Epilog

Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz, der seit weniger als drei Monaten im Amt war, reagierte entschieden auf diese »Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents«.[1] Seine Entscheidung, die deutschen Verteidigungsausgaben zu erhöhen und harte Wirtschaftssanktionen zu verhängen, wurde weithin als »außenpolitische Wende« betrachtet.[2] Einheimische und ausländische Kritiker hatten Deutschland seit Langem als »Hegemon wider Willen« beschrieben, als Großmacht, die nicht bereit war, eine zu sein.[3] Selbst ein polnischer Außenminister fiel in den Chor ein: Radek Sikorski sagte 2011 in einer Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: »Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit. Als ›unverzichtbarer Nation‹ kommt ihr eine Schlüsselrolle in der Gemeinschaft zu.«[4] Zwischen 1995 und 2020 gehörte Deutschland viermal als nichtständiges Mitglied dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an und machte (leise) deutlich, dass es gern einen ständigen Sitz hätte. Aber Kritiker sahen ein Land, das den Dilemmata der Machtausübung auswich und es vorzog, auf dem hohen moralischen Ross zu sitzen und wegen seiner NS-Vergangenheit das Recht auszuüben wegzuschauen.

In Wirklichkeit hielt sich die Bundesrepublik im 21. Jahrhundert nicht mehr völlig aus den Konflikten auf der Welt heraus. Aber sie suchte sich ihre Kämpfe aus. Nach den Angriffen vom 11. September 2000 entsandte die Regierung Schröder 7000 deutsche Soldaten nach Afghanistan. »Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt«, erklärte Verteidigungsminister Peter Struck im Bundestag; später stellte er allerdings infrage, ob die Teilnahme an der Operation klug gewesen war.[5] Der Afghanistankrieg war in Deutschland unbeliebt. Zutiefst unbeliebt war auch der zweite Golfkrieg gegen den Irak von 2003, wie überall in Westeuropa, und zwar sowohl in Ländern, die nicht an ihm teilnahmen, wie Frankreich und Deutschland, als auch in Ländern, die an ihm teilnahmen, wie Großbritannien und Spanien. Man kann kaum anders, als den damaligen Kritikern zuzustimmen, die den Krieg für einen mit dubiosen Geheimdienstinformationen gerechtfertigten selbst gewählten Krieg mit versteckten Motiven hielten. Für die zweifelhaften Geheimdienstinformationen, wenn auch nicht für ihre Verwendung, trug auch Deutschland eine gewisse Verantwortung, denn »Curveball«, der irakische Überläufer, der die falsche Behauptung über Saddams Programm für biologische Waffen in die Welt gesetzt hatte, war ein Informant des deutschen Nachrichtendiensts.[6]

In den folgenden Jahren entschied Deutschland von Fall zu Fall, ob es sich an einer Militäroperation beteiligte oder nicht. So entsandte es 2005 im Rahmen einer UN-Friedensmission Militärbeobachter in den Sudan. Man dürfe nicht wegsehen, betonte Verteidigungsminister Struck, »wenn auf diesem ohnehin benachteiligten und geschundenen Kontinent Menschen verfolgt und ermordet werden«.[7] In der Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die später im selben Jahr begann, behielt man die fallbezogene Herangehensweise bei. 2011 lehnte Deutschland es ab, sich an der britisch-französischen Intervention in Libyen zu beteiligen. »Es gibt keinen sogenannten chirurgischen Eingriff«, erklärte Außenminister Guido Westerwelle. Diese Haltung wurde sowohl von links als auch von rechts kritisiert. Die deutsche Öffentlichkeit bezog nicht eindeutig Stellung: Sie wollte, dass Muammar al-Gaddafi die Macht verlor, war aber gegen den Einsatz von Gewalt gegen ihn.[8] Aber als Putins Russland 2014 die Krim annektierte und prorussische Separatisten in der Ostukraine unterstützte, arbeitete Merkel eng mit US-Präsident Barack Obama zusammen und übernahm die Führung bei der Verhängung europäischer Sanktionen gegen Russland. Auf die Syrienkrise und den Aufstieg des sogenannten Islamischen Staats vier Jahre später reagierte sie dagegen vorsichtig. Sie verurteilte den Einsatz chemischer Waffen durch Syrien, verkündete aber, dass Deutschland sich an den amerikanischen, britischen und französischen Militärschlägen nicht beteiligen werde; gleichwohl lieferte es Luftaufklärung und stellte ein Tankflugzeug zur Verfügung. Außerdem kritisierte sie, allerdings nur behutsam, Putins Unterstützung für das syrische Regime. Daher markierte Olaf Scholz’ Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 einen klaren Politikwechsel.

Drei Jahre zuvor hatte der liberale deutsche Journalist Jochen Bittner in Anlehnung an ein berühmtes Bonmot Theodore Roosevelts verächtlich bemerkt, Deutschland habe die Fähigkeit vervollkommnet, sanft zu sprechen, während es eine große Karotte trage.[9] Dennoch hatte die Bundesrepublik, wie Bittner anerkennt, Führung übernommen, nur in anderer Weise. Weltordnungspolitik erfordert sowohl Karotten als auch Knüppel – die einst Theodore Roosevelt zu tragen empfahl. Deutschland war nicht zuletzt deshalb diplomatisch glaubwürdig, weil es keine Militärmacht ausübte, wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich es taten, und es hatte keine Kolonialgeschichte im Nahen Osten oder in Nordafrika. Merkel konnte in der Georgienkrise von 2008 als Vermittler zwischen Russland und dem Westen auftreten. Im Nahen Osten besaß Deutschland das Vertrauen beider Seiten. Ein Gegengewicht zur deutschen Zögerlichkeit in Bezug auf die Teilnahme an Militäroperationen war außerdem Deutschlands Führungsrolle bei nichtmilitärischen, humanitären Anstrengungen. Seine Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, ist das beste Beispiel dafür. Auch in dieser Hinsicht war es ein großes Land, das sich wie ein kleines verhielt – in dem Sinn, dass es eine Großzügigkeit an den Tag legte, wie sie für die kleinen skandinavischen Länder typisch ist, anstatt es wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich an ihr fehlen zu lassen. Die Geschichte des vereinigten Deutschlands ist von Offenheit für Flüchtlinge und Asylsuchende gekennzeichnet. Es nahm zwischen 1990 und 2010 insgesamt über 200 000 aus dem postsowjetischen Russland geflohene Juden auf, dann in den 1990er-Jahren Hunderttausende Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, dem Iran und Irak sowie ab 2002 aus Afghanistan. Kurden und Kosovaren flohen aus Regionalkonflikten, Äthiopier und Eritreer aus Kriegen in Afrika.[10] Die jeweiligen Zahlen konnten enorm sein. 1991, nur ein Jahr nach der Vereinigung, nahm Deutschland allein 256 000 Asylsuchende aus Jugoslawien auf (Großbritannien nur 4000).[11]

Es gab, anders gesagt, Präzedenzfälle für Merkels dramatische Entscheidung vom August 2015, syrische Flüchtlinge ins Land zu lassen. Seit 2011 waren rund 6,5 Millionen Syrer vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land geflohen. Zwei Millionen gingen in den Libanon und den Irak oder nach Jordanien und Ägypten; weitere 3,6 Millionen – als größte einzelne Gruppe – suchten in der Türkei Zuflucht. Eine große Zahl von Flüchtlingen verließ die Lager im Nahen Osten und erreichte durch die Türkei oder über die Adria die Grenzen der Europäischen Union, wo ihre Anwesenheit heftigen Streit auslöste und Kroatien und Ungarn zum Bau von Grenzzäunen veranlasste. Merkels Entscheidung, alle syrischen Flüchtlinge aufzunehmen, einschließlich derjenigen, die bereits anderswo um Asyl ersucht hatten, war überwiegend einem humanitären Impuls zu verdanken, aber zweifellos auch in langfristigen Überlegungen begründet. Deutschland nahm 2015 schließlich über 573 000 syrische Flüchtlinge auf, weit über die Hälfte derjenigen, die in Europa (außerhalb der Türkei) angekommen waren. Darüber hinaus beantragten 2015/16 über eine Million Menschen aus Syrien und von anderswo erstmals Asyl in Deutschland. Merkels unilaterale Entscheidung stieß bei anderen Europäern, einschließlich sonstiger Verbündeter wie Frankreich, auf großen Widerstand. Sie warfen der Bundeskanzlerin vor, sie gefährde das gesamte Schengen-System offener Grenzen in Europa. Aber ihr Schritt führte zu einer bedeutenden Veränderung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das fortan eine gleichmäßigere Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU vorschrieb.

Zur Zeit der Flüchtlingskrise war die deutsche Führungsrolle in Europa unbestritten. Großbritannien war von der Debatte, die zum Brexit führte, in Anspruch genommen, und Frankreich immer weniger ein gleicher Partner. Wenn Deutschland seine Position in einer Angelegenheit änderte, beeilten sich andere EU-Länder, einem Brüsseler Bürokraten zufolge, den Kurswechsel nachzuvollziehen. Dies war in der EU beispiellos.[12] Der Grund dafür war wirtschaftliche Dominanz: Auf Deutschland entfielen ein Fünftel der Produktion der EU und ein Viertel ihrer Ausfuhren. Es war der größte Handelspartner der meisten EU-Mitglieder und der größte Einzahler der Union. Es mochte zögern, mit konventionellen politischen Mitteln Macht auszuüben, setzte seine Wünsche aber mit »geo-ökonomischer Macht« durch.[13] Dieses Muster reichte zum Vertrag von Maastricht von 1992 und der Einigung über die Architektur der künftigen EU zurück. Damals hatte Deutschland bekommen, was es wollte: eine Europäische Zentralbank nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank und eine Währung, den Euro, nach dem Vorbild der D-Mark. Die EU-Wirtschaft sollte auf der Grundlage von niedriger Inflation, knappem Geld und geringen Staatsschulden aufgebaut werden, während die »weicheren« Ökonomien Spaniens, Portugals und Griechenlands mithilfe von Regionalfonds und anderen Transferleistungen gestützt werden sollten.

Zwei Jahre nach der Einführung des Euro im Jahr 1999 verstieß Deutschland – wie Frankreich – gegen seine eigenen Verschuldungsregeln, was freundlicherweise ignoriert wurde. In der Finanzkrise, die 2008 aufgrund der Investitionen von Banken, Pensionsfonds und anderen Institutionen überall auf der Welt in von amerikanischen Kreditgebern erworbene Subprime-Wertpapiere ausbrach, verfuhr man nicht so. Die Situation wurde noch verschlimmert durch Immobilienblasen in Irland und Spanien sowie durch die steigende öffentliche Verschuldung. Die Finanzkrise hatte verheerende Auswirkungen auf die Realwirtschaft. Zwischen Herbst 2008 und Herbst 2009 schrumpfte die Produktion in der EU um ein Fünftel. Der Aufwärtstrend der deutschen Wirtschaft hielt jedoch, trotz der Verluste, welche die Banken durch faule Kredite einfuhren, an. Aber das deutsche Erholungsrezept, das zum europäischen werden sollte, schädigte schwächere Wirtschaften. Griechenland erhielt Finanzhilfen, allerdings zu von der »Troika« aus EU (unter deutscher Führung), Europäischer Zentralbank (mit Sitz in Frankfurt am Main) und Internationalem Währungsfonds gestellten harten Bedingungen. Der Rettungsschirm für Griechenland wurde zum Vorbild für Sparprogramme anderswo, die überall in Europa populistischen Parteien Auftrieb verliehen. Nach dem Ende der Krise forderte Merkel 2012 eine Verschärfung der EU-Regeln durch einen »Fiskalpakt«, der allen Mitgliedern die Einführung einer staatlichen »Schuldenbremse« auferlegte. Während die deutsche Boulevardpresse sich in selbstgefälligen Klischees über »umsichtige« Deutsche und »leichtsinnige« Südeuropäer erging, zeigten Karikaturen griechischer Zeitungen Merkel mit einem Hitler-Schnurrbart und brandmarkten ihre Politik als neue deutsche Invasion.

Abgesehen von Südeuropa, wurde Merkel weithin dafür gelobt, wie sie die EU durch die Finanzkrise gesteuert hatte. Aber der Austeritätsansatz war schädlich. Merkels Politik des knappen Geldes entsprach der seit Langem bestehenden deutschen Haltung, die auf der Erinnerung an die Hyperinflation von 1923 beruhte. Hinzu kam, dass Merkel weit weniger Sympathie für Europa als emotionales und historisches Projekt hegte als einige ihrer Vorgänger. Adenauer und Kohl, beide vom Rhein stammend, wollten einen Schlussstrich unter eine dunkle Vergangenheit ziehen, indem sie Deutschland in Europa einbetteten. Merkel war weniger von Solidaritätsideen bewegt. Außerdem war die deutsche Lösung der Schuldenkrise heuchlerisch. Immerhin hatten die Deutschen im 20. Jahrhundert von Schuldenerlassen profitiert, wie der französische Ökonom Thomas Piketty hervorhebt.[14] Ferner hatte das Wirtschaftssystem, das Griechenland und andere Länder in Schwierigkeiten brachte, jahrelang zu Deutschlands Vorteil gewirkt. Deutsche Banken hatten Ländern Geld geliehen, deren Einwohner deutsche Waren kauften, während die Länder ihre Kredite zurückzahlten. Dieser Kreislauf funktionierte bis 2008. Dabei baute Deutschland, indem sie ihnen Geld lieh, riesige Handelsbilanzüberschüsse gegenüber anderen EU-Mitgliedern auf. Provokativ ausgedrückt: »Deutschland hat die Blasen aufgeblasen, die im übrigen Europa geplatzt sind.«[15] Es war in gewisser Weise China ähnlich geworden, dem Exportriesen, der jedermanns Gläubiger war. Wäre es nicht besser, fragten Kritiker, wenn Deutschland die fiskalische Vorsicht lockerte, seinen gewaltigen Handelsbilanzüberschuss abbaute und seine beeindruckende Wirtschaftskraft in größerem Maß den heimischen Konsumenten zugutekommen ließe?

Der deutsche Binnenkonsum war schwach, weil die Globalisierung tiefgreifende Veränderungen der Wirtschaft und der Wohlstandsverteilung mit sich gebracht hatte. Die Veränderungen waren leicht zu übersehen, da Deutschland sich, von außen betrachtet, gleich geblieben war: ein von Exporten befeuerter Wirtschaftsmotor. Aber unter der Oberfläche hatte sich viel verändert. Privatisierungen und Deregulierungen hatten das Land stärker den angloamerikanischen Ökonomien angeglichen, während deutsche Unternehmen ihre Produktion in Niedriglohnländer in Europa und anderswo verlagert hatten. Die von der Regierung Schröder durchgeführten Reformen, Hartz I–IV genannt (nach dem ehemaligen VW-Manager Peter Hartz, der an der Spitze einer Kommission die Vorschläge für sie ausgearbeitet hatte), schwächten den Arbeitnehmerschutz und verringerten die Arbeitslosenunterstützung, um die Annahme von gering bezahlten »Minijobs« zu fördern. Es entstand ein zweigeteilter Arbeitsmarkt: Gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter bekamen weiterhin hohe Löhne, während die Arbeitslosigkeit nur wegen des Wachstums des Niedriglohnsektors und der Zunahme der Teilzeitarbeit gering blieb. Bis 2015 gab es in Deutschland keinen Mindestlohn. All dies drückte den Lebensstandard. 2018 gab es in Deutschland mehr arbeitende Arme als in allen anderen EU-Staaten. Das durchschnittliche Haushaltsvermögen war erstaunlich gering, geringer als in Italien oder Spanien. Dies lag nur zum Teil daran, dass die Haushalte und der Anteil der Hausbesitzer kleiner waren. Nach Ansicht des Soziologen Gerhard Bosch ist das viel gerühmte deutsche Sozialmodell ein »Schweizer Käse, dessen Löcher immer größer werden«.[16] Währenddessen nahm die Zahl sehr reicher Menschen zu. 2011 gab es in Deutschland 400 000 Dollar-Millionäre – 1985 waren es nur 67 000 – sowie 839 »superreiche« Haushalte mit einem Vermögen von mehr als 100 Millionen Dollar, womit es nur den Vereinigten Staaten (2692) den Vortritt lassen musste und knapp vor Saudi-Arabien lag (826).[17] Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung für ein Land, das sich einst seiner breiten Mittelschicht rühmte. Die Zunahme der sozialen Ungleichheit als Resultat des »Turbo-« oder »Kasinokapitalismus«, wie ihn der Historiker Hans-Ulrich Wehler nennt, blieb nicht ohne Kritik.[18] Die neoliberale Globalisierung wurde sowohl von der Linken und den Grünen als auch von der rechten Alternative für Deutschland (AfD) angegriffen. Es gab große Antiglobalisierungsproteste, die dramatischsten gegen den G20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg.

Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen sind ein perfektes Beispiel für die vom neuen globalen Regime geschaffenen Dilemmata. Der Handel zwischen den beiden Ländern nahm zu Beginn des 21. Jahrhunderts enorm zu. Die deutschen Exporte nach China wuchsen zwischen 2000 und 2018 auf mehr als das Vierfache, während derjenige mit den Vereinigten Staaten zurückging. Die beiden Kurven dürften sich bald schneiden. Bei den deutschen Importen ist dies bereits geschehen. 2018 kamen fast 10 Prozent der deutschen Importe aus China, womit es zum größten außereuropäischen Lieferanten geworden war und die Vereinigten Staaten überholt hatte. Außerdem investierten Deutschland und China in großem Stil im jeweils anderen Land. Seit 1985 haben sich 350 deutsche Unternehmen in der Hafenstadt Taicang, eine Stunde nordwestlich von Schanghai, niedergelassen, die meisten mit Produktionsstätten, aber es entstand auch ein Markt für Wurst und Sauerkraut, die im Restaurant der örtlichen Schindlers Tankstelle serviert werden. Das deutsche Familienunternehmen Storopack, ein weltweit führender Hersteller von Schutzverpackungen, eröffnete im Jahr 2000 seine erste Fabrik in China; 2013 waren es zehn.[19]

Aber wo liegt das Problem? Tatsächlich sind es mehrere. Die deutschen Exporte nach China sind beeindruckend, aber die langfristigen Aussichten sind ungewiss. Deutschlands Stärken – Maschinenbau, Chemie, Automobilbau und Spezialprodukte wie Tunnelbauausrüstungen – entsprechen gegenwärtig den chinesischen Bedürfnissen, doch dies könnte sich in Zukunft ändern. Außerdem besteht das Risiko, dass deutsche Unternehmen einheimische Manager ausbilden, die dann abwandern und Konkurrenzunternehmen aufbauen. Dieses Muster ist bereits zu beobachten. Was die chinesischen Investitionen in Deutschland betrifft, stehen Sicherheitssorgen im Vordergrund. Als der chinesische Staatsfonds deutsche Wälder kaufte, erregte das wegen der mythischen Aura des »deutschen Waldes« die Gemüter, aber Investitionen in sicherheitsrelevante Branchen – Energie, Transport, digitale Infrastruktur – berührten einen empfindlicheren Nerv. Im Dezember 2018 verschärfte die Bundesregierung die Bestimmungen für ausländische Investitionen auf eine Weise, die unverkennbar gegen China gerichtet war. Dieser Schritt erfolgte aufgrund einer umfassenderen Beunruhigung über Pekings globale Agenda.[20] Deutschland übernahm die Führung bei Verhandlungen der EU mit China über den Schutz von Investitionen, die zu dem im Januar 2021 unterzeichneten umfassenden Investitionsabkommen führten (dessen Ratifizierung von der EU allerdings auf Eis gelegt wurde). Deutschland und seine europäischen Partner standen jedoch – ebenso wie Japan – vor zwei großen Problemen. Das eine war der Ausgleich zwischen den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und ihrem wachsenden Chinahandel. Das andere war die Frage, wie ihre Handelsinteressen mit der Verpflichtung auf die Menschenrechte, die China Tag für Tag verletzte, in Einklang gebracht werden konnten.

Die Menschenrechtsfrage reichte weit über China – und Russland, wo Deutschland eine lange, unangenehm trauliche Beziehung mit Gazprom unterhielt – hinaus. Deutsche Unternehmen, die in Übersee, wo die Löhne niedrig und die Arbeitsschutzgesetze dürftig waren, Fabriken bauten, gingen stets einen faustischen Pakt ein, ebenso wie Unternehmen, die unter Verletzung der Basler Konvention gefährliche Abfälle in den globalen Süden exportierten. Greenpeace bezeichnete Deutschland in den 1990er-Jahren als »Abfallexportweltmeister«.[21] Hierhin gehören auch die deutschen Unternehmen, die Syrien Chemikalien verkauften, die für die Herstellung chemischer Waffen benutzt werden konnten. Der Vorwurf illegaler oder halblegaler Waffenverkäufe wurde seit Jahrzehnten gegen Deutschland erhoben.[22] Die von der Bundesrepublik quasi gewohnheitsmäßig eingenommene Haltung moralischer Rechtschaffenheit macht es verständlich, dass manche sich ein Vergnügen daraus machen, ihr Heuchelei vorzuwerfen. Gleiches kann auch über Teile der viel beschworenen »Energiewende« gesagt werden, die vor einem Jahrzehnt eingeleitet wurde. Deutschland wurde zu Recht für die Kühnheit gelobt, mit der es das Problem des Klimawandels anging und in erneuerbare Energien investierte. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 beschloss die deutsche Regierung, bis 2022 alle Atomkraftwerke stillzulegen. Dies war eine populäre Entscheidung, die jedoch schlecht zu dem Ziel der Verringerung des CO2-Ausstoßes passte und die Abhängigkeit von Russland vergrößerte. Die Heuchelei? Deutschland nahm den Beifall für den Ausstieg aus der Atomkraft entgegen, importiert aber in Atomkraftwerken gewonnenen Strom aus Frankreich und der Tschechischen Republik.[23] Nicht jede Heuchelei ist ein Ethikverstoß, und nicht jeder Ethikverstoß wird bekannt. Ein spektakulärer Fall, der bekannt wurde, ist der 2016 seinen Anfang nehmende Abgasskandal von Volkswagen, der dem Siegel »Made in Germany« eine völlig neue Bedeutung gab. Er offenbarte die potenziellen Gefahren, mit denen der Wirtschaftsriese Deutschland im Zeitalter globalen Handelns und globaler Nachrichtennetze konfrontiert ist.

Die Nachrichtennetze zeigen, dass die Globalisierung weit mehr umfasst als Kapitalflüsse, Arbeitsmärkte und Handel. Zu ihr gehören auch Kommunikationsnetze, die Bewegung von Menschen, der Gedankenaustausch und eine kulturelle Vermischung von beispiellosem Ausmaß. All dies schafft gute wie schlechte Möglichkeiten. Angesehene deutsche Publikationen und Nachrichtenmagazine wie Die Zeit sind aufgrund ihrer englischsprachigen Ausgaben global präsent, aber auch rechtsextreme Gruppen nutzen das Internet, um ihre Ansichten zu verbreiten. Die von Organisationen wie dem DAAD und dem Erasmus-Programm der EU geförderten intellektuellen Begegnungen von Wissenschaftlern und Studenten dürften die meisten als wünschenswert und harmlos betrachten, abgesehen vielleicht von dem tiefen Kohlenstofffußabdruck, den sie hinterlassen. Aber was ist beispielsweise mit dem Austausch, durch den das Fußballrowdytum von England, wo es in den 1970er-Jahren aufkam, nach Deutschland und in andere europäische Länder exportiert wurde? Die deutschen Hooligangruppen gaben sich sogar englische Namen, wie Bayern Münchens »Munich Service Crew«.[24]

Ein schwerwiegenderes Beispiel von Grenzüberquerung sind die Deutschen, die ihren Wohlstand ins Ausland brachten, ob nun als Urlauber, Zweitwohnungsbesitzer oder Rentner. Ihre Anwesenheit konnte positiv sein – sie lernten etwas über andere Länder, vielleicht sogar deren Sprache, und pumpten Geld in die lokale Wirtschaft. Sie konnte aber auch negativ sein. Deutsche Touristen, die die dalmatinischen Strände bevölkerten, riefen Verärgerung hervor; die Besiedlung ganzer Gebiete der Toskana oder des kenianischen Diani Beach durch deutsche Hausbesitzer warf die schwierigere Frage der Dominanz ausländischen Reichtums auf.[25] Ein anderes Beispiel ist die spanische Insel Mallorca, wo Ende des 20. Jahrhunderts 70 000 Deutsche Grundeigentum besaßen – womit ein Fünftel des Landes in deutscher Hand war. Der Massentourismus brachte jedes Jahr weitere 3,5 Millionen Besucher auf die Insel. Deshalb schlug ein bayerischer Christsozialer im Scherz vor, Mallorca zum siebzehnten Bundesland zu machen. Die Arroganz ist verblüffend. Doch die Wirklichkeit war, dass 35 000 Deutsche, überwiegend Rentner, ständig auf der Insel lebten und eine spanische Nischenbranche für die Versorgung und Pflege älterer Deutscher entstanden war.

Wenn man an Deutschland und grenzüberquerende Bewegungen von Menschen in jüngerer Zeit denkt, fallen einem zuerst Asylsuchende ein. Die Flüchtlinge haben das Land verändert, zusammen mit der zweiten und dritten Generation von Deutschtürken und anderer, die Nachkommen ehemaliger Gastarbeiter und in Deutschland geblieben sind. Ihre Anwesenheit veränderte das Aussehen und die Atmosphäre Deutschlands – die Namen, das Erscheinungsbild der Menschen, die Geschäfte, die Gesichter im Fernsehen, die Popmusik und ihre Interpreten, die Schriftsteller und Filmemacher. Ein Rip Van Winkle, der 1970 in Frankfurt am Main eingeschlafen und vierzig Jahre später aufgewacht wäre, hätte gestaunt. Fünf von sechs Kindern unter sechs Jahren waren ethnische Nichtdeutsche oder hatten, wie die gebräuchliche Phrase lautet, einen »Migrationshintergrund«. Begleitet wurde diese Umwälzung wie anderswo in Europa auch, selbst in Hochburgen liberaler Toleranz wie den skandinavischen Ländern, von hässlichen, fremdenfeindlichen Reaktionen. Menschen ausländischer Herkunft wurden Opfer von physischer Gewalt. Eine erste Gewaltwelle brach nach der Vereinigung aus, in einer Zeit, als die Zahl von Asylsuchenden rasch anstieg. Allerdings waren nicht immer sie das Ziel von Übergriffen. Im September 1991 wurde ein von mosambikanischen und vietnamesischen Vertragsarbeitern bewohntes Haus im ostdeutschen Hoyerswerda mit Molotowcocktails, Flaschen und Steinen beworfen, bis die Bewohner evakuiert wurden. Hunderte von Zuschauern feuerten die Angreifer an. Im folgenden Jahr wurde ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter und asylsuchende Roma in Rostock, ebenfalls in Ostdeutschland, mit Steinen und improvisierten Feuerwerkskörpern angegriffen. Wieder wurden die Bewohner evakuiert. Tödlichere Attacken fanden im Westen statt. Im November 1992 wurde in Mölln ein Brandanschlag auf zwei von Türken bewohnte Häuser verübt; drei Bewohner starben. Ein halbes Jahr später wurde in Solingen eine türkische Familie mit einer Brandbombe angegriffen; fünf Bewohner des Hauses fanden den Tod. Dazu muss angemerkt werden, dass im Dezember 1992 und Januar 1993, nach Mölln, fast zwei Millionen Deutsche an Lichterketten und Großdemonstrationen gegen Fremdenfeindlichkeit teilnahmen.[26]

Die Gewalt gegen »Ausländer« hörte nie ganz auf. Im Fall des selbst ernannten »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) wurde die Gewalt zu einer tödlichen Terrorkampagne. Die Mitglieder des NSU stammten aus Jena und waren als Jugendliche durch die Anschläge von Hoyerswerda und Rostock radikalisiert worden. Sie ermordeten Menschen türkischer, kurdischer und griechischer Herkunft und zündeten in einem türkisch-deutschen Viertel von Köln eine Nagelbombe. Sie bekannten sich nicht zu ihren Taten. Erst nachdem 2011 die Existenz des NSU aufgedeckt worden war, konnte man die Morde des vorangegangenen Jahrzehnts miteinander in Verbindung bringen.[27] Mit dem steilen Anstieg der Zahl von Asylsuchenden einige Jahre später erlebte Deutschland Gewalttätigkeiten in einem Ausmaß wie seit den frühen 1990er-Jahren nicht mehr. Zwei neue politische Organisationen beuteten die Befürchtungen der Deutschen aus: die 2013 gegründete AfD und der ein Jahr später ins Leben gerufene antiislamische Verein PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Aber es gab ganz im Sinne von Merkels berühmter Versicherung »Wir schaffen das!« auch eine überschwängliche Begrüßung von Syrern und anderen Flüchtlingen.

Nur wenige Jahre später sind die Auswirkungen des jüngsten Zustroms von Flüchtlingen immer noch nicht abzusehen. Derart viele Neuankömmlinge in kurzer Zeit stellen eine veritable Herausforderung dar, und nicht nur ultranationalistische, fremdenfeindliche oder kühl berechnende rechte Politiker, die sich einer kodierten Sprache bedienen, äußern Besorgnis.[28] In jüngster Zeit Eingetroffene machen einen unverhältnismäßig großen Anteil derjenigen aus, die in deutschen Städten in Armut leben. Aufgrund der großen Zahl gefährdeter Einwanderer ist Deutschland auch zu einem Zentrum des Menschenhandels geworden. Durch die mangelnde Effektivität des Kampfs gegen ihn hat Deutschland die kritische Aufmerksamkeit von EU, US-Außenministerium, UNICEF und NGOs auf sich gezogen.[29] Aber die Voraussetzungen für eine Integration sind vorhanden, in Gestalt des beruflichen Aus- und Weiterbildungssystems, des Angebots von Sprach- und Staatsbürgerkursen und von revidierten Rechtsvorschriften, die, wenn auch verspätet, der Wirklichkeit der Anwesenheit früherer Einwanderer, allen voran der ehemaligen Gastarbeiter und ihrer Kinder, angepasst wurden. Schon in den späten 1980er-Jahren waren Reformen im Gespräch gewesen, die jedoch, durch die Vereinigung hinausgezögert, erst an der Jahrtausendwende durchgeführt wurden. Im Jahr 2000 wurde endlich das auf der Abstammung beruhende Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 revidiert und Millionen Menschen, die zum Teil über zwanzig Jahre in Deutschland lebten, der Zugang zur Staatsbürgerschaft ermöglicht. Kindern wurde sie fortan automatisch gewährt, wenn wenigstens ein Elternteil ein unbefristetes Aufenthaltsrecht hatte oder seit mindestens acht Jahren in Deutschland lebte. Auch erwachsene Nicht-EU-Bürger erhielten die Möglichkeit, deutsche Staatsbürger zu werden. Durch das Zuwanderungsgesetz von 2005 wurde zwar die Kontrolle verschärft und Facharbeitern Vorrang eingeräumt, aber auch die Finanzierung von Sprachkursen geregelt.

Neuzuwanderer nach Deutschland, ob nun Einwanderer oder Asylsuchende, kamen im 21. Jahrhundert in eine multikulturelle Gesellschaft, was in den Straßen deutscher Städte und den bekanntesten deutschen Institutionen nicht zu übersehen war. Elf der 23 Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft, die 2010 an der Weltmeisterschaft teilnahm, waren ausländischer Herkunft, waren also entweder außerhalb Deutschlands geboren oder hatten mindestens ein nichtdeutsches Elternteil.

Das WM-Team der deutschen Fußballnationalmannschaft von 2010. Die elf Spieler ausländischer Herkunft waren Miroslav Klose, Lukas Podolski und Piotr Trochowski (polnisch), Mesut Özil und Serdar Tasci (türkisch), Marko Marin (bosnisch), Mario Gómez (spanisch), Cacau, genannt Helmut (brasilianisch), Dennis Aogo (nigerianisch), Jérôme Boateng (ghanaisch), Sami Khedira (tunesisch).

In der Politik war der deutsch-türkische Cem Özdemir Bundestagsabgeordneter, Abgeordneter des Europaparlaments sowie zehn Jahre Kovorsitzender der Grünen und ist derzeit Bundeslandwirtschaftsminister. Aminata Touré, in Neumünster als Kind malischer Eltern geboren, die 1991 nach dem Putsch in Mali nach Deutschland geflohen waren, wurde mit 25 Jahren in den schleswig-holsteinischen Landtag gewählt und 2019 dessen Vizepräsidentin. Von den 709 Mitgliedern des 2017 gewählten Bundestags waren 58 entweder selbst nicht von Geburt deutsche Staatsbürger oder hatten mindestens ein nichtdeutsches Elternteil. Bei den linken Parteien (Grüne und Sozialdemokraten) war der Anteil am größten, bei der Union niedriger, aber auch acht der 92 AfD-Abgeordneten waren nichtdeutscher oder teils nichtdeutscher Herkunft.[30] Ähnlich multikulturell ging es auch in Journalismus, Filmkunst und Literatur zu.

Besondere Aufmerksamkeit erregte das Aufblühen einer türkisch-deutschen Literatur, zu der Dutzende bedeutende Autoren verschiedener Genres gehörten. Eines von ihnen war die sogenannte Kanak-Literatur türkischstämmiger wütender junger Männer, deren Name ein deutsches Schimpfwort für Türken aufgreift, die aber auch der amerikanischen Untergrund- und Rap-Kultur viel zu verdanken hat. Die deutsch-türkische Literatur umfasst viele Formen, ernste wie spielerische: expressionistische Dichtung, Satire, eine türkisch-deutsche Version der »chick lit« und das Genre des Katzenkrimis, das Akif Pirinçci mit seiner Felidae-Reihe über einen Katzendetektiv geschaffen hat. Diese Autoren schreiben auf Deutsch und sind nicht leicht einzuordnen.[31] Wie die Literaturwissenschaftlerin Karin Yesilada ausführt, sind sie sowohl türkisch als auch deutsch, aber darüber hinaus noch vieles andere, nämlich »LyrikerInnen, Romanciers, Paul Celan LiebhaberInnen, Martin Scorsese Fans, AutorInnenfilmerInnen, TheaterschauspielerInnen, FriedensaktivistInnen, Katzenfreunde, Muslime, CDU-Abgeordnete, VegetarierInnen, RaucherInnen etc.«.[32]

In Fatih Akins Film Gegen die Wand (2004) gibt es eine wunderbare Szene, in welcher der Protagonist, Cahit, nach Istanbul reist und dort in ein Taxi steigt. Er spricht nur schlecht Türkisch, findet aber rasch heraus, dass der Taxifahrer in München aufgewachsen ist – »Oh Gott, bist ’n Bayer, oder was?« –, und so setzen sie ihr Gespräch auf Deutsch fort. Akins Filme sind von Figuren mit komplexen multikulturellen Identitäten geprägt. Wie die deutsch-türkische Literatur stehen sie für einen Neuaufbruch der deutschen Kultur. Die Anerkennung, die Akins Filme im Ausland finden, zeigt aber noch etwas anderes. Nachdem in den 1970er-Jahren Regisseure des Neuen Deutschen Films wie Wim Wenders und Rainer Werner Fassbinder den Ruf des deutschen Kinos begründet haben, ist ihnen eine Generation von in den 1960er-und 1970er-Jahren geborenen Filmemachern gefolgt, wie Christian Petzold (Barbara), Tom Tykwer (Lola rennt), Maren Ade (Toni Erdmann) und Jan-Ole Gerster (Oh Boy), die allesamt internationale Anerkennung fanden und Preise erhielten. Gleiches gilt für Wenders’ Altersgenossen, den Österreicher Michael Haneke, der Filme auf Französisch, Deutsch und Englisch gedreht hat.

Weitere Beispiele für international anerkannte deutsche Hochkultur lassen sich leicht finden. Nimmt man den Nobelpreis für Literatur zum Maßstab, so ist sie zwischen 1999 und 2019 außerordentlich erfolgreich gewesen: Viermal wurde er an deutsche Autoren vergeben, von denen allerdings zwei Österreicher (Elfriede Jelinek und Peter Handke), eine Rumäniendeutsche (Herta Müller) und der vierte aus einer Stadt kam, die lange Danzig hieß (Günter Grass) – allesamt Zeugen der deutschen Geschichte jenseits der Grenzen des heutigen Nationalstaats. Aber nicht nur in der Vergangenheit wurzelnde kanonische Werke waren erfolgreich, sondern auch neue Arbeiten und neue Impulse, am offensichtlichsten in der bildenden Kunst. Im späten 20. Jahrhundert erregten deutsche Künstler weltweit bei Galeristen, Sammlern und Museumsbesuchern Aufmerksamkeit, die ihre formalen Neuerungen und ihren Anspruch bewunderten und sie danach befragten, was sie (wenn überhaupt etwas) über den Zustand ihres Landes zu sagen hatten. Der amerikanische Kunstkritiker Peter Schjeldahl schrieb 1997 über eine Begegnung mit einem von ihnen, Martin Kippenberger, in Madrid. Er mochte ihn zwar nicht, musste aber anerkennen, dass er eine »führende Figur der vierten Generation eines deutschen Kunstschlachtschiffs« vor sich hatte.[33] Auch als innovatives Zentrum des modernen Tanzes erwarb sich Deutschland internationale Anerkennung, was in neuerer Zeit vor allem Pina Bauschs Tanztheater zu verdanken ist. Nach Ansicht des Sadler’s Wells Theatre in London hat sie »eine Revolution« in Gang gesetzt, »die den Tanz überall auf der Welt befreit und neu definiert hat«.[34] Ihr Tanztheater blieb nach ihrem Tod im Jahr 2009 bestehen und zieht weiterhin Tänzer aus aller Welt an. Sie zählen zu den zahllosen Künstlern von Weltruf auf verschiedenen Gebieten, die in Deutschland arbeiten und seiner Kultur kosmopolitisches Flair verleihen. Gegenwärtig (Stand 2023) haben nur elf der 41 Spitzenorchester Deutschlands einen Deutschen oder Österreicher als musikalischen Leiter. Die anderen dreißig stammen aus 18 Ländern. Im 19. Jahrhundert wollte jedes Orchester auf der Welt einen deutschen Dirigenten haben; im 20. Jahrhundert kam die Welt zum Dirigieren nach Deutschland.

Auf diese und vielerlei andere Weise spielt die deutsche Kultur eine herausragende Rolle in der Weltkultur, das heißt der globalen Hochkultur. Die Hochkultur hat indes ihren Stellenwert als einzige Kultur, die zählt, verloren. Wenn man sich also nicht für Kunstfilme, modernen Tanz, klassische Musik oder moderne Kunst interessiert, gehören dann die Stile, Klänge und Bilder der deutschen Popkultur ebenfalls zu einer breiteren, globalen Kultur? Ganz gewiss, und dies ist nirgends deutlicher zu sehen als in der Popmusik, wo diverse nichtdeutsche Einflüsse zusammengekommen sind und synkretistische Genres geschaffen haben. Die 1998 gegründete elfköpfige Berliner Band Seeed mischt Hip-Hop, Dub und Reggae und singt auf Deutsch, Englisch und in jamaikanischem Patois. Die drei Leadsänger waren ein Basken-Deutscher und zwei Westafrikanisch-Deutsche. Die Dancehall- und Hip-Hop-Band Culcha Candela ist ein anderes Beispiel für das multikulturelle Deutschland. Die Band singt in vier Sprachen, und ihre Mitglieder sind kolumbianischer, ugandischer und polnischer Herkunft; ihr DJ ist Koreaner.[35] Eine der frühesten deutschen Rap- und Hip-Hop-Szenen entstand in Stuttgart, als die Stadt ihren provinziellen Ruf abwarf und zu einem Zentrum multikultureller Energie wurde. Die 1991 gegründete Hip-Hop-Band Massive Töne orientierte sich an amerikanischen und französischen Vorbildern. Sie gehörte zum Hip-Hop-Kollektiv Kolchose und arbeitete häufig mit anderen, wie Freundeskreis, zusammen. Freundeskreis ist sicherlich die einzige Hip-Hop-Band auf der Welt, die sowohl auf Deutsch, Französisch und Englisch als auch auf Esperanto singt. Ein auffälliger Aspekt der Stücke dieser Bands ist die Mischung vieler musikalischer Stile und vielsprachiger Texte mit einem starken, aber nichtkonservativen Lokalpatriotismus. Die Mitglieder von Massive Töne waren bekanntermaßen Anhänger des Fußballvereins VfB Stuttgart und sangen in »Mutterstadt« gefühlvoll über die Freuden ihrer Heimatstadt am Neckar und schmähten die Neureichen, die ihren Urlaub im Ausland verbrachten, anstatt in Stuttgart zu bleiben.

Ein großer Teil der Kultur, die Deutsche heute konsumieren, dürfte Menschen überall auf der Welt vertraut sein – Fußball natürlich, Weltmusik, K-Pop und amerikanische Popmusik, Krimiserien und Realityshows im Fernsehen. Die zunehmende Präsenz der amerikanischen Popkultur begann in der Bundesrepublik mit einem steilen Anstieg des Anteils von Hollywood-Filmen auf westdeutschen Bildschirmen (auch in Ostdeutschland war ein Anstieg zu verzeichnen, der allerdings weniger steil ausfiel) und der Zulassung privater Fernsehsender wie SAT.1 und RTL in den 1980er-Jahren. Ein Aspekt der Amerikanisierung war das Aufkommen des Musikfernsehens in Gestalt des Senders VIVA. Als Konkurrent von MTV gegründet, geriet VIVA ins Straucheln, als 1997 MTV Germany ins Rennen ging, und wurde 2005 schließlich von MTV aufgekauft. Die Geschichte des Senders ist eine Lektion über Popkultur als Objekt globaler Übernahmen, Fusionen und Erwerbungen.

Solange es VIVA gab, war der Sender bemüht, einem jungen Publikum auf unterhaltsame Weise Politik nahezubringen. 2002 gelang ihm ein prägender Moment im politischen Diskurs Deutschlands. Zwei Jahre zuvor war der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle in den Container der RTL-Sendung Big Brother gegangen. 2002 saß der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering bei VIVA Zwei, dem »CNN des Musikfernsehens«, zu einem Interview »auf der Couch«. Müntefering hatte als Minister in der Regierung Schröder den Umzug des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin beaufsichtigt. Bei VIVA wandte sich die 23-jährige Moderatorin Sarah Kuttner nun mit den Worten der Kamera zu: »Der eine oder andere hat sich vielleicht gefragt: Who the fuck is Franz Müntefering?« Ihrem Gast, Jahrgang 1940, der sich die Einleitung mit versteinertem Gesicht anhörte, ging wahrscheinlich durch den Kopf, dass noch kein deutsches Regierungsmitglied auf diese Weise vorgestellt worden war und warum er sich zu dem Interview bereitgefunden hatte.[36] Es war ein perfektes Symbol dafür, wie junge Deutsche einen hippen, lässigen Stil annahmen, der in einem Maß »undeutsch« war, dass er sich rüder amerikanischer Worte bediente – in diesem Fall einer Wendung, die kein amerikanischer Fernsehmoderator in den Mund genommen hätte.

In den 1830er- und 1840er-Jahren hatte der Begriff »Junges Deutschland« eine Gruppe von Schriftstellern bezeichnet, die sich wie ihre Pendants in Italien und Frankreich für Liberalismus, Demokratie und Frauenrechte einsetzten. Sie zählte nur wenige Mitglieder, deren Leserschaft ebenfalls begrenzt war. Am Anfang des 21. Jahrhunderts war das junge Deutschland eine wesentlich breitere, diffusere, lockerere multikulturelle Generation in einer alternden Gesellschaft, die gleichwohl das Bild Deutschlands in der Welt mitprägte. Bands wie Seeed waren Headliner von Musikfestivals im Ausland. Berlin war ein Magnet, insbesondere für junge Menschen, die nicht zu Symphoniekonzerten oder Ballettaufführungen kamen, sondern in eine trendige Stadt voller Hipster und Kreativer, Technoklubs wie dem Berghain, Yogastudios und Feinbäckereien sowie Veranstaltungen wie der Fashion Week und der Love Parade. 2012 schrieb das New York Times Magazine über einen Australier, der aus Berlin weggehen musste, weil er dort zu viel Spaß hatte, um irgendetwas zu schaffen. Die englischsprachige Webseite der Stadt nannte sich Toytown Germany. So wie die Regierung Schröder bei ihren Hartz-Reformen viel von Tony Blairs New Labour übernahm, ahmte der schwule Berliner Regierende Bürgermeister Klaus »Wowi« Wowereit offenbar Blairs cleveres Marketing von »Cool Britannia« nach. In Berlin war wie in London eine multikulturelle Energie zu spüren; das coole Hipster-Image erwies sich als attraktive Marke. Aber die Medaille hatte auch eine – zumeist unsichtbare – andere Seite: Armut, Arbeitslosigkeit und Einwohner, die sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten konnten.[37]

Berlin mochte seine Armen aus dem Blickfeld gedrängt haben, aber die Vergangenheit war immer noch überall vorhanden. Immer wieder einmal brachte sie sich auf gefährliche Weise in Erinnerung, wenn eine der schätzungsweise 15 000 nicht explodierten Bomben des Zweiten Weltkriegs in der Stadt gefunden wurde.[38] Viele Spuren der jüngeren kommunistischen Vergangenheit sind beseitigt worden, Straßennamen ebenso wie Bauwerke wie der Palast der Republik, während der NS-Vergangenheit beeindruckende Mahnmale gewidmet wurden. Das von Daniel Libeskind entworfene Jüdische Museum wird zu Recht für seine verblüffende Originalität gelobt, aber es steht nicht allein da. Auf dem Bebelplatz schaut man zum Gedenken an die Bücherverbrennung von 1933 durch eine Glasscheibe im Boden auf leere Bücherregale. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas hat einen absichtlich unebenen Boden und verschieden große Betonquader, damit Besucher, wenn sie zwischen ihnen entlanggehen, Verwirrung und Desorientiertheit verspüren. Darüber hinaus finden sich in Bürgersteigen in der gesamten Stadt sogenannte Stolpersteine, die jeweils an ein jüdisches Opfer des NS-Regimes erinnern, das in dem Haus daneben gewohnt hatte. Aber nicht nur in Berlin und nicht nur in dessen Mahnmalen bleibt die NS-Zeit, obwohl sie jetzt über 75 Jahre her ist, ein Bezugspunkt, ein Teil der deutschen Geschichte, den das heutige Deutschland als untilgbares Element seiner Identität akzeptiert hat. Sie ist in Geschichtsbüchern, Romanen, Spielfilmen und Musikwerken gegenwärtig. »Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte«, rappt der Stuttgarter Freundeskreis.

Auch diese deutsche Geschichte, insbesondere diejenige des Holocausts, ist zu einem Teil der Weltgeschichte geworden. Diese Entwicklung begann bereits in den 1970er- und 1980er- Jahren, beschleunigte sich aber nach dem Ende des Kalten Kriegs. Auschwitz wurde zu einem »globalen Erinnerungsort« und der Holocaust zu einem »Erinnerungsemblem des 20. Jahrhunderts«, einem universalen Symbol von Völkermord und Unmenschlichkeit: zu einem weltbürgerlichen Lehrstück.[39] Dadurch drohte etwas, worauf scharfe Beobachter wie Hans Magnus Enzensberger schon lange hingewiesen hatten, die Gefahr nämlich, dass die Debatten in Deutschland leicht zu bloß rituellen Beschwörungen wurden, wahrhaft universell zu werden drohten. Vor dreißig Jahren, in der Frühzeit des Internets, entdeckte der amerikanische Rechtsanwalt und Autor Mike Godwin das nach ihm benannte Gesetz, nach dem in Online-Diskussionen mit zunehmender Dauer die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass ein Vergleich mit dem Nationalsozialismus oder Hitler gezogen wird, wonach die Diskussion keinen Wert mehr hat. Während die Zahl von Holocaust-Museen und -Mahnmalen in Ländern rund um die Welt sich vervielfachte, dienten sie manchmal dazu, die Aufmerksamkeit von der Behandlung indigener oder kolonialer Völker durch diese Länder abzulenken. Eine letzte Ironie des Phänomens des globalen Holocausts besteht darin, dass heute manche darauf zeigen, wie ernsthaft die ehemaligen Täter ihre dunkle Vergangenheit bewältigt haben, und uns auffordern, »von den Deutschen zu lernen«. In diesem Sinn war das 20. Jahrhundert tatsächlich ein deutsches Jahrhundert.