibliotheken in Deutschland, wurden in 200 Kisten verpackt und nach Rom geschickt, wo die Vatikanische Bibliothek sie übernahm. Als Gustav Adolf von Schweden die Pfalz zurückeroberte, gab es Pläne, die Heidelberger Universität wieder zu einer protestantischen Einrichtung zu machen. Doch als kaiserliche Truppen 1634 nach der Schlacht bei Nördlingen die Stadt erneut besetzten, wurde sie »rekatholisiert«. Die Universität war für Jahrzehnte völlig ruiniert.[127] Katholischen Institutionen erging es ähnlich. Aus der Würzburger Universitätsbibliothek wurden nach der Besetzung der Stadt durch schwedische Truppen Tausende Bände nach Stockholm geschickt. Auch im mährischen Olmütz gehörten, neben Ringen, die man Toten in einer Krypta abnahm, 10 000 Bücher zur schwedischen Beute, und im Verlauf eines der letzten Feldzüge des Krieges plünderte ein schwedisches Kommando Prag und schickte die Reste der Kunstsammlung Rudolfs II. an Königin Christina.[128]

Aber nicht nur Sammlungen, auch Menschen wurden in alle Winde zerstreut. Wie die erzwungenen Auswanderungen des 20. Jahrhunderts zerstörte die Flucht Lebensentwürfe und war sogar lebensgefährlich. Doch wie ähnliche Gelehrtenwanderungen in jüngerer Zeit konnte sie, als unabsichtlich zuträgliche Folge, äußerst befruchtend wirken. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal zweier Figuren, denen wir bereits begegnet sind: Athanasius Kircher und Samuel Hartlib. Ersterer geriet dreimal in den Mahlstrom des Dreißigjährigen Krieges. 1622 erlebte er als Novize, wie Paderborn von protestantischen Truppen eingenommen wurde. Er konnte zusammen mit zwei Kommilitonen den feindlichen Soldaten entkommen, ertrank aber beinahe im Rhein. Im folgenden Jahr wurde er auf der Reise von Köln nach Heiligenstadt, wo er an der Jesuitenschule lehren sollte, gefangen genommen und entging nur knapp dem Tod durch Erhängen. Als er sich später als Professor in Würzburg eingerichtet hatte, musste er erneut fliehen, als die Stadt von schwedischen Truppen besetzt wurde. Es folgten kurze Aufenthalte an verschiedenen Orten im Rheinland und ein etwas längerer in Frankreich – er hätte China vorgezogen –, bevor er nach Rom gerufen wurde. In diesen turbulenten zehn Jahren hätte er leicht das Leben verlieren können, aber er überlebte und baute sich ein bemerkenswertes Netzwerk von Kontakten auf, das zum Teil auf die Erlebnisse dieser Zeit zurückging.[129]

Hartlib, ein weiterer Emigrant aus dem kriegszerrissenen Deutschland, ließ sich am Ende der 1620er-Jahre in England nieder und wurde zu einem der bedeutendsten geistigen Vermittler seiner Zeit.[130] Mit dem etwa gleichaltrigen Kircher hat er gemein, dass das Interesse an seinem Leben und seiner Arbeit in jüngster Zeit wieder zugenommen hat. Ein Grund dafür ist vielleicht, dass auch er ein faszinierender Universalgelehrter war, dessen Interessengebiet keine Grenzen zu haben schien: Mathematik, Physik, Optik, Chemie, Botanik, Naturgeschichte, Landschaftsgestaltung, Perlen, Imkerei, die öffentliche Gesundheit, Mechanik und Kommunikation aller Art, von Sprachen bis zur Kryptografie, sogar bis zu der praktischen Frage »einer Tinte, die ein Dutzend Kopien ergeben würde, wenn man feuchte Blätter darauf presst«. Der Tagebuchschreiber John Evelyn sah in ihm einen »Herrn unzähliger Neugierden«.[131] In zeitgenössischen Beschreibungen von Hartlib schwang häufig eine gewisse Herablassung mit, und auch dies teilte er mit Kircher, über den der Naturphilosoph Robert Moray an einen anderen Gelehrten schrieb, »obwohl es in dem Haufen von Zeug, das in seinen verschiedenen Stücken kompostiert ist, nicht an Spreu« fehle, sei »doch auch Weizen zu finden«.[132] Dies verweist auf einen weiteren Grund für das neue akademische Ansehen von Kircher und Hartlib. Heute werden jene Aspekte ihres Werks, die früher als eigenartig, mitunter bizarr und stets von religiöser Leidenschaft geprägt – katholischer in dem einen Fall, calvinistischer im anderen – angesehen wurden, von Wissenschaftshistorikern, die den Glauben aufgegeben haben, die »Wissenschaftsrevolution« sei ein geradliniger Prozess des Fortschritts und eine streng säkulare Angelegenheit gewesen, mit wesentlich mehr Respekt betrachtet.

Der »Hartlib-Kreis« im England der Mitte des 17. Jahrhunderts war umfangreich. Im Mittelpunkt standen zwei von Hartlibs Glaubensgenossen, die zu engen Freunden geworden waren und zusammen mit ihm die »drei Fremden« genannt wurden: der mährische Emigrant Johann Amos Comenius und der Schotte John Dury, ein calvinistischer Pfarrer und Intellektueller, der in Leiden studiert und jahrelang auf dem Kontinent gelebt hatte. Außer zu diesen beiden hatte Hartlib zahllose Verbindungen in wissenschaftliche, theologische, politische und literarische Kreise, unter anderem zu John Milton und dem Naturwissenschaftler Robert Boyle. Zu Hartlibs engem Freundeskreis zählte eine große Zahl von Deutschen, von denen einige wegen der schwierigen Lage zu Hause zum Studium nach England gekommen und nicht wieder nach Deutschland zurückgekehrt waren; andere waren nach 1618 nach England gegangen, um Unterstützung für die Protestanten in der Heimat zu finden, und ebenfalls dort geblieben. Einer von ihnen war der Dichter Georg Weckherlin. Der geborene Stuttgarter lebte seit 1620 in England, anfangs im Dienst des bedrängten Pfälzer Kurfürsten, dann als wegen seiner sprachlichen und kryptografischen Fähigkeiten hoch angesehener englischer Staatsdiener. Da er sich, wie der gesamte Hartlieb-Kreis, im Bürgerkrieg auf die Seite des Parlaments schlug, wurde er von diesem 1644 zum »Sekretär für fremde Zungen« ernannt. Ein anderer enger Freund Hartlibs war Theodor Haak, ein begüterter Gelehrter, der die calvinistische Unterstützung in England organisierte und dort zu bleiben beschloss. Er war der erste deutsche Übersetzer von Miltons Verlorenem Paradies und wegen seines ausgezeichneten Französisch der Verbindungsmann zwischen dem Hartlib-Kreis und einer bemerkenswerten Gruppe von Intellektuellen in Frankreich, zu der unter anderen Blaise Pascal, René Descartes und der englische Exilant Thomas Hobbes gehörten.[133]

Hier war aus Menschen, die im Exil lebten, ein übernationales Publikum entstanden. Die Einzelschicksale waren häufig schmerzlich. Comenius hatte den Verlust seiner jungen Familie und die Zerstörung seiner Bibliothek erlebt, bevor er in England zur Ruhe kam.[134] Doch es waren Menschen, die auch im Exil schöpferisch waren.[135] Hartlib, Dury, Comenius, Haak und all die anderen waren von einer providenziellen, millenaristischen und menschlich großherzigen Vision einer wieder zu einem Ganzen gefügten Welt beseelt. Bildung sollte der Schlüssel sein. Im Mittelpunkt ihrer Hoffnungen stand Comenius’ »pansophische« Idee eines allumfassenden Lernens und Lehrens. In ihrer Not schufen sie diese ideale Vision einer wahrhaft universalen Bildung, ebenso wie 300 Jahre später die Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland die idealisierte Version einer wiederauflebenden übernationalen Gelehrtengemeinschaft entwickelten – in ihrem Fall eine idealisierte Version nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit.

Die Politik prägte die Hoffnungen Hartlibs und seiner Freunde. Während des Bürgerkriegs und insbesondere des Commonwealth of England waren sie optimistisch, bis die Restauration ab 1660 sie demoralisierte. Doch zu diesem Zeitpunkt waren viele von ihnen bereits alt oder standen dem Tod nahe. Hartlib verstarb 1662. Das große pansophische Projekt scheiterte, aber der Hartlib-Kreis und die von ihm Inspirierten hinterließen auf vielen Gebieten, von Technologie bis Bildung, ein reiches Erbe. Die vielleicht bekannteste Leistung des Kreises war ihr Beitrag zur Schaffung der Royal Society.[136] Schlüsselfigur dabei war ein jüngeres Mitglied der Gruppe, der in Bremen geborene Theologe und Naturphilosoph Henry Oldenburg, der sich Anfang der 1650er-Jahre in England niederließ, nachdem er dort als Hauslehrer gearbeitet hatte. Er wurde zu einem Mitglied des engsten Kreises um Hartlib und heiratete John Durys Tochter. Oldenburg, der Robert Boyle besonders nahestand, war ein Gründungsmitglied der Royal Society und deren erster Sekretär, als der er zu einem bedeutenden englisch-deutschen Wissensvermittler wurde und nach Hartlibs Tod dessen Korrespondentennetz übernahm.[137]

Dieses Kommunikationsnetz könnte man als Hartlibs größten Beitrag zum Geistesleben des 17. Jahrhunderts betrachten. Seine Papiere, die bis 1933 verschwunden waren, enthalten über 4250 Briefe von mehr als vierhundert Korrespondenten. Das Netzwerk reichte von England über Schottland und Irland bis in die nordamerikanischen Kolonien sowie in alle Teile Europas. John Winthrop jr., der Gouverneur von Connecticut, bezeichnete Hartlib als den »großen Informationssammler und -verbreiter Europas«.[138] Bei genauerem Hinsehen wird klar, warum. Auf dem Gebiet der Botanik zum Beispiel verdankt John Evelyns berühmtes Werk Sylva, or a Discourse of Forest-Trees and the Propagation of Timber von 1664 viel der Korrespondenz zwischen Hartlib und dem in Herefordshire tätigen Priester John Beale. Vier Jahre zuvor hatte der junge Naturforscher John Ray in seinem ersten Buch, einem Katalog der Pflanzen in Cambridge, die pflanzenmorphologischen Ideen des deutschen Gelehrten Joachim Jungius aufgegriffen – dank eines botanischen Werks von Jungius, das Hartlib erhalten und an Ray weitergeschickt hatte.[139] Damit hat man jedoch nur an der Oberfläche von Hartlibs Wissensvermittlung gekratzt. Ein typischer Brief von ihm enthielt Hinweise auf zwanzig bis dreißig verschiedene Bücher, Aufsätze oder wissenschaftliche Strömungen: »das von Mr. Petreus geschickte mathematische Papier«, »Mr. Evelyns Buch über Gärten«, »die ›Anatomischen Besonderheiten‹ von Yonker de Bill’ss«, »Grotius’ Buch« und so weiter.[140] So wurden Ideen verbreitet. Das Netzwerk wirkte als machtvoller Multiplikator, zumal viele von Hartlibs Briefpartnern selbst in Bewegung waren – als Gelehrte, Kaufleute, Diplomaten und sogenannte Projektoren kluger Ideen.

Die Gesellschaft der Gelehrtenrepublik war mobil. Deshalb hatten Mitteleuropäer einen großen Anteil an der Gestaltung von Institutionen, die im späten 15. Jahrhundert als Ableger des italienischen Humanismus entstanden waren.[141] Zu den Kernelementen der Gelehrtenrepublik gehörten das Reisen, das Schreiben und das Universitätsstudium. Deutsche ragten auf allen drei Gebieten heraus. Sie reisten mehr als die meisten – wenn auch, wie gesehen, nicht immer freiwillig –, und einige von ihnen wurden zu führenden Reiseschriftstellern. Was das Briefeschreiben betrifft, ist kaum zu übersehen, dass die Zentren vieler der großen Korrespondentennetzwerke sich in Deutschland befanden oder im Ausland lebende Deutsche sie organisierten. Dies traf für das 16. Jahrhundert zu, als Reformatoren wie der Lutheraner Philipp Melanchthon und der Zwinglianer Heinrich Bullinger im Mittelpunkt der größten Korrespondentennetzwerke ihrer Zeit standen. Gleiches galt sowohl für die Zeit von Kircher und Hartlib als auch für die Jahrzehnte vor und nach 1700, als der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz von Hannover aus das größte Netzwerk seiner Zeit unterhielt, mit über tausend Briefpartnern in ganz Europa sowie in Goa, Kanton und Peking.[142] Deutsche Universitäten trugen ebenfalls zu dieser mobilen Kultur bei, auch wenn ihre Rolle noch nicht die war, die sie im 19. Jahrhundert spielen sollten. Reformation und Gegenreformation machten Hochschulen wie diejenigen in Wittenberg, Heidelberg und Ingolstadt, wie gesehen, zu Magneten für Studenten aus ganz Europa. Die Katastrophen des Dreißigjährigen Kriegs hatten zur Folge, dass talentierte junge Deutsche in aller Herren Länder verstreut wurden, was für sie eine Pein, für andere aber ein Segen war. Entgegen älteren Darstellungen, die sie für moribund erklärten, erholten sich die Universitäten nach dem Krieg wieder. Außerdem wurden neue gegründet, wie Halle 1694 und Göttingen 1734, beides Orte, an denen man über aufgeklärte Ideen streiten konnte. Deutsche Universitäten trugen mindestens so viel zur fortdauernden Rezeption neuer Erkenntnisse bei wie ihre Pendants in England, Frankreich, Italien und anderswo.[143]

Andere Institutionen verliehen der Gelehrtenrepublik Struktur. Eine von ihnen war die Wissenschaftsgesellschaft; zwischen 1500 und 1800 wurden in Europa über 2500 solcher Gesellschaften gegründet.[144] In Mitteleuropa veränderte sich ihr Charakter, ebenso wie anderswo, im Lauf der Zeit; aus den von deutschen Humanisten wie Conrad Celtis gegründeten Bruderschaften wurden literarische Zirkel, philosophische Gesellschaften und im späten 17. Jahrhundert schließlich wissenschaftliche Akademien. Eine andere typische Tätigkeit in der Gelehrtenrepublik war das Sammeln, das Zusammentragen von erstaunlich disparaten Objekten. Antiquitäten, Gemälde und Münzen lagerten neben Elfenbeingegenständen, Mineralien und Edelsteinen; Korallen und ausgestopfte Säugetiere und Vögel, manche von ihnen »Kuriositäten« aus Asien oder Amerika, teilten sich den Platz mit wissenschaftlichen Instrumenten und Automaten. Das Museum Kircherianum in Rom beherbergte eine solche Sammlung; derartige Vorläufer heutiger Museen, in deutschen Landen »Kunstkammer« genannt, gab es überall in Europa.[145] Eine der berühmtesten war diejenige von Kaiser Rudolf II. im Hradschin in Prag.

In deutschen Landen spielten Fürstenhöfe eine besondere Rolle bei der Pflege der paneuropäischen Gelehrtenrepublik.[146] Der Hof Rudolfs II. ist ein gutes Beispiel dafür. Man braucht bloß an den Astronomen Johannes Kepler zu denken, einen aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Schwaben lutherischen Glaubens, dessen Leben wiederholt von Religionsstreit und Krieg auf den Kopf gestellt wurde. Zwischen außerordentlich dramatischen Momenten – dem frühen Verlust seines Lehramts in Graz, weil er sich weigerte, zum Katholizismus überzutreten, später der Verteidigung seiner Mutter gegen die Anklage der Hexerei und dem Erlebnis der Belagerung von Linz, wo seine Bibliothek versiegelt und bedroht war – genoss Kepler an Rudolfs Hof ein Jahrzehnt lang eine friedliche, produktive Zeit, bis die religionspolitischen Spannungen, die später zum Dreißigjährigen Krieg führten, seine Laufbahn dort beendeten.[147] Im kosmopolitischen Prag Rudolfs II., wo Kepler die Nachfolge des dänischen Astronomen Tycho Brahe antrat, korrespondierte er mit Galilei in Padua, tauschte sich mit dreißig Gelehrten überall im Heiligen Römischen Reich – Katholiken wie Lutheranern und Calvinisten – über sein Lieblingsthema, die Chronologie, aus und bewegte sich in einer buntscheckigen Gesellschaft aus böhmischen und ungarischen Höflingen, italienischen Humanisten, holländischen Erfindern von Perpetua mobilia und Alchemisten aus allen Teilen Europas.[148] Rudolfs Hof war zweifellos ein außergewöhnlicher Ort, aber nicht nur dort profitierte die Gelehrtenrepublik von fürstlicher Förderung. Bevor er nach Prag ging, war Tycho Brahe von einem anderen deutschen Fürsten mit großem Interesse für die Astronomie, Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, unterstützt worden. Viele frühmoderne deutsche Herrscher waren ungehobelt und interessierten sich hauptsächlich für die Jagd und Soldaten, aber im Reich gab es eine Vielzahl von Höfen, und es fanden sich immer welche, an denen bildende Kunst, Wissenschaft, Literatur und Musik geschätzt wurden. Außerdem kam ein Leibniz oder ein Bach billiger als eine Armee.

Unverzichtbar war der deutsche Beitrag zum Lernen und Lehren schließlich in allem, was mit der Druckkunst und Büchern zu tun hatte. Rabelais’ Gargantua erklärt seinem Sohn Pantagruel, dass die Welt sich seit seiner Jugend zum Besseren verändert habe, weil sie aufgrund der »so correcten zierlichen Bücher mit Druckschrift« nun »voll gelahrter Männer, hochbelesener Lehrer, voll reichbegabter Büchersäl« sei.[149] Dies war eine verbreitete Ansicht. Die Druckpresse veränderte das Wesen geistiger Autorität. So hatte die Veröffentlichung von Keplers Rudolfinischen Tafeln im Jahr 1627 aufgrund ihrer Genauigkeit eine durchschlagende Wirkung (Adam Schall waren sie in China von Nutzen). In der Druckfassung einer Argumentation konnte man, anders als bei einem Vortrag, Anmerkungen an den Rand kritzeln, und man konnte seinerseits mit einer Druckschrift auf sie antworten. Der Druck veränderte die Art, wie Ideen aufbewahrt und wieder hervorgeholt wurden, und bewirkte einen tiefgreifenden Wandel der Kommunikationsnetzwerke von Gelehrten. Die Verbreitung des Buchs schuf Probleme – zu viel Wissen –, regte aber auch kreative Lösungen an – Kataloge, Nachschlagewerke, Bibliografien, Register.[150] Das gedruckte Wort, schrieb der Philosoph Francis Bacon, habe »die Gestalt der Dinge und die menschlichen Zustände auf der Erde verändert«.[151] Das Ausmaß der Veränderung war atemberaubend. Um 1500, ein knappes halbes Jahrhundert nachdem Gutenberg die Bibel gedruckt hatte, gab es bereits 20 Millionen Bücher auf der Welt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden jedes Jahr sechs bis sieben Millionen neue Bücher publiziert, zwischen 1650 und 1700 insgesamt rund 330 Millionen.[152]

Der Buchdruck war eine deutsche Kunst, und es waren Deutsche, die sie fast überall einführten. Die erste Druckerei in Italien wurde von einem Deutschen in Subiaco bei Rom gegründet, und die ersten Drucker in Rom selbst stammten aus Ingolstadt, Würzburg und Passau. Auch nach Venedig und Modena brachten Deutsche die Druckkunst. In Nordeuropa war der erste Drucker in Stockholm ein Lübecker, und andere Deutsche folgten ihm. In Dänemark war die Druckkunst im frühen 16. Jahrhundert gewissermaßen ein Ableger der norddeutschen.[153] In Frankreich wurde das erste gedruckte Buch von drei Deutschen – Ulrich Gering, Martin Crantz und Michael Friburger – im Keller der Sorbonne hergestellt, deren Rektor sie nach Paris eingeladen hatte. Die ersten Druckereien in Barcelona, Valencia, Saragossa, Lissabon und Sevilla wurden allesamt von Deutschen gegründet, und durch die Familie Cromberger und andere in Sevilla lebende Deutsche gelangte die Druckkunst dann auch nach Amerika.[154]

Als der Firmengründer Jakob Cromberger 1500 in Sevilla eintraf, gab es in rund sechzig Städten im Heiligen Römischen Reich Druckereien, mehr als irgendwo sonst in Europa. Diese technologische Führungsposition ging mit der Zeit verloren, da andere die »Vorreiter« ein- und überholten. Frankreich entwickelte sich ebenso zu einem großen Buchproduzenten wie England und die Niederlande.[155] Ein ähnlicher Technologietransfer aus Deutschland fand in anderen spezialisierten Bereichen statt, wie dem Druck hochqualitativer bildlicher Darstellungen – von Landkarten, Sternkarten, anatomischen und botanischen Zeichnungen. Ende des 16. Jahrhunderts war die deutsche Überlegenheit gegenüber beispielsweise den Niederlanden nicht mehr so deutlich wie zu Dürers Zeit. Aber Deutschland blieb ein großes Druckzentrum. Außerdem wurde es zum wichtigsten Handelszentrum für Bücher, wofür die Frankfurter Buchmesse als Symbol steht.

Diese Messe entstand Ende des 15. Jahrhunderts, als Drucker, Verleger, Buchhändler und Agenten auf der seit Langem etablierten Handelsmesse in Frankfurt am Main zusammenkamen. Die geschäftige Handelsstadt hatte den Vorteil, an einer Kreuzung nord-südlicher und west-östlicher Handelswege zu liegen. Im 16. Jahrhundert waren die »Bücher« immer noch für gewöhnlich ungebundene Konvolute, die in Fässer verpackt und mit Karren oder auf Schiffen in die Stadt transportiert wurden. Die Messe fand in einer kleinen Straße statt, der von der Leonhardskirche im Norden zum Getreidemarkt führenden Buchgasse. Am Anfang des 16. Jahrhunderts war sie bereits ein großes Ereignis. Drucker – und Autoren – arbeiteten in den Monaten und Wochen vorher fieberhaft daran, ihre Produkte fertigzustellen. Das 1532 erschienene erste Buch von Rabelais’ Gargantua und Pantagruel endete im Original mit dem Versprechen: »Den Rest der Geschichte erfahren Sie auf den kommenden Frankfurter Buchmessen.«[156] Zehn Jahre später entschuldigte sich Erasmus bei einem Freund dafür, dass er ihm kein Exemplar seines neuen Kommentars zum Vaterunser schicken könne; er sei, drei Stunden nachdem er »in diesem Frühjahr auf der Frankfurter Messe herauskam«, vergriffen gewesen.[157] Erasmus mochte die Messe – die verrauchten, ungemütlichen Gasthäuser, in denen er auf dem Weg dorthin nächtigen musste, allerdings weniger –, und viele seiner Bücher wurden dort erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Dürers Witwe, Agnes, ging 1540 nach Frankfurt, um dort seine Werke zu verkaufen. Gut anderthalb Jahrzehnte später beeilte sich Hans Staden, seine Memoiren rechtzeitig zur Frühjahrsmesse von 1557 zu vollenden.[158] Aber die Messe zog auch andere an. Jesuiten suchten auf ihr nach Büchern, die sie als Geschenk für den Kaiser nach China mitnehmen konnten.[159] Vor allem aber kamen Bibliothekare, um die Quantität und Qualität ihrer Sammlungen zu vergrößern: Der Pfälzer Kurfürst ließ auf der Messe Bücher für die Universität von Heidelberg kaufen, und Thomas Bodley erwarb Bücher, die in den Bestand der Bodleian Library in Oxford übergehen sollten. Gedruckte Buchkataloge – der erste erschien 1564 – erleichterten Käufern die Auswahl. Galilei pflegte im Frankfurter Messekatalog nach Büchern Ausschau zu halten, die er lesen wollte.

Einige Zeit später, in den 1620er-Jahren, als die Bücher eines anderen großen Astronomen, Johannes Keplers, auf der Buchmesse angeboten wurden, wurde sie vom Dreißigjährigen Krieg beeinträchtigt. Der Niedergang erfolgte jedoch nicht plötzlich. Im 17. Jahrhundert, als die ersten englischen Messekataloge gedruckt wurden, entdeckten die Engländer die Messe erst richtig für sich. Robert Burton sprach 1621 von »unserem Frankfurter Markt«, obwohl er die Messe in seiner schwermütigen Sichtweise als Teil eines »riesigen Chaos und Durcheinanders« von Büchern betrachtete, die zu lesen niemand die Zeit habe.[160] Aufgrund der Kriegsfolgen und der langfristigeren Herausforderung durch die Leipziger Konkurrenzveranstaltung verlor die Frankfurter Buchmesse an Bedeutung, bis sie im 20. Jahrhundert wiederbelebt wurde. Aber in der Frühmoderne war die Frankfurter Buchmesse lange Zeit das Symbol für die zentrale Stellung der deutschen Lande für die Produktion und Verbreitung von Druckwerken. Burton mochte murren, aber Frankfurt stand beispielhaft für den einzigartigen deutschen Beitrag zur Gelehrtenrepublik und zu dem, was der elisabethanisch-jakobinische Dichter Samuel Daniel mit dem wundervollen Begriff »th’intertraffic of mind«, Austausch des Geistes, bezeichnet hat.[161]

Dieser Kupferstich von Matthäus Merian d. Ä. von 1632 zeigt eine Druckerei. Merian ist vor allem für seine Stadtansichten bekannt, aber hier fesselt ihn die Innenwelt der Bücher.

Die Kunst des Buchdrucks ist auch ein Handwerk. In Druckereien und Verlagen kamen beide Seiten zusammen, Autor, Verleger und Redakteur mit dem Schriftsetzer. Manche frühen Druckereien waren in der Tat »Buchdrucker-Verleger-Werkstätten«.[162] Die Gelehrtenrepublik bestand aus »Wörterwelten«, um einen Begriff des Historikers Anthony Grafton zu benutzen. Aber diese literarischen und wissenschaftlichen Welten brauchten Drucker, Instrumentenbauer und Linsenschleifer. Die Deutschen standen in dem Ruf, Meister auf diesen praktischen Gebieten zu sein. Wir sind ihnen im vorigen Kapitel als Kanonieren, Bergbauingenieuren und Instrumentenbauern und in diesem Kapitel als Druckern begegnet. Es ist interessant, einen Blick auf die Berufe der Deutschen im elisabethanischen London zu werfen: Man findet Bogenmacher, Mineralogen, Bergbauingenieure, Metallurgen, Instrumentenbauer.[163] Ein Beitrag von Samuel Hartlib zur Wissenschaft in seiner englischen Wahlheimat im 17. Jahrhundert bestand in der Förderung des technologischen Transfers von Deutschland nach England auf Gebieten wie der Metallverarbeitung und dem Instrumentenbau. Durch ihn gelangten in Augsburg hergestellte hoch entwickelte Teleskope und Mikroskope nach England, was langfristige positive Auswirkungen auf das dortige optische Handwerk hatte.[164] Angesichts späterer Vorurteile über das angeblich abstrakte, weltferne deutsche Denken ist es angebracht, das Ansehen, das Deutsche als Praktiker genossen, zu betonen. Auch der Mathematiker und Philosoph Leibniz hatte eine praktische Seite: So erfand er einen wasserbetriebenen Propeller, eine Wasserpumpe, eine Maschine für den Bergbau und sogar eine Vorform der Dampfmaschine. Das Bild, das er vom deutschen Beitrag zur Gelehrsamkeit zeichnete, ist verblüffend. Als er 1671 für die Gründung einer Akademie der Künste und Wissenschaften plädierte, erklärte er, Italiener würden »nur wohl aussehende Dinge« herstellen. Deutsche seien dagegen immer »beflißen, bewegende Wercke zu verfertigen, die […] auch etwas verrichten, die natur der Kunst unterwerffen und die Menschliche arbeit leichter machen könten«. Daraus zog er den Schluss, »daß Teutschland, und sonderlich darinn Augspurg und Nürnberg der künstlichen sowohl gewicht als feder Uhren, der so kräfftigen, verwunderungswürdigen feuerwercke, auch lufft- und waßer-künste mutter ist«.[165]

Die Tradition des Instrumentenbaus wurde im nächsten Jahrhundert fortgeführt. Einer von Leibniz’ vielen Korrespondenten war der in den Niederlanden lebende junge Danziger Kaufmannssohn Daniel Gabriel Fahrenheit. Seine Eltern waren 1701, als er 15 Jahre alt war, an einer Pilzvergiftung gestorben. Danach lief er mehrmals von seinen Vormündern weg, damit sie ihn nicht zu einem bekannten Kaufmann in die Lehre schicken konnten – einmal ließen sie sogar einen Haftbefehl für ihn ausstellen. Er wollte Instrumente herstellen und nicht in einem Kontor arbeiten. Nach einer Zeit der Wanderschaft ließ er sich in Amsterdam nieder, wo er die letzten 18 Jahre seines Lebens verbrachte und seinen Lebensunterhalt mit der Herstellung von Barometern, Thermometern und Aerometern verdiente. Mit dem Gewinn erwarb er neue Materialien, um neue Prototypen herzustellen. Er starb im Alter von fünfzig Jahren in dem Wissen, zwar nur ein Vermögen von 500 holländischen Gulden zu hinterlassen, aber elf Jahre zuvor in die Royal Society aufgenommen worden zu sein, an deren Gründung eine frühere Generation von Deutschen so maßgeblich beteiligt war.[166]