Es ist ein Paradox, dass im Zeitalter des Nationalismus in beispiellosem Umfang grenzüberschreitend gereist wurde. Der Philosoph Georg Simmel sprach im Jahr 1900 von »Reisemanie« als einem Symptom eines ruhelosen, nervösen Zeitalters.[1] Eisenbahn und Dampfschiff machten insbesondere in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine »Weltverkehrsgesellschaft« möglich.[2] In dieser Gesellschaft waren Deutsche gut vertreten, getrieben von verschiedenen Motiven, beruflichen ebenso wie touristischen. Manche unternahmen sogar eine Weltreise, die jetzt wesentlich leichter durchführbar war als in Georg Forsters Zeit.[3] Jules Vernes Phileas Fogg reiste in 80 Tagen um die Welt. Der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand benötigte für seine Weltreise 1892/93 zehn Monate, was allerdings den vielen Zwischenaufenthalten geschuldet war, auf denen er Bekanntschaften schloss, Dinge sammelte – er brachte 17 000 Gegenstände mit nach Hause – und vor allem jagte: Tiger, Panther, Elefanten, die in seine Jagdbilanz eingingen; er erlegte im Lauf seines Lebens insgesamt 275 000 Tiere.[4] Manche Angehörige der deutschen Oberschicht fanden im Ausland Ehepartner. Die Mutter der Schriftsteller Heinrich und Thomas Mann war mütterlicherseits Brasilianerin; ihr Vater betrieb in Brasilien eine Plantage. Bismarcks Sohn Herbert heiratete die Tochter eines österreichisch-ungarischen Diplomaten und einer Engländerin. Einer von Bismarcks Nachfolgern, Bernhard von Bülow, heiratete eine italienische Prinzessin, nachdem deren erste Ehe – ebenfalls mit einem Deutschen – annulliert worden war.
Diese Personen führten ein transnationales Leben. Manchmal waren es sehr triviale Leben, wie Franz Ferdinands Spritztouren oder die Wanderungen der Reichen zu von der »Saison« bestimmten internationalen Reisezielen. In der Belle Époque wurden deutsche Badeorte wie Wiesbaden und Baden-Baden, in denen »das Geplapper von tausend Zungen in einem Dutzend unterschiedlicher Sprachen« zu hören war, zu Anziehungspunkten der Reichen aus aller Welt. Es waren elegante Treffpunkte, wo die Croupiers stets Franzosen und die Femmes fatales Russinnen waren und die Architektur pseudojapanische mit pseudomaurischen Elementen mischte.[5] Die Deutschen, die sie besuchten, reihten sich unauffällig in eine globale Elite ein, die überwiegend europäisch war, aber auch Amerikaner und andere einschloss, wie den Aga Khan und Kaiser Dom Pedro von Brasilien.
Es fällt schwer, einen schärferen Kontrast zu finden als denjenigen zu den Deutschen, die sich mit Vertretern anderer Nationen trafen, um internationalistische Politik zu betreiben. Unter den von der Historikerin Bonnie Anderson aufgelisteten zwanzig »Kernfrauen« der ersten europäischen und amerikanischen Feministinnengeneration sind fünf deutsche Frauen.[6] Eine von ihnen, Louise Otto, schrieb im Zuge der Revolution von 1848 über die angestrebte »große Welt-Erlösung«[7] und begrüßte eine neue, von ihrer Landsfrau Louise Dittmar herausgegebene Zeitschrift als Teil einer »großen allumfassenden Welt-Bewegung«.[8] Beide gehörten zu einem Netzwerk von Frauen, die miteinander korrespondierten und die Schriften der jeweils anderen lasen und übersetzten. Ideen und Institutionen überwanden problemlos Grenzen. Die Ankunft von Feministinnen der 48er-Bewegung verlieh der amerikanischen Frauenbewegung neue Kraft. Umgekehrt nahm frau die englische Society for Promoting the Employment of Women zum Vorbild für den in Berlin gegründeten deutschen Frauenerwerbsverein, dem bald ähnliche Organisationen in ganz Mitteleuropa folgten.[9] Die Frauenbewegung des späten 19. Jahrhundert behielt auch nach der Spaltung in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel ihren internationalen Charakter. Deutsche waren in beiden prominent vertreten, ebenso wie die deutsche Sprache. So teilte die niederländische Feministin Martina Kramers ihrer ungarischen Mitstreiterin Rosika Schwimmer auf Deutsch mit, dass sie um der »armen einsprachigen Amerikaner« willen einen ihrer Aufsätze ins Englische übersetze.[10]
Deutsch war auch eine der Sprachen der internationalen sozialistischen Bewegung, in den Augen mancher in zu großem Ausmaß. In der 1889 gegründeten sozialistischen Zweiten Internationale mangelte es nicht an Differenzen. Sie betrafen, wie in der Frauenbewegung, für gewöhnlich nicht nationale, sondern doktrinäre Unterschiede. Aber die schiere Größe der deutschen Sozialdemokratie im Vergleich mit den sozialistischen Parteien anderer Länder führte zu Klagen über überhebliches, schulmeisterliches Auftreten von Deutschen. Insbesondere eine starke französisch-deutsche Spannung war zu spüren. Die Zweite Internationale blieb ein Symbol des Kampfs gegen den Hypernationalismus der Zeit – bis 1914, als sie im ultimativen Test scheiterte.[11] Der Krieg begrub auch die Hoffnungen der internationalen pazifistischen Bewegung. Was diese betraf, war allerdings ihre Schwäche in Deutschland im Vergleich zu ihrer Stärke anderswo vielsagend.[12]
In den Zusammenhang der »internationalen Wende« gehörten auch die am Ende des 19. Jahrhunderts unternommenen Versuche, eine internationale Sprache zu schaffen.[13] Die bekannteste von ihnen, Esperanto, ist eine Erfindung des polnisch-jüdischen Augenarztes Ludwik Zamenhof, dessen erstes Buch über die Sprache 1887 erschien. Einige Jahre vor Esperanto hatte der deutsche katholische Priester Johann Martin Schleyer Volapük geschaffen. Schleyer glaubte, Gott hätte ihm im Traum befohlen, eine internationale Sprache zu erfinden. Das Volapük verbreitete sich rasch. In Friedrichshafen (1884), München (1887) und Paris (1889) fanden Weltkongresse statt; auf den ersten beiden wurde Deutsch gesprochen, auf dem dritten Volapük. Am Ende der 1880er-Jahre gab es europaweit und bis nach San Francisco und Melbourne fast 300 Volapük-Vereine und bis zu einer Million Anhänger der Bewegung. Sie war allerdings noch stärker als die feministische und die sozialistische von doktrinären Streitigkeiten zerrissen. Ein Teil ihrer Anhänger wandte sich der Konkurrenzsprache Idiom neutral zu, andere wechselten zum Esperanto, das nach 1890 die Hoffnung auf eine Weltsprache am Leben erhielt. Die Zeitschrift der Bewegung, La Esperantisto, wurde in Deutschland vom Vorsitzenden des Nürnberger Weltsprachenvereins herausgegeben, der 1888 durch seinen Wechsel vom Volapük zur ersten Esperanto-Gruppe der Welt geworden war.[14]
Dies waren ernsthafte Menschen, die ernsthafte Ziele verfolgten, was einer der Gründe für die vielen Streitfälle und Spaltungen war. Auch eine andere Gruppe, diejenige der Sozialreformer – der ausschließlich Männer angehörten –, war durch ihre Ernsthaftigkeit gekennzeichnet. Ihre Zahl und ihr Einfluss nahmen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts rasch zu. Als ausgebildete Juristen, Mediziner und Vertreter der neuen Sozialwissenschaften interessierten sie sich für eine Reihe von miteinander verknüpften Themen: Kriminologie und Strafrechtsreform, Volksgesundheit und Hygiene, Wohnungsbau und Armenhilfe. Ihr Netzwerk erstreckte sich über ganz Europa und den Atlantik. Sie korrespondierten miteinander, lasen dieselben Zeitschriften, trafen sich auf denselben Kongressen und verbreiteten ihre Ideen international. Der in Sachsen geborene Statistiker und Sozialökonom Ernst Engel befand sich mitten in diesem Netzwerk. Er hatte in Paris studiert und einige Zeit in Brüssel gelebt, unterhielt enge Verbindungen nach Großbritannien und war Mitgründer des internationalen Statistischen Kongresses. Die Gruppe der Sozialreformer überschnitt sich am Rand mit einer anderen Gruppe, für die Sozialreform moralische Reform bedeutete: die Kämpfer gegen »weiße Sklaverei«, Prostitution und Alkohol, die ein Autor als »Kräfte der organisierten Tugend« bezeichnet hat.[15] Auch deren Horizont war häufig international, obwohl sie eher von religiösen Motiven geleitet wurden und häufiger auch Frauen zu ihren Mitgliedern zählten. Diese moralischen Kampagnen glichen oft der Mobilisierung der Öffentlichkeit gegen fremde »Gräuel«, die ein weiteres Merkmal der Zeit darstellten.
Alle dieser Bewegungen entstanden im 19. Jahrhundert, zumeist in dessen letzten Jahrzehnten. Aber die meisten Deutschen, die ein transnationales Leben führten, gehörten zu Gruppen, die schon lange mobil waren, wenn auch noch nie in solcher Zahl. Deutsche Kaufleute lebten – gewissermaßen als Wirtschaftskonsuln – überall in Europa, von Sevilla bis Sankt Petersburg. Am größten war ihre Zahl dort, wo Deutschland die meisten Geschäfte machte, in Westeuropa. Aber Kaufmannnsfamilien konnten erstaunlich weitgespannten Netzwerken angehören. Als Auguste Michaelis, die 1831 als Tochter eines Hamburger Kaufmanns geboren war, in den Zwanzigern war, hatte sie zwei Schwestern, die in England arbeiteten, und einen Bruder, der in Saigon für eine französische Firma arbeitete. Vierzig Jahre später, sie lebte mittlerweile als Witwe in einer norddeutschen Kleinstadt, hatte sie Verwandte, die nach Südafrika ausgewandert waren, und – über die Familie, Nachbarn oder Freunde – Bekannte in einem Dutzend Ländern rund um die Welt, von Peru bis China.[16]
Es ist wahrscheinlich einfacher, die Orte zu nennen, wo es keine deutsche Kaufmannskolonie gab. Es gab deutsche Kaufleute in Haifa, aber nicht in den meisten anderen nahöstlichen Hafenstädten, wie Alexandria und Beirut.[17] Auch in Indien gab es nur wenige deutsche Kaufleute. In Japan lebten deutsche Kaufleute, wie ihre Kollegen anderer Nationalität, überwiegend in Yokohama. In China waren sie in der Kolonie Kiautschou sowie in Hafenstädten wie Kanton und vor allem Schanghai vertreten. In Schanghai lebten 1905 rund 800 Deutsche, genug, um eine deutschsprachige Zeitung am Leben zu erhalten, auch wenn nur einer von 14 ausländischen Einwohnern der Stadt Deutscher war.[18] Saigon war ein weiteres Zentrum, eine brodelnde Hafenstadt, wo Deutsche Reismühlen betrieben und Schiffsversicherungen verkauften.[19] In diesen fernen Außenposten tätige Kaufleute reisten dank der großen Dampfschifflinien häufiger als in der Vergangenheit zwischen diesen und Deutschland hin und her. Der deutschamerikanische Zuckermagnat Claus Spreckels überquerte mehr als zwei Dutzend Mal den Atlantik.[20]
Wenn eine Gruppe im 19. Jahrhundert behaupten konnte, noch mobiler und weiter vernetzt zu sein als die Kaufleute, dann waren es die Missionare. Deutsche Missionare beider Konfessionen waren rund um die Welt anzutreffen. Ihre Wirkung auf die Verbreitung des Christentums im 19. Jahrhundert war enorm. Da Deutschland erst spät Kolonien erwarb, waren sie überwiegend in den Kolonialreichen anderer Mächte tätig – ein bereits vertrauter Umstand. Der berühmteste – und berüchtigtste – deutsche Missionar des 19. Jahrhunderts war Karl Gützlaff. Der aus einer pommerschen Kleinstadt stammende Schneiderssohn war aufgrund seiner intellektuellen Begabung von Pietisten aufgenommen und in Berlin ausgebildet worden. Insbesondere für Sprachen zeigte er sich talentiert. Mit zwanzig ging er nach Rotterdam, wo er bei der Niederländischen Missionsgesellschaft drei Jahre Theologie und Sprachen studierte. Zu seiner Ausbildung gehörten auch kurze Aufenthalte in Großbritannien und Frankreich. 1827 schickten die Niederländer den ehemaligen Sattlerlehrling nach Batavia, wo er zusätzlich zu den Sprachen, die er bereits beherrschte, das Chinesische erlernte. Nach einem Jahr verließ er allerdings die Niederländische Missionsgesellschaft und reiste nach Singapur und später mit Jacob Tomlin von der Londoner Missionsgesellschaft nach Thailand. In Singapur heiratete er die britische Missionarin Mary Newell und, nachdem diese im Kindbett gestorben war, wiederum eine englische Missionarin, Mary Wanstall. Nach deren Tod ehelichte er eine dritte Engländerin, Dora Gabriel. Seine Ehen waren ein Anzeichen dafür, in welcher Welt er sich bewegte. Seit seiner Ankunft in Singapur arbeitete er im Britischen Empire.
In Hongkong wurde Gützlaff zu einem der umstrittensten China-Missionare des Jahrhunderts. Er missionierte im Landesinneren, wobei ihm sowohl die Beherrschung verschiedener Dialekte als auch seine Kleidung half – er trug als erster evangelischer Missionar, wie der Jesuit Adam Schall zwei Jahrhunderte vor ihm, chinesische Kleider; nach seiner Ansicht hatten die Jesuiten damals allerdings der chinesischen Kultur zu viele Zugeständnisse gemacht. Er verteilte Traktate und eine chinesische Ausgabe der Bibel, an deren Übersetzung er mitgearbeitet hatte, und errichtete eine Missionarsschule. Der von ihm gegründete Chinesische Verein lebte von Spenden örtlicher Konvertiten. Gützlaff stand eindeutig auf der »Pro«-Seite der ewigen Missionsdebatte über die »Indigenisierung« der christlichen Kirchen. Erst nach seinem Tod im Jahr 1851 wurde offenbar, dass viele vermeintliche Konvertiten, wie seine Kritiker unterstellt hatten, ihn getäuscht hatten und nichts anderes gewesen waren als notleidende Opiumsüchtige, die seine Bibeln dem Drucker verkauften, der sie dann erneut Gützlaff verkaufte. Außerdem wurde er indirekt mit dem 1850 ausgebrochenen blutigen Taiping-Aufstand in Verbindung gebracht. Gützlaff hatte den amerikanischen Southern-Baptist-Missionar Issachar Jacox Roberts finanziell unterstützt, der den Taiping-Anführer Hong Xiquan unterwiesen und anfangs mit den Aufständischen sympathisiert hatte.
Auch in anderer, weltlicherer Hinsicht war Gützlaff umstritten. Aufgrund seiner Sprachbegabung und seines Ehrgeizes sowie der ständigen Notwendigkeit, die Rückendeckung der großen Kolonialmächte zu sichern, war er bereit, für die Briten zunächst als Dolmetscher und später auch als Friedensrichter und chinesischer Sekretär des Gouverneurs von Hongkong zu fungieren. Er anglisierte seinen Vornamen zu »Charles« und unterrichtete hohe britische Beamte in chinesischer Sprache und Kultur. Er glaubte an die Öffnung Chinas für den Handel mit Europa, die das Land, wie er hoffte, zugleich für die Missionsarbeit öffnen würde. Nach seiner Ansicht gingen Christentum und Handel Hand in Hand, weshalb es nicht überrascht, dass seine Schriften den schottischen Missionar und Afrikaforscher David Livingstone beeinflussten. Gützlaff geriet jedoch ernsthaft in Verruf, weil er der Firma Jardine, Matheson & Co., die mit Opium handelte, als Dolmetscher diente und den Briten während des Opiumkriegs Informationen beschaffte, die teilweise von chinesischen Informanten stammten, die er angeworben hatte.[21]
Nicht jeder Missionar wurde auf beiden Seiten in den Opiumkrieg hineingezogen, und nicht jeder wurde sowohl von David Livingstone als auch von Karl Marx zitiert. In anderer Hinsicht war Gützlaff weniger außergewöhnlich. Wie andere Missionare wurde auch er aus einfachen Verhältnissen in eine globale Rolle katapultiert. Und wie alle deutschen Missionare musste er sich an die von den großen Kolonialmächten vorgegebenen Regeln halten. Deutsche katholische Missionare stellten, wo immer sie hingingen, fest, dass andere vor ihnen da gewesen waren: französische Weiße Väter oder Mitglieder belgischer oder portugiesischer Orden. In China hatte die Errichtung des französischen Protektorats durch einen chinesisch-französischen Vertrag von 1858 zur Folge, dass auf Jahrzehnte hinaus sämtliche katholischen Missionare, die das Land betreten wollten, gleich welcher Nationalität, einen französischen Pass benötigten.[22] Ihre protestantischen Pendants befanden sich in einer ähnlichen Lage gegenüber dänischen und norwegischen Missionsgesellschaften, die in den von protestantischen Kolonialmächten, also zumeist Großbritannien, beherrschten Teilen der Welt den Bedarf an Missionaren deckten. Die drei bedeutendsten protestantischen Organisationen waren die Baseler, die Berliner und die Rheinische Missionsgesellschaft, und sie alle schickten ihren Nachwuchs zur Ausbildung nach Großbritannien. Die meisten gingen auf das von der Missionsgesellschaft der anglikanischen Kirche betriebene College, andere zur überkonfessionellen Londoner Missionsgesellschaft. Diese beiden Organisationen bildeten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über 130 deutsche Missionare aus, bevor sie nach Afrika oder Indien geschickt wurden. Nicht nur Lutheraner und Pietisten absolvierten eine Ausbildung in Großbritannien, sondern auch deutsche Mitglieder der baptistischen Missionsgesellschaft. Die Gleichung war einfach: Deutschen Missionaren fehlte ein Kolonialreich; britischen Missionsgesellschaften fehlten frische Kräfte.[23]
William Jowett, der Sekretär der Londoner Missionsgesellschaft, bemerkte beifällig, Briten und Deutsche seien »Arbeitskollegen im Weinberg«.[24] Die englisch-deutsche Zusammenarbeit war Teil eines internationalen Gedankenaustauschs, in dem Missionare beispielsweise darüber diskutierten, ob konvertierte Gemeinden »selbstständig« werden könnten, und ein gemeinsames »Missionsalphabet« zu schaffen versuchten.[25] Neben der Zusammenarbeit gab es allerdings auch Spannungen. Ein in London ausgebildeter Berliner Missionar, der nach Sierra Leone geschickt worden war, beklagte sich darüber, dass die ortsansässigen Briten seine Predigten »erbärmlich, vulgär und methodistisch« fanden.[26] Deutsche Protestanten rieben sich an angelsächsischer Bevormundung, die sie häufig als arrogant und hochmütig empfanden. Nach der deutschen Vereinigung nahm ihre Unzufriedenheit, aber auch ihr Selbstbewusstsein zu. Der Missionstheologe Gustav Warneck warf den britischen und amerikanischen Missionaren vor, sie seien theologisch trocken und selbstgerecht. Stellvertretend für diesen Wandel standen die nationalistischen, prokolonialen Ansichten des Leitenden Inspektors der Rheinischen Missionsgesellschaft, Friedrich Fabri – der Jahre später die Broschüre Bedarf Deutschland der Colonien? veröffentlichte.[27]
Die deutsche Missionstätigkeit hatte viele Rückwirkungen auf die Heimat. Manche waren vorübergehend, wie das »Chinafieber«, das Gützlaff in den später 1840er-Jahren auf seinen Reisen durch Deutschland, auf denen er um Unterstützung für seine Arbeit warb, auslöste und das ihm eine Audienz beim preußischen Königspaar einbrachte.[28] Dauerhafter waren die Missionsgesellschaften. Die erste wurde in den historisch »erweckten« protestantischen Teilen Deutschlands gegründet, aber 1900 gab es in den meisten deutschen Städten eine solche Gesellschaft. Sie gehörten in einem Land, das für seine Vereine berühmt war, zu den größten zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie sammelten Geld, veranstalteten Vorträge, organisierten Feste und gaben ihren Mitgliedern in der entlegensten Provinz das Gefühl, an einer weltweiten Unternehmung beteiligt zu sein.[29]
Gingen Missionare in den Ruhestand, kehrten sie für gewöhnlich nach Deutschland zurück. Der Lebenslauf eines Missionars konnte ihn etwa von Württemberg über London nach Afrika bringen und vor dort zurück nach Korntal bei Stuttgart, einem bekannten Alterssitz von Missionaren. Manchmal kamen die Missionare in Begleitung afrikanischer Assistenten. Auch Absolventen afrikanischer Missionsschulen wurden zur Ausbildung nach Europa geschickt.[30] Manche von ihnen waren Kinder lokaler afrikanischer Aristokraten, andere Waisen oder ehemalige Sklaven. Nach der Ausbildung gingen die »schwarzen Brüder« als Missionare nach Afrika zurück, manchmal nachdem sie einige Zeit an einer Schule und einem Waisenhaus in Jerusalem verbracht hatten, zu denen die süddeutschen Pietisten enge Beziehungen unterhielten. In Deutschland hatten sie Handlungskraft und Ressourcen gewonnen, die sie für ihre künftige Tätigkeit nutzen konnten.[31] Aber nicht alle diese jungen Afrikaner überlebten den Aufenthalt in Mitteleuropa. Die Tuberkulose verlangte ihren Tribut. 1871 forderte sie das Leben von Samuel Galla, den der deutsche Missionar Johann Ludwig Krapf als »lieben Negerknaben« bezeichnete.[32] Aus dieser Charakterisierung spricht sowohl echtes Gefühl als auch eine enorme Herablassung. Ein Foto von 1869 oder 1870 zeigt Krapfs Kollegen in Korntal, Martin Flad, mit seiner Familie und seinem afrikanischen Assistenten, dem Äthiopier Mikael Aregawi. Alle tragen förmliche europäische Kleidung. Aregawi macht einen selbstbewussten Eindruck; er steht neben seinem Pflegebruder (und späterem Biografen) Friedrich Flad und gibt seinem Pflegevater die Hand.[33] Das Foto erinnert an ein anderes aus derselben Zeit, auf dem der Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei, Ludwig Windthorst, zusammen mit seinen schwarzen Patenkindern zu sehen ist.[34] Beide Fotos haben etwas Paternalistisches, aber sie sind weit entfernt von den Völkerschauen oder der grausamen Posse, »Häuptling Dido« aus Kamerun in Zylinder und Frack als »Hosennigger« vorzuführen, um ein deutsches Publikum zum Kichern zu bringen.[35]
Die vielleicht wichtigste Auswirkung der weltweiten Missionstätigkeit auf die Heimat bestand in Deutschland wie anderswo darin, dass sie den Gedanken einer »inneren Mission« entstehen ließ. Wenn die »Heiden« im Ausland missioniert wurden, warum dann nicht auch die »gottlosen« Massen in den heimischen Großstädten? Diese Frage stellten sich sowohl protestantische als auch katholische Geistliche. Die innere Mission betonte dieselben Tugenden wie die Überseemission: Nüchternheit, Sauberkeit, regelmäßige Arbeit, ein wohlgeordnetes Familienleben. Sogar der ausgeprägte Kult des missionierenden »Helden«, der mit wilden, potenziell gefährlichen Eingeborenen ringt, um ihre Seelen zu retten, wurde übernommen. Als der junge protestantische Geistliche Paul Göhre drei Monate unter städtischen Arbeitern verbrachte, stellte er fest, dass er es überwiegend mit Anhängern der »wilden, heidnischen Sozialdemokratie« zu tun hatte.[36] Die deutsche Variante der inneren Mission war von vielen nichtdeutschen Einflüssen geprägt. Das organisatorische Zentrum in der inneren Mission tätiger katholischer Orden war Frankreich. Auch protestantische Initiativen gingen auf ausländische, insbesondere angelsächsische Anregungen zurück. Die Gründerfigur der protestantischen inneren Mission, Johann Hinrich Wichern, war einer der vielen deutschen Geistlichen, die einen Abstecher ins Londoner East End und zur dortigen »Stadtmission« unternommen hatten. Auch die englische Sozialreformerin Elizabeth Fry inspirierte auf ihren Reisen durch Mitteleuropa in den 1840er-Jahren deutsche Geistliche, die sich für Sozialarbeit interessierten.[37]
Den deutsch-amerikanischen Austausch verkörpert das umtriebig-transnationale Leben Friedrich von Schlümbachs, der 1842 in einer württembergischen Kleinstadt geboren war und 1901 in Cleveland in Ohio starb. Er stammte aus einer Militärfamilie, trat 1859 selbst ins Heer ein, verschuldete sich und wanderte dann – gegen den Wunsch seines Vaters – in die Vereinigten Staaten aus, wo er im Bürgerkrieg kämpfte, bevor er in den 1860er-Jahren von der Dritten Großen Erweckung erfasst wurde. Dass er im Krieg mehrmals dem Tod entronnen war, hatte offenbar den Weg für seine »wunderbare Bekehrung« geebnet. Nach Schlümbachs Angabe geschah sie 1868 und setzte einem »schrecklichen Leben aus Atheismus und Ausschweifungen«, womit er den Umgang mit radikalen deutschen Turnern meinte, ein Ende. Er wurde zu einem wichtigen Vermittler zwischen amerikanischen und deutschen Protestanten, zuerst als Prediger für deutsche Einwanderer in Baltimore, dann als Sekretär des deutschsprachigen Zweigs des Christlichen Vereins Junger Männer, den er in Deutschland einführte. In den 1880er-Jahren reiste er häufig über den Atlantik hin und her. So begleitete er beispielsweise den amerikanischen Prediger Dwight L. Moody auf eine Evangelisierungsmission nach Chicago, um anschließend das Gleiche in deutschen Städten zu tun.[38]
Schlümbachs Auftritte waren nicht die erste Übertragung der angelsächsischen Art des Evangelisierens nach Deutschland. Im 19. Jahrhundert etablierte sich die methodistische Kirche, von deutschen Rückkehrern aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten eingeführt, in Deutschland. Wenn man bedenkt, wie viel der Methodismus der Lehre des deutschen Pietismus zu verdanken hatte, überrascht es nicht, dass er etwa im pietistischen Württemberg Fuß fasste. Hamburg mit seinen historischen Verbindungen nach England und Bremen als Haupthafen für Amerika waren weitere Zentren. Nicht allzu weit von Bremen, in Ostfriesland (das John Wesleys Heimatgrafschaft Lincolnshire ähnelte), wirkte im späten 19. Jahrhundert der methodistische Prediger Franz Klüsner.[39] In dieser Zeit stieß auch die in London von dem früheren Methodisten William Booth gegründete Heilsarmee nach Deutschland vor. Mithilfe von Booths Stellvertreter, der aus London entsandt wurde, um bei der Rekrutierung zu helfen, breitete sie sich, mit einem ersten Standort in Stuttgart angefangen, rasch aus. 1914 verfügte sie über 150 Korps, das heißt Ortsgemeinden. Methodisten und Heilsarmee brachten das Drama der Bekehrung auf die deutsche Bühne. In einer Evangelisierungskampagne nach dem Vorbild der walisischen großen Erweckung von 1905/06 vereinten Prediger aus Großbritannien und Deutschland ihre Kräfte und errichteten im Ruhrgebiet ein Missionszelt, das Tausende von Menschen anzog, die in sogenannten »Halleluja-Zügen« aus der gesamten Region anreisten.[40]
Die Heilsarmee etablierte sich 1886 in Stuttgart und breitete sich von dort rasch über Deutschland aus.
Erweckungsmissionen in Europa und die Evangelisierung von »Heiden« in den Kolonien waren grenzüberschreitende Aktivitäten. Deutsche ordneten sich dabei, zumindest bis 1871, zumeist anderen unter. Aber es gab auch Gebiete, auf denen sie als global führend betrachtet wurden, in manchen Fällen auf lange Zeit. Deutsche Geologen und Bergbauingenieure waren weiterhin, von den Anden bis zum Ural, gesuchte Fachkräfte. Alexander von Humboldts zweite große Reise führte ihn acht Wochen lang – mit einem amtlichen Titel als Beamter des russischen Bergbauministeriums – zur Erkundung von Rohstoffvorkommen nach Ostrussland. Deutsche Geologen und Landvermesser waren überall.[41]
Deutsche Wissenschaftler jeder Art waren weltweit gefragt. Von der Südhalbkugel sind zwei erstaunliche Beispiele bekannt. Eines ist, dank Alexander von Humboldt, Südamerika. Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es allein in Argentinien Hunderte deutsche Wissenschaftler und viele weitere in Chile, Peru und anderswo.[42] Eine ähnlich unverhältnismäßig große Rolle spielten deutsche Wissenschaftler in Australien. Das nachhaltige Wirken des Botanikers Richard Schomburgk und seines 49er-Kreises in Südaustralien wurde bereits erwähnt. Unter den vielen deutschen Wissenschaftlern, die in der Mitte des Jahrhunderts nach Australien gingen und die dortige Wissenschaftslandschaft prägten, waren einige international gut vernetzte Figuren. Ein Beispiel dafür ist der Geophysiker Georg von Neumayer, der von britischen Wissenschaftskreisen unterstützt wurde und ein Schüler des amerikanischen Astronomen und Ozeanografen Matthew Maury war, der seinerseits von Humboldt beeinflusst war. In Australien gründete Neumayer ein Observatorium in Melbourne, bevor er nach Deutschland zurückkehrte und 1879 den Vorsitz der internationalen Polarkommission übernahm.[43]
Neumayers Leben führt vor Augen, dass Deutsche, wie schon zu Forsters und Pallas’ Zeit, weiterhin unermüdliche Forschungsreisende waren. Ferdinand von Richthofen gehörte ebenfalls zu ihnen. In seiner Zeit für seine Bücher über China berühmt, hat er sich zudem ein langes Nachleben gesichert, indem er 1877 den eingängigen Begriff »Seidenstraße« prägte. Ein anderer deutscher Forschungsreisender mit langem Nachleben ist Ludwig Leichhardt. Der in Preußen geborene Naturforscher verließ mit Mitte zwanzig Deutschland und verbrachte fünf Jahre in England und Frankreich, wo er Botanik studierte, bevor er sich 1842 nach Australien einschiffte. Dort unternahm er zwei große Expeditionen in Europäern bisher unbekannte Gebiete, eine in den Norden und eine in den Süden. Auf einer dritten Expedition verlor sich im April 1848 die Spur seiner Gruppe, zu der neben ihm vier weitere Europäer und zwei Führer der Aborigines gehörten. Ihre Leichen wurden nie gefunden, und ihr Verschwinden gilt als das »größte Geheimnis der australischen Geschichte«.[44]
Die beiden überlebensgroßen Figuren Leichhardt und Richthofen werfen auch zwei große Fragen zu den deutschen Forschungsreisenden auf: Wer unterstützte sie, und wem galt ihre Loyalität? Im Abstand von zwanzig Jahren geboren, Leichhardt 1813 und Richthofen 1833, illustrieren ihre Lebenswege einen Wandel. Leichhardts Reisen wurden teils vom australischen Staat und teils von privaten Spendern finanziert. Seine Beziehung zu seiner preußischen Heimat war gestört. Er hatte sie unter anderem verlassen, um dem Militärdienst zu entgehen, und schrieb später seinem Schwager in der Heimat, er habe »[s]einem Land und der Wissenschaft […] durch Reisen in ferne Welttheile nützlich werden[n]« wollen, und nicht durch Drill auf dem Exerzierplatz. Am 22. Februar 1848 verwies er in seinem letzten Brief an seinen Schwager stolz auf die Ehrungen, die er von englischen und französischen Wissenschaftsgesellschaften erhalten hatte, und fügte mit Blick auf seine Sammlungen getrockneter Pflanzen und Samen hinzu: »Du möchtest mich vielleicht fragen, warum ich diese Sammlungen nicht unsern Vaterländischen Museen zusandte? Die Antwort ist, daß ich meine Naturstudien vorzüglich in Englischen und Französischen Museen betrieb; daß ich während meiner Jugendzeit mit keinen Landsleuten in freundlicher Beziehung stand, die es mir zur Pflicht gemacht haben würde, die Freunde zu Erst zu bedenken.«[45] Leichhardt, der während des »Völkerfrühlings« starb, verkörperte noch den unschuldigen, kosmopolitischen Geist dieser Zeit. Es war immer noch die Welt von Forster und dem jungen Humboldt.
Richthofens Leben glich in mancher Hinsicht demjenigen Leichhardts, aber ihre Wege unterschieden sich. Richthofen ging mit 29 Jahren ebenfalls in ein englischsprachiges Land, in seinem Fall die Vereinigten Staaten. Nach dem Goldrausch inspizierte er sechs Jahre lang Bergwerke in Kalifornien und Nevada und betrieb geologische Forschungen. Als er 1868 nach China reiste, tat er es mit finanzieller Unterstützung der Bank of California und der Handelskammer von San Francisco. Aber seine Stellung unterschied sich stark von derjenigen Leichhardts. Anders als dieser hatte er sein Studium abgeschlossen und hielt den Kontakt zur deutschen akademischen Welt auch auf Reisen aufrecht. Dank der guten Beziehungen seiner Familie hatte er an der preußischen Chinaexpedition von 1860 teilgenommen. Als er 1872 von seiner ersten selbstständigen Chinareise zurückkehrte, war er daher im vereinigten Deutschland willkommen und wurde als Präsident der Berliner Gesellschaft für Erdkunde zu einem wichtigen Organisator deutscher wissenschaftlicher Expeditionen.[46]
Leichhardt und Richthofen stehen für einen größeren Wandel. Die meisten wissenschaftlichen Expeditionen, die Deutsche vor 1870 unternommen hatten, waren von einer imperialen Macht wie Russland oder Großbritannien unterstützt oder finanziert worden. Dies traf nicht nur auf viele deutsche Afrikaforscher zu, die seit Joseph Banks’ Talentsuche in Deutschland traditionell gefördert wurden,[47] sondern auch auf viele Expeditionen nach Britisch-Indien, wie die bemerkenswerte Forschungsreise dreier bayerischer Brüder, Hermann, Adolf und Robert Schlagintweit, die mit einer Empfehlung Humboldts unterwegs waren und von der Ostindien-Kompanie den Auftrag erhielten, den Subkontinent vom Hochland von Dekkan bis in den Himalaya hinein geografisch und botanisch zu erkunden. Ihre Reise begann 1854, dauerte fast vier Jahre und kostete den Botaniker Adolf, den jüngsten der drei Brüder, das Leben: Er wurde ohne Gerichtsverhandlung als mutmaßlicher chinesischer Spion in Kaschgar hingerichtet.[48] Nach 1871 nahmen die Forschungsreisen einen anderen Charakter an: Sie bekamen einen nationalistischen Beiklang. Dies lag zum Teil an der institutionellen Veränderung durch die deutsche Vereinigung: Das vereinigte Deutschland war in der Lage, ambitioniertere Unternehmungen zu finanzieren. Wie die Missionare wurden auch die Forschungsreisenden in der veränderten Welt des späten 19. Jahrhunderts nationalistischer.
Im 19. Jahrhundert erlangte deutsche Expertise auch auf neuen Gebieten internationales Ansehen. Insbesondere drei Gebiete waren Kennzeichen des gewachsenen Ansehens Deutschlands in der Welt: Forstwesen, Militär und Medizin. Deutschland wurde als das »moderne Vaterland der Forstwirtschaft« berühmt, in dem gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Forstwissenschaft entstand, die zum Goldstandard des naturschützerischen Denkens wurde. Das wahrscheinlich berühmteste Beispiel für den weltweiten Einfluss des deutschen Forstwesens war Britisch-Indien, dessen Forstverwaltung von Dutzenden deutscher Fachleute aufgebaut wurde. Die in jeder Hinsicht beherrschende Figur war Dietrich, später Sir Dietrich, Brandis, der »riesige Deutsche«, wie Rudyard Kipling ihn nannte.[49] Der Sohn eines Philosophen hatte in Deutschland, Dänemark und Frankreich studiert, dann kurzzeitig in Bonn gelehrt, bevor er eine Engländerin mit guten Beziehungen heiratete und mit ihr nach Indien ging. Von Humboldt empfohlen – von wem sonst? –, erhielt er eine Anstellung als Inspekteur eines Teakholzwaldes in Burma. Er stieg rasch auf und wurde 1864, mit vierzig Jahren, zum Generalinspekteur des indischen Forstamts ernannt. Er führte Naturschutznormen ein und versammelte einen Kader deutscher Forstfachleute um sich, der diese Praktiken institutionalisierte. Die von Brandis und seinen Nachfolgern gesammelten Erfahrungen prägten das Forstwesen in den Kolonien, die Deutschland kurz nach seiner Rückkehr nach Deutschland erwarb.[50]
Andere Deutsche predigten den Waldschutz in der englischsprachigen Welt, aber die Figur von globalem Format war Brandis. Sein Einfluss war in den Vereinigten Staaten stark zu spüren. Er wurde direkt von in Deutschland geborenen Forstwissenschaftlern wie Bernhard Fernow – dem »Vater der professionellen Forstwirtschaft« in Amerika – und Carl Schenk vermittelt. Fernow wurde 1886 der erste Chef der Forstabteilung des US- Landwirtschaftsministeriums und später Dekan der ersten Forsthochschule mit vierjährigem Curriculum, des New York State College of Forestry in Cornell. Schenk gründete und leitete die erste amerikanische Forstschule überhaupt, die Biltmore Forest School. Auch der in Amerika geborene Gifford Pinchot stützte sich als Fernows Nachfolger als Leiter der Forstabteilung des Landwirtschaftsministeriums, die bald in United States Forest Service umbenannt werden sollte, stark auf Brandis’ Ideen. Er wurde zu einem der wichtigsten Naturschützer in der Ära von Theodore Roosevelt. Brandis’ Einfluss war überall in den Vereinigten Staaten zu spüren. Mira Lloyd Dock, eine Naturschützerin der amerikanischen Progressiven Ära, die viel über Forstwirtschaft schrieb und sprach, hatte eine Studienreise in deutsche Wälder unternommen und erzählte ihren Studenten an der Forstakademie, wo sie lehrte, gern davon, was sie alles in Deutschland von Brandis gelernt hatte.[51]
Deutsches Militärwissen verbreitete sich sogar noch weiter über die Welt. Wie gesehen, gab es eine Tradition der Teilnahme deutscher irregulärer Kämpfer an nationalen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts und eine noch weiter zurückreichende Tradition deutscher Kämpfer in Diensten von Kolonialmächten. Dieses Muster setzte sich in der französischen Fremdenlegion fort, wo der hartgesottene deutsche Unteroffizier zum Klischee wurde.[52] Völlig neu war indes das weltweite Ansehen der deutschen Militärorganisation nach den drei gewonnenen Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71. In den folgenden Jahrzehnten wurden deutsche Militärberater überallhin eingeladen: Sie bildeten Armeen in Argentinien, Bolivien und Chile aus, und außer in Peru waren deutsche Militärlehren in ganz Lateinamerika vorherrschend.[53] Wann immer ein Staat seine Streitkräfte stärken wollte, wandte er sich an Deutschland. Colmar von der Goltz wurde von Sultan Abdülhamid II. nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 damit betraut, das osmanische Heer zu reformieren. »Goltz Pascha« traf 1883 ein, blieb bis 1895 und bildete eine Generation von »Goltz-Offizieren« aus. In denselben Jahren holten Reformer im Qing-China deutsche Militärberater ins Land, um den Lehrkörper der neuen Militärakademie Tianjin zu besetzen, und schickten chinesische Offiziere zur Ausbildung nach Deutschland.[54] Nach der Meiji-Revolution ergriff die japanische Führung dieselben Maßnahmen. Ein Zeichen für das Ansehen Deutschlands in militärischen Dingen ist die Übersetzung des berühmtesten modernen Buchs über die Kriegsführung, Carl von Clausewitz’ Vom Kriege. Das 1832 postum erschienene Buch wurde 1873 ins Englische, 1903 ins Japanische, 1905 ins Russische und 1910 ins Chinesische übersetzt.[55]
Keine einzelne Schrift eines deutschen Arztes, nicht einmal von solchen mit internationalem Renommee wie Robert Koch, der 1905 für seine Forschungen über Infektionskrankheiten den Nobelpreis erhielt, wurde so berühmt wie Clausewitz’ Buch. Aber das Ansehen, das die deutsche Medizin im späten 19. Jahrhundert genoss, hätte kaum größer sein können. Deutschland konnte sich eines zunehmenden Anteils an den medizinischen Entdeckungen der Zeit rühmen, und die deutsche medizinische Ausbildung war überall gefragt. Die Reformer, die deutsche Militärberater nach Japan holten und japanische Studenten nach Deutschland schickten, taten dies auch auf dem Gebiet der Medizin. Dutzende führender deutscher Ärzte wurden nach Japan verpflichtet, wo sie medizinische Schulen aufbauten und die medizinische Ausbildung auf eine neue Ebene hoben. Rund 1200 japanische Studenten reisten in die entgegengesetzte Richtung und studierten in Berlin oder München Medizin. Über ihr Leben ist einiges bekannt, etwa über ihre manchmal verwirrenden Begegnungen mit deutschen Vermieterinnen und der deutschen Studentenkultur oder ihre in Deutschland gewonnene Neigung fürs Biertrinken, die sie neben ihren medizinischen Abschlüssen nach Japan mitnahmen.[56] Nebenprodukte des Austauschs waren die enormen Biermengen, welche die Mitglieder des japanischen Berliner Biervereins bei ihren Treffen in Tokio tranken, und ein nach deutscher Art gebrautes Bier namens Kaiser-Bier, das die Nachfrage der in Deutschland ausgebildeten Ärzte und Professoren befriedigen sollte.[57] Weniger harmlos war, dass einige der in Deutschland erworbenen medizinischen Kenntnisse, etwa in Militärhygiene und Bakteriologie, und Praktiken später in imperialistischen Operationen in Korea und China angewendet wurden.
Sucht man nach Spuren deutschen Einflusses auf die Medizin in Amerika, gibt es kein besseres Beispiel als die medizinische Fakultät der Johns Hopkins University, die wegen ihrer stark deutsch angehauchten Atmosphäre manchmal auch »Göttingen in Baltimore« genannt wurde.[58] Die Universität nahm 1889 ihren Betrieb auf. Die medizinische Fakultät wurde vier Jahre später geschaffen. Die von Daniel Coit Gilman, dem ersten Präsidenten der Universität, getroffene Auswahl ihres Lehrkörpers etablierte sie sofort als führende medizinische Bildungseinrichtung der Vereinigten Staaten. Ein Gruppenporträt von John Singer Sargent mit dem Titel The Four Doctors zeigt die bekanntesten Mitglieder der Ursprungsbesetzung.
Es war eine bemerkenswerte Gruppe: William Welch, von seinen Studenten »Popsy« genannt, war ein bedeutender »Medizinpolitiker« und gilt heute als »Vater der modernen Medizin in Amerika«; William Halsted war ein brillanter Chirurg (und lebenslang kokainabhängig); der Kanadier William Osler, ein unermüdlicher Spaßvogel, führte das Facharztsystem ein; und Howard Atwood Kelly schließlich war ebenfalls ein herausragender Chirurg. Kelly hatte sich von einem Zusammenbruch in der Jugend erholt, indem er in den Westen ging und als Cowboy und Pony-Express-Postreiter in Colorado arbeitete, wo er zu einem passionierten Schlangensammler wurde. Als fundamentalistischer Christ war er von der wörtlichen Wahrheit der Bibel überzeugt und verwandte einen Teil seiner beachtlichen Tatkraft auf Temperenz- und Moralkampagnen. »Noch vor dem ersten Hahnenschrei«, schrieb sein Freund und Streitgegner in Baltimore, H. L. Mencken, über Kelly, »ist er aus dem Bett gestiegen, hat einen Lobgesang angestimmt, zwei oder drei Kapitel in seinem griechischen Alten Testament gelesen, sechs oder acht Beine abgeschnitten, einen halben Liter Mandeln und Augäpfel herausgenommen, ein Dutzend Patienten von ihrem Blinddarm befreit, das Gallsteinfass in der Ecke gefüllt, den Segen gesprochen, sich gewaschen, seine Taschen mit Traktaten gefüllt und sich in ein schnelles Auto gesetzt […] und ist mit 50 Meilen pro Stunde davongeprescht, um eine Spielhölle heimzusuchen und den Rotlichtbezirk zu sperren.«[59] Allen vier Ärzten gemeinsam war, dass sie in Deutschland studiert hatten. Kelly hatte sogar die Tochter eines Danziger Arztes geheiratet. Und diese vier waren nicht die Einzigen mit einer deutschen Ausbildung. Zwischen 1870 und 1914 studierten schätzungsweise 15 000 amerikanische Medizinstudenten und Ärzte in Deutschland.[60]
John Singer Sargent, The Four Doctors (1906). Von links nach rechts: William Welch, William Halsted, William Osler und Howard Atwood Kelly.
In noch größerer Zahl studierten Russen in Deutschland. Es ist ein bemerkenswertes Zusammentreffen, dass der Amerikaner William Welch und der Russe Iwan Pawlow, der später als einer der Gründerväter der medizinischen Ausbildung der Sowjetunion Welchs Gegenspieler wurde, beide an der Leipziger Universität studiert hatten. An einer anderen Hochschule, derjenigen in Halle, kam mehr als ein Viertel der Medizinstudenten aus dem Ausland, was einen Studentenstreik gegen die Verdrängung deutscher Hochschüler auslöste.[61] Deutsche Institutionen bildeten eine globale Medizinelite aus, zig Tausende von Ärzten aus aller Welt. Aber die Wirkung deutscher Bildungseinrichtungen ging weit darüber hinaus.
Der Aufstieg deutscher Bildungsmodelle begann mit Kleinkindern und Friedrich Fröbels Kindergarten. Der Kindergarten verkörperte fortschrittliche, antiautoritäre Werte, weshalb es nicht überrascht, dass er zuerst in radikalen Kreisen, insbesondere bei radikalen Frauen, Anklang fand. Zwei von ihnen, Bertha und Margarethe Meyer, Töchter aus begütertem Hamburger Hause, spielten dabei eine besondere Rolle. Bertha wurde 1818 geboren, heiratete mit 16 Jahren den 30-jährigen Christian Traun, den Privatsekretär der Herzogin von Cambridge, mit dem sie sechs Kinder hatte. Sie engagierte sich für Frauen- und Erziehungsfragen und beteiligte sich 1849 an der Gründung einer innovativen Hochschule für Frauen in Hamburg, an der Frauen zu Kindergärtnerinnen ausgebildet wurden. Sie verliebte sich in den Mitgründer der Hochschule, Johannes Ronge, ließ sich von Traun scheiden und ging mit Ronge nach England, wo sie ihn 1850 heiratete und mit ihm zusammen im folgenden Jahr im Londoner Vorort Hampstead den ersten britischen Kindergarten gründete. Andere Kindergärten folgten, bevor sie 1861 nach Deutschland zurückkehrte. Ihre Schwester Margarethe war mit dem 48er Carl Schurz verheiratet und gehörte zu den radikalen deutschen Feministinnen, die ihre Ideen über den Atlantik trugen. 1856 eröffnete sie in Watertown in Wisconsin den ersten – deutschsprachigen – Kindergarten in den Vereinigten Staaten. Er wurde zum Vorbild des ersten englischsprachigen Kindergartens, der vier Jahre später von der Bildungsreformerin Elizabeth Peabody in Boston gegründet wurde.[62]
Frauen, die sich im transatlantischen Netzwerk von Freidenkern bewegten, spielten eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Kindergartenidee in den Vereinigten Staaten. Maria Bölte, eine wohlhabende junge Deutsche aus Mecklenburg, wurde auf die Kindergartenidee aufmerksam und ließ sich von Fröbels Witwe ausbilden, wonach sie in einem von Bertha Ronges Kindergärten in England arbeitete. Später kehrte sie nach Deutschland zurück und eröffnete in Lübeck einen Kindergarten. Als Elizabeth Peabody sie zum zweiten Mal in die Vereinigten Staaten einlud, nahm sie an und ging 1872 nach New York, wo sie einen Kindergarten und eine Ausbildungsstätte gründete, die sie zusammen mit dem Pädagogen John Kraus leitete, den sie auch heiratete. Hunderte künftiger Kindergärtnerinnen durchliefen ihr Ausbildungsprogramm. Zu ihnen gehörte Susan Blow, die sogenannte »Mutter des Kindergartens«, eine Freidenkerin aus einer wohlhabenden Familie aus St. Louis, die Fröbels Ideen während eines Deutschlandaufenthalts kennengelernt hatte und später in ihrer Heimatstadt den ersten mit öffentlichen Mitteln finanzierten Kindergarten der Vereinigten Staaten gründete.
Die erste Anregung für den Kindergarten stammte typischerweise von wohlhabenden jungen Frauen aus fortschrittlich gesinnten Familien, die sich für deutsche Kultur interessierten – Susan Blow war nach Deutschland gegangen, um Hegels Philosophie zu studieren – und häufig von einem internationalen Netzwerk unterstützt wurden. Die deutsche Jüdin Julie Salis-Schwabe, die den ersten Kindergarten in Neapel einrichtete, gehörte zu einem englisch-deutschen Kreis von Reformern und hatte gute Beziehungen zur Kulturwelt. Die berühmte Sopranistin Jenny Lind, die »schwedische Nachtigall«, sang, um Spenden für die neapolitanische Gründung zu sammeln. Die Kindergartenbewegung breitete sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sowohl in Europa als auch in Nordamerika rasch aus. Der erste Kindergarten in Tokio wurde 1876 eröffnet; 1900 gab es in Japan 200 Kindergärten.
Der Kindergarten stand für Freiheit und Kreativität. Deshalb betrachteten deutsche Regierungen die Idee mit Misstrauen. Wofür standen dann die berühmten »preußischen Bildungsideen«? Man sollte meinen: für das Fehlen von Freiheit und Kreativität. Doch das preußische Modell wurde weithin von Reformern bewundert, weil es staatlich, kostenlos, umfassend, gründlich und nichtsektiererisch war. Der Zeitpunkt, an dem der steile Aufstieg der preußischen Bildungsideen begann, kann genau datiert werden: 1831 legte der Philosoph Victor Cousin, der stark von deutscher Philosophie beeinflusst war, dem französischen Bildungsministerium den ersten von mehreren Berichten über das Erziehungswesen in Preußen und Sachsen vor. Cousin betrachtete das deutsche Vorbild als exemplarisch. Seine Empfehlungen wurden in Frankreich umgesetzt, und sein Bericht wurde wenig später ins Englische übersetzt. In der Mitte des Jahrhunderts war die Begeisterung für das deutsche Bildungswesen in Großbritannien nahezu allgegenwärtig. Regierungskommissionen, Parlamentsausschüsse, Berichte von Pädagogen wie Matthew Arnold: Sie alle nahmen die deutsche Praxis zum Maßstab.[63]
Das Gleiche geschah in den Vereinigten Staaten. Dort war Horace Mann einer der Vorreiter. Er wurde 1837 zum Sekretär der neu geschaffenen Bildungsbehörde von Massachusetts ernannt, der ersten ihrer Art in den Vereinigten Staaten. In den 1830er-Jahren hatte Mann in mehreren Reden im Staatssenat die »preußischen Ideen« einer kostenlosen, allgemeinen, nichtsektiererischen Bildung propagiert. 1838 gründete er die Zeitschrift The Common School Journal, und fünf Jahre später unternahm er eine Rundreise zu europäischen Bildungseinrichtungen. In Manns Begleitung war seine zweite Frau, Mary Tyler Peabody, die Schwester der Kindergartengründerin Elizabeth Peabody; tatsächlich war es eine kombinierte Erkundungs- und Hochzeitsreise. Zusammen mit einem anderen amerikanischen Paar besuchten sie auch Gefängnisse und Irrenanstalten: Sie nahmen ihr Anliegen ernst. Mary Peabody Mann schrieb später in ihrer Biografie Life of Horace Mann bescheiden: »Am 1. Mai heiratete Mr. Mann erneut und reiste nach Europa, um europäische Schulen zu besuchen, insbesondere in Deutschland, wo er sich den größten Nutzen erwartete.«[64] Nach seinem berühmten »Siebenten Jahresbericht« gelang es ihm 1852, in Massachusetts das preußische System einzuführen. New York folgte bald darauf, etwas später auch andere Bundesstaaten.[65]
Der Verlauf der amerikanischen Schulreform hat eine gewisse Ironie, die auf die Frage zurückverweist, was mit den »preußischen Ideen« gemeint ist. Horace Mann und seine Verbündeten verstanden sich selbst als Kämpfer für das Gute und gegen Obskurantismus, und es trifft zu, dass sie mit heftiger Kritik von religiösen Konservativen konfrontiert waren. Aber das Bild vom Sieg »fortschrittlicher« über »reaktionäre« Ideen wird dadurch eingetrübt, dass die Reformen hochzentralisiert durchgeführt und häufig widerstrebenden Gemeinden von oben aufgezwungen wurden. Erfolg hatten sie nur, weil sie, wie ein moderner Autor schreibt, durch eine »fast brutale Machtausübung« durchgesetzt wurden – also in einer vertrauteren Form des »Preußischen«.[66]
Deutschland beeinflusste die amerikanischen Vorstellungen über die höhere Schuldbildung in der gesamten Progressiven Ära. Aber das im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten, wie auch anderswo, einflussreichste deutsche Vorbild im Bildungssektor war – neben dem Kindergarten – die Universität. Ausländische Studenten strömten regelrecht an deutsche Universitäten. 1905/06 kam jeder elfte Student an preußischen Universitäten aus dem Ausland; an technischen Hochschulen war es jeder fünfte. Der Alldeutsche Verband und rechte Studentenorganisationen reagierten darauf mit Feindseligkeit, insbesondere wenn die ausländischen Studenten russische Juden waren. Minister und Bildungsbeamte reagierten darauf mit dem Argument, ausländische Studenten würden Deutschlands Einfluss und Ansehen in der Welt erhöhen.[67]
Zwischen 1849 und 1914 studierten rund 9000 britische Studenten an deutschen Universitäten. Manche von ihnen hatten sogar auch eine deutsche Schule besucht, wie der Romancier George Meredith und Charles Dickens’ Mitarbeiter Henry Morley.[68] Der spätere Politiker Richard Haldane war 1874 zum Studium nach Göttingen gegangen, zum Teil weil seine Eltern glaubten, die deutsche Universitätsstadt würde seiner Seele weniger schaden als das anglikanische Oxford. Er kehrte, dünner geworden und langhaarig, voller Begeisterung für die Atmosphäre gründlicher akademischer Forschung zurück. Der Vorlesungssaal des Philosophieprofessors Hermann Lotze, erklärte er, sei seine »geistige Heimat«.[69] Die Auslandsstudenten wurden von vielen Motiven angetrieben oder waren von ihren Eltern gedrängt worden. Die Bewunderung für die deutsche Kultur war eins der Motive, die Hochachtung für die Spitzenleistungen deutscher Wissenschaftler ein anderes. Deutsche Laboratorien waren ein Magnet. Vor 1914 hatte buchstäblich jeder britische Chemieprofessor in Deutschland promoviert. Ähnlich sah es in der Physik und den Biowissenschaften aus. Selbst auf einem Gebiet wie der Pflanzenökologie, auf dem britische Wissenschaftler führend waren und einige der neuesten Ideen aus Skandinavien oder den Vereinigten Staaten kamen, identifizierten sich britische Pflanzenökologen immer noch mit der deutschen botanischen Tradition. Ein solches Ansehen genoss die deutsche Wissenschaft.[70]
Amerikaner standen ebenso im Bann der deutschen Wissenschaft. Im 19. Jahrhundert schrieben sich mehrere Zehntausend Amerikaner an deutschen Universitäten ein. Ralph Waldo Emersons älterer Bruder William war einer von ihnen, George Bancroft, der spätere hoch angesehene Historiker und US-Botschafter in Berlin, ein anderer. Auch Naturwissenschaftler waren unter ihnen, wie Benjamin Apthorp Gould, der Gründer des Astronomical Journal, der bei dem berühmten Carl Friedrich Gauß studiert hatte. Die gerade Genannten gingen alle in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nach Deutschland, und es waren zufälligerweise alle Harvard-Absolventen, die in Göttingen studierten. Dies war typisch für die Zeit; damals war Göttingen ein bevorzugtes akademisches Ziel, und Absolventen von Harvard und anderen Universitäten im Nordosten der Vereinigten Staaten stellten einen unverhältnismäßig großen Anteil der immer noch bescheidenen Zahl amerikanischer Studenten. In der Mitte des Jahrhunderts und dann wieder in den 1870er-Jahren stieg ihre Zahl. Sie kamen aus allen Teilen der Vereinigten Staaten, obwohl der Nordosten weiterhin am stärksten vertreten war, und sie studierten in allen Teilen Deutschlands, in Bonn und Freiburg, noch mehr in Berlin und Heidelberg, und seit den 1870er-Jahren in zunehmender Zahl in Leipzig.
Über diese Männer – es waren überwiegend Männer – ist einiges bekannt: ihr Alter, ihr Heimatort, ihre soziale Herkunft und das, was sie nach Hause mitbrachten – Studienabschlüsse, Bücher (manchmal ganze Bibliotheken), Zeitschriften und Ideen.[71] Natürlich kamen sie mit ihren eigenen Vorurteilen über das, was sie erwartete, nach Deutschland. Der Historiker Michael O’Brien erzählt, dass der junge Südstaatler George Calvert in Göttingen Vorlesungen bei dem alten Naturforscher und Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach und anderen hörte, und merkt dazu – ziemlich ungerecht – an: »Von diesen Professoren bekam Calvert stete Dosen der für Göttingen kennzeichnenden rassistischen Sozialtheorie eingeträufelt, die einen Marylander indes kaum verwirren konnten.«[72] Manchmal waren die Ideen jedoch verwirrend oder inspirierend, und manchmal regten deutsche Erfahrungen zu Maßnahmen an, die das Bildungswesen in der Heimat verbessern konnten. Außerdem besaßen die zurückkehrenden Studenten nunmehr Mentoren und Kontakte, das heißt Netzwerke.
Bei ihrer Rückkehr fanden sie ein höheres Bildungssystem vor, das weithin als reformbedürftig angesehen wurde. Das amerikanische College der Vorkriegszeit war eine »marginale Organisation«.[73] Die zeitgenössische Kritik war scharf. Nach Ansicht von Andrew Dickson White, dem späteren Präsidenten der Cornell University, waren der Lehrplan der östlichen Universitäten »kleinkariert« und die Lehrmethoden »überholt«. »Sie alle«, schrieb er später, »waren so erstarrt wie ein spanischer Konvent und so selbstzufrieden wie ein Bourbonenherzogtum« – was für einen Antikleriker wie ihn den abschätzigsten Vergleich darstellte, den er sich vorstellen konnte. White war Absolvent von Yale, wo man, nach seinem Urteil, »Gerundium-Pauken für antike Literatur« und »Zitate aus Lehrbüchern für Geschichtsvorlesungen« hielt.[74] Diese Einschätzung passte auch auf die Brown University oder das Amherst College, und auf die Harvard University, die allgemein als der Einäugige unter Blinden galt, traf sie ganz sicher zu. Henry Adams, Harvard-Absolvent von 1838, prägte das denkwürdige Bonmot über seine Alma Mater, sie lehre »einen wenig und das Wenige schlecht«. In für ihn typischer Manier fügte er jedoch hinzu: Aber sie lasse »den Geist offen, frei von Voreingenommenheit, gelehrig, […] für Wissen empfänglich«.[75] Harvard hatte immer noch ein Curriculum, das aus 33 Kursen bestand, welche die Studenten nacheinander belegen mussten, was bedeutete, dass sie die angegebenen Bücher lesen und vor den Professoren zitieren mussten.
Das wirklich Überraschende ist, dass die Reform nicht früher durchgeführt wurde. Immerhin wurde das russische Universitätssystem des 19. Jahrhunderts nach dem deutschen Vorbild aufgebaut, ebenso wie die Universität von Athen.[76] Tatsächlich findet man Anleihen beim deutschen System in damaligen Universitätsreformen überall in Europa, von Skandinavien bis Spanien, aber auch im Osmanischen Reich sowie in China und Japan.[77] Die Vorbilder waren Göttingen und, mehr noch, die Berliner Universität (ab 1828 Friedrich-Wilhelms-Universität). 1826 wurde als ausdrückliche Konkurrenz zu Oxford und Cambridge mit Unterstützung von Reformern nach dem Berliner Vorbild das University College London gegründet – diese »gottlose Einrichtung in der Gower Street«, wie der Theologe und Pädagoge Thomas Arnold es verächtlich nannte.[78] Auch in Amerika herrschte kein Mangel an Bewunderern für Berlin, wie es auch nicht an Stimmen fehlte, die eine Reform forderten.
Besonders lautstark waren sie in Harvard. George Bancroft reiste mit drei Kollegen nach Deutschland, dem Altphilologen Edward Everett, dem Geologen Joseph Cogswell und dem Sprachwissenschaftler George Ticknor.[79] Alle vier hatten in Göttingen studiert und in den frühen 1820er-Jahren einen Lehrstuhl in Harvard inne, alle vier waren empört über den »Provinzialismus« des Curriculums und zu Reformen entschlossen, und sie glaubten die Unterstützung des Universitätspräsidenten John Thornton Kirkland zu besitzen. Ihr Standpunkt wurde durch einen Bericht gestärkt, den der Board of Overseers, das Aufsichtsgremium der Universität, nach einer Studentenrevolte im Jahr 1823 anfertigte und der neben einer Umgestaltung des Disziplinar- und Verwaltungssystems eine Reform von Curriculum und Pädagogik forderte: Die Abteilungen sollten ihre Lehrtätigkeit selbst organisieren, und es sollte weniger Rezitationen geben und stattdessen mehr Vorlesungen, in denen das Gelehrte angewandt wurde. Die Verwaltung wurde reformiert, die Pädagogik nicht. Kirkland, der mit dem Widerstand von Lehrkörper und Eltern konfrontiert war, verschleppte die Reform. Drei der vier in Deutschland ausgebildeten Reformer verließen daraufhin Harvard; Cogswell und Bancroft zunächst, um eine nach den besten »deutschen Grundsätzen« betriebene Schule zu leiten. Nur Ticknor blieb, gab seine Stellung an der Universität allerdings 1835 ebenfalls auf.[80] Es sollte noch vierzig Jahre dauern, bis Harvard reformiert wurde. Die Episode mahnte zweifellos Reformwillige anderswo, wie Francis Wayland an der Brown University, zur Vorsicht und macht es verständlicher, dass andere Reformvorschläge, wie ein kritischer Bericht über die Yale University von 1828, wenig erreichten.
Die amerikanischen Universitäten wurden schließlich durch eine selektive Anpassung des deutschen Modells umgestaltet, doch dies geschah später, nach den 1860er-Jahren. Warum nicht früher? Immerhin genossen die deutschen Universitäten bereits hohes Ansehen, als Ticknor und seine Freunde dort studierten. Humboldts Berliner Universität wurde weithin dafür bewundert, dass sie die philosophische Fakultät in denselben Rang erhoben hatte, den bisher nur die theologische, die juristische und die medizinische Fakultät genossen hatten, was die Entwicklung von Spezialdisziplinen sowie des Vorlesungs- und Seminarsystems ermöglichte. Damit waren die Grundlagen für die Forschungsuniversität geschaffen. Das Momentum für Reformen nach deutschem Vorbild gewann erst nach der Mitte des Jahrhunderts an Kraft: Die schiere Zahl der aus Deutschland Zurückkehrenden und die Verdichtung ihrer Netzwerke bedeuteten, dass die Reformer weniger isoliert waren. Die Präsidenten der führenden amerikanischen Universitäten der Reformära hatten entweder in Deutschland studiert oder waren dorthin gereist, um sich dessen Universitäten mit eigenen Augen anzusehen, und diese Generation war in den 1840er- und 1850er-Jahren dort gewesen. Ein zweiter Anstoß war die Beobachtung, wie gut die Naturwissenschaften an deutschen Universitäten gediehen. Dies wurde aus amerikanischer Sicht neben breiteren humanistischen Werten ein immer attraktiver werdender Aspekt der deutschen Universitäten. Amerikanische Reformer wollten den Naturwissenschaften an den Universitäten wegen ihres angenommenen sozialen Nutzens und als Gegengewicht zum religiösen Obskurantismus eine größere Rolle einräumen. Dieses Argument erhielt in der Ära der nationalen Rekonstruktion in den 1860er- und 1870er-Jahren eine größere Plausibilität.
Eine der großen amerikanischen Staatsuniversitäten zeigt, inwiefern die deutsche Universitätsidee den eigenen Bedürfnissen angepasst wurde. Die Universität von Michigan wurde 1836 gegründet und bezog ein Jahr später ihr Gelände in Ann Arbor. Aber die eigentliche Gründung der modernen Universität geschah 1850, als eine neue Staatsverfassung das Amt des Universitätspräsidenten einführte, in das 1852 Henry Philip Tappan berufen wurde. Der in Rhinebeck im Staat New York geborene Sohn deutsch-holländischer Eltern war nach seinem Theologiestudium als Philosophieprofessor in den Lehrkörper der Universität der Stadt New York, der heutigen NYU, eingetreten. 1849 unternahm er eine zweijährige Reise durch Europa, und nach seiner Rückkehr veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel University Education, das als »eine Darstellung des deutschen Systems« beschrieben worden ist.[81] Tappan sah die Gelegenheit, dieses System in Michigan zu verwirklichen, da die Staatsverfassung ein integriertes öffentliches Bildungssystem nach preußischem Vorbild ermöglichte. Als Universitätspräsident versuchte er seine Einrichtung nach deutschem Muster umzugestalten, indem er den Lehrkörper vergrößerte und die Zahl der Wahlkurse und höherrangigen Vorlesungen erhöhte. Er führte das Graduiertenstudium ein und investierte in die Bibliothek und die wissenschaftliche Ausstattung. Außerdem brach er mit dem bisher gültigen Prinzip, Lehrstühle nach einem System zu vergeben, das die Vertretung von Presbyterianern, Baptisten, Methodisten und Episkopalen ausbalancierte.
Tappan ist der »Johannes der Täufer des Zeitalters der amerikanischen Universität« genannt worden. Für beide ging die Geschichte nicht gut aus, was in Tappans Fall bedeutete, dass er, wie der Herausgeber des American Journal of Education es damals ausdrückte, einem »Akt von wilder, ungezügelter Barbarei« zum Opfer fiel – seiner Entlassung im Jahr 1863.[82] Die Rolle der Salome spielte ein Mitglied des Verwaltungsrats seiner Universität, ein strenger Abstinenzler, dem Tappans Gewohnheit, zum Essen Wein zu trinken, gegen den Strich ging. Ernster zu nehmen war indes der Vorwurf des Lehrkörpers und des Verwaltungsrats, Tappan würde nicht zum täglichen Gebet ermuntern und sei arrogant – was sicherlich zutraf. Tappan zog sich mit seiner Familie nach Europa zurück, wo er in Deutschland und Frankreich lebte. Er starb 1881 in der Schweiz.
Tappan war während des Bürgerkriegs entlassen worden. In den Nachkriegsjahren nahm die neue amerikanische Universität dann Gestalt an. Die Gründung der ersten großen neuen Institution wurde im April 1865, nur drei Wochen nach der Schlacht am Appomattox, die den Krieg beendete, durch den Beschluss des New Yorker Parlaments ermöglicht, der privaten Cornell University Staatsland zur Verfügung zu stellen. Das Geld für ihren Aufbau kam von Ezra Cornell, einem Senator des Staats New York, der mit der Telegrafie ein Vermögen verdient hatte. Geprägt wurde sie jedoch von seinem Senatskollegen Andrew Dickson White, ihrem ersten Präsidenten. Der Yale-Absolvent White hatte in der Mitte der 1850er-Jahre fast drei Jahre in Europa verbracht, zwei davon als Student in Berlin, wo er den berühmten Historiker Leopold von Ranke und andere gehört hatte.[83] Henry Adams war nur zwei Jahre später dort, aber welch ein Unterschied: Er hörte eine einzige Vorlesung in Berlin, und das reichte ihm. White dagegen liebte Berlin. Ranke allerdings war kaum zu verstehen: »Er hatte die Angewohnheit, so stark von seinem Thema gefangen zu sein, dass er auf seinem Stuhl zusammensackte, den Zeigefinger zur Decke hochstreckte und dann, die Augen fest auf dessen Spitze gerichtet, eine Art Rhapsodie zu murmeln begann.«[84] Aber seine deutschen Kommilitonen konnten Ranke auch nicht folgen. Alles andere in Berlin fand White aufregend: die Theater, die Musik, besonders aber die Universität. »Dort sah ich mein Ideal einer Universität nicht nur verwirklicht«, schrieb er später, »sondern erweitert und in glorreicherer Gestalt – mit renommierten Professoren, einer großen Zahl von Vorlesungssälen, allen möglichen Anschauungsmaterialien, Laboren, Museen und einem Zusammentreffen junger Leute aus aller Welt.«[85]
Cornell hatte mehrere Vorbilder. White machte in seiner Entschlossenheit, die Universität »schön und würdevoll« zu gestalten, auch Anleihen bei Oxford und Cambridge, sogar bei Yale.[86] Cornells nichtsektiererisches, modernes Curriculum und sein Vorlesungssystem waren denn auch ebenso sehr »europäisch« wie spezifisch deutsch. Gleichwohl hatte White vor allem deutsche Institutionen im Sinn, und er gab das von Ezra Cornell zur Verfügung gestellte Geld überwiegend für den Kauf von Büchern und Geräten in Deutschland aus: für physikalische und chemische Apparate aus Berlin und Heidelberg, Modellpflüge aus Hohenheim, botanische Präparate aus Breslau. Diese Dinge lagen auf dem Bauplatz der entstehenden Universität in Ithaca häufig irgendwo herum. Eine große Holtz-Maschine, ein elektrostatischer Generator, verschwand für Wochen, bis man sie hinter Töpfen und Schüsseln in einem Lagerkeller wiederfand.[87]
White fühlte sich häufig von Cornell gefesselt. »Europa scheint noch weit entfernt zu sein«, schrieb er 1874 an einen Freund. »Ich sehne mich nach einem Gang auf der anderen Seite.«[88] Sein Briefpartner war Daniel Coit Gilman, der als Schöpfer der ersten wirklichen Forschungsuniversität der Vereinigten Staaten einen besonderen Platz in der Geschichte des deutsch-amerikanischen Bildungsaustauschs einnimmt. White und Gilman waren Kommilitonen in Yale gewesen und in den 1850er-Jahren gemeinsam nach Europa gereist. In Berlin hatten sie zum Teil auch dieselben Professoren gehört. White ging anschließend nach Michigan, während Gilman nach Yale zurückkehrte, wo er Bibliothekar und Geografieprofessor wurde.[89] Nachdem er bei der Besetzung des Präsidentenamts von Yale, obwohl die jüngeren Angehörigen des Lehrkörpers ihn bevorzugt hätten, übergangen worden war, übernahm er für drei Jahre das Amt des Präsidenten der neu gegründeten Universität von Kalifornien. 1875 wurde er zum Präsidenten einer weiteren neuen Universität ernannt, die nach ihrem Spender benannt wurde, dem Geschäftsmann Johns Hopkins aus Baltimore. Einer der Universitätspräsidenten, die Gilman empfohlen hatten, war Andrew White.
Verdiente die Johns Hopkins University ihren Ruf als »Göttingen in Baltimore«? Gilman betonte stets, dass er weder eine deutsche noch eine englische Universität aufbauen wolle, sondern eine amerikanische. Aber dies war anfangs sicherlich der Notwendigkeit geschuldet, Treuhänder und eine Lokalpresse für das Projekt zu gewinnen, die zu viel »abstraktem« Wissen, das keinen Nutzen für die lokale Gemeinde hätte, skeptisch gegenüberstanden. Später dürfte der Gedanken hinzugekommen sein, dass er etwas Einzigartiges hinterlassen wollte, und nicht nur eine Kopie. Gleichwohl pries er die deutsche Universität bei vielen Gelegenheiten. Immerhin verschaffte eine maßvolle Anerkennung deutscher Vorbilder einer Institution, die von Grund auf aufgebaut werden musste, einen gewissen Ansehensvorschuss. Als Gilman im Juli 1875 eine Erkundungsreise nach Europa unternahm, war es eine Sache der Höflichkeit gegenüber alten Freunden in Deutschland und sorgte für positive öffentliche Aufmerksamkeit, dass er dort seine Bewunderung für das deutsche Universitätssystem ausdrückte. Und wenn er sich in seinen langen Briefen an die Treuhänder ähnlich äußerte, dann zum Teil deshalb, weil er sie »bilden« wollte. Nicht alles, was er sagte oder schrieb, kann man beim Wort nehmen. Aber wenn er die Trustees »bilden« wollte, dann spricht auch dies für seine starke Überzeugung vom deutschen Modell.[90]
Seine Bewunderung trat in dem, was er tat, ebenso zutage wie in dem, was er sagte. Seine Einstellungspolitik war von einer deutlichen Vorliebe für in Deutschland ausgebildete Gelehrte gekennzeichnet: So warb er den Chemiker Ira Remsen, den Physiker Henry Rowland, den Sanskritwissenschaftler Charles Lanman und – als einen seiner Hauptgewinne – den Altphilologen Basil Gildersleeve an. Curriculum und Pädagogik waren ebenfalls deutsch geprägt. Gilmans ursprüngliches Schwergewicht auf Forschung und Aufbaustudium wurde später modifiziert, und andere deutsche Elemente waren, wie ein Historiker es ausdrückt, keine »hartnäckigen Einwanderer« mehr, sondern »amerikanisiert«.[91] Dennoch blieben Seminare, die Verleihung des Doktorgrads und die Forschungsanforderungen an den Lehrkörper innovativ – und deutsch. Zu diesem deutschen Charakter gehört auch, dass Gilman den Lehrkörper ermunterte, Fachzeitschriften herauszugeben. Es waren Professoren der Johns Hopkins University, die Zeitschriften gründeten wie The American Journal of Mathematics, The American Chemical Journal und The American Journal of Philology.[92]
1871 hatte ein junger Hochschullehrer in Yale, der Gilman gern als Präsident der Universität gesehen hätte, gesagt: »Er wäre ideal für den Posten und würde für Yale tun, was Präsident Eliot für Harvard getan hat.«[93] Charles W. Eliot war ein gut vernetzter Bostoner mit einem Bachelor of Arts der Harvard University, wo er als von seinen Studenten wenig geliebter Dozent und Assistenzprofessor zuerst Mathematik und dann Chemie lehrte. Nachdem er zu Recht bei der Besetzung des Lehrstuhls für Chemie übergangen worden war, verließ er Harvard und unternahm eine Europareise. Anschließend wurde er Professor am neu gegründeten Massachusetts Institute of Technology (MIT). 1869, im Alter von 35 Jahren, wurde er zum Präsidenten von Harvard ernannt,[94] und er behielt diesen Posten vierzig Jahre. Laut dem deutschen Philosophen Eugen Kühnemann, der zweimal als Austauschprofessor in Harvard war, hatte Eliot das bekannteste College des Landes übernommen und es zur führenden Universität Amerikas gemacht.[95]
Eliot war ein Revolutionär. Er führte ein reines Wahlkurssystem ohne vorgeschriebenen Lehrplan ein. Dies war die zu Ende gedachte Form der deutschen »Lernfreiheit«. Aus ihr folgte alles andere: Vorlesungen und Seminare anstelle von Rezitationen, Graduierungssystem, in Abteilungen organisierter Lehrkörper, die Einbeziehung neuer Fachgebiete ins Curriculum und die Anstellung neuer Lehrkräfte, um sie zu lehren. Die Ausweitung des Lehrkörpers war erstaunlich: Einschließlich der Fachschulen wuchs die Zahl der Dozenten in Eliots Amtszeit von sechzig auf sechshundert.[96] Binnen 15 Jahren nach Eliots Amtsantritt ähnelte Harvard mehr einer deutschen Universität als dem Neuengland-College, das es gewesen war (und das Yale blieb). Eliot schaffte sogar den obligatorischen Kirchenbesuch ab. Der wachsende Lehrkörper war unverkennbar deutsch geprägt, durch Deutsche wie den Kunst- und Kulturwissenschaftler Kuno Francke und den Psychologen Hugo Münsterberg wie durch in Deutschland ausgebildete Amerikaner, und zwar sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften. Harvard hatte wie Johns Hopkins, Cornell und Michigan auch seinen in Deutschland ausgebildeten Historiker. Nicht Henry Adams, den man kaum dazurechnen kann. Die beherrschende Figur der ersten Generation professionell ausgebildeter Historiker in Harvard war Albert Bushnell Hart, der in Berlin und Freiburg studiert hatte und später Präsident der American Historical Association und Herausgeber der American Historical Review wurde. Außerdem war er der Doktorvater des afroamerikanischen Gelehrten W. E. B. Du Bois, der seinerseits einige Jahre in Berlin studiert hatte, bevor er nach Harvard zurückgekehrt war, um dort 1895 promoviert zu werden. Aber am besten zeigte die philosophische Abteilung in ihrem goldenen Zeitalter im späten 19. Jahrhundert die komplexen Wege, auf denen deutsche Gelehrsamkeit prägte, was Amerikaner taten. William James hatte in Deutschland erkannt, dass sein wahres Interesse nicht der Medizin galt, sondern Philosophie und Psychologie. Sein Kollege Josiah Royce hatte zwar an der Johns Hopkins University promoviert, aber in Göttingen bei Hermann Lotze studiert. Ein drittes Mitglied der Abteilung, George Santayana, hatte in Berlin studiert, bevor er nach Harvard zurückkehrte, um seine Dissertation zu schreiben – über Hermann Lotze. George Herbert Palmer schließlich, das letzte und bei den Studenten beliebteste Mitglied dieses Intellektuellenquartetts, war ein Absolvent der Universität von Tübingen.
Palmers Fall illustriert, wie schwierig es war, die amerikanischen Universitäten zu »germanisieren«. Wenn jemand erklärte: »Palmer lehrt Griechisch«, pflegte er zu erwidern: »Nein, ich lehre Jungs. Mit Griechisch fange ich nur an.«[97] Diese schulmeisterliche Einstellung hätte gut zum früheren Harvard College gepasst, das nach europäischen Maßstäben eher eine Einrichtung der Sekundarbildung als der höheren Bildung war – viele seiner Studenten waren erst 16 Jahre alt. Dennoch bezog sich Palmer häufig auf das deutsche Vorbild und war stets überzeugt, dass die Abschaffung des Rezitationssystems eine gute Sache war. »Es wurden Vorlesungen eingeführt«, schrieb er 1908 nüchtern, »und die Zeit, die zuvor damit verbracht wurde, dass Professoren Jungs zuhörten, verbringt man jetzt damit, dass Jungs Professoren zuhören.«[98] Palmer stand Vorlesungen kritisch gegenüber, aber nicht weil er zur Rezitation zurückkehren wollte, sondern weil er wollte, dass die Studenten mehr unabhängig arbeiteten und sich kritisch mit Büchern und Ideen auseinandersetzten: »Zu lernen […] heißt kritisieren, heißt Angriff, heißt tun.«[99] Dies alles klingt sehr modern, aber Palmer hatte auch diese ältere, schulmeisterliche Seite. Mit anderen Worten, er schuf seinen eigenen Mittelweg zwischen Harvard und Tübingen, Amerika und Deutschland.
Dies traf auch in der Breite zu. Selbst dort, wo der deutsche Einfluss am stärksten war, sogar wenn eine völlig neue Institution aufgebaut wurde, waren die Anleihen selektiv. Es war keine Übernahme, vielmehr wurde das Fremde auf eine einheimische Unterlage aufgepfropft und daraus eine spezifisch amerikanische Hybridpflanze gezogen. Reformen wurden zuerst an der Michigan, der Cornell, der Johns Hopkins und der Harvard University durchgeführt. Danach wurden sie weithin nachgeahmt, in Chicago und Stanford sowie im Süden, nicht zuletzt an der Vanderbilt University in Nashville, wo James Kirkland, der 1893 zu ihrem Präsidenten ernannt wurde, sich mit in Leipzig ausgebildeten Lehrkräften umgab und mit der methodistischen Kirche brach, die ursprünglich die Oberaufsicht über die Universität ausgeübt hatte. Doch dies war keine einfache Geschichte vom Sieg des Fortschritts über den Obskurantismus, auch wenn manche – wie Andrew Dickson White – sie so darstellten. Mit den Reformen reagierte man auf die offensichtliche Notwendigkeit eines nationalen Wiederaufbaus nach dem Bürgerkrieg und in einer Zeit der Masseneinwanderung. Beides veranlasste eine ganze Generation von Universitätspräsidenten, die Wichtigkeit der Ausbildung einer neuen, meritokratischen Elite herauszustreichen. Das deutsche Vorbild lieferte Instrumente für die Bewältigung dieser Aufgabe. Außerdem verlieh es Hochschullehrern ein neues Prestige, die dabei waren, ihre Tätigkeit, mit der Promotion als Eintrittskarte und Fachkollegenanerkennung, zu einem Beruf zu machen, der sich von anderen abhob, insbesondere von demjenigen von Geistlichen.
Die reformierten amerikanischen Universitäten passten deutsche Vorbilder ihren eigenen Bedürfnissen an.[100] Der Überbau der deutschen Forschungsuniversität wurde auf der ursprünglichen, »englischeren« Collegebasis errichtet. Der Collegeteil blieb erhalten, da es im amerikanischen Sekundarbildungssystem keine klassische Oberschule wie die Gymnasien und Lyzeen gab, so dass die grundlegende studienvorbereitende Ausbildung weiterhin an den Universitäten erfolgte, insbesondere in den ersten beiden Studienjahren, auch wenn die Studenten jetzt beim Eintritt älter waren als bisher. Dies war einer der Abstriche, die Gilman an seiner ursprünglichen Idee der Johns Hopkins University als einer reinen höheren Bildungsanstalt machte. Die Lehrmethoden änderten sich – mehr Vorlesungen, mehr Wahlkurse –, aber der Forschungsteil der amerikanischen Universitäten war scharf von der Lehre der nichtgraduierten Studenten getrennt.
Auch die Universitätsverwaltung unterschied sich vom deutschen Vorbild. Der einzelne Professor war weniger wichtig, die Abteilung wichtiger. Vor allem war der amerikanische Universitätspräsident – innerhalb und außerhalb der Universität – mächtiger als der deutsche Rektor.[101] Max Weber, der beide Systeme kannte und öffentlich mit Friedrich Althoff, dem mächtigen, für das Bildungswesen verantwortlichen Ministerialrat im preußischen Kultusministerium, aneinandergeraten war, erklärte 1911 vor einem akademischen Publikum, es gebe an jeder amerikanischen Universität einen Althoff: den Präsidenten. Amerikanische Studenten, erzählte er demselben Publikum, interessiere »gar nichts auf der weiten Welt mehr, als was eigentlich eine deutsche Mensur wäre«, und dass er an der Columbia University einmal von einem Kollegen »zu einem regelrechten deutschen Kommerse mit Schlägern und allem, was dazu gehört, eingeladen« worden sei. Veranstaltet habe ihn die »deutsche Abteilung der Universität zur Einführung in die deutsche Kultur«.[102] Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die von ausländischen Pädagogen gepriesenen »preußischen Ideen« manchmal mit preußischen Werten ganz anderer Art einhergingen – und dass, was viele als Sieg der deutschen Kultur ansahen, eine dunkle Seite hatte.
Die Bewunderer der deutschen Kultur räumten für gewöhnlich der Musik einen Sonderplatz ein. Laut der Londoner Musical Times war Deutschland »das Land der Musik par excellence«.[103] Diese Bewunderung, die häufig in hochemotionalen Worten ausgedrückt wurde, zieht sich durch das gesamte 19. Jahrhundert. Die amerikanische Schriftstellerin Margaret Fuller kannte Europa gut; sie war durch England, Frankreich und Italien gereist, vertraute ihrem Tagebuch aber an, Beethoven – der damals rund 15 Jahre tot war – sei ihr »einziger Freund«.[104] Henry Adams, der Widerspruchsgeist in Person, verkündete, er teile den Genuss, den seine amerikanischen Landsleute an deutscher Musik fänden, nicht. Darauf angesprochen, erwiderte er, »daß er Beethoven hasse, und fühlte eine leichte Überraschung, wenn Mr. Apthorp und die anderen lachten, als ob ihnen dies als ein Witz schiene. Er sah keinen Spaß darin. Er nahm an, daß jedermann, ausgenommen Musiker, Beethoven für langweilig hielt, wie jeder, ausgenommen Mathematiker, Mathematik für langweilig hielt.« Aber auch er, der mit Vorliebe die Ausnahme von der Regel war, gestand ein, dass er »durch Zufall« auch von Beethoven etwas gelernt habe.[105]
Die enge Verknüpfung Deutschlands mit der Musik war in den Jahrzehnten vor und nach 1800 entstanden. Eine wichtige Rolle hatte dabei, neben neuen Musikzeitschriften und Musikalienverlagen, das wachsende neue Musikpublikum in den deutschsprachigen Landen gespielt.[106] Aber der Hauptgrund war natürlich die Kohorte der in diesen Jahrzehnten aktiven Komponisten, von Johann Sebastian Bach, der 1750 starb, aber später »wiederentdeckt« wurde, über Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Robert Schumann bis zu Felix Mendelssohn Bartholdy. Sie schufen den Kanon der klassischen und romantischen Musik, die im heraufdämmernden Zeitalter der Konzerthallen zu einem wahrhaft globalen Phänomen wurde.[107] Ihnen folgten Johannes Brahms, Richard Wagner und all die anderen aus der weithin bekannten Liste.
Die Dominanz des deutschen Repertoires kann kaum übertrieben werden. Auf der Allgemeinen Italienischen Ausstellung von 1884 in Turin, die als Schaufenster des Landes gedacht war, gehörten Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Schumann und Wagner zum musikalischen Programm, aber nicht Verdi. Die Symphonien deutscher und österreichischer Komponisten prägten englische Konzertprogramme und machten zwischen 1890 und 1915 60 Prozent der von amerikanischen Orchestern gespielten Musik aus.[108] Jenseits der Konzerthallen und Opernhäuser fanden die Werke mitteleuropäischer Komponisten als Teil der Musikprogramme in Badeorten und auf den Weltausstellungen, die seit 1851 veranstaltet wurden, ein breiteres Publikum. In Form von kammermusikalischen Werken und Transkriptionen von Symphonien und Opern gelangten sie auch in die Häuser des Bürgertums. Claude Debussy, der mit seinen impressionistischen Tondichtungen zum Gegenspieler Richard Wagners werden sollte, war zwanzig Jahre alt, als Wagners Parsifal 1882 uraufgeführt wurde. Er spielte Transkriptionen der großen Wagner-Opern auf dem Klavier, und in den 1880er-Jahren verdiente er als mittelloser junger Komponist ein bescheidenes Einkommen, indem er ein Laienpublikum in Vorträgen mit Klavierbeispielen in den Ring des Nibelungen einführte.[109]
Über die Wirkung dieser Komponisten ist vieles bekannt, über Mozarts Aufnahme in Frankreich, Beethovens in Italien, Brahms’ in den Vereinigten Staaten und Wagners überall.[110] Japan ist wegen der bemerkenswerten Art, wie es sich seit dem späten 19. Jahrhundert die westliche klassische Musik »in nur wenigen Jahrzehnten zu eigen machte«, ein Sonderfall.[111] Diese Musik war zum überwiegenden Teil deutsche Musik. Natürlich nahm das Publikum außerhalb Deutschlands sie in einer Weise auf, die ihm sinnvoll erschien, wobei Vermittler häufig eine entscheidende Rolle spielten. Schubert zum Beispiel, der 1828 gestorben war, wurde in Großbritannien erst in den 1850er- und 1860er-Jahren allgemein bekannt, als Bewunderer wie George Grove und der in Deutschland geborene Dirigent August Manns ihn als eine den viktorianischen Erwartungen entsprechende Figur präsentierten.[112] Häufig nahm die Rezeption nicht die Form an, die man erwarten würde. So war der Wagner, für den sich das italienische Publikum begeisterte, nicht der Komponist von germanischen Mythen oder Nürnberger Meistersingern, sondern der Schöpfer der »Musik der Zukunft«, der von Progressiven vereinnahmt wurde, welche die Halbinsel aus ihrer Lethargie erwecken wollten.[113] Die Anziehungskraft der »Modernität« war ein zentraler Aspekt der Wagner-Rezeption generell. Er reichte über die Musik hinaus. »Was für ein Künstler!«, schrieb Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo. »Einer wie der unter den Malern, das wäre großartig – das wird kommen.«[114] Noch überraschender ist vielleicht, dass auch Brahms, der von Anhängern von Wagner, Liszt und der »neuen Musik« – ungerechterweise – als öder Traditionalist verschmäht wurde, in manchen Ohren wie ein schwieriger, intellektueller Modernist klang. Als seine lange erwartete erste Symphonie von 1876 zum ersten Mal in New York und Boston aufgeführt wurde, bezeichneten Kritiker sie als »trockene«, »harte«, »mathematische Musik«. Es ist kaum vorstellbar, dass dieser fast unerträglich intensive Ausbruch von Leidenschaft auf diese Weise aufgenommen wurde, aber so war es. In Boston blieb Brahms umstritten. Bei der ersten Aufführung seiner dritten Symphonie (1883) verließen viele Zuhörer den Saal, und das Gerücht machte die Runde, die Verwaltung der Music Hall erwäge, rote Warnlichter mit der Aufschrift »Ausgang bei Brahms« anzubringen.[115]
Wenn Bostoner Konzertbesuchern empfohlen wurde, vor einem Brahmskonzert viel starken Kaffee zu trinken, dann lag dem letztlich die Ansicht zugrunde, dass Musik ernst und deutsch sei; beide Adjektive waren untrennbar miteinander verbunden. Dass amerikanische Musikliebhaber Brahms schwer verdaulich fanden, so wie sie später Arnold Schönberg als schwere Kost empfanden, unterstreicht nur, wie sehr das deutsch-österreichische Repertoire den Maßstab bildete. Es wurde, wenigstens in der westlichen klassischen Tradition, als allgemeingültig angesehen. Wenn die Musik, wie der amerikanische Komponist und Gelehrte Daniel Gregory Mason annimmt, eine »internationale Sprache« ist, dann sind ihre Grammatik und ihr Vokabular unverkennbar deutsch.[116] Deshalb meinten die Musikologen, wenn sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Herausbildung »nationaler« Stile sprachen, nie die deutsche Musik, sondern die anderswo – in erster Linie in Skandinavien und Mitteleuropa – unternommenen Versuche, eine nationale, vom deutschen Einfluss befreite Musiksprache zu entwickeln.[117]
Dieser Einfluss war nicht nur den Komponisten zu verdanken, sondern auch der Art, wie Musik aufgeführt und gehört wurde. Das deutsche Publikum begann als erstes, ihr aufmerksam und vor allem still zuzuhören. Musik zu hören war für deutsche Konzertbesucher eine Art säkularisierte religiöse Andacht. Briten betrachteten musikalische Veranstaltungen dagegen bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als gesellschaftliche Ereignisse, die sie festlich gekleidet besuchten, um Freunde zu treffen und mit ihnen – während der Aufführungen – zu plaudern. Das schwere Gewicht der Missbilligung vonseiten deutscher Musiker und Kritiker brachte sie schließlich zum Schweigen.[118] Auch die Orchester, denen sie lauschten, wurden dank des deutschen Vorbilds disziplinierter. Dies war das Verdienst des Dirigenten Hans von Bülow. Seine Bedeutung wurde davon überschattet, dass ihm von Richard Wagner Hörner aufgesetzt wurden. Aber Bülow war derjenige, der während seiner Zeit als Hofmusikintendant im kleinen Fürstentum Sachsen-Meiningen in den 1880er-Jahren als eines der sogenannten »Meininger Prinzipien« die moderne Praxis langer, sorgfältiger Proben einführte.[119]
Die deutsche Prägung der klassischen Musik beruht also nicht nur auf dem Kanon, sondern auch auf der Praxis derjenigen, die ihn aufführten, dirigierten und lehrten, und darüber hinaus auf der Tätigkeit von Musikunternehmen, die Noten druckten oder Instrumente herstellten. Verlag und Instrumentenbau waren gelegentlich Zweige ein und derselben Firma, wie im Fall des Musikverlags Zimmermann, den der junge Deutsche Julius Heinrich Zimmermann 1876 in St. Petersburg gründete. Später kamen Niederlassungen in Moskau, Riga, Leipzig und London hinzu. Der Verlag veröffentlichte Noten und stellte Blas- und Streichinstrumente her.[120] Was Klaviere betraf, spricht man manchmal von den »großen vier« Herstellern: Bösendorfer, Bechstein, Blüthner und, als berühmtestem von ihnen, Steinway. Die Wiener Klavierfabrik Bösendorfer wurde 1828 gegründet, die anderen drei zufällig alle im selben Jahr, 1853, wenn auch an verschiedenen Orten: Carl Bechstein baute seine Klaviere in Berlin, Julius Blüthner in Leipzig und Henry Steinway fast 6500 Kilometer entfernt in Manhattan. Der 54-jährige Steinway war zum Zeitpunkt seiner Geschäftsgründung erst drei Jahre in den Vereinigten Staaten, nachdem er zuvor schon 25 Jahre lang in Deutschland Klaviere gebaut und unter seinem ursprünglichen Namen, Heinrich Steinweg, vermarktet hatte. Deshalb erhielt das erste von Steinway & Sons gebaute Klavier die Nummer 483, weil er zuvor bereits 482 Instrumente gebaut hatte. Für das Unternehmen schloss sich ein Kreis, als Steinway 1880 für den Verkauf in Europa und weltweit eine Niederlassung in Hamburg gründete.[121]
Das entscheidende Kettenglied waren diejenigen, die Instrumente spielten und das Spiel auf ihnen lehrten. Deutsche waren als Musiker und Musiklehrer im Ausland gefragt. Manche übten als Emigranten eine nachhaltige Wirkung auf die Musiklandschaft ihrer Gastländer aus. Zu ihnen gehörten die beiden 48er Carl Linger und Karl Halle. Linger war 1810 als Sohn eines Graveurs in Berlin geboren. Er hatte bereits Opern und Symphonien komponiert, als er sich nach der Revolution von 1848/49 den Radikalen anschloss, die in Australien ein neues Leben suchten. Er gehörte zu der Gruppe talentierter Emigranten, die 1849 an Bord der Prinzessin Luise in Adelaide eintraf, in seinem Fall mit Frau und Tochter, die während der Reise geboren worden war. Er etablierte sich in Adelaide zunächst als Klavierstimmer, Musiklehrer und Pianist auf Tanzveranstaltungen, dann als erfolgreicher Musiker und Komponist. Die Melodie von Caroline Carletons patriotischem »Song of Australia« von 1859 stammt von ihm. Das Lied war 1977 einer von vier Kandidaten in der Volksabstimmung, in der die Nationalhymne des Landes bestimmt wurde (es landete auf dem letzten Platz hinter »God Save the Queen«, »Waltzing Matilda« und dem Siegerlied »Advance Australia Fair«). Linger gründete 1858 in Adelaide das erste Symphonieorchester Australiens und einen angesehenen Männerchor. Im selben Jahr gründete Charles Hallé in Manchester ein Orchester, das zu einem der besten englischen Klangkörper wurde. Als Karl Halle in Hagen geboren, hatte er in Darmstadt Musik studiert. 1836, mit 17 Jahren, ging er nach Paris, wo auch ein anderer emigrierter Pianist zu seinem Kreis gehörte, Frédéric Chopin. Nach der Revolution von 1848 floh er nach England, wo er sich unter dem Namen als Pianist einen guten Ruf erwarb – er spielte als Erster in England den gesamten Zyklus von Beethovens Klaviersonaten –, bevor er das Orchester gründete, das seinen Namen trägt. Hallé war ein kosmopolitischer Deutscher, der in die britische Oberschicht aufstieg und 1888 für seine Verdienste um die Musik geadelt wurde.
Auch beim Aufbau der musikalischen Infrastruktur in den Vereinigten Staaten spielten Deutsche eine herausragende Rolle. Die meisten großen amerikanischen Symphonieorchester wurden von einem Deutschen oder Österreicher dirigiert. Von den acht Dirigenten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die New Yorker Philharmoniker leiteten, waren sechs in Deutschland und einer in Österreich geboren, der achte war ein in Deutschland ausgebildeter Ungar. Ähnliches galt für das Bostoner Symphonieorchester, das 1881 von Henry Lee Higginson gegründet wurde, der in seinen Zwanzigern in der Hoffnung, ein berühmter Pianist zu werden, in Deutschland Musik studiert hatte. Später, als erfolgreicher Geschäftsmann, träumte er davon, ein Orchester zu schaffen, das »das Spiel der großen deutschen Orchester erreichen« würde.[122] Die ersten sechs Chefdirigenten des Bostoner Symphonieorchesters waren Mitteleuropäer, bevor der Franzose Henri Rabaud 1918 das Muster durchbrach. Deutsche oder Österreicher führten die meisten der entstehenden Ensembles durch die Gründerjahre der amerikanischen Symphonieorchester um 1900. In einem Knittelvers aus St. Louis wurde die deutsche Dominanz satirisch aufs Korn genommen:
»Der feller vot schtands on the blatform dair
Unt fools der barber by vearing long hair
Unt shakes a schtick all round in der air
Dot is der leader. […]«
Dass der anonyme Autor im Weiteren von »der brombone blayer«, »der concertmeister« und »der drummer« spricht, verweist darauf, dass auch die meisten Musiker, die den Zeichen des »schtick« folgten, Deutsche waren. Leopold Damrosch und Emil Paur sprachen zu ihren New Yorker Orchestern für gewöhnlich deutsch, und selbst dort, wo die Musiker, wie in Boston, einem Dutzend Nationalitäten angehörten, waren die Nichtdeutschen sehr wahrscheinlich in Deutschland ausgebildet worden.[123]
Die deutschen Musikschulen und Konservatorien waren ein Magnet für Komponisten und Musiker aus aller Welt. Das 1843 von Felix Mendelssohn Bartholdy gegründete Leipziger Konservatorium, zum Beispiel, galt weithin als das beste der Welt. Zu seinen Absolventen gehörten die Engländer Arthur Sullivan und Frederick Delius, der Norweger Edvard Grieg, der Tscheche Leoš Janáček und der Franzose Émile Sauret.[124] Bis auf einen wurden sie alle zu bedeutenden Komponisten. Die Ausnahme war Sauret, der als Violinvirtuose bekannter war als für seine schwierigen Kompositionen. Aber auch er zeigt, wie die deutsche musikalische Ausbildung in alle Welt ausstrahlte. Nachdem er in Berlin gelehrt hatte, wurde er zunächst Violinprofessor an der Royal Academy of Music in London und dann Lehrer am Chicago Musical College. Aber diese Figuren, deren Namen überdauert haben, stellen nur die Spitze des Eisbergs dar. In den 1890er-Jahren bildeten deutsche Konservatorien, Musikschulen und Musikakademien jedes Jahr rund 15 000 Studenten aus, darunter viele Ausländer. 1914 kam knapp ein Drittel der in Preußen in Musikschulen angemeldeten Schüler aus dem Ausland. Das Berliner Konservatorium hatte Studenten aus über zwanzig Ländern.
Warum besuchten ausländische Studenten deutsche Musikschulen und Konservatorien? Zum Teil aus denselben Gründen, die so viele Ausländer an die medizinischen Fakultäten deutscher Universitäten zogen: wegen des guten Rufs, den Deutschland auf dem jeweiligen Gebiet genoss. Die amerikanische Konzertpianistin Amy Fay, die von 1869 bis 1875 dort studiert hatte, forderte alle jungen Musiker auf, in »diese wunderbare, einzig wirkliche Heimat der Musik – DEUTSCHLAND« – zu gehen.[125] Aber dies war noch nicht alles. Die Vorstellung von Deutschland als Land der Musik war untrennbar mit Deutschlands Aura als Land der Dichter und Denker verknüpft, die ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichte. Amy Fays bebende Begeisterung war ein Echo derjenigen, die eine Generation zuvor Margaret Fuller ausgedrückt hatte, die einem Kreis angehörte, in dem die Verehrung der deutschen Kultur an Idolatrie grenzte. Tatsächlich waren die Beherrschung des Deutschen und die Übersetzung deutscher Werke ins Englische Fullers Eintrittskarte in den Kreis der neuenglischen Transzendentalisten gewesen, in die Welt von Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Orestes Brownson, Nathaniel Hawthorne und dessen Schwägerin Elizabeth Peabody.[126] Die Atmosphäre dieser Welt ist eingefangen in einer Episode aus dem Leben des jungen Thoreau, der, damals noch Student in Harvard, im Sommer 1835 bei dem unitarischen Prediger Brownson wohnte, Deutsch lernte und sich auf Spaziergängen am Neponset entlang mit Brownson über deutsche Kultur unterhielt. Dies sei, jubelte Thoreau, seine neuen Sprachkenntnisse erprobend, der »morning of a new Lebenstag«.[127] Südstaatler waren ebenso hingerissen wie bekannte britische Vertreter derselben Generation, von Thomas Carlyle, der nur wenig älter als Emerson war, bis zu Thoreaus Altersgenossen George Eliot, John Ruskin und Matthew Arnold. »Die literarische Welt war sich damals einig, daß die Wahrheit allein in Deutschland fortlebte«, bemerkte Henry Adams vergnatzt.[128]
Die Hochachtung der Gebildeten für die deutsche Kultur umfasste Musik, Philosophie und Literatur. Die deutsche Kultur wurde zum Maßstab von »Ernsthaftigkeit«, und zwar weit über die angelsächsische Welt hinaus. Der bereits erwähnte französische Gelehrte Ernest Renan war ein frommer junger Katholik, als er Kant und Hegel entdeckte, die seine geistige Welt auf den Kopf stellten. Auch in Skandinavien genoss die deutsche Kultur großes Ansehen, und russische »Westler« wie der Schriftsteller Iwan Turgenjew, der von 1838 bis 1841 in Berlin studiert hatte, suchten in Deutschland Antworten auf die Frage, wie man leben sollte. »Sie wissen ja«, erklärte er seinem slawophilen Kollegen Fjodor Dostojewski, »dass ich mich für einen Deutschen und nicht für einen Russen halte und darauf stolz bin.«[129] Eine ähnlich enthusiastische Neigung zur deutschen Kultur fand man auch in Südamerika und Teilen Asiens.
Es wäre zu einfach, zu sagen, dass diese Neigung im späten 19. Jahrhundert verschwand. Sie lebte in Goethe-Gesellschaften und Ausgaben deutscher Schriftsteller weiter. Der schon erwähnte britische Liberale Richard Haldane mag mehr als andere im Bann der deutsche Literatur und Philosophie gestanden haben – er behauptete, Hegels Phänomenologie des Geistes 19 Mal gelesen zu haben –, aber auch sein Zeitgenosse Andrew Bonar Law, der Vorsitzende der Konservativen Partei, war ihm zumindest so weit erlegen, dass er Anfang 1914 einen seiner Söhne nach Deutschland schickte, um dort die deutsche Sprache zu erlernen und tiefer in die deutsche Literatur einzudringen.[130] Auf der anderen Seite des Atlantiks begann Professor Kuno Francke 1913 in Harvard eine 20-bändige Ausgabe deutscher Klassiker, The German Classics of the Nineteenth and Twentieth Centuries, herauszugeben.[131] In Japan nahm die Bewunderung der deutschen Kultur infolge des Austauschs der 1870er- und 1880er-Jahre stark zu. Ein entscheidender Vermittler war der Militärarzt Mori Ogai, der in den 1880er-Jahren in Deutschland studiert hatte und später Werke von Goethe, Schiller und anderen ins Japanische übersetzte.[132] Dank Francke und Mori hatten Angehörige des gebildeten Bürgertums in New York und Tokio in Gestalt von Übersetzungen einen leichten Zugang zu deutschen Klassikern, ganz so, wie sie in den Konzerthallen ihrer Städte Beethovens Musik lauschen konnten.
Und doch übte die deutsche Kultur um 1900 nicht denselben Zauber aus wie in der Zeit von den 1830er- bis zu den 1860er-Jahren. Die Hochachtung für die deutsche Musik und die deutschen Universitäten war zwar ungebrochen, ebenso wie jene für die deutsche Naturwissenschaft und Medizin. Aber das umfassendere, ungreifbarere Ansehen des »Landes der Dichter und Denker« hatte sich gewandelt. Dafür gab es viele Gründe. Einer waren die politischen Entwicklungen, die beeinflussten, wie man Deutschland in der Welt sah. Nach Ansicht des französischen Philosophen Émile Caro gab es jetzt, wie er ein Jahr nach der Demütigung von 1871 schrieb, »zwei Deutschlands«, dasjenige von Kant und Beethoven und dasjenige der preußischen »Barbarei« – und das zweite hatte das erste in den Schatten gestellt.[133] Die Vorstellung von zwei Deutschlands sollte sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts halten.
Ein zweiter Grund für den Ansehensverlust der deutschen Kultur hatte nichts mit preußischen Pickelhelmen zu tun. Die Vereinigung hatte einen neuen Nationalstolz in die deutsche Kultur gebracht, der ihren Anspruch auf Universalität untergrub. Dies löste nicht nur in Frankreich, sondern auch bei russischen Slawophilen und in Skandinavien eine Abkehr von der deutschen Kultur aus. Der dänische Literaturkritiker Georg Brandes bemühte sich nach Kräften, die deutsche kulturelle Vorherrschaft in Europa zu brechen, und setzte bewusst französische modernistische Ideen als Waffen gegen den deutschen Einfluss ein.[134] Sogar auf dem Gebiet, auf dem Deutschland der unbestrittene Qualitätsmaßstab blieb – der Musik –, war eine Gegenbewegung zu beobachten. »Nationale« Schulen entstanden, wiederum in Skandinavien, aber auch in slawischen Ländern und sogar in den Vereinigten Staaten und Großbritannien.[135] Der Australier Percy Grainger, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt am Main besuchte, gehörte der »Frankfurter Gruppe« ausländischer Studenten an, die die britische und skandinavische Musik von der deutschen Dominanz befreien wollten. Einige Jahre später wurden die Deutschen in einem Artikel der Morning Post als »Imperialisten der Musik« bezeichnet. Gegenstand des Artikels war Arnold Schönberg, über den der Autor schrieb, jeder wisse, dass er einer dieser »Imperialisten« sei, die neue Länder eroberten, auch manche »scheinbar unbewohnbare«.[136] Es war eine sehr englische Spöttelei, die einer verbreiteten englischen Reaktion auf deutsche »Komplexität« entsprach, die selbst bei vordergründiger Hochachtung nie ganz fehlte. Als 1865 ein Buch mit dem Titel The Secret of Hegel erschien, witzelte der Rezensent, dem Autor sei es gelungen, das Geheimnis für sich zu behalten.[137] Aber die fünfzig Jahre später geschriebene Schönberg-Besprechung war schärfer und endete mit der grob verächtlichen Bemerkung, die Engländer seien »nicht so degeneriert, seine ›Musik‹ zu akzeptieren«.
»Degeneration« beziehungsweise »Entartung« waren Begriffe der 1890er-Jahre und der Jahrzehnte danach. Ein Buch des Arztes und Schriftstellers Max Nordau von 1892 mit dem deutschen Begriff als Titel hatte ihn zu einem Schlagwort gemacht. Angesichts des späteren Gebrauchs des Begriffs durch die Nationalsozialisten für ihre berüchtigten Attacken auf sogenannte »entartete Kunst« mag es verwundern, dass der Autor von Entartung ein säkularer deutscher Jude mit einer tiefen Neigung zur Kultur von Goethe und Schiller, Shakespeare und Cervantes war.[138] Sein Buch illustriert, wie sich das Fin de Siècle von der Mitte des Jahrhunderts unterschied, als Deutschland noch alles vor sich hatte. Wenn von Deutschland nicht mehr derselbe Zauber ausging, dann war es nicht zuletzt eine Folge davon, dass die Idee der Kultur selbst sich grundlegend gewandelt hatte.
Drei der dafür charakteristischen Entwicklungen waren für Nordaus Anliegen von zentraler Bedeutung: das Auftauchen avantgardistisch-modernistischer Bewegungen, die zunehmende Beliebtheit von Formen der »alternative« Kultur und die Entstehung der Populär- oder Massenkultur. Alle drei Entwicklungen stellten infrage, dass die überlieferten Kulturvorstellungen – um den bedeutenden viktorianischen Germanophilen Matthew Arnold zu zitieren – »das Beste, was jemals gedacht und gesagt worden ist« waren.[139] Die Veränderung der Bedeutung der Kultur, die Ende des 19. Jahrhunderts eintrat, war ebenso tiefgreifend wie dauerhaft, und Deutschland befand sich mitten in diesem globalen Wandel. Einmal war es eine wichtige Zwischenstation, ein andermal das Schlachtfeld.
Die modernistische Avantgarde bildete sich in den Jahren um 1900 heraus und entzündete eine wahrhafte Explosion der Kreativität. Ihre Kennzeichen waren die Ungeduld mit spießigen Älteren – »Jugend« war eines der Schlagworte ihrer »Manifeste« –, die radikale Neuformulierung der formalen Regeln der verschiedenen Künste und eine atemberaubende Abfolge von neuen Bewegungen oder Ismen: Realismus, Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Expressionismus. Die avantgardistischen Romanciers, Dramatiker, Maler und Komponisten hatten jeweils ihre eigene Clique, ihre eigenen Gönner und ihnen wohlgesinnten Kritiker. Außerdem hatten sie ihre eigenen Treffpunkte, Bars und Cafés, die das Künstlerviertel der jeweiligen Stadt prägten, wie es Giacomo Puccini in seiner Oper La Bohème abgebildet hat.
Puccinis Oper spielt in Paris, das um 1900 immer noch die unumstrittene Kulturhauptstadt der Welt war, einschließlich der Welt der Avantgarde. Aber auch in anderen Großstädten, von London bis Mailand, gab es Künstlerviertel. Die modernistische Kultur des Fin de Siècle war überwiegend eine europäische Großstadterscheinung, denn diese Metropolen verfügten über engere Verbindungen untereinander und selbst nach New York und Buenos Aires als mit dem eigenen Hinterland.[140] In Deutschland gab es zwei herausragende Zentren der Avantgarde, Berlin und München, oder auch drei, wenn man Wien hinzurechnet, das vor 1914 von außerordentlicher kultureller Lebendigkeit vibrierte.[141] Dort versammelten sich Maler und Schriftsteller nicht nur aus dem gesamten Habsburgerreich, sondern auch aus anderen Ländern. München wurde ebenfalls zum Wohnort vieler Schriftsteller, die sich im Künstlerviertel Schwabing zusammenfanden. Aber es waren die Maler, unter ihnen viele Ausländer, die der Münchner Avantgarde das internationale Gepräge gaben. Sie arbeiteten dort als Bühnenbildner oder Karikaturisten für die Satirezeitschrift Simplicissimus. Der berühmtesten modernistischen Künstlergruppe der Stadt, dem »Blauen Reiter«, gehörten drei Russen und ein Amerikaner an. Was die Malerei betraf, stach München, das im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße dreimal mehr bildende Künstler zu ihren Einwohnern zählte, Berlin aus.[142]
Aber es war Berlin, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts recht plötzlich zur Weltstadt wurde, was ihr zuvor nicht gelungen war, zu einer pulsierenden Metropole und zum Sinnbild der »modernen Zeit«. Diese Atmosphäre hat Waldemar Titzenthaler auf seinen großartigen Fotografien eingefangen, von denen viele die von Eisenbahnen, Straßenbahnen, Kutschen und Automobilen geschaffene ständige Bewegung wiedergaben. Dem Schriftsteller Anselm Heine zufolge fuhren tagsüber jede Stunde 416 Straßenbahnen über den Potsdamer Platz.[143] Die Stadt war ein Magnet für die Avantgarde der bildenden Künstler, Schriftsteller und Bühnenstars. Die Mitglieder der expressionistischen Künstlergruppe »Die Brücke«, die sich in Dresden gegründet hatte, zogen bis Ende 1911 nach Berlin um. In der Stadt gab es zahlreiche Theater, Zeitschriften und Verlage sowie Galerien und private Förderer moderner Kunst, insbesondere im wohlhabenden jüdischen Bürgertum. Außerdem besaß sie eine lebendige Kaffeehauskultur, die sowohl die erfolgreichen als auch aufstrebende Künstler anzog, Treffpunkte wie das Café des Westens in Charlottenburg – Café Größenwahn genannt – und das Café Josty am Potsdamer Platz, das der expressionistische Schriftsteller Paul Boldt in einem Gedicht, in dem er den Rhythmus der Großstadt einzufangen versuchte, unsterblich gemacht hat. Ein bescheidenerer, in Künstlerkreisen beliebter Treffpunkt war ein kleines Weinlokal an der Ecke Unter den Linden und Neuer Wilhelmstraße, das der schwedische Dramatiker August Strindberg für die Szene entdeckt und dem er wegen des schwarzen, ausgestopften Weinschlauchs, der über dem Eingang hing, den Spitznahmen »Zum schwarzen Ferkel« gegeben hatte. Die Künstlergruppe, die sich dort traf, hatte einen starken skandinavischen Einschlag. Zu den Schriftstellern und Malern, die das Lokal regelmäßig besuchten, gehörten aber auch Deutschbalten und Polen. Von den Skandinaviern ist der norwegische Maler Edvard Munch hervorzuheben, der zu einer festen Größe der Kunstgeschichte wurde.[144]
Waldemar Titzenthalers Fotografie von 1901 des Blücherplatzes, der Belle-Alliance-Brücke und des U-Bahnhofs Hallesches Tor fängt das Gefühl von Bewegung und Energie im Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts ein.
Aufgrund der geografischen Lage Berlins erhielt seine Kulturszene mehr Zugänge aus Nord- und Osteuropa als aus dem Westen. Aber die Nationalität der kreativen Einwohner der Stadt ist ein schlechter Indikator dafür, warum Berlin in diesen Jahren zu einem Zentrum kulturellen Experimentierens wurde, einer Kreuzung, an der Ideen und Praktiken aus Europa und der Welt aufgegriffen oder verarbeitet wurden. Es waren überwiegend deutsche – und österreichische – Schriftsteller und Maler, die dies taten, aber sie wurden dabei vorangetrieben von einer außergewöhnlichen Gruppe von Kritikern, Galeristen und Theaterdirektoren sowie ständig neuen Publikationen, wie der 1895 gegründeten Kunstzeitschrift Pan und später den beiden 1910 gegründeten literarisch-künstlerischen Zeitschriften Die Aktion und Der Sturm, die schon im Titel expressionistische Energie verhießen. Zwei Zeitgenossen, deren Altersunterschied nur zehn Monate betrug, verkörpern beispielhaft die Entwicklungen dieser Jahre. Der eine war ein überaus produktiver, heute aber fast vergessener Schriftsteller, der andere ein kultureller Mittelsmann von geradezu heldischem Format, der als Förderer der Avantgarde weiterhin berühmt ist. Beide beleuchten aus unterschiedlicher Perspektive, welche Rolle die Deutschen in der vom Schock des Neuen elektrisierten und sich zunehmend globalisierenden Kulturwelt spielten.[145]
Der weniger Bekannte war Max Dauthendey. 1867 als achtes (und erstes in Deutschland zur Welt gekommenes) Kind eines nach Russland ausgewanderten deutschen Fotografen und einer in St. Petersburg geborenen Deutschen verbrachte er einen großen Teil seines Lebens damit, dem Schatten seines autoritären Vaters zu entkommen. Er erwog, in die niederländische Kolonialarmee in Indonesien einzutreten, riss mehrmals von zu Hause aus, erlitt 1891 einen Zusammenbruch und fand schließlich Anschluss an Künstlerkreise, zunächst in Berlin und dann in München. In Berlin schrieb er einen klassischen Roman über die Bohème mit dem Titel Maja (1911), der auf der Dreiecksbeziehung von Mitgliedern der Künstlergruppe des schwarzen Ferkels beruhte. Dauthendeys eigenes Gefühlsleben war untrennbar mit seiner Wanderlust verbunden. Während einer Schwedenreise lernte er Annie Johanson, die frisch geschiedene Frau eines Schriftstellerkollegen, kennen. Sie heirateten in Paris und reisten von dort direkt nach Mexiko, wo sie zusammen mit einem US- Schauspielerpaar, mit dem Dauthendey sich in London angefreundet hatte, eine Künstlerkolonie gründen wollten. Das vorhersehbare Scheitern des Projekts hielt ihn nicht von weiteren Reisen ab, die ihn – mit seiner Frau oder ohne sie – kreuz und quer durch Europa und 1905 rund um die Welt führten.
Dauthendey lebte ständig in angespannten Verhältnissen. Nachdem er sein Erbe auf Reisen aufgezehrt hatte, bestritt er seinen Lebensunterhalt mit Vorschüssen und von Freunden geborgtem Geld. Seine Freundin, die Malerin Gertraud Rostosky, verkaufte sogar Bilder, um ihn zu unterstützen. Dauthendey sehnte sich in die Ferne, bekam aber Heimweh, sobald er sie erreichte. In der Erzählung »Himalayafinsternis« bemerkt er, Fluch und »Wollust« des Reisens sei es, zu erleben, wie das Unendliche und Unerreichbare endlich und erreichbar werde, wenn man es betrete. Dann sei man »dem Gefängnis der Wirklichkeit verfallen«.[146] Dauthendeys Werke leben stark vom »Exotischen«. Er ist der »Dichter der Farben« und der »Gauguin der Literatur« genannt worden. Er war ungemein fleißig, aber kommerziell wenig erfolgreich. Heute noch berühmte Zeitgenossen haben ihn gepriesen. Rainer Maria Rilke nannte ihn einen »unserer sinnlichsten Dichter, in einem fast östlichen Begriffe«, und Stefan George bescheinigte ihm, er schaffe »eine eigenartige Kunst, die reicher genießen lasse als Musik und Malerei, da sie beides zusammen« sei.[147] In Wirklichkeit war sein sorgfältig inszeniertes Leben interessanter als seine Werke. Er ist als unwillentlicher Chronist eines historischen Augenblicks bemerkenswert, weil er die Entwicklungen einer rastlosen Zeit verkörperte.
Harry Graf Kessler, der unermüdliche Mittelsmann in einer grenzüberschreitenden Kulturwelt, ist bekannter. Er erwarb 1893 eine Wohnung in Berlin und behielt sie, denn er kehrte auch in den Jahren, als er Weimar zu seinem früheren Glanz zu verhelfen versuchte, häufig in die Stadt zurück. Er war vermögend und reiste nicht nur regelmäßig zwischen Berlin, Paris und London hin und her, sondern auch an andere Orte in Europa sowie nach Amerika und Asien. Er war einer der Hauptförderer des Pan, und zu seinen Freunden zählten der französische Bildhauer Auguste Rodin und der Belgier Henry van de Velde, einer der bedeutendsten Art-nouveau-Künstler. Er holte van de Velde nach Berlin, um sich von ihm bei der Einrichtung seiner Wohnung beraten zu lassen, und dann nach Weimar, wo er zunächst das Kunstgewerbliche Seminar und später die Kunstgewerbeschule leitete. Kessler kaufte Gemälde von Cézanne und van Gogh, dinierte mit Degas und ließ sich von Munch porträtieren. Und das war nur der Bereich der bildenden Kunst. Nicht weniger interessierten Kessler die revolutionären Entwicklungen des Theaters und Bühnenbilds um 1900, zu denen er selbst beitrug. Außerdem war er ballettsüchtig und ein großer Förderer des modernen Tanzes in dessen Gründerzeit; so arbeitete er zusammen mit den Ballets Russes an einem eigenen Projekt und verfolgte aufmerksam die Auftritte der amerikanischen und japanischen Tänzer, die im Europa des frühen 20. Jahrhunderts so viel Eindruck machten.
Bildende Kunst, Theater, Tanz: Dies waren die drei Kunstgattungen, für die Kessler in der Welt der Avantgarde als Mittelsmann diente. Sie waren auch die Gebiete, auf denen Deutschland als kultureller Treffpunkt eine entscheidende Rolle spielte. Die Kunstgeschichte, bemerkte der französische Kritiker Georges Lafenestre 1890, sei eine Geschichte von »ständigem Austausch, gegenseitigem Beispiel und Anregung zwischen verschiedenen Nationen«.[148] Er schrieb dies über die Pariser Weltausstellung im Jahr zuvor, auf der vier Dutzend deutsche Künstler gegen den Wunsch Bismarcks ihre Werke ausgestellt hatten. »Kunst kennt kein Vaterland«, lautete Lafenestres Parole. Diese noble Einstellung diente allerdings auch einem heimischen Zweck, denn die betreffenden deutschen Künstler hatten immerhin viel von Frankreich gelernt, so dass die Ausstellung ihrer Werke dessen kulturelle Führerschaft unterstrich. Aber es gab noch eine weitere Bedeutungsschicht, die das Bild verkomplizierte. Manche dieser deutschen Künstler, wie Max Liebermann, wurden von französischen Kritikern gelobt, weil sie realistische Szenen des Landlebens gemalt hatten, die sich vorteilhaft vom »Chaos der französischen Schule«, das heißt des Impressionismus, abhöben. So wie die Deutschen von Franzosen gelernt hätten, schrieb Lafenestre, so hätten sie »im Gegenzug eine gewisse Gesundheit und Vitalität« gebracht.[149] Diese Kritiker benutzten die deutschen Bilder einerseits zur Selbstbestätigung und andererseits dazu, um vor heimischer Dekadenz zu warnen. Ihre Ausführungen sind ein gutes Beispiel dafür, wie vertrackt das Wechselspiel von Rezeption und Einfluss sein kann.
Der Einfluss der neuen französischen Kunst in Deutschland war ähnlich komplex. Auf den ersten Blick scheint er offensichtlich zu sein. Die »Sezessionen« von der etablierten Kunst, die 1892 in München begannen, folgten dem Pariser Muster. Vorausschauende Galeristen wie Paul Cassirer horteten Werke französischer Modernisten, während Kessler und andere kühne Mäzene stolz ihre Neuerwerbungen vorzeigten. Kesslers Hauptziel bei der Gründung des Pan bestand darin, die neuen Werke aus Frankreich bekannt zu machen. Liebermann, die führende Figur der Berliner Sezession von 1898, war ebenfalls ein unermüdlicher Fürsprecher der französischen Schule.[150] Aber alle benutzten die Verbindung nach Frankreich in gewisser Weise. Während die französischen Kritiker die deutschen Maler vorschoben, um ihren Standpunkt im inneren Meinungsstreit zu stärken, setzten die deutschen Verfechter der Avantgarde französische Maler als Waffe gegen ihre heimischen Gegner ein.
Liebermann stand den Expressionisten, die für die moderne deutsche Schule prägend werden sollten, anfangs ablehnend gegenüber.[151] Verdient der deutsche Expressionismus das ihn definierende nationale Attribut? Ja, da die beiden mit ihm assoziierten Künstlergruppen, die Brücke und der Blaue Reiter, in Deutschland etwas Einzigartiges und Wiedererkennbares schufen, das sich über Europa verbreitete. Aber der Expressionismus hatte nicht nur deutsche Ursprünge. Als der englische Maler und Kunstkritiker Roger Fry in der Grafton Gallery in London eine Ausstellung mit dem Titel »Manet und der Postimpressionismus« organisierte, verband er den Expressionismus noch mit französischen Künstlern. Zwei Jahre zuvor, 1908, hatte Henri Matisse in einem bekannten Aufsatz geschrieben: »Was ich vor allem zu erreichen suche, ist der Ausdruck« – französisch expression.[152] Es gab, mit anderen Worten, eine »transnationale Fluidität« des Begriffs.[153] Die deutschen Expressionisten kamen durch viele Einflüsse zu ihrem Stil. Dazu gehörten unter andern van Gogh, Franzosen wie Matisse und Kesslers Freund Munch.
Auch das »Exotische« war in den Bildern der deutschen Expressionisten deutlich vorhanden. Es wurde zum Teil indirekt über die Werke von Künstlern wie Paul Gauguin aufgenommen, stammte zum Teil aber auch aus eigener Anschauung. Deutsche Museen besaßen große Sammlungen nichteuropäischer Gegenstände, die sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausstellten. Als das Berliner Völkerkundemuseum 1886 eröffnet wurde, verfügte es über fast 10 000 afrikanische Objekte. Irgendwann zwischen 1903 und 1905 sah Ernst Ludwig Kirchner im Dresdner Anthropologisch-Ethnographischen Museum einen Dachbalken von der Pazifikinsel Palau, dessen offenbar spontane, ungezügelte Bemalung ihn faszinierte. Wie seine Malerkollegen Erich Heckel und Max Pechstein begeisterte er sich auch für die afrikanische Kunst, die er ausgestellt sah, wie Bronzen aus Benin und Holzschnitzarbeiten aus Kamerun. In der Folge entfernte sich Kirchners Stil vom anfänglichen Einfluss von Matisse. Afrikanische Schnitzarbeiten tauchen auf vielen Bildern der genannten Künstler auf, etwa auf Pechsteins Gemälde Somalitanz (1910). Sie alle malten auch schwarze Modelle, die sie in einer Weise abbildeten, die ihre Bewunderung für die afrikanische Kultur widerspiegelte, ganz im Gegensatz zu Max Slevogts Gemälde Der Sieger (1912) mit seiner sexuell aufgeladenen Darstellung eines dominierenden Afrikaners und dreier nackter weißer Frauen.[154] In dem außergewöhnlichen Almanach Der Blaue Reiter von 1912 sind Gegenstände aus Afrika und Ozeanien, japanische Zeichnungen, ägyptische Schattenspielfiguren und russische Volkskunst ebenso abgebildet wie Renaissanceholzschnitte und Werke modernistischer Maler.[155]
Das Drama war nach der bildenden Kunst ein weiteres bedeutendes Gebiet, auf dem Deutschland ein Treffpunkt der Moderne wurde. Das europäische Theater um 1900 wurde vom Rand her revolutioniert, durch Dramatiker aus Skandinavien, Russland und Irland. Die dominierende Figur des goldenen Zeitalters des Dramas war der Norweger Henrik Ibsen. Seine Stücke wurden überall in Deutschland gespielt, in München – einem Zentrum der theatralischen Moderne –, in Berlin, wo der 1889 gegründete avantgardistische Theaterverein Freie Bühne als erste Produktion sein Stück Gespenster herausbrachte, und auch in der Provinz. Die Witwe des expressionistischen Malers August Macke bemerkte später missmutig, das ständige »Ibsenspielen« habe das Düsseldorfer Theater »verdorben«, weil es einen bestimmten Inszenierungsstil gefördert habe.[156]
Ibsen hatte in Deutschland eine enorme Wirkung, aber nicht in jeder Hinsicht. Es gab verschiedene Ibsens. Der Literaturkritiker Pascale Casanova hat einen Unterschied festgestellt zwischen der Rezeption Ibsens in England, wo er als Dramatiker der »sozialen Frage« verstanden wurde, und seiner etwas späteren Rezeption in Frankreich, wo er als Symbolist galt.[157] In Deutschland war er beides. Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, 1889 von der Freien Bühne uraufgeführt, stand offensichtlich in der Schuld der »sozialen« Seite des norwegischen Dramatikers. Tatsächlich sah der Romancier und Theaterkritiker Theodor Fontane den Autor des Stücks als »Erfüllung Ibsens«.[158] Aber es gab auch einen anderen Ibsen, der sich mit Menschen beschäftigte, deren Gefühls- und Sexualleben von der konventionellen Moral zerstört wurde, und der auf ein geteiltes Echo stieß. Die harsche Darstellung einer der Tragödien, zu denen sexuelle Unterdrückung führen kann, in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen verdankte sich zum Teil diesem Ibsen. Allerdings war das Stück sowohl in Darstellung und Sprache als auch inhaltlich radikaler, moderner, in der Tat so radikal, dass es 15 Jahre dauerte, bis es 1906 in Berlin uraufgeführt wurde, und weitere zwei Jahre, bevor es in München auf die Bühne kam.[159]
Wedekind lebte als Erwachsener zumeist in München, anfangs, Mitte der 1880er-Jahre, als Jurastudent, der seine Freizeit überwiegend im Theater verbrachte – nach eigenen Angaben sechs- oder siebenmal in der Woche.[160] Dies war in den 16 Jahren (1875 – 1891), die Ibsen, weil er Norwegen als zu eng empfand, in München lebte, wo er einige seiner besten Stücke schrieb. Deutschland zog viele große Theatertalente an. Der englische Bühnenbildner Edward Gordon Craig ging auf Einladung Kesslers, den er in London kennengelernt hatte, nach Berlin. Er war ein wahrhafter Revolutionär. Er ersetzte die penibel naturalistische Ausstattung durch ein karges, abstraktes Bühnenbild, nutzte neue Beleuchtungsformen, um die Atmosphäre zu gestalten, und stimmte sein Bühnendesign auf das Agieren der Schauspieler ab. Während seines Aufenthalts in Berlin entwarf Craig die Bühnenbilder für einige von Max Reinhardts Erfolgen als wegweisender Regisseur.[161] Ein englischer Bühnenbildner, der von einem frankophilen englisch-deutschen Aristokraten nach Berlin geholt wurde, wo er mit einem österreichisch-jüdischen Theaterregisseur zusammenarbeitete: Eine vollkommenere Vignette des deutschen Theaters im frühen 20. Jahrhundert ist kaum denkbar. Es zog Talente an und saugte begierig Einflüsse von überallher auf. In einer Zeit, in der das Theater in verschiedenen Teilen Europas Triumphe feierte, war es Deutschland, wo die großen Dramatiker Russlands – Leo Tolstoi, Anton Tschechow, Maxim Gorki – und Skandinaviens – Ibsen, Strindberg – ihren größten internationalen Ruhm errangen.[162]
Auch für den modernen Tanz erwies sich Deutschland als entscheidende Zwischenstation. Neue Tanzbewegungen kamen aus allen Richtungen ins Land. Die japanische Tänzerin Sada Yacco unternahm zwischen November 1901 und März 1902 eine gefeierte Deutschlandtournee. Noch mehr Aufmerksamkeit erzielten die zunächst in Paris und dann in Monte Carlo beheimateten Ballets Russes des Impresarios Serge Diaghilev. Ihre Aufführungen erregten in Deutschland, wie überall sonst auch, großes Aufsehen. Für den passionierten Ballettliebhaber Kessler waren die Ballets Russes die »merkwürdigste und wertvollste künstlerische Erscheinung unserer Zeit«. Er wurde ein enger Freund Diaghilevs und bemühte sich später mit großem Engagement darum, Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss zusammenzubringen, um gemeinsam ein Ballett zu schaffen, Josephs Legende, die im Mai 1914 in Paris uraufgeführt wurde, mit Strauss als Dirigent. Es war das erste Mal seit 1870, dass ein deutsches Werk in der Pariser Oper uraufgeführt wurde.[163]
Auch aus der Neuen Welt gelangten Innovationen nach Deutschland – und machten es zu ihrer vorübergehenden Heimat. Isadora Duncan eröffnete in Berlin-Grunewald eine Tanzschule, die das Prinzip natürlicher Körperbewegungen vertrat. In den zehn Jahren, die sie in der deutschen Hauptstadt blieb, erhielten die »Isadorables« dort ihre Ausbildung. Kessler war enttäuscht gewesen, als er Duncan in Frankreich das erste Mal tanzen sah, besuchte aber mit seinen Freunden Hofmannsthal und Reinhardt ihre Schule und fand dort eine »große Frische und Grazie«.[164] Von einer anderen Vertreterin des modernen Tanzes, Ruth St. Denis – ihre Mutter hatte vor ihrer Abreise nach Europa das »St.« eingefügt –, die später Martha Graham unterrichtete, war Kessler hingerissen, als er sie während einer Europatournee in Tänzen mit »östlichen« Motiven sah. Er stellte sie seinen Freunden, den Leuchten der Berliner Kulturszene, vor. Damals, erklärte sie später, habe sich etwas in ihr »zu öffnen und auf dieses neue Land zu antworten [begonnen], das mir so viel Freude und Befriedigung zukommen lassen sollte«. Sie habe »alle Wunder des modernen künstlerischen Berlin« kennengelernt und sei »nie so glücklich wie in dieser ersten Zeit in Deutschland« gewesen. Sie glaubte, dass Deutschland für den modernen Tanz empfänglich war, »weil er eine wichtige und bedeutsame Angelegenheit [war], die weitreichende Auswirkungen auf die Kultur des Landes haben konnte«.[165]
Wie sich herausstellte, war das Gegenteil der Fall: Deutsche Innovationen im modernen Tanz sollten weitreichende Auswirkungen anderswo haben, vor allem in den Vereinigten Staaten. Die Person, die am meisten zu ihrer Verbreitung beitrug, war Marie Wiegmann, die Tochter eines Hannoveraner Nähmaschinen- und Fahrradhändlers. Sie studierte in Hellerau, Deutschlands erster Gartenstadt, an der von dem Schweizer Komponisten und Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze gegründeten »Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik«, deren Grundidee es war, Musik durch Bewegung zu erfahren. Später lernte sie von einer anderen wichtigen Figur der Geschichte des modernen Tanzes, Rudolf von Laban, »Ausdruckstanz«. Laban war es, der sie überredete, ihren Namen in Mary Wigman zu ändern. Auf ihren späteren Tourneen durch die Vereinigten Staaten, und über ihre zahlreichen Schüler vermittelt, verbreitete sie eine spezifisch deutsche Form des modernen Tanzes, die nicht aus dem klassischen Ballett herrührte, sondern auf der Idee beruhte, dass Gefühlszustände am besten durch reine, unvermittelte Körperlichkeit ausgedrückt werden können, durch Tänzer als eine Art Turner.[166]
Rudolf von Laban, Sohn eines hohen Habsburger Offiziers, ähnelte in mancher Hinsicht Max Dauthendey. Auch er führte ein ungebundenes Künstlerleben. Während seiner zwei Aufenthalte in München wohnte er im Künstlerviertel Schwabing und hielt sich mit der Zeichnung von Karikaturen für den Simplicissimus über Wasser. 1913 begann er auf dem Monte Verità in der Schweiz Sommertanzkurse zu geben. Der im Jahr 1900 auf dem »Berg der Wahrheit« gegründete utopische Künstlertreffpunkt wurde wegen derjenigen, die er anzog, und der schlüpfrigen Gerüchte über ihr Verhalten rasch berühmt. Isadora Duncan und Mary Wigman gehörten zu den Gästen. Schon ein kurzer Auszug aus der Liste, die sich auf den Berg der Wahrheit begaben, liest sich wie ein Who’s who der deutschen kulturellen Moderne. Die Schriftsteller Stefan George und Hermann Hesse besuchten ihn ebenso wie Hugo Ball, der spätere Begründer des Dadaismus, der Maler Paul Klee und Kesslers Freund Henry van de Velde. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung war ein regelmäßiger Gast. Auch die bemerkenswerten Richthofen-Schwestern konnte man dort treffen. Die promovierte Ökonomin Else von Richthofen heiratete den Nationalökonomen Edgar Jaffé, bekam später ein Kind von dem Psychoanalytiker Otto Gross und hatte Affären sowohl mit Max Weber als auch dessen Bruder Alfred. Frieda von Richthofen, die mit einem englischen Professor verheiratet war, brannte 1912 mit D. H. Lawrence, den sie später heiratete, nach Deutschland durch.[167]
Der Monte Verità stand für eine alternative Kultur. Dies war die zweite große Herausforderung der überlieferten Bedeutung von Kultur in dieser Zeit. Die Alternativkultur war natürlich nicht nur ein deutsches Phänomen. Aber sie wurde eng mit Deutschland assoziiert. Der Begriff fasste eine ganze Reihe von Schwärmereien und Moden zusammen. Manche waren spiritueller oder religiöser Art, wie die theosophische Bewegung und ihr deutscher Ableger, die Anthroposophie, oder die Faszination vom Paranormalen, die Begeisterung für Tolstoi als »Prophet des Unmodernen« und das wachsende Interesse an Buddhismus und Yoga.[168] Auf dem Gebiet der Bildung lehnte die Reformschulbewegung die konventionellen hierarchischen Modelle ab. Einer ihrer bekanntesten Anhänger prägte den Begriff »Jugendkultur«. In den späten 1890er-Jahren begann sich die Jugend zu organisieren, mit dem »Wandervogel«, der auf Wanderungen aufs Land dem Stadtleben zu entkommen suchte, als Vorreiter. 1913 veranstalteten die Organisationen, die sich zur Freideutschen Jugend zusammengeschlossen hatten, nach dem Vorbild des Wartburgfests, das fast hundert Jahre zuvor stattgefunden hatte, ein Treffen im hessischen Bergland, um den deutschen Jugendgruppen eine Richtschnur zu geben, die ihnen den Weg zu einer »einfachen« naturbezogenen Lebensweise zeigte.
Dies war ein weiteres Zeichen der Zeit, das nicht nur die Jugend betraf. Auch viele Erwachsene zog es zu einem einfachen Leben, der kleinen Hütte am See, alternativer Medizin, Abstinenz von Alkohol und Tabak, Wasser als einzigem Getränk, vegetarischem Essen sowie Sandalen und lockerer – oder gar keiner – Kleidung. Die meisten dieser Bewegungen kann man in die von den Zeitgenossen so genannte Kategorie der »Lebensreform« einordnen. Sie waren eine Art Kulturrevolte.[169] Lebensreformer waren ein Nebenprodukt eines »nervösen« Zeitalters, in dem eine Lawine technologischer Neuerungen das Leben beschleunigte und das Wort »Neurasthenie«, so wie heutzutage der »Stress«, in aller Munde war.[170] Die Parallelen zur heutigen alternativen oder New-Age-Kultur sind offensichtlich.
Freiheit des Körpers war ein zentrales Anliegen vieler alternativer Bewegungen, ob nun Freiheit von Reglementierung und Körperstrafen, von »unnatürlichen« Speisen, Getränken und Stimulanzien oder von einengender Kleidung.[171] Ein Thema, das unweigerlich zur Sprache kam, sobald über die Freiheit des Körpers diskutiert wurde, war die Sexualität. In den Jahren um 1900 fand eine Revolte gegen sexuelle Unterdrückung statt, zu der unter anderem Debatten unter fortschrittlichen Pädagogen über den Sexualkundeunterricht in der Schule und unter Feministinnen über die Rolle sexueller Befriedigung in der Ehe gehörten.[172] Die schwedische Feministin Ellen Key, die in ihren Büchern über Liebe und Ehe das »erotische Glück« des Einzelnen hervorhob, wurde in Deutschland eifrig gelesen.[173] Auch der Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuchs, der sexuelle Handlungen zwischen Männern kriminalisierte, wurde zum Thema. Ein 1897 gegründetes, von dem Berliner Arzt Magnus Hirschfeld geleitetes Komitee setzte eine Kampagne gegen ihn in Gang. Auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft waren Deutsche führend. Der Rechtsanwalt Karl Heinrich Ulrichs hatte in den 1860er-Jahren erklärt, die Kriminalisierung von schwulen Männern, die er »Urninge« nannte, sei »eine directe Verletzung der Menschenrechte«,[174] und Psychiater wie Richard von Krafft-Ebing und Albert Moll vertraten von medizinischer Seite den Standpunkt, dass sie nicht juristisch verfolgt werden sollten. Deshalb ist es nur angemessen, dass der Begriff »Homosexualität« in Deutschland geprägt wurde. Kein Wunder, dass ein Historiker von der »deutschen Erfindung der Homosexualität« gesprochen und Berlin als »Geburtsort einer modernen Identität« bezeichnet hat.[175]
Das Deutschland um 1900 macht manchmal den Eindruck eines Laboratoriums, in dem die Reaktionen auf die Kultur der »modernen Zeit« getestet wurden, ob es sich nun um neue Technologien, hektische Großstadtstraßen, das Gespenst bürokratischer Reglementierung oder neue Ansichten über Sexualität und das Verhältnis zwischen Mann und Frau handelte. Diese Kennzeichen der Modernität bildeten den Kontext, in dem zwei der originellsten deutschen Denker des 20. Jahrhundert ein Œuvre mit weltweiter Wirkung schufen: Sigmund Freud und Max Weber, die beide im selben Jahrzehnt zu herausragenden Figuren wurden. 1895 hatte Freud zusammen mit Josef Breuer die bahnbrechenden Studien über Hysterie veröffentlicht, in denen bereits Hauptthemen der Psychoanalyse behandelt wurden: das Vorhandensein eines Unbewusstseins, die Stärke des Sexualtriebs, der unwillentliche Widerstand von Patienten und das Problem der Übertragung. In Die Traumdeutung (1900), Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901), Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten und Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (beide 1905) entwickelte Freud seine Ideen weiter. Es war ein außergewöhnlicher Ausbruch von Kreativität. Bis 1906 gewann Freud Schüler in Wien und mehrere Schweizer Psychiater, die seine Ansichten teilten, für sich – unter Letzteren Carl Gustav Jung. 1908 fand in Salzburg ein internationaler Psychoanalytikerkongress statt. Im Jahr darauf wurde Freud in die Vereinigten Staaten eingeladen.
In denselben zehn Jahren wurde auch Max Weber zu einer akademischen Berühmtheit, erlitt allerdings etwa nach der Hälfte einen schweren Nervenzusammenbruch. 1904, neun Jahre nach seiner ebenso berühmten wie umstrittenen Antrittsvorlesung in Freiburg, besuchte er mit einer akademischen Delegation die Weltausstellung in St. Louis. Nach seiner Rückkehr aus Amerika veröffentlichte er im folgenden Jahr den (vor seiner Reise begonnenen) Aufsatz »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, der mit Metaphern von einem »stahlharten Gehäuse« und »mechanisierter Versteinerung«, die das »Menschentum« zu ersticken drohe, endet.[176] Die »Entzauberung der Welt«, deren Sieg er in Anlehnung an die von Friedrich Schiller beklagte »entgötterte Natur« (in »Die Götter Griechenlands«) diagnostizierte, und die Ambiguitäten der Modernität blieben eines von Webers Themen.[177] Zwar sah er keine Alternative zum Kapitalismus und erkannte die menschlichen Vorteile von Wissenschaft und instrumenteller Vernunft an, warnte aber vor den Kräften der Reglementierung. Ihn trieb die Frage um, »was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale«.[178]
In ihrer Einstellung zu Alternativkultur und Avantgarde unterschieden sich Freud und Weber deutlich. Freud stand beiden distanziert gegenüber. Ausdrücklich wollte er die »Neurose« – mit ihren sexuellen Ursprüngen – an die Stelle der vagen Diagnose »Neurasthenie« setzen und entfremdete sich von manchen seiner früheren Assistenten, wie Jung, der zur Monte-Verità-Gruppe gehörte. Was die Kultur betraf, so schätzte Freud sie als Gegenstand seiner Überlegungen, aber er bezog in seinen Schriften nur den anerkannten Kanon der Hochkultur ein: die antike griechische Tragödie, Shakespeare, Michelangelo, Leonardo da Vinci.[179] Webers Haltung ist komplizierter. Auch er war in der klassischen Hochkultur verwurzelt, aber sein musikalischer Geschmack reichte über Beethoven hinaus zu Wagner und den modernistischen Werken von Richard Strauss, wie der Oper Salome, und er interessierte sich, trotz einiger Vorbehalte, für die literarische Avantgarde.[180] Auch seine Einstellung zu gegenkulturellen Ideen und Praktiken war von ambivalenter Faszination gekennzeichnet. Für simple Zurück-aufs-Land-Vorstellungen und andere Modeerscheinungen, die er als Zeichen geistiger Faulheit ansah, hatte er kaum etwas übrig. Gleichwohl experimentierten er und seine Frau Marianne mit dem Vegetarismus, und Weber, der seine Leidenschaftlichkeit zumeist unterdrückte, besuchte zweimal den Monte Verità, wo ihn die ungehemmte Äußerung des Eros beeindruckte. Seine einstige Geliebte Else von Richthofen gehörte zu seinem Heidelberger Kreis, ebenso wie Ernst Toller, ein weiterer regelmäßiger Besucher des Monte Verità, und andere neoromantische Intellektuelle, die sich später einen Namen machen sollten, wie Ernst Bloch und der Ungar Georg Lukács.[181]
Weber fand sowohl an der Avantgarde als auch an der Alternativkultur attraktive Aspekte. Auf dem Monte Verità präsentierten sich beide zusammen, ebenso wie bei vielen anderen Gelegenheiten. Ein ums andere Mal entdeckt man eine Wahlverwandtschaft zwischen Lebensreform oder Gegenkultur und Avantgarde. Im Theater dramatisierten Stücke wie Wedekinds Frühlings Erwachen den Ruf nach dem Ende von sexueller Unterdrückung und Heuchelei. Dieses Thema zog sich durch das gesamte expressionistische Theaterschaffen. Was die Maler betraf, so repräsentierten ihre Werke und ihre Lebensläufe viele Aspekte der Alternativkultur. Expressionistische Werke waren mit Sexualität aufgeladen. Die Künstler sowohl der Brücke als auch des Blauen Reiters verarbeiteten in ihren Bildern »östliche« Motive. Dem Theosophen Wassily Kandinsky war die mystische Dimension wichtig. Andere Münchener Künstler vertraten den Zurück-aufs-Land-Aspekt der Alternativkultur. 1908 entdeckten sie den Ort Murnau am Staffelsee, wo sie fortan die Sommer verbrachten. Eine andere dauerhafte Künstlerkolonie, die in diesen Jahren Berühmtheit erlangte, war diejenige von Worpswede im Teufelsmoor bei Bremen.
Die größte dieser Kolonien bildete sich am Müggelsee in Berlin, der Friedrichshagener Dichterkreis, ein bedeutendes Zentrum avantgardistischer Schriftsteller und Kritiker. Seine Mitglieder waren an der Schaffung der Freien Bühne beteiligt und durch ihre vielen Netzwerke unter anderem mit den Bohemiens der Gruppe des Schwarzen Ferkels, mit Harry Graf Kessler und seinen ausländischen Freunden sowie mit Schriftstellern wie Frank Wedekind verbunden, der Frühlings Erwachen in Friedrichshagen vollendete. Daneben unterhielt die von zwei politischen Radikalen gegründete Kolonie Beziehungen zu Reformnetzwerken jeder Art. Eines ihrer Mitglieder gab die Schriftstellerei auf und wurde zum lautstärksten Verfechter der Landreform in Deutschland. Andere trugen zum Entstehen der Gartenstadtbewegung und der Vegetarischen Obstbau-Kolonie Eden e. G. m. b. H. (1893) in Oranienburg bei. Magnus Hirschfeld, der Kämpfer für die Rechte von Homosexuellen, schloss sich ebenfalls dem Kreis an. Durch seine Mitglieder, Besucher und Freunde war die Friedrichshagener Kolonie mit der Jugendbewegung, dem Feminismus, dem Pazifismus und einer Vielzahl von Lebensreforminitiativen verbunden.[182]
Die überlieferten Kulturformen wurden schließlich auch durch neue Formen der kommerzialisierten Massen- oder Populärkultur infrage gestellt – Varieté, Tanzdiele, Kino und Sport, die alle gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Varietés oder Tingeltangel zeigten Jongleure, Ringer oder Trapezvorführungen zusammen mit Gesang, Tanz, komischen Sketchen und andeutungsweisem Striptease. 1901 gab es in München zehn große Bühnen solcher Art.[183] Die Tanzdiele war ein weiteres Nebenprodukt des städtischen Bevölkerungswachstums in den 1880er-Jahren. Auch die Tänze selbst waren neu und stammten häufig aus Nord- oder Südamerika. Das größte historische Interesse hat ein Tanz geweckt, der über Paris, wohin argentinische Musiker gegangen waren, um Schallplatten aufzunehmen – eine weitere neue Technik –, nach Deutschland und ins übrige Europa gelangte, der Tango. Er löste ein regelrechtes »Tangofieber« aus, und deutsche Komponisten populärer Lieder sprangen mit Nummern wie Richard Eilenbergs »Die Schönen von Santa Fe« auf den fahrenden Zug auf. Trotz seiner Herkunft aus der Unterschicht von Buenos Aires wurde der Tango in Deutschland besonders bei den gut situierten jungen Gästen der Tanzcafés beliebt. Die Tänze, die vor dem Ersten Weltkrieg ein Massenpublikum begeisterten, waren Importe aus den Vereinigten Staaten, wie der Cakewalk, dann die einfacheren Twostepp und Onestepp.[184] Neben den Modetänzen entwickelten sich neue Kleider- und Makeupmoden, während die Lieder, zu denen getanzt wurde, mit ständigen Hinweisen auf Autos und Kinofilme die moderne Zeit feierten.
Das Kino, das aus früheren Bioskopvorführungen und Dioramen hervorging, entstand in den 1890er-Jahren. Filme wurden zuerst in Varietés, auf Jahrmärkten und in mobilen Zelten gezeigt, aber ab 1905 entstanden immer mehr feste Filmtheater. 1914 gab es in Berlin 300 und in ganz Deutschland rund 2500 Kinos.[185] Die Entwicklung des Zuschauersports verlief ähnlich. Der Aufstieg des Fußballs begann in den 1880er-Jahren; 1900 wurde der Deutsche Fußball-Bund gegründet, und die erste Landesmeisterschaft wurde drei Jahre später ausgetragen. Wie Pferderennen und Tennis kam der Fußball aus England. Die Geschichte des Radrennsports war komplizierter.[186] Sie begann in den 1860er-Jahren in Paris. Danach breitete sich der Radsport nach Großbritannien und in die Vereinigten Staaten aus. In Deutschland führte ihn der Ingenieur Heinrich Kleyer ein, der 1879 in Boston ein Radrennen gesehen hatte.[187] Das erste Velodrom wurde 1880 gebaut, aber der steile Anstieg der Zuschauerzahlen setzte erst nach 1900 ein.
Die Beziehung zwischen Avantgarde und Massenkultur war weniger wechselseitig als jene zwischen Avantgarde und Alternativkultur. Man könnte in Bezug auf die Beschäftigung mit Gegenwartsfragen fast von einer Arbeitsteilung zwischen Avantgarde und Massenkultur sprechen: Während diese zur Abstraktion neigte, strebte jene nach Dramatik und Spektakel.[188] Es gab aber auch Gemeinsamkeiten. Avantgarde und Massenkultur machten beide aus dem Neuen und Modischen einen Fetisch. Die Massenkulturindustrie entwickelte in dieser Zeit, was zu einem Kennzeichen der Moderne werden sollte: die selektive und verharmloste Übernahme von Avantgardeelementen, die gewinnträchtig erschienen. Als gegenläufige Tendenz gab es auch das Eingehen auf die Populärkultur durch Teile der Avantgarde. Dies traf insbesondere auf Dramatiker und Theaterdirektoren zu. Max Reinhardt verwendete in seinen modernistischen Inszenierungen populäre Lieder und Tänze. In München bediente sich das moderne Theater ausgiebig bei Varieté, Zirkus und Jahrmarkt, um einem »retheatralisierten« Theater Leben einzuhauchen. Dies war besonders in Aufführungen von Stücken von Frank Wedekind und Oskar Panizza zu erleben.[189] Was die Avantgarde anzog, war die Kraft der Massenkultur. Besonders verführerisch waren die ikonischen Americana. Der expressionistische Dichter Walter Hasenclever pries das Kino wegen seiner amerikanischen Eigenschaften, und der junge Maler und Grafiker George Grosz war von Western hingerissen.[190] Die Begeisterung von Intellektuellen für amerikanische Populärkultur – Jazz, Kino, Boxen – in den 1920er-Jahren wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg vorweggenommen. Letztlich hatten Avantgarde und Populärkultur – und Alternativkultur – vor allem gemeinsam, dass sie die etablierten Kulturformen als öde und leblos ablehnten.
Es überrascht nicht, dass diese neuen Kulturformen noch etwas anderes gemeinsam hatten: Sie alle erlebten einen mächtigen Gegenschlag. Der Fall von Max Nordau erinnert daran, dass die Breitseiten nicht immer aus der erwarteten konservativen Richtung abgefeuert wurden. Die politische Verortung der Kulturkriege war nicht immer einfach. Formale Neuerer konnten politisch rechts stehen, wie der Bühnenbildner Georg Fuchs, während entrüstete Liberale der Avantgarde Aufdringlichkeit und der Massenkultur geldgierigen Zynismus vorwerfen konnten. Am offensichtlichsten war dies bei den Angriffen auf »Schmutz und Schund«, als was man Trivialliteratur, Varieté und Kino bezeichnete. Aber Avantgarde und Alternativkultur waren ebenfalls Anschuldigungen ausgesetzt; ihnen wurde Blasphemie, Sinnlichkeit und Unmoral vorgeworfen.
Konservative verteidigten keine spezielle »traditionelle« Kultur. Kaiser Wilhelm II. beschwor in seiner berüchtigten Attacke auf die angebliche »Grenzenlosigkeit, Schrankenlosigkeit und Selbstüberhebung« der modernen Kunst die Antike und die Renaissance herauf, deren »Schönheit« und »Harmonie« er pries. Der einzige Künstler, den er namentlich erwähnte, war der Bildhauer Reinhold Begas, unter dessen Leitung die Skulpturen der schauerlichen Siegesallee in Berlin entstanden waren, die Wilhelm in seiner Rede besonders lobte.[191] Manche führten Goethe oder die griechische Antike gegen die »Dekadenz« der zeitgenössischen Literatur und Theaterkunst ins Feld. Doch viele dieser Kritiker, insbesondere die katholischen Moralapostel, kamen aus einer Kulturtradition, der Goethe schon lange als allzu sinnenfroh und – wie die antiken Griechen – »heidnisch« verdächtig war. Goethe war erst in den 1870er-Jahren als der deutsche Schriftsteller kanonisiert worden.[192] Es ist vielsagend, dass eine beeindruckende Schar von bildenden Künstlern, Schriftstellern und Kritikern im Jahr 1900 eine nach ihm als Goethe-Bund benannte Organisation gründete, um eine Verschärfung der Rechtsvorschriften gegen Obszönität, wie sie manche im Reichstag anstrebten, zu verhindern. Dank der Unterstützung von Linksliberalen und Sozialdemokraten hatte der Goethe-Bund mit seinem Anliegen Erfolg.[193] Noch unwahrscheinlicher war, dass die Kritiker modernistischer »Schrankenlosigkeit« sich auf Heinrich Heine als Beispiel »deutscher Kultur« beriefen; sie sahen in ihm vielmehr einen Repräsentanten einer bestimmten »undeutschen«, »jüdischen« Art zu schreiben.[194] Stattdessen beriefen sich Kritiker von avantgardistischer Moderne und Populärkultur auf »deutsche Klassiker«, aber was sie eigentlich verteidigten, waren verschiedene Formen fader Kunst: Salonkunst, die gefeierten Bilder des Hofmalers Anton von Werner, konventionelle zeitgenössische Theaterstücke der Hoftheater, Unterhaltungsliteratur, wie sie Familienzeitschriften mit ihren Serien pflegten, oder bukolische Heimatliteratur voller Blumen pflückender Mädchen.
Die Gegner von Avantgarde, Populär- und Alternativkultur drückten ihre Kritik häufig in nationalistischer Sprache aus. Sie verteidigten nicht einfach nur Kultur gegen Unmoral, sondern deutsche Kultur gegen schädlichen fremden Einfluss. Münchener Moralapostel, die sich stets recht lautstark zu Wort meldeten, verdammten Ibsens Vererbungstheorien.[195] Ausländische Dramatiker zu verurteilen, war wegen ihrer Berühmtheit durchaus üblich. Gleiches galt für die bildende Kunst. Harry Graf Kessler organisierte in seiner Zeit als Direktor des Weimarer Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe eine Ausstellung von Zeichnungen und Aquarellen Auguste Rodins, die dieser dem Großherzog mit einer persönlichen Widmung geschenkt hatte. Dazu gehörten auch Skizzen nackter Frauen, auf denen die Genitalien zu sehen waren. Im davon ausgelösten Skandal empörte sich ein Konservativer, die Bilder seien »so anstößig, dass wir unsere Frauen und Töchter warnen müssen, die Ausstellung zu besuchen«, und wetterte, es sei »eine Frechheit des Ausländers, unserem hohen Herrn so etwas zu bieten«.[196]
Frankreich war ein beliebtes Angriffsziel. Es war nicht nur ein Hort der Modernität, sondern hatte auch eine stagnierende Geburtenrate und wurde von Konservativen gewohnheitsmäßig mit Dekadenz und Unmoral in Verbindung gebracht. Das andere Land, über das geringschätzige Urteile gefällt wurden, waren die Vereinigten Staaten. Im Unterschied zur französischen Schwesterrepublik machten sie jedoch eine entschieden dynamische Entwicklung durch, aus konservativer Sicht allerdings in der falschen Richtung – zu mehr Materialismus, Vulgarität und Gewalttätigkeit. Die Architektur amerikanischer Großstädte wurde ebenso geschmäht wie die Kultur, für die sie stand. Wenn Konservative nach einem Beispiel für moderne mechanisierte Seelenlosigkeit suchten, dann fiel ihnen stets Amerika ein. Die Welt werde »hässlicher, künstlicher, amerikanischer mit jedem Tag«, beklagte sich der Musikprofessor Ernst Rudorff, der Deutschlands wichtigste Heimatschutzorganisation gegründet hatte.[197] Amerikanische Tanzmusik wurde weithin verachtet, ebenso wie das Medium der Massenunterhaltung, das immer mehr mit den Vereinigten Staaten assoziiert wurde, das Kino. Die »Kinosucht«, warnte ein Kritiker, gefährde die »Volkskraft«.[198]
Konservative waren auch in der Kultur, wie in der Wirtschaft, Protektionisten und fürchteten sich vor »Importen«. Und sie hatten viel zu fürchten. Dass argentinische Musik nach Deutschland kam, war schwerer zu verhindern als die Einfuhr von argentinischem Rindfleisch, und amerikanische Tänze waren schwerer aufzuhalten als amerikanisches Schweinefleisch. Die Lebensreformer bedienten sich selektiv bei allen möglichen ausländischen Vorbildern. Und was die modernistische Avantgarde anging, orientierten sich die Maler an Frankreich, die Dramatiker an Skandinavien und die Architekten an Großbritannien und Amerika. Hinzu kamen unzählige institutionelle Anleihen. Die Freie Bühne war nach dem Vorbild des Pariser Théâtre Libre entstanden, Albert Langens in München erschienene Zeitschrift Simplicissimus nach demjenigen der französischen Zeitschrift Gil Blas und Herwarth Waldens Sturm nach demjenigen der italienischen Zeitschrift La Voce. Das Element des kosmopolitischen kulturellen Austauschs ist hier ebenso unverkennbar wie im Fall solch wichtiger Kulturvermittler wie Harry Graf Kessler und Paul Cassirer.
Aber ganz so einfach lagen die Dinge nicht. Nicht nur wurden die ausländischen Modelle, wie schon häufiger bemerkt, im Zuge selektiver Aneignung angepasst und verändert. Die ausgetauschten Ideen waren auch nicht immer kosmopolitisch. Im Diskurs mancher Reformer tauchten dubiose Hygienevorstellungen auf, und der »Selbstausdruck« der Jugend, den Wedekind und andere predigten, nahm in Teilen der Jugendbewegung antisemitische Züge an. Auch schloss der Internationalismus der Moderne Chauvinismus nicht aus. Der sezessionistische Maler Lovis Corinth bewunderte Manet und Cézanne, betonte in Vorträgen aber die Notwendigkeit, die deutsche Kunst vor der Kontaminierung durch gallische Moden zu schützen.[199] (Cézanne belegte seinerseits, indem er sich im großen Streit, der Frankreich spaltete, auf die Seite der »Anti-Dreyfusianer« schlug, dass künstlerische Größe nicht notwendigerweise mit liberalen Ansichten einhergeht.) Corinth war nicht allein. Auch das zeitgenössische Verständnis des deutschen Expressionismus hatte nationalistische Untertöne.
Noch etwas anderes kommt hinzu: Während der kulturelle Austausch über nationale Grenzen hinweg in den Jahren vor 1914 rasant zunahm, wurde die Kultur gleichzeitig zu einem Feld des Wettstreits zwischen Nationen. Dies war eine weitere Parallele zwischen Kultur und Wirtschaft. Genauer gesagt, waren beide Bereiche häufig verknüpft. Ein Beispiel ist das moderne Design. In Deutschland trafen Designtrends aus aller Welt zusammen. Durch Vermittlung von Hermann Muthesius, der von 1896 bis 1903 Attaché an der deutschen Botschaft in London war, fand die englische Arts-and-Crafts-Bewegung Eingang in Deutschland. Muthesius kehrte als begeisterter Anhänger von englischem Design und englischer Architektur aus London zurück und beteiligte sich am Aufbau des 1907 gegründeten Deutschen Werkbunds. Aber modernes Design gelangte auch über die mit Kesslers Freund Henry van de Velde assoziierte Art-nouveau-Bewegung nach Deutschland, wo sie Jugendstil genannt wurde. Verfechter dieser beiden rivalisierenden Richtungen der Moderne verstrickten sich in einen Dauerkonflikt. Ausgetragen wurde er im Werkbund – mit paradoxem Ausgang: An rein ästhetischen Kriterien gemessen – und mit dem Vorteil der Rückschau gesehen –, hat van de Veldes Fraktion den Sieg davongetragen, denn sie nahm unverkennbar das Bauhaus vorweg, die berühmte deutsche Designschule der 1920er-Jahre. Van de Velde selbst wurde Direktor von deren Vorläufer, der Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule in Weimar. Aber auf kurze Sicht gewann Muthesius’ formal weniger experimentierfreudige Fraktion im Werkbund die Oberhand, weil sie – zu van de Veldes Entsetzen – auf standardisiertes Design und mechanisierte Produktion setzte, um den Weltmarkt bedienen zu können.[200] Mit dieser Strategie gelang es Deutschland in den Jahren vor 1914, Frankreich auf dem Gebiet der angewandten Kunst zu überholen.
Der kulturelle Wettbewerb wurde an vielen Orten ausgetragen. Die Weltausstellungen, eine Gelegenheit sowohl für kulturelle als auch für wirtschaftliche Selbstdarstellung, waren einer von ihnen. Universitäten waren ein anderer. Einst war es selbstverständlich gewesen, dass Deutschland das Land war, in das es ausländische Studenten zog. Aber am Anfang des neuen Jahrhunderts ging ihre Zahl zurück, zum Teil weil sich Widerstand gegen ihren Zuzug regte, während Frankreich und die Vereinigten Staaten sich erfolgreich darum bemühten, ausländische Studenten ins Land zu holen. Der Verleger Paul Salvisberg, ein Experte für die höhere Bildung, schlug 1913 in einem Aufsatz deswegen Alarm. Ausländische Studenten, erklärte er, trügen zur Verbreitung vom »deutschen Gedanken in der Welt« bei.[201] Die Formulierung stammte von dem früheren Kolonialbeamten und Autor zu Kolonialthemen Paul Rohrbach, der im Jahr zuvor ein Buch dieses Titels geschrieben hatte. Es ist ein in vieler Hinsicht beschränktes Buch, das sich in bombastischem Tonfall überwiegend mit materiellen Dingen befasst. Rohrbach spricht vom »deutschen Gedanken« und von »kultureller Einwirkung«, ohne auch nur einen einzigen deutschen Schriftsteller, Philosophen oder bildenden Künstler zu erwähnen. Sein Kulturverständnis ist rein transaktional. Seine Sorge galt dem deutschen Einfluss, den »moralischen Eroberungen«, und er beklagte, dass Briten und Franzosen im Ausland eine bessere Presse hatten als Deutsche. Als Lösung empfahl er eine »deutsche Kulturpolitik in der Welt«.[202]
In den Jahren vor 1914 begannen deutsche Herrscher, wenn auch zögerlich, diesen Rat zu befolgen, zum Teil in Nachahmung Frankreichs, wo die »Zivilisierungsmission« – wie der Kolonialismus – als Kompensation für die Niederlage von 1870/71 diente. Insbesondere Wilhelm II. bemühte sich um Kulturdiplomatie, solange sie in der Form großer Gesten stattfand. Ein erwähnenswertes Beispiel war die Gründung des Germanischen Museums in Harvard. Die Idee ging auf Harvard-Professor Kuno Francke zurück, den bereits erwähnten späteren Herausgeber einer zwanzigbändigen Reihe deutscher Klassiker, der dem amerikanischen Publikum die Leistungen der deutschen bildenden Kunst zeigen wollte. Er sprach mit dem deutschen Botschafter in Washington über seine Idee, und dieser unterbreitete sie dem Auswärtigen Amt in Berlin. Der Kaiser war begeistert und kümmerte sich persönlich um die Verschiffung von Gipsabdrücken von Statuen, Kirchentüren und anderen Artefakten. Sein jüngerer Bruder, Prinz Heinrich, erhielt die Ehrendoktorwürde von Harvard und die Universität ein Kunstmuseum, das 1903 eingeweiht wurde und anfangs in einer alten Sporthalle untergebracht war, bis eine Spende des Brauunternehmens Anheuser-Busch aus St. Louis den Bau eines neuen Gebäudes ermöglichte.[203] Dies blieb jedoch eine Ausnahme, obwohl manche in der Regierung dafür plädierten, mehr zu tun. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg war sehr angetan von dem, was der französische Nationalist Edmond Rostand 1913 »Imperialismus des Gedankens« genannt hatte. Aber eine systematische Kulturdiplomatie betrieb Deutschland in der Vorkriegszeit nicht.[204]
1905 verfolgten Harry Graf Kessler und sein englischer Malerfreund William Rothenstein eine eigene, von ihren Regierungen unabhängige Kulturpolitik. Sie sammelten Unterschriften von deutschen und englischen Größen aus Kunst und Literatur unter offenen Briefen, in denen Bewunderung für die Kultur des jeweils anderen Landes ausgedrückt und die zunehmende Feindseligkeit zwischen ihnen während der wegen Marokko ausgebrochenen diplomatischen Krise bedauert wurde. Die Briefe erschienen im Januar 1906 in der Londoner Times und mehreren deutschen Zeitungen. Die Liste der Unterzeichner war beeindruckend. Aber Kessler und Rothenstein waren auch auf Schwierigkeiten gestoßen. Manche hatten ihr Ansinnen rundheraus abgelehnt, andere hatten zweideutig reagiert oder Textänderungen verlangt. Gerhart Hauptmann setzte durch, dass in Bezug auf die negative Berichterstattung der deutschen Presse über den Burenkrieg anstatt von »tiefem Bedauern« nur noch von »Bedauern« gesprochen wurde.[205] Schon 1906 und unter Kulturschaffenden, welche die Parolen der krassen Chauvinisten im eigenen Land ablehnten, herrschte ein gewisses Misstrauen gegenüber den Absichten der anderen, das es zuvor nicht gegeben hatte.
Daran änderte auch die Vertrautheit mit der Kultur der anderen nicht unbedingt etwas. In den Jahren nach 1900 lebten in Heidelberg viele Engländer und in Oxford viele Deutsche.[206] Einige der führenden antideutschen Stimmen in der britischen Öffentlichkeit sprachen Deutsch und kannten die deutsche Kultur gut. Die Times-Journalisten Wickham Steed und George Saunders hatten beide in Deutschland studiert. Eyre Crowe, Autor einer berühmten Denkschrift des Außenministeriums, in der vor Deutschlands Großmachtambitionen gewarnt wurde, hatte eine deutsche Mutter, war in Deutschland aufgewachsen und hatte eine deutsche Cousine geheiratet.[207] Umgekehrt war man auf deutscher Seite in höheren Kreisen mit der britischen Kultur vertraut. So wie die Briten ihre Goethe Society hatten, betrachteten Deutsche Shakespeare als einen der Ihren. Bethmann Hollweg schickte seinen ältesten Sohn nach Oxford. Noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs betonte der Oberbürgermeister von Berlin, Adolf Wermuth, der 1890, nachdem Großbritannien Helgoland an Deutschland abgetreten hatte, als »kaiserlicher Kommissar« den Übergang der Zivilverwaltung der Insel geleitet hatte, die »zahllosen Fäden« der Gemeinsamkeit, »die das geistige Leben Deutschlands und Englands in Wissenschaft, Kunst und Literatur durchziehen«.[208] Aber was bewirkte all dies? Denn ebenso wenig, wie der zunehmende politische Gegensatz zwischen den beiden Ländern den fortdauernden kulturellen Austausch beendete, verhinderte die kulturelle Vertrautheit die Vergrößerung der politischen Kluft.[209] Sogar der von Geburt und Erziehung halb englische Harry Graf Kessler, zugleich der vielleicht größte deutsche Frankophile seiner Zeit, teilte den verbreiteten Argwohn gegenüber den britischen Absichten und war besorgt über den zunehmenden Nationalismus in Frankreich.
Nach der dritten Londoner Aufführung von Kesslers geistigem Kind, Josephs Legende, schrieb er an seine Schwester: »Die Anwesenheit der gesamten königlichen Familie war zu erwarten, aber unter den gegebenen Umständen (Ermordung des österreichischen Thronfolgers) konnten sie nicht kommen.« Er war zu diesem Zeitpunkt nicht allzu beunruhigt über die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand, aber im Juli 1914 traf er Vorbereitungen für die Übersiedlung von Mutter und Schwester nach England und machte sich Sorgen über seinen Schwager, der kurz davor stand, eine französische Uniform anzulegen, bevor er selbst sich der deutschen Artillerie-Munitionskolonne anschloss, die er befehligte.[210]
Kessler überlebte den Krieg. Viele andere aus seiner Welt hatten weniger Glück. Max Dauthendey wurde von den Niederländern auf Java interniert und starb an Malaria. Frank Wedekind starb, von der Lebensmittelknappheit während des Krieges geschwächt, nach einer Routineoperation. Der expressionistische Maler August Macke fiel im September 1914 in Frankreich. Sein Freund und Kollege Franz Marc kam zwei Jahre später in Frankreich ums Leben. Käthe Kollwitz’ jüngerer Sohn, Peter, fiel im Oktober 1914, für sie ein Verlust, auf den sie in ihren Kriegstagebüchern immer wieder zurückkam.[211] Der expressionistische Dichter Ernst Stadler fiel im selben Monat in der Ypernschlacht. Ein anderer expressionistischer Dichter, August Stramm, schrieb im Februar 1915: »Aber ein Grauen ist in mir ein Grauen ist um mich wallt wogt umher, erwürgt verstrickt, es ist nicht mehr rauszufinden.«[212] Er wurde später im selben Jahr an der Ostfront getötet. Friedrich von Bethmann Hollweg, der Sohn des Reichskanzlers, fiel im Dezember 1914 an der Ostfront; zwei Jahre später verlor Raymond Asquith, der älteste Sohn des britischen Premierministers, an der Somme sein Leben. Beide hatten am Balliol College in Oxford studiert. Ein anderer junger Engländer, der aufstrebende Komponist Edward Brittain, hatte einen Studienplatz in Oxford, als er im Juli 1914 die Schule beendete, und träumte davon, später an einem deutschen Konservatorium zu studieren, in Dresden oder Leipzig. Er fiel an der italienischen Front, wie seine ältere Schwester Vera in einem der großen Bücher, die nach dem Krieg erschienen, voller Trauer festhielt, dem Testament of Youth, ihrer erschütternden »Anklage gegen eine Zivilisation«. Der Krieg hatte ihr ihren Bruder, ihren Verlobten und zwei ihrer engsten Freundinnen genommen. Als er vorüber war, »begann ein neues Zeitalter; aber die Toten waren tot und würden niemals zurückkehren«.[213]