Deutschland und die Weltgeschichte, 1939 – 1949
Am Morgen des 1. September 1939 fielen deutsche Truppen von Norden, Süden und Westen in Polen ein. Am Abend zuvor hatten Deutsche in polnischen Uniformen einen grenznahen deutschen Sender unter ihre Kontrolle gebracht und antideutsche Parolen gesendet. Mit diesem Täuschungsmanöver sollte der Krieg gerechtfertigt werden. Mit Giftspritzen getötete und in deutsche Uniformen gesteckte KZ-Insassen lieferten den »Beweis« für die vermeintliche polnische Gräueltat. Hitler verkündete, die polnische Aggression habe ihm keine andere Wahl gelassen, als Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Da waren die ersten Schüsse des tödlichsten Konflikts der Menschheitsgeschichte, der bis zu seinem Ende mindestens 70 Millionen Todesopfer fordern sollte, bereits gefallen. Unter den Toten des Krieges waren die Opfer des Holocausts und eines deutschen Besatzungsregimes in Osteuropa, das auf systematischer Aushungerung der Zivilbevölkerung beruhte. Das wechselnde Kriegsglück brachte das Leid schließlich zur deutschen Zivilbevölkerung zurück, die zum Ziel von Flächenbombardements wurde und zu Millionen aus dem Osten floh oder vertrieben wurde. Sie reihten sich ein in das riesige Flüchtlingsheer in einer Welt sogenannter Displaced Persons. Das besetzte, in Trümmern liegende Deutschland, in das sie flohen, war das Ergebnis von Hitlers Hybris. Statt eines unter deutscher Herrschaft vereinten Europa hinterließ er ein geteiltes Deutschland unter alliierter Kontrolle. In einem klaren Augenblick kurz vor seinem Selbstmord im April 1945 erkannte Hitler, dass nach Deutschlands Niederlage nur noch zwei Großmächte einander gegenüberstanden.[1] Seine eigene Politik hatte dazu geführt.
Im Spätsommer 1939 hatten Großbritannien und Frankreich Polen ihre Unterstützung zugesagt. Zwei Tage nach dem Überfall auf Polen erklärten sie Deutschland den Krieg, griffen aber nicht militärisch ein. Sie hofften immer noch auf einen Kompromissfrieden. Die polnische Armee wurde von überlegenen deutschen Verbänden vernichtet und die Bevölkerung mit Terrorbombardements in Angst und Schrecken versetzt. Aus Washington drängte US-Präsident Roosevelt die Kriegführenden vergeblich, »unter keinen Umständen Bombardements aus der Luft auf Zivilbevölkerungen oder befestigte Städte zu unternehmen«.[2] Am 10. September erlebte Warschau 17 Luftangriffe an einem einzigen Tag. Polen war im Grunde besiegt, bevor sowjetische Truppen am 17. September, gemäß einem Abkommen mit Deutschland, von Osten her in Polen einmarschierten. Anfang Oktober endeten die Feindseligkeiten, und auf dem Titelblatt der Zeitschrift Time erschien das lächelnde Gesicht von General Walther von Brauchitsch, des deutschen Oberkommandierenden, über der nüchternen Feststellung: »An ihm hing der Feldzug«. In dessen Verlauf ermordeten Wehrmachtsangehörige Kriegsgefangene, griffen deutlich gekennzeichnete Erste-Hilfe-Stationen an und übten brutale Vergeltung für zivilen Widerstand. Außerdem schauten deutsche Offiziere, mit wenigen Ausnahmen, beiseite, was die Tätigkeit der SS-Einsatzgruppen betraf, die hinter der Front zielgerichtet gegen die politische und geistige Elite Polens vorgingen. Die Einsatzgruppen töteten nicht weniger als 60 000 Zivilisten, darunter 7000 polnische Juden. Es war ein Vorzeichen des Kommenden.
Der Kriegsausbruch markierte das Ende der »zwanzigjährigen Krise«, die mit den Friedensverträgen von 1919 begonnen hatte.[3] Bei dieser Sichtweise wird unterstrichen, dass der zweite Krieg aus dem ersten hervorging. Der erste globale Konflikt und seine Folgen hatten mehr als genug Sprengstoff hervorgebracht, um einen zweiten zu entzünden. Vor 1914 waren Österreich-Ungarn und Deutschland die Staaten, in denen unzufriedene Minderheiten lebten; nach 1919 standen die neuen »Nachfolgestaaten« in Mittel- und Osteuropa vor diesem Problem. In ihnen allen lebten ethnische Minderheiten von beachtlicher Größe, und sie lagen miteinander über den Grenzverlauf zwischen ihnen im Streit – Rumänien mit Ungarn, Ungarn mit der Tschechoslowakei, die Tschechoslowakei mit Polen. Daneben gab es die Deutschen, die größte Minderheitengruppe im Europa der Zwischenkriegszeit. Nach dem Versailler Vertrag lebten 13 Millionen Deutsche in Europa außerhalb Deutschlands, die Hälfte von ihnen in Österreich, die andere Hälfte zerstreut über Italien, Polen, das Baltikum, Rumänien, die Tschechoslowakei – wo mehr Volksdeutsche lebten als Slowaken – und das Königreich Jugoslawien.[4] 1930 stellten Deutsche nahezu ein Viertel aller in Mitteleuropa lebenden Minderheitenangehörigen, auch wenn sie sich nicht unbedingt miteinander identifizierten: So sahen in Westpolen lebende Deutsche auf ihre Landsleute in östlichen Regionen, wie Galizien, herab und hielten sie für zurückgeblieben und »entnationalisiert«.[5] Theoretisch genossen sie alle den Minderheitenschutz des Völkerbunds. In der Praxis wurden sie je nach Ort unterschiedlich behandelt, in Lettland und Estland besser als in der Tschechoslowakei, in der Tschechoslowakei besser als in Polen. Ihre Beschwernisse, die realen wie die eingebildeten, nutzte Hitler als Keil, mit dem er den Versailler Vertrag auszuhebeln versuchte.
Die Nachkriegsregelungen waren auch in anderer Hinsicht potenziell destabilisierend. Deutschland war trotz seiner Gebietsverluste nicht geteilt und – dank des Zusammenbruchs der Reiche im Osten – tatsächlich eine stärkere Macht in Mitteleuropa als 1871. Gleichzeitig verhalf die Ablehnung des Versailler Vertrags Hitler an die Macht; sein Versprechen, dessen Vorschriften zu revidieren, kam in breiten Kreisen gut an. In Großbritannien stand man den deutschen Forderungen mit einem gewissen Verständnis gegenüber. Dies war nur einer der Umstände, die Hitlers immer aggressiver werdender Politik zugutekamen. Die Vereinigten Staaten zogen sich in die Isolation zurück. Großbritannien und Frankreich waren durch den Krieg ökonomisch geschwächt und damit beschäftigt, ihre Kolonialreiche zu erhalten. Zudem lehnte die Öffentlichkeit beider Länder Militärausgaben ab. Daher waren sie zu fast jedem Zugeständnis bereit, um einen weiteren Konflikt zu vermeiden. Die Aussicht auf Luftangriffe war eine neue Quelle der Angst. Ein britischer Militärstratege sagte voraus, dass in der ersten Kriegswoche 250 000 Menschen bei Luftangriffen ums Leben kommen würden – tatsächlich sollte der deutsche »Blitz« insgesamt 40 000 britische Todesopfer fordern. Auch der Antibolschewismus war ein wichtiger Faktor, weil er eine günstige britische und französische Antwort auf sowjetische diplomatische Fühlungnahmen so gut wie ausschloss. Stalins Säuberung der Roten Armee brachte westliche Entscheidungsträger zu der Überzeugung, dass die Sowjetunion nur wenig an den Verhandlungstisch zu bringen hätte. All dies bestärkte sie in ihrer Appeasementpolitik gegenüber Hitler.
Hitler nutzte diese Schwächen aus. Außerdem profitierte er von der Unfähigkeit des Völkerbunds, eine Antwort auf das in den 1930er-Jahren immer aggressivere Auftreten von Staaten zu finden, die schließlich Deutschlands Verbündete werden sollten – von Italien in Abessinien und Japan in der Mandschurei. Hinzu kam, dass er durch sein eigenes Handeln die Machtlosigkeit des Völkerbunds bloßstellte. Deutschland zog sich im Oktober 1933 aus dem Völkerbund zurück. Zwei Jahre später gab Hitler öffentlich bekannt, dass Deutschland in großem Stil aufrüstete – was unter eklatantem Bruch des Versailler Vertrags tatsächlich schon seit einiger Zeit geschah. Angesichts der deutschen Pläne schlossen Großbritannien, Frankreich und Italien hastig ein Bündnis, die Stresa-Front, die allerdings nur ein halbes Jahr hielt: Im Juni 1935 verärgerte Großbritannien Frankreich und Italien, indem es ein Flottenabkommen mit Deutschland unterzeichnete, und im Oktober verärgerte Italien Großbritannien und Frankreich, indem es in Abessinien einmarschierte. Damit war die Stresa-Front am Ende. Als Deutschland im folgenden Frühjahr das Rheinland besetzte, löste es keine Reaktion aus. Was folgte, gehört zu den düstersten und bekanntesten Ereignissen in der neueren Geschichte. Im März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein, das zu einem Teil des Großdeutschen Reichs wurde. Österreichische Apologeten verwiesen später auf diesen Augenblick, wenn sie ihr Land als »erstes Opfer des Nationalsozialismus« bezeichneten, obwohl der Jubel, mit dem die deutschen Soldaten empfangen wurden, eine andere Deutung nahelegt. Als Nächstes wandte sich Hitler der Tschechoslowakei zu, indem er die vermeintlichen Nöte der deutschen Minderheit beschwor. Der auf die Regierung in Prag ausgeübte Druck – direkt von Deutschland und indirekt von Großbritannien und Frankreich – führte zu dem berüchtigten Münchener Abkommen von September 1938, als die Tschechoslowaken dazu gebracht wurden, auf ein Drittel ihres Territoriums und ihrer Bevölkerung sowie zwei Fünftel ihrer Industrie zu verzichten. Die Taktik, die Westmächte einzuspannen, um die Vorschriften des Versailler Vertrags zu revidieren, war keineswegs neu: Gustav Stresemann hatte sie in Locarno angewandt, und sie wäre in den 1930er-Jahren von jeder deutschen Regierung verfolgt worden. Aber Hitler wandte sie mit verwegener Aggressivität an und war typischerweise sogar enttäuscht, als die Briten und Franzosen nachgaben, weil er sich um den Triumph in dem von ihm angestrebten kurzen Krieg betrogen fühlte.[6]
»Ganz besonders über die neuen, schönen Reiseziele ›Ostmark‹ und ›Sudetengau‹ finden Sie alles Wissenswerte im Reisebüro«, warb ein Reisebüro für Ausflüge in die neu ins Reich eingegliederten Territorien Österreichs und der Tschechoslowakei.[7] Die Hügellandschaft des Sudetenlandes war sowohl strategisch bedeutsam als auch malerisch. Zu den Vermögenswerten, welche die Tschechoslowakei in München aufgeben musste, gehörte eine verteidigbare Grenze. Das war wichtig, weil Hitler ein halbes Jahr später einen internen Konflikt zwischen Tschechen und Slowaken nutzte, um in die Tschechoslowakei einzumarschieren und sie als unabhängigen Staat zu zerstören. Stattdessen teilte er sie in das sogenannte »Protektorat Böhmen und Mähren« und einen slowakischen Satellitenstaat auf. Polen und Ungarn ergriffen die Gelegenheit, sich ebenfalls Teile der Tschechoslowakei einzuverleiben. Der Völkerbund sah, wie gewohnt, tatenlos zu. Auch Großbritannien und Frankreich unternahmen nichts. Nun, etwas taten sie doch: Von Hitlers anscheinend grenzenlosem Appetit beunruhigt, übernahmen sie eine Garantie für die Unabhängigkeit Polens und Rumäniens, allerdings nicht für deren territoriale Integrität, was potenziell die Tür für ein weiteres »München« öffnete. Stalin schlug aus Sorge über die deutschen Absichten und Misstrauen den westlichen Demokratien gegenüber ein Bündnis zwischen Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion vor, das den territorialen Status quo in Osteuropa garantieren sollte. Die Gespräche zogen sich hin, da der Westen vor dem Bündnis zurückschreckte und Polen befürchtete, ein Abkommen würde sowjetischen Truppen erlauben, polnisches Territorium zu durchqueren. Dann explodierte die Bombe, dass die beiden Diktatoren sich zusammengetan und am 23. August 1939 einen Nichtangriffspakt geschlossen hatten. Nachdem der Kommunismus und der Nationalsozialismus vertraglich eine Zweckehe eingegangen waren, bemerkte ein Mitarbeiter des britischen Außenministeriums, alle »isms« seien zu »wasms«, also Vergangenheit, geworden.[8] Vom Foreign Office kann man immer einen guten Witz erwarten – wenn auch nicht unbedingt viel mehr, hätten Tschechen und Polen als Erste einstimmen können. Neun Tage nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Pakts fiel die deutsche Wehrmacht in Polen ein.
Hitler war ein Spieler. Seine Entscheidungen lösten bei hohen Wehrmachtsoffizieren Entsetzen aus. Sie teilten zwar die Ziele der Aufrüstung und der Revision des Versailler Vertrags, fanden aber, dass er zu schnell vorging. Hitler konnte aber auch taktische Raffinesse an den Tag legen und Dinge tun, mit denen er seine Gegner auf dem falschen Fuß erwischte, wie einen Nichtangriffsvertrag mit Polen (1934) oder ein Flottenabkommen mit Großbritannien (1935) schließen. Es gab keinen zum Krieg hinführenden »Stufenplan«. Bei den Wirtschafts- und Rüstungsplanungen für einen künftigen Krieg rechnete man zumeist mit dessen Beginn in den frühen 1940er-Jahren, nicht 1939. Aber dass es Krieg geben und Deutschland ihn beginnen würde, war – insbesondere nach 1936 – so gut wie sicher. Der Anteil der Militärausgaben am Staatshaushalt wuchs zwischen 1933 und 1938 von 4 auf 50 Prozent. Zu diesem Zeitpunkt wurde nicht weniger als ein Viertel des Volkseinkommens für die Rüstung ausgegeben.[9] Auch die Wirtschaftspolitik zeigte die aggressive Absicht des NS-Regimes: durch die Weigerung, Auslandsschulden zu begleichen, strenge Devisenkontrollen und die Steigerung der Produktion von Ersatzstoffen wie Kunstkautschuk und synthetischem Kraftstoff, um Deutschland autarker zu machen. Aber selbst die leistungsstarke chemische Industrie des Landes konnte nicht einmal annähernd dessen Bedarf an diesen strategisch wichtigen Stoffen decken. Gleichzeitig führte die umfangreiche Aufrüstung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Lebensstandards und Umsetzung der auf Autarkie abzielenden Wirtschaftspolitik zu Problemen: zu steigenden Schulden, Devisenknappheit und Inflation. Ursache dieser Probleme war die zunehmende Ausrichtung der Wirtschaft auf einen Krieg, der zugleich als ihre Lösung angesehen wurde.
Welche Art von Krieg war gemeint? In einer frühen Szene des Spielfilms Deutschland, bleiche Mutter (1980) von Helma Sanders legt ein skeptischer Zeitungsredakteur, ein früherer Sozialist, seine Hände auf einen Globus und sagt nachdenklich: »Das da ist Deutschland. Mit meinem Daumen kann ich es zudecken«, woraufhin ein junger Nationalsozialist verächtlich ausruft: »Wir werden die Welt beherrschen!« Die Nationalsozialisten redeten viel von »der Welt«, weshalb der Philologe Victor Klemperer das Wort in dem von ihm geplanten Buch über den NS-Jargon behandeln wollte.[10] Das Dritte Reich strebte 1939 große Ziele an. Hitler war nicht einfach nur ein Versailles-»Revisionist«, ein hyperaggressiver Nachfolger Stresemanns. In Deutschland war wie in Japan ein »systemsprengendes« Regime an der Macht, das den internationalen Status quo infrage stellte. Und Hitler war kein bloßer »Grenzpolitiker«, dem es hauptsächlich um Grenzänderungen ging, sondern ein »Raumpolitiker«, der in weiträumigen geopolitischen Begriffen dachte.[11] Rasse und Raum gehörten bei den NS-Kriegszielen zusammen. Mittel- und Osteuropa sollte sowohl als »Lebensraum« für ein deutsches »Volk ohne Raum« dienen als auch Lebensmittel und Rohstoffe liefern. All dies führte Hitler in einem zweistündigen Monolog aus, dem er am 5. November 1937 die Wehrmachtsführung aussetzte. Sein Militäradjutant machte Notizen, die er dann zur sogenannten Hoßbach-Niederschrift ausarbeitete. Historiker haben später darüber gestritten, ob Hitlers Worte einen konkreten Kriegsplan enthielten, also die Blaupause für eine Aggression, aber zwei Punkte sind sicher: seine weitreichenden kontinentalen Ambitionen, die seine Zuhörer, wie er vorausgesehen hatte, schockierten, und die Betonung der ökonomischen Notwendigkeit der deutschen Vorherrschaft in Europa.[12] Er sah Deutschland auf der Welt im Wettstreit mit dem britischen Empire und den immer mächtiger werdenden Vereinigten Staaten.[13] Seine Reden und privaten Äußerungen wimmeln von ebenso feindseligen wie neiderfüllten Vergleichen mit beiden. Eine beherrschende Stellung auf der eurasischen Landmasse würde es Deutschland erlauben, wirkliche Weltpolitik zu betreiben. Das Z-Plan genannte Flottenrüstungsprogramm vom Januar 1939 sah eine Kriegsflotte von 800 Schiffen vor, und im Luftfahrtministerium dachte man bereits über den Bau von Langstreckenbombern nach, die in der Lage wären, die Vereinigten Staaten zu erreichen.[14] Zuvor würde Deutschland allerdings die Sowjetunion besiegen müssen.
Die Unterwerfung Polens im Herbst 1939 war der erste einer ununterbrochenen Reihe militärischer Erfolge zu Kriegsbeginn. Aber es gab keine unmittelbare Fortsetzung. Stattdessen folgte eine Phase militärischer Untätigkeit, von den Briten »bore war« (langweiliger Krieg), von den Franzosen »drôle de guerre« (komischer Krieg), von den Amerikanern »phony war« (unechter Krieg) und von den Deutschen »Sitzkrieg« genannt. Hitler hoffte, Großbritannien und Frankreich würden Polen fallenlassen und sich zu Verhandlungen bereitfinden, die Generäle fürchteten die Stärke des Gegners im Westen, und Deutschland war immer noch dabei aufzurüsten. Hitler stand mehrmals kurz davor, eine Offensive im Westen anzuordnen, sah aber jedes Mal davon ab. Der kühne Plan, den man dann umsetzte, wurde sogar erst im Februar 1940 beschlossen. Den ersten Schritt unternahm Deutschland anderswo, als es im April einen Präventivangriff gegen Dänemark und Norwegen startete, um zu verhindern, dass die Alliierten die Gewässer im Norden verminten, um Deutschland von Erzlieferungen aus Skandinavien abzuschneiden. Im Mai und Juni folgte ein erschreckend schneller Sieg über die Niederlande, Belgien und Frankreich. Dass Frankreich binnen weniger Wochen zusammenbrechen würde, hätte niemand gedacht, nicht einmal Hitler. Offenbar hatte es vergebens 20 Milliarden Francs für die Rüstung und die Maginot-Linie ausgegeben.
Helmuth James Graf von Moltke, ein Großneffe des Generalstabschefs im Ersten Weltkrieg und später eine prominente Figur im Widerstand, war damals Offizier der Abwehr. In den Briefen an seine Frau, Freya, kommentierte er Hitlers Meinungsumschwünge im Winter 1939/40 regelmäßig damit, dass ein »Unglück« abgeblasen oder eine »Katastrophe« aufgeschoben worden sei. Er erwartete eine deutsche Niederlage und war entsetzt über die französische Kapitulation, die er dem Oberbefehlshaber Maurice Gamelin zur Last legte, obwohl die Fäulnis und Spaltung in Frankreich tiefer reichte. Doch was immer die Gründe waren, Moltke musste jetzt mit dem »Triumph des Bösen« und der Bösartigkeit siegestrunkener Zivilbeamter rechnen.[15] Viele der 1,5 Millionen französischen Kriegsgefangenen wurden nach Deutschland gebracht. Wie die gefangenen britischen Soldaten, die nicht vom Strand von Dünkirchen evakuiert werden konnten, wurden auch sie zumeist, der Genfer Konvention von 1929 gemäß, korrekt behandelt. Die Ausnahme und in mancher Hinsicht ein Bindeglied zwischen dem deutschen Verhalten in Polen und dem, was an der Ostfront geschehen sollte, waren die Massaker an 1500 bis 3000 aus Westafrika stammenden französischen Soldaten im Mai und Juni 1940. Im Gedächtnis haften gebliebene Berichte über die »schwarze Schmach am Rhein« mögen dabei eine Rolle gespielt haben, obwohl es jüngere Tiraden von Joseph Goebbels gab über »schwarze Tiere« in Uniform, die nur darauf warteten, mit ihren Macheten von Bäumen zu springen, um deutsche Soldaten anzugreifen.[16]
Der Sieg im Westen, zumal in dem Tempo und der Vollständigkeit, mit denen er erzielt wurde, war ein Propagandatriumph für Hitler, der ihn als »glorreichsten Sieg aller Zeiten« feierte.[17] In Dresden notierte Victor Klemperer, während die Welt für die in Deutschland verbliebenen Juden immer kleiner wurde, trübselig in seinem Tagebuch, er fürchte »Hitlers Nimbus der Unbesieglichkeit«.[18] Deutsche Truppen überrollten weiterhin alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Nachdem Mussolini im Oktober 1940 einen schlecht geplanten Angriff auf Griechenland unternommen hatte, sprang Deutschland in die Bresche, als sein italienischer Verbündeter gescheitert war. Im April des folgenden Jahres unterwarf die Wehrmacht erst in einem wahren Blitzkrieg Jugoslawien, dessen Hauptstadt Belgrad buchstäblich zerstört wurde, und dann Griechenland. Das einzige Haar in der Suppe war, dass es Deutschland während der Luftschlacht um England im vorangegangenen Sommer nicht gelungen war, die Lufthoheit zu gewinnen, was das Aus für die geplante Invasion und die Hoffnung auf einen K.-o.-Schlag bedeutete. Deutschland stellte durch Siege in Libyen im Frühjahr 1941 trotzdem eine Gefahr für Großbritannien dar. Hitler hatte vor, auf ihnen aufbauend den gesamten Nahen Osten unter seine Kontrolle zu bringen. Vorher wandte er sich jedoch einem Feldzug zu, der trotz des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts unvermeidlich zu sein schien.
Im Juni setzte Hitler das »Unternehmen Barbarossa« in Gang, den Überfall auf die Sowjetunion, die der ideologische Hauptfeind des NS-Regimes geblieben war. Damit hatte er die bedeutendste Entscheidung des ganzen Kriegs getroffen und einen Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts markiert. Er erwartete einen schnellen Sieg. Es würde ein »Sandkastenspiel« sein, glaubte er. Auch London und Washington erwarteten nach den überwältigenden Erfolgen im Westen und angesichts der durch Säuberungen geschwächten Roten Armee einen deutschen Sieg. Anfangs rückte die Wehrmacht auch triumphal nach Osten vor, wobei sie nicht weniger als drei Millionen Kriegsgefangene machte. Aber als der Sommer in den Herbst überging, waren ihre Linien überdehnt. Motorisierte Verbände kamen wesentlich schneller voran als Infanteriedivisionen oder die 625 000 Pferde, die auf deutscher Seite bei der Invasion eingesetzt wurden – auch wenn sie nie in Wochenschauen zu sehen waren, die sich ganz auf die mechanisierte »moderne« Kriegsführung konzentrierten.[19] Unerwartet starker sowjetischer Widerstand, große deutsche Verluste und liegen bleibende Panzer und andere motorisierte Fahrzeuge brachten den ersten Ansturm zum Erliegen, zumal der Nachschub immer schwieriger wurde und das Wetter umschlug. Im November spöttelte man in den höheren Rängen: »Feldzug im Osten des großen Erfolges wegen um einen weiteren Monat verlängert.«[20] Im nächsten Monat gelang es der Wehrmacht nicht, Moskau einzunehmen, und die Rote Armee ging zum Gegenangriff über. Die erste Kriegsphase der ununterbrochenen Reihe deutscher Erfolge war zu Ende.[21] Während die Wehrmacht erfolglos versuchte, Moskau zu erobern, brachte der japanische Angriff auf Pearl Harbor Amerika in den Krieg. Hitler nahm dies, entsprechend seiner wiederholt geäußerten Ansicht, Roosevelt sei der »Auserwählte des Weltjudentums« und daher der Erzfeind des deutschen Volks, zum Anlass, Amerika den Krieg zu erklären.[22] Der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten war wegen der beispiellosen Ressourcen, über die sie verfügten, wie im Ersten nun auch im Zweiten Weltkrieg ein entscheidender Moment.
1942 befand sich Deutschland in Kontinentaleuropa, einer Landmasse, die größer war als die Vereinigten Staaten, indes immer noch in einer beherrschenden Stellung. Selbst die neutralen Staaten beugten sich vor ihm. Zwar wünschte nur Francos Spanien einen deutschen Sieg, aber Portugal, die Schweiz, Schweden und die Türkei pflegten allesamt gegenseitig vorteilhafte Wirtschaftsbeziehungen zum Dritten Reich. Andere Länder passten auf die eine oder andere Weise in die von Hitler 1941 verkündete »Neuordnung« Europas. Es war ein ziemlicher Flickenteppich. Allein in Westeuropa gab es das »Modellprotektorat« (Dänemark), zivile Reichskommissare (Niederlande, Norwegen), Militärverwaltungen (Nordfrankreich, Belgien) und ein nominell unabhängiges Marionettenregime (Vichy-Frankreich). Nordfrankreich und Belgien erhielten später eine nationalsozialistische Zivilverwaltung, während Vichy-Frankreich ab November 1942 nicht einmal der Bezeichnung nach mehr eine »freie Zone« war. Auch in Osteuropa gab es ein Nebeneinander von Marionettenstaaten, dem Protektorat Böhmen und Mähren, zivil verwalteten Reichskommissariaten wie der Ukraine und dem direkten militärischen Besatzungsregime in Russland. Polen war ein Sonderfall, da seine Westgebiete von Deutschland annektiert wurden und der Rest als sogenanntes Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete eine zivile Verwaltung erhielt. Die Vielfalt deutet auf die verschiedenen, häufig miteinander konkurrierenden deutschen Stellen hin, die in irgendeiner Weise für annektierte, besetzte oder verbündete Territorien zuständig waren – Wehrmacht, Auswärtiges Amt, Ordnungspolizei – wegen ihrer Uniform »grüne Bataillone« genannt –, die SS mit ihren zahlreichen Zweigen und eine Vielzahl weiterer ziviler Verwaltungen, wie die Gauleitungen annektierter Gebiete, Görings Amt für den Vierjahresplan, das Ministerium für die besetzten Ostgebiete und die Organisation Todt, die überall in Europa Bauprojekte durchführte.
Das deutsch besetzte Europa 1941/42.
Was bedeutete dieser Flickenteppich? Eine Verallgemeinerung kann als gesichert gelten: Das Gewicht der deutschen Vorherrschaft war im Osten stärker zu spüren als im Westen. Dies galt sowohl für militärisch als auch für zivil verwaltete Gebiete, und es galt während des gesamten Kriegs. Eine zweite gesicherte Verallgemeinerung ist, dass die deutschen Besatzer Bevölkerungen, die sie als »germanischer«, also ihnen näherstehend betrachteten, weniger hart behandelten. Außerdem hing ihr Verhalten davon ab, auf wie viel Widerstand sie stießen. Aber der nützlichste Ansatz in Bezug auf das Muster der Verschiedenartigkeit ist vielleicht der Gedanke, sich die neue Ordnung in Europa als ein nationalsozialistisches Reich vorzustellen, das vor den gleichen Alternativen stand wie andere Reiche auch. Dieser Gedanke ist nicht neu; er stammt aus Hannah Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft von 1951. Antikoloniale schwarze Denker wie Frantz Fanon und Aimé Césaire vertraten dieselbe Ansicht. Césaire erklärte in Über den Kolonialismus (1950/55), die Deutschen hätten anderen Europäern angetan, was Europäer zuvor nur Arabern, Afrikanern und Indern angetan hätten. Das deutsch besetzte Europa als Reich zu betrachten, ist heute die vorherrschende Sichtweise.[23] Sie passt zu dem, was deutsche Akteure selbst gesagt haben. Goebbels sprach, wenn auch nicht öffentlich, von der Anwendung von »kolonialem« Vorgehen, und Generalgouverneur Hans Frank bezeichnete sein Herrschaftsgebiet im deutsch besetzten Polen als »Kolonie« und »Protektorat, eine Art Tunis«.[24] Hitler führte häufig Analogien zum britischen Empire an. Und hohe SA-Führer, die 1944 in Posen zu einer Tagung über die Ziele ihrer Organisation in den nächsten Jahren zusammengekommen waren, hörten daneben unter anderem Vorträge über »Herrschaft im Römischen Reich« und »Die Grundlagen des Britischen Empires«.[25]
Reiche, gleich welcher Gestalt und Größe, haben vier Dinge gemeinsam: Sie suchen sich örtliche Kollaborateure, beuten Ressourcen aus, hegen ein Gefühl rassischer Überlegenheit über die von ihnen Beherrschten und sind bereit, Gewalt anzuwenden. Die Gewichtung dieser Elemente unterscheidet sich von Reich zu Reich erheblich. In der nationalsozialistischen neuen Ordnung in Europa war sie extrem einseitig verteilt: Die Besatzer hatten mehr als in den meisten anderen Reichen die Möglichkeit, durch Kollaborateure zu herrschen, aber sie nutzten sie nicht. Stattdessen bildeten Ausbeutung, Rassismus und Gewalt die dominierenden Elemente.
An Kollaborateuren herrschte kein Mangel. Der Name des norwegischen Faschisten Vidkun Quisling, der sein Land von 1942 bis 1945 führte, ist zum Synonym für Kollaboration geworden, aber er war keineswegs der Einzige. Westeuropäische politische Eliten, Beamte und Akademiker kooperierten mit den Besatzungstruppen. Deshalb hielten sich im besetzten Paris nur 200 Deutsche dauerhaft auf und lag das Verhältnis zwischen deutschen Besatzern und Einheimischen in Dänemark bei 1 zu 43 000. Auch Geschäftsleute kollaborierten, manche sogar aus Überzeugung.[26] In Osteuropa sahen örtliche Eliten eine Gelegenheit, als Trittbrettfahrer deutscher Siege das Territorium ihrer Lände zu vergrößern (Ungarn und Bulgarien) oder sogar einen eigenen Staat zu gründen (Slowaken und Kroaten). Die Gründe für die Kollaboration waren vielfältig. 1939 bis 1941 schienen die Deutschen unaufhaltbar zu sein. Weshalb sollte man dann noch Widerstand leisten, zumal es seine Vorteile hatte, es nicht zu tun? Warum nicht auf den fahrenden Zug aufspringen? Man kann es Opportunismus nennen, ob nun ökonomischen oder politischen. Aber die Kollaboration hatte auch eine ideologische Dimension. Von Frankreich über Skandinavien bis zum Balkan hatten Europäer eigene Faschismen. Figuren wie Marcel Déat (Vichy-Frankreich), Léon Degrelle (Belgien) und Ion Antonescu (Rumänien) gelangten infolge der militärischen Erfolge der Deutschen zu einem politischen Einfluss, den sie ohne diese nie erreicht hätten. Für sie war es der Lohn ihrer Zugehörigkeit zu transnationalen faschistischen Netzwerken. Aber die ideologische Unterstützung ging über den Kreis überzeugter Faschisten hinaus. So wie die Nationalsozialisten in Deutschland die Unterstützung von Konservativen und Autoritären gewonnen hatten, deren Ansichten mit ihren zwar nicht völlig übereinstimmten, sich aber mit ihnen überlappten, so profitierten sie jetzt von einer europaweiten Enttäuschung über die liberale Demokratie, die viele angesichts von Weltwirtschaftskrise und Kommunismus für zahnlos hielten. Immerhin hatten französische Rechte in den 1930er-Jahren aus Hass auf die Volksfrontregierung unter Léon Blum die Parole ausgegeben: »Lieber Hitler als Blum«. Dass Blum Jude war, hatte den Hass bei Konservativen nur noch verstärkt. Der Antisemitismus war in der europäischen Rechten allgegenwärtig.
Die Anstrengungen, Deutschland als kulturellen Führer eines »neuen Europa« zu präsentieren, wurden während des Krieges intensiviert. Im Juni 1940 gab Hitler einem amerikanischen Journalisten ein Interview, in dem er über die Forderung »Europa den Europäern« sprach. Das deutsche Propagandaministerium veröffentlichte das Interview unter diesem Titel, weil es ihn für einen schlagenden Slogan hielt, mit dem man den Franzosen den Mantel des »kulturellen Internationalismus« entwinden konnte.[27] Etwa zur gleichen Zeit bot ein zufälliger Fund ein institutionelles Mittel dafür. Als deutsche Truppen 1940 Brüssel besetzten, beschlagnahmten sie sämtliche Akten der Union Internationaler Verbände (Union of International Associations, UIA), mitsamt Mitgliederkartei, Lochkarten und Konferenzdokumenten. Dieses Material wurde nach Deutschland geschickt – ein Beamter des Propagandaministeriums beklagte sich über einen »Überfluss an Schreibmaschinen und Büromöbeln« –, und die Deutsche Kongress-Zentrale (DKZ), die einst dafür zuständig gewesen war, deutsche Konferenzteilnehmer mit Devisen auszustatten, übernahm im Namen Deutschlands die Leitung dieser Netzwerke.[28] In derselben turbulenten Zeit der Jahre 1940/41 wurden, überwiegend auf Goebbels’ Betreiben, auch eine Union nationaler Journalistenverbände und ein Europäischer Schriftsteller-Verband gegründet. Nach dem Beginn des »Unternehmens Barbarossa« folgten ein Europäischer Jugendverband und ein Europa-Schachbund. Außerdem wurden Vorbereitungen getroffen, Berufsgruppen wie Rechtsanwälte europaweit zu organisieren. All dies war dem Bemühen geschuldet, die Herzen und Köpfe der Europäer für Deutschland als den Verteidiger der »europäischen« Zivilisation gegen den »jüdischen«, »asiatischen« Bolschewismus zu gewinnen. Es traf durchaus auf Widerhall.[29]
In Osteuropa, wo man unter dem Sowjetregime gelitten hatte – in Litauen, Lettland, Weißrussland und der Ukraine –, hatte der Antikommunismus auf die Menschen eine besonders direkte, emotionale Anziehungskraft. Von allen vier genannten Nationalitäten kämpften welche an der Seite Deutschlands gegen Stalin. Zu ihnen gesellten sich Armeen aus Rumänien, Ungarn, Italien und Finnland sowie Freiwilligeneinheiten aus den besetzten Ländern Frankreich, Belgien und Niederlande. Diese Einheiten waren keine symbolischen Kontingente. An »Barbarossa« nahmen neben drei Millionen deutschen Soldaten eine Million Nichtdeutsche teil. Später lag die Zahl nichtdeutscher Soldaten an der Ostfront zeitweilig sogar bei zwei Millionen.[30] In der Vergangenheit hatten Deutsche für das spanische und das britische Weltreich gekämpft, dann in Napoleons Grande Armée; jetzt kämpften andere für das Deutsche Reich.
Eine Untergruppe waren die Muslime. Die Verbindungen zwischen NS-Deutschland und Muslimen im Nahen Osten, die die Briten und Franzosen vertreiben wollten, sind seit Langem bekannt. Zu ihnen gehörten politisch denkende junge Offiziere wie Anwar as-Sadat in Ägypten, Politiker wie der Iraker Raschid Ali al-Gailani, der im April 1941 einen antibritischen Putsch anführte, und religiöse Führer wie der berüchtigte Großmufti von Jerusalem Amin al-Husseini.[31] Aber erst jüngst ist das volle Ausmaß der deutschen Mobilisierung von Muslimen für die Ostfront bekannt geworden. Insgesamt waren es 285 000, überwiegend Sowjetbürger, die über ihre Behandlung und die Behandlung des Islams, wie anderer Religionen, durch Stalin verärgert waren – Turkestaner (als größte Gruppe), Aserbaidschaner, Tataren, Kalmücken, Georgier und Ukrainer. Die Deutschen respektierten ihre Gebetszeiten und Speisevorschriften, verteilten den Koran und ordneten muslimischen Einheiten von Wehrmacht und SS ausgebildete Imame bei.[32]
Angesichts des verbreiteten Hasses auf die Sowjetunion und des nicht weniger verbreiteten Antisemitismus sowie des ebenso tiefen wie weithin geteilten Wunsches, mit den Deutschen zu kollaborieren, stellt sich die Frage, was schiefging. Warum gab es so viel Streit und Spannung selbst mit Verbündeten wie Quisling oder französischen Kollaborateuren wie Pierre Laval? Warum sicherte sich Deutschland nicht die Unterstützung eines so offensichtlich antisowjetischen Verbündeten wie der Ukraine? Warum stießen deutsche Maßnahmen auf solchen Widerstand? Eine Antwort lautet, dass das sich wandelnde Kriegsglück das Verhalten der Menschen beeinflusste. Dies trifft sicherlich zu. Schien Deutschland bis 1941 unbesiegbar zu sein, so galt dies in den Jahren danach nicht mehr. Trotz Erfolgen in Nordafrika und einiger Fortschritte in Südrussland musste Deutschland 1942 bedeutende Rückschläge hinnehmen. Seine U-Boote begannen die Schlacht gegen die Atlantikkonvois, die Großbritannien mit Nachschub versorgten, zu verlieren. Dies spielte wegen der wachsenden Menge amerikanischen Kriegsmaterials eine Rolle. Ende 1942 produzierten die Vereinigten Staaten dreimal so viel Rüstungsgüter wie Deutschland. Die Ford Motor Company stellte jede Stunde einen neuen B-24-Bomber fertig. Der Luftkrieg kehrte in Form britischer und amerikanischer Luftangriffe, die sich ab Februar 1942 verstärkten, auf Industriestandorte und Städte nach Deutschland zurück. Im Juni markierte der amerikanische Sieg über Japan in der Schlacht von Midway den Wendepunkt im Pazifikkrieg. Deutschland selbst erlebte in der zweiten Schlacht von El-Alamein eine Katastrophe, der wenig später die Schlacht von Stalingrad folgte, die Anfang Februar 1943 mit einer verheerenden Niederlage endete. Die deutsche 6. Armee wurde vernichtet. Die Gesamtverluste der Achse – Tote, Verwundete und Gefangene – beliefen sich auf 800 000 Mann. Im Nahen Osten zog das wechselnde Kriegsglück eine tiefgreifende Änderung der Lage nach sich, da ägyptische, syrische, libanesische und irakische Antiimperialisten, die in der deutschen Militärmacht einen Hebel gesehen hatten, mit dem sie die Briten vertreiben konnten, sich von Deutschland abwandten, während Großbritannien seine Kontrolle über das Gebiet sicherte. In Europa sah es so aus, als würde Verbündeten wie Ungarn, Bulgarien und Rumänien, die durch deutsche Erfolge bereits Gebietsgewinne gemacht hatten, in Zukunft die Rolle zukommen, Soldaten bereitzustellen, die in künftigen Stalingrads sterben würden.
Jenseits des Kalküls von Erfolg und Scheitern versäumten es die Deutschen, Gelegenheiten zur Zusammenarbeit mit Kollaborateuren in vollem Umfang zu nutzen. Erfolgreiche Imperien finden Wege, lokale Interessen und Werte wenigstens symbolisch einzubinden. Das NS-Regime tat dies nur selten. Zwar mobilisierte es eine große Zahl nichtdeutscher Soldaten für seine »europäische« Armee und beachtete sogar die religiösen Bedürfnisse der Muslime unter ihnen, aber die ausländischen Truppen waren in der Regel schlechter ausgebildet und ausgerüstet als die deutschen, und Letztere sahen häufig auf sie herab. Und ja, es gab Fälle – die Kroaten und Slowaken waren die offensichtlichsten, die Slowenen waren ein weiterer –, in denen die Deutschen sich in Bezug auf die »Rasse« flexibel zeigten, teils aus taktischen Gründen und teils, weil manche Volksgruppen (in der wahnwitzigen, von Rassenhierarchien geprägten NS-Welt) als der germanischen »Herrenrasse« näherstehend angesehen wurden als andere.[33] SS-Führer Himmler zum Beispiel glaubte, dass im Baltikum die Esten und Letten »germanischer« und weniger »slawisch« waren als die Litauer. In ähnlicher Weise beruhten die Rekrutierung von Muslimen und das Bündnis mit Japan zum Teil auf der ideologischen Überzeugung, der Islam sei ein »Kriegerglaube« und Japan eine Kämpferkultur.[34] Dies alles räumt aber die Tatsache nicht beiseite, dass die treibende Kraft des deutschen Imperialismus in Europa eine mit äußerster Gewalt umgesetzte rassistische Politik von Besiedlung und Ressourcenausbeutung war. Diese Gewalt wurde vor allem in Osteuropa ausgeübt, das 1939 die meisten europäischen Juden zählte und zum Hauptschauplatz des Holocausts werden sollte. Außerdem wurden überwiegend slawische Völker – Polen, Ukrainer und Russen – zu Opfern der nationalsozialistischen Gewalt, von Schlägen, Erschießungen, Zwangsarbeit, medizinischer Unterversorgung und Hunger, die Millionen von Menschen das Leben kosteten. Gewalt führte – in Ost- wie Westeuropa – zu Widerstand, und Widerstand führte zu brutaler Vergeltung.
Göring hat den Zweiten Weltkrieg als den »großen Rassenkrieg« bezeichnet. Tatsächlich kamen während des Krieges die Imperative von Rasse und Besiedlung zusammen.[35] Die NS-Politik zielte darauf ab, Osteuropa zu einem deutschen »Lebensraum« zu machen. In Polen begann man damit. Hunderttausende polnischer Bauern wurden von ihren Höfen, die jetzt in von Deutschland annektierten Gebieten lagen, vertrieben, um Volksdeutschen Platz zu machen, die aus Gebieten, die gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 unter sowjetische Herrschaft gelangt waren, repatriiert wurden. Die Polen wurden entweder ins Generalgouvernement deportiert oder als Arbeiter ins Reich gebracht. Die Zahl der gewaltsam von ihrem Besitz Vertriebenen belief sich Ende 1939 auf 80 000 und stieg bis 1941 auf über eine halbe Million.[36] Die Razzien und Deportationen liefen auf eine ethnische Säuberung hinaus, die weit über das hinausging, was die deutschen Besatzer während des Ersten Weltkriegs in der Region angerichtet hatten.[37] Sie wurde unter der Führung Himmlers, den Hitler 1939 zum »Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums« (RKF) ernannt hatte, mit einer Mischung aus bürokratischer Besessenheit und Brutalität durchgesetzt. Die erste Gruppe künftiger Siedler, die das Rohmaterial der »Germanisierung« bilden sollten, kam aus Estland und Lettland. Sie trafen auf KdF-Schiffen in den großen Ostseehäfen ein, wo sie, während aus Lautsprechern sentimentale Volkslieder plärrten, von uniformierten BDM-Mitgliedern, die belegte Brötchen verteilten, begrüßt wurden. Wie die Volksdeutschen, die auf dem Landweg aus Litauen, Bessarabien und der Bukowina eintrafen, wurden sie in eines von 1500 Lagern gebracht, die von Himmlers Hilfsorganisation, der Volksdeutschen Mittelstelle, betrieben wurden. In den Lagern wurden sie von Ärzten und »Rassenexperten« untersucht, ob sie gesund und deutsch genug waren, um die farbkodierte Karte »O« – für Osten im Sinne von »rassisch für den Osten geeignet« – zu erhalten oder aber die mit »A« gekennzeichnete Karte, die bedeutete, dass sie zur Arbeit im »Altreich« bestimmt waren. Insgesamt wurden in den neu eingegliederten Gebieten der Gaue Wartheland und Danzig-Westpreußen über 300 000 Volksdeutsche angesiedelt. Manche von ihnen fanden bei der Ankunft noch Reste einer hastigen Mahlzeit auf dem Tisch vor, in solcher Eile mussten die bisherigen polnischen Besitzer ihr Zuhause verlassen. In anderen Fällen wurde die polnische Familie bei der Ankunft der deutschen Neusiedler mit Gewalt vertrieben, und derselbe Lastwagen, mit dem die Deutschen gekommen waren, brachte die legalen Eigentümer fort.[38]
Polen war das Testgebiet für eine rassistische Siedlungspolitik, so wie es dies für die Entwicklung der »Judenpolitik« sein sollte. Dort ging die offene Gewaltanwendung der SS-Einsatzgruppen, die halfen, polnische Bauern von ihrem Besitz zu vertreiben, Hand in Hand mit der institutionellen Gewalt von Bürokraten und »Experten«. Die rassische Untersuchung der Volksdeutschen aus Litauen und Bessarabien fand gleichzeitig mit ähnlichen Bemühungen statt, »rassisch wertvolle« Polen zu finden, die mittels Germanisierung als menschliches Material für das »Herrenvolk« infrage kamen. Diese Suche erstreckte sich über ganz Europa, von Prag bis Odessa.[39] In Polen erlebten viele Deutsche, die keine Uniform trugen, jedenfalls nicht diejenige der Wehrmacht, den sogenannten »Ostrausch«, der unverkennbar koloniale Anklänge hatte. Hervorgerufen wurde er von dem Gefühl, einer »Herrenrasse« anzugehören und an einer »Zivilisationsmission« beteiligt zu sein, die Opfer verlangte, aber auch Belohnungen bereithielt. Dies war das Versprechen des Ostens.[40] Die Versetzung dorthin bot die Aussicht auf Abenteuer, löste aber auch Furcht aus, denn immerhin ging es in den »wilden Osten«.[41] Insgesamt machten sich rund 30 000 deutsche Zivilisten auf den Weg in den Osten, überwiegend Männer, häufig junge Männer – Beamte, Planer, Ingenieure, Demografen, Ärzte –, die, wie Kolonialbeamte anderswo, verantwortungsvolle Stellungen erhielten, die zu Hause für sie unerreichbar gewesen wären. Aber unter diesen Zivilisten waren auch Tausende von Frauen, wiederum überwiegend junge, die auch hier häufig ein Maß an Autorität ausübten, das in scharfem Kontrast zum nationalsozialistischen Frauenbild stand. Es waren BDM-Führerinnen, studentische Freiwillige, Lehrerinnen und Schulhelferinnen sowie Mitglieder von NSV und Frauenarbeitsdienst. Zu ihren Aufgaben gehörte es, volksdeutschen Familien bei der Ansiedlung auf früherem polnischem Besitz zu helfen und ihnen die »deutsche Art« der Haushaltung beizubringen, das heißt »Ordnungskultur« und Hygiene – die Elemente des »Deutschseins«.[42]
Zum Teil aufgrund der Konkurrenz zwischen verschiedenen NS-Organisationen nahm das Ausmaß, in dem Lebensraum im Osten geschaffen werden sollte, im Lauf der Zeit zu. Hans Frank wehrte sich gegen das Vorhaben der SS, sein Herrschaftsgebiet als Abladeplatz »rassisch unerwünschter« Elemente zu missbrauchen. Nach den deutschen Siegen im Westen erhielt er von Hitler die Erlaubnis, das Generalgouvernement – das gleichzeitig den Zusatz »für die besetzten polnischen Gebiete« verlor – zu deutschem Siedlungsland zu entwickeln. Es sollte nicht länger der »Misthaufen« sein, »auf dem man allen Dreck des Reiches abkehren und abschieben konnte«.[43] Das Weichseltal sollte eines Tages so deutsch sein wie das Rheintal, tatsächlich noch mehr, da es durch heroische Siedlertaten gewonnen sein würde. Frank sagte im Juni 1942 vor Hitlerjungen und BDM-Mitgliedern, eines Tages würden sie »die starken Wurzeln eines neuen deutschen Lebensraumes« sein.[44] Als Nächstes wandte Frank sich der Osterweiterung des Generalgouvernements ins Gebiet der Pripjetsümpfe im Süden von Weißrussland und Norden der Ukraine zu. Hansjulius Schepers, der mit 32 Jahren Leiter des Hauptamtes für Raumordnung des Generalgouvernements in Krakau geworden war, arbeitete die bombastischen Pläne für ihre Urbarmachung und Besiedlung aus. Zu ihm gesellte sich ein anderer junger Mann, Helmut Meinhold, der mit seinen 28 Jahren bereits ein hochrangiger Wirtschaftsplaner und begeistert davon war, an »etwas Neuem« mitzuwirken. »Das reizt mich natürlich außerordentlich«, hatte er in seiner Bewerbung für den Posten in Krakau versichert.[45]
Der Osten wurde zu einem Traumland, zu einem Raum, in den utopische Germanisierungsfantasien projiziert wurden.[46] Die bloße »Raum«-Idee wurde zu einer Art Talisman. Der deutsche Geograf Walter Christaller, ein Außenseiter in seiner Disziplin, äußerte sich abfällig über die verführerische Kraft des Raumbegriffs: »Man begnügt sich zu leicht mit Schlagworten von der Kraft, die in einem Raum liegt, oder von ihm ausgeht, von der Enge des Raums, der Herrschaft des Raums, der Magie des Raums.«[47] Die deutschen Pläne für den Osten trugen allesamt den Stempel dieses magischen Denkens. Außerdem beruhten sie implizit auf der Annahme, dass dieser Raum leer war. Meinhold bezeichnete den Osten als »Tabula rasa«, ebenso wie der junge Landschaftsplaner Erhard Mäding. Ein weiterer seiner Kollegen, der Dorfplaner Herbert Frank, sprach von »jungfräulichem Land«.[48] Die slawischen Völker, die in diesem »leeren Raum« lebten, wurden von deutschen Beobachtern jeder Art in der Regel als unfähige Ackerbauern oder primitive Jäger und Sammler dargestellt. Diese Haltung ist aus anderen Reichen bekannt, in denen indigene Völker einfach aus dem Bild entfernt wurden, so dass ihr Land für die Übernahme frei war: terra nullius. Für die angestammte Bevölkerung bedeutete diese Haltung stets Unheil.
Die Deutschen verglichen ihre Träume von der Expansion nach Osten manchmal mit der amerikanischen Westexpansion, zuallererst ganz oben in der Hierarchie. Hitler war ein Kritiker des überseeischen Imperialismus des deutschen Kaiserreichs und hob stattdessen die Bedeutung der kontinentalen Expansion nach amerikanischem Vorbild hervor. In seinem unveröffentlichten Zweiten Buch von 1928 äußerte er sich bewundernd darüber, wie die robusten weißen Siedler von »rassisch höchstem Wert« – beziehungsweise »nordischem Blut« – die indigene Bevölkerung unterwarfen und das Land besiedelten. Nicht nur hier stellte er klar, dass der Osten Deutschlands Grenzland sei. Das amerikanische Beispiel war ein wiederkehrendes Thema seiner Reden und Tischgespräche. »Unser Mississippi« müsse »die Wolga werden«, erklärte er im Herbst 1941. Europa, nicht mehr Amerika, sagte er bei anderer Gelegenheit, werde das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sein. Ein andermal bemerkte er, nachdem er sich über die »bastardisierte« Kultur der Vereinigten Staaten echauffiert hatte: »Aber eines haben die Amerikaner, was uns abgeht, das Gefühl für die Weite und Leere des Raumes. Daher unsere Sehnsucht nach Ausdehnung unsers Raumes.«[49]
Düsterer waren Hitlers Äußerungen darüber, wer den Preis für die Grenzverschiebung zahlen würde. Im kleinen Kreis in seinem Hauptquartier erklärte er, er habe noch nie gehört, dass ein Deutscher, der eine Scheibe Brot esse, sich darüber Sorgen gemacht habe, ob das Getreide für das Brot auf gewaltsam erobertem Land angebaut worden sei: »Es gibt nur eine Aufgabe: eine Germanisierung durch Hereinnahme der Deutschen vorzunehmen und die Ureinwohner als Indianer zu betrachten.«[50] Hitler benutzte eine Sprache, die mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurückreichte, als Friedrich der Große das »liederliche polnische Zeug« des neu erworbenen Westpreußens mit Huronen und Irokesen verglich. Dies wurde ein beliebtes Thema deutscher Autoren. Einer von ihnen meinte, die Polen seien wie die »amerikanischen Rothäute«, nachdem sie sich einer überlegenen Zivilisation gebeugt hatten, dem Untergang geweiht.[51] Hitler war nicht der Einzige, der den Vergleich mit dem amerikanischen Westen heraufbeschwor. Hans Frank zog ihn ebenfalls, und Himmler schwärmte von einer Zukunft, in der deutsche Siedler das »verwahrloste« Land im Osten in ein »Paradies«, ein »Kalifornien Europas« verwandelt haben würden.[52]
Das Vorhaben der Germanisierung des Ostens wurde mit viel Gerede über hart gesottene Pioniere vorbereitet. Goebbels ließ einen Film über Wolhyniendeutsche drehen, die auf ihren Pferdewagen »heim ins Reich« kamen, um sich auf früherem polnischem Land anzusiedeln. Aber die Worte und Bilder waren irreführend. Die meisten Volksdeutschen kamen nicht mit Pferdewagen, sondern mit der Eisenbahn, und sie ähnelten keineswegs robusten Siedlern, während sie durch die Aufnahmelager geschleust wurden, wo sie, mit Nummernschildern um den Hals, ärztlich untersucht und in Gruppen eingeteilt wurden. Wenn sie angenommen wurden, erhielten sie schließlich ein blaues, mit einem »O« gekennzeichnetes Dokument, das sie für die Ansiedlung im Osten qualifizierte. Dort wurden sie mit Lastwagen auf die ihnen zugedachten Bauernhöfe gebracht und von der SS mit Arbeitsgeräten – sowie einem Bild des »Führers« und einem Exemplar von Mein Kampf – ausgestattet. Danach mussten sie feststellen, dass ihre Haushaltsführung und Kindererziehung von jungen Frauen des Siedlungswissenschaftlichen Referats beim RKF überwacht wurde. Sie wurden eher wie Laborratten behandelt, denen bei jedem Schritt verwehrt wurde, was sowohl in Grenzlandmythen als auch von Verfechtern einer »inneren Kolonisierung« stets als wesentlich hervorgehoben wurde: Selbstständigkeit.[53] Tatsächlich war die nationalsozialistische Rhetorik über den Osten stark von technokratischen Begriffen geprägt. Dies trat nirgends deutlicher zutage als im sogenannten Generalplan Ost, der im Auftrag des RSHA von Konrad Meyer, einem früheren Professor für »Ackerbau und Landpolitik« in Berlin, ausgearbeitet wurde.[54] Der Mitte 1940 fertiggestellte erste Entwurf durchlief mehrere Überarbeitungen, bevor schließlich im Oktober 1942 der vierte Entwurf angenommen wurde. Ab Sommer 1941 spielten Juden in ihm keine Rolle mehr, da sich eine eigene Planung für die »Endlösung« der »Judenfrage« abzuzeichnen begann.
Der stellvertretende Vorsitzende der NSDAP Rudolf Heß und Heinrich Himmler begutachten im März 1941 ein von der Volksdeutschen Mittelstelle der SS angefertigtes Modell künftiger deutscher Siedlungen im Osten. Heß steht hinten am Ende des Modells, Himmler, mit Brille, neben ihm.
Der Generalplan Ost ging von einem künftigen germanisierten Osteuropa aus, das sich bis zum Ural und zur Krim erstreckte und von verschiedenen Volksgruppen besiedelt werden sollte: volksdeutschen Rückkehrern, Deutschen aus dem »Altreich« und Angehörigen »germanischer« Völker aus Skandinavien und den Niederlanden. Die Zahl der Siedler wurde auf 3,5 Millionen innerhalb von dreißig Jahren geschätzt, wobei die Gesamtzahl mit manischer Genauigkeit mit 3 345 805 angegeben wurde. Sie sollten Land besiedeln, von dem die meisten der ursprünglichen Eigentümer vertrieben worden waren. Die Planer rechneten mit der Vertreibung von mindestens zwei Dritteln der Polen, Weißrussen und Ukrainer. Himmler nannte dies, vom üblichen Euphemismus abweichend, »Platzbeschaffung«. Der Generalplan wimmelte vom Jargon der NS-Technokraten, die gern von »Aufbau« und »Gestaltung« sprachen.[55] Die wiederholte Betonung einer »totalen Planung« verweist auf das Ausmaß der deutschen Ambitionen.[56] Die Vorschläge sahen eine Reihe futuristischer geometrischer Zentralsiedlungen vor, umgeben von konzentrischen Ringen von Dörfern, die durch ein Netz von Eisenbahntrassen und Autobahnen miteinander verbunden wurden. Dies war die Makroplanung, einschließlich großmaßstäblicher Landkarten mit den dynamisch aussehenden Pfeilen, welche die Nationalsozialisten so liebten. Aber die Planer gingen auch ins Detail. Die Zentralsiedlungen sollten befestigt sein, aber auch Freizeitzentren und Kinos besitzen. Die Pläne enthielten buchstäblich alles, von der Anlage der Dörfer über den Winkel, in dem Bäume angepflanzt werden sollten, bis zur Arbeit sparenden Kücheneinrichtung der Bauernhäuser und der Form der Teekannen.[57] Nach Ansicht des SS-»Siedlungsexperten« Friedrich Kann bot die Ausweitung des deutschen »Lebensraums« nach Osten Gelegenheiten »in einem bisher in der Geschichte noch nicht dagewesenen Umfange«.[58]
Dies ist die Sprache von Reichen des 20. Jahrhunderts. Wenn in der im Osten vom NS-Regime angewandten Gewalt nachklingt, was die Deutschen den Nama und Herero in Südwestafrika angetan hatten, dann ähnelt der futuristische Planungseifer dem, was deutsche Kolonisatoren in Tsingtau und Douala begonnen hatten. Die NS-Planer zogen ins Kalkül, was andere Länder taten. Briten und Franzosen hielten nach ihrer Ansicht zu sehr an der alten liberalen Wirtschaft fest. Der japanische Imperialismus in Korea lag ihnen schon mehr. Aber es gab noch ein anderes, aktuelleres imperiales Vorbild, das die NS-Planer faszinierte: die italienische Kolonisierung Libyens in den 1930er-Jahren. Ein deutscher Siedlungsexperte empfahl Italiens »Versuche« voller Bewunderung als mögliches Modell für »die gewaltigen kolonisatorischen Aufgaben, die uns im Ostraum und vielleicht auch einmal in den afrikanischen Kolonien erwarten«.[59] So wie deutsche Ingenieure auf die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe südöstlich von Rom verwiesen, wenn sie für Urbarmachungsprojekte in Osteuropa warben, erregte die italienische Kolonisierungs- und Siedlungspolitik in Libyen das Interesse deutscher Planer.[60] Himmler unternahm sogar eine Erkundungsreise nach Africana italiana, von der er tief beeindruckt zurückkehrte.[61]
Nur wenige der ausgeklügelten Pläne kamen jedoch über das Entwurfsstadium hinaus. Die Zeit der deutschen Kontrolle über den Osten war zu kurz. Aber sie war lang genug, dass sich einige typische Merkmale von Imperien herausbilden konnten, wie die Versetzung von Beamten innerhalb des Reichs und die Trennung von Wohngebieten nach rassistischen Gesichtspunkten in Städten wie Warschau und Minsk, in der sich die deutsche Überzeugung ausdrückte, den slawischen Untertanenvölkern überlegen zu sein.[62] In der Rassenhierarchie waren Slawen, die nicht für die Germanisierung ausgewählt wurden, zu einem Sklavendasein verurteilt, sofern sie nicht verhungerten oder an einen nicht näher bestimmten Ort »im Osten« deportiert wurden. Die Deutschen waren die Herren. Dies brachte Gelegenheiten für Fehlverhalten mit sich. Neben Figuren wie Rudolf Kiepert vom Berliner Sitz der Volksdeutschen Mittelstelle, der wegen finanzieller und sexueller Verfehlungen entlassen wurde, gab es korrupte Distriktverwalter im Osten, die in Unehren nach Hause geschickt wurden.[63] Manche Wehrmachtsoffiziere wurden wegen der Art, wie sie herumstolzierten, »Goldfasane« genannt.[64] In einem Brief, den SS-Obersturmführer Karl Kretschmer im Oktober 1942 aus Kursk an seine Frau schrieb, kam die Arroganz der deutschen »Herren« deutlich zum Ausdruck. Darin schrieb er über seine siebenjährige Tochter Dagi, sie müsse jetzt lernen, »artig« am Tisch zu sitzen und nicht ihre Ellbogen aufzustützen, denn: »Wenn sie später groß ist, wird sie als deutsches Mädel viel in der Welt herumkommen. Alle Leute werden sie beobachten und von ihr lernen. Die fremden Völker merken sofort, wo eine Schwäche vorhanden ist, und nützen diese dann aus. Bei kleinen Dingen fängt es an, und mit großen hört es auf. Also auch hier an sich arbeiten und immer aufpassen. Wir Deutsche sind nun einmal nach dem Willen des Schicksals das Volk der Zukunft.«[65]
Auf dem Tisch, auf den Dagi nicht die Ellbogen aufstützen sollte, dürfte ein reichhaltiges Mahl gestanden haben. Sowohl im besetzten Europa als auch daheim hatten die Deutschen während des größten Teils des Krieges genug zu essen. Eine Deutsche erinnerte sich später aus ihrer Kindheit daran, dass ihr Vater mit Mandeln, Birnen, Leberwurst, Karotten und Fleisch beladen aus Paris auf Urlaub gekommen war.[66] Tatsächlich nahm der Konsum im »Altreich« zwischen 1940 und 1944 zu. Zwar waren Lebensmittel schon früh im Krieg rationiert worden, aber die Rationen blieben bis kurz vor Kriegsende großzügig bemessen. Dies war Absicht. Hitler wollte unbedingt verhindern, dass der Erfolg der deutschen Waffen noch einmal, wie im Ersten Weltkrieg, durch Lebensmittelknappheit und schlechte Stimmung an der Heimatfront untergraben wurde. Goebbels prahlte mit einem »voll gedeckten Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch«.[67] Aber die in Deutschland verfügbaren Lebensmittel kamen aus dem besetzten Europa. Als der Nachschub 1942 kurzzeitig zurückging, beorderte Göring mehrere Reichskommissare und Militärbefehlshaber nach Berlin, denen gegenüber er sich über die besetzten Gebiete ereiferte: »In jedem der besetzten Gebiete sehe ich die Leute vollgefressen, und im eigenen Volk herrscht der Hunger.« Diese lächerlich falsche Darstellung bildete die Einleitung für die Forderung an seine Zuhörer, noch mehr aus ihren Territorien herauszuholen: »Es ist mir dabei gleichgültig, ob Sie sagen, dass Ihre Leute wegen Hungers umfallen. Mögen sie das tun, solange nur ein Deutscher nicht wegen Hungers umfällt.«[68] Göring fuhr fort, die westeuropäischen Länder auszubeuten. Immerhin waren sie Deutschlands Hauptlieferanten von Nahrungsmitteln.
Vor allem in Osteuropa hungerte die einheimische Bevölkerung, damit die Deutschen zu essen hatten. Leser von Olivia Mannings Balkan-Trilogie über das britische Ehepaar Guy und Harriet Pringle, die im September 1939 in Bukarest eintreffen, werden sich daran erinnern, dass ein wiederkehrendes, beinah obsessives Thema dieser Romane das schrittweise Verschwinden von Lebensmitteln ist, die nach Deutschland abtransportiert werden.[69] Und Rumänien war ein Verbündeter! Einige der fruchtbarsten landwirtschaftlichen Gebiete Polens wurden ins Deutsche Reich eingegliedert. Gauleiter Arthur Greiser erklärte, Aufgabe seines neu geschaffenen Gaus Wartheland sei es, »Getreide, Getreide und nochmals Getreide« zu produzieren.[70] Im Generalgouvernement, wo die Lebensmittelration Anfang 1940 für Deutsche bei 2600 kcal und für Polen bei 609 kcal lag, stellte Generalgouverneur Frank seine Priorität deutlich genug klar: Die Polen werde er »so ernähren, dass an sie dasjenige, was übrig bleibt und was wir zur Verfügung haben, verteilt wird.«[71] Das Generalgouvernement produzierte Lebensmittelüberschüsse, indem es die einheimische Bevölkerung hungern ließ. Die 38 Bände von Franks Diensttagebuch sind voller Eigenlob über die Produktionskraft seines Herrschaftsgebiets – über die 600 000 Tonnen Getreide und die 300 Millionen Eier, die in einem Jahr ins Reich, und die Zehntausenden Tonnen Fett, Gemüse und anderen Nahrungsmittel, die an die Wehrmacht geliefert wurden.[72]
Nach der Invasion der Sowjetunion wurde das Verhungernlassen zur Politik. Seitdem war es ein Element der deutschen Kriegsplanungen. Herbert Backe, Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie Geschäftsgruppenleiter für Ernährung in Görings Vierjahresplanbehörde, und General Georg Thomas, Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts der Wehrmacht, arbeiteten einen »Hungerplan« aus, der den massenhaften Hungertod von Slawen in Weißrussland, der Ukraine und anderen Teilen der westlichen Sowjetunion vorsah. Hitler und die Wehrmachtsführung segneten ihn ab, und die militärischen Besatzungsbehörden wurden instruiert, »[v]iele 10 Millionen von Menschen« würden »in diesem Gebiet überflüssig werden und […] sterben oder nach Sibirien auswandern müssen«. Man würde sie nicht vor dem Verhungern retten, da man die Nahrungsmittel für Deutschland brauche. Die meisten Planer nahmen es hin, dass 20 bis 30 Millionen Menschen sterben würden. Diese Zahlen nannte sowohl Göring als auch Himmler. An den Planungen waren Beamte aus Görings Wirtschaftsimperium, der SS und Alfred Rosenbergs Ministerium für die besetzten Ostgebiete beteiligt. Für die Verwirklichung des menschengemachten Hungertods war indes in erster Linie die Wehrmacht verantwortlich. Erreicht wurde er durch die Abriegelung sowjetischer Städte von ihrem agrarischen Hinterland und damit von der Nahrungsmittelversorgung. Das berüchtigtste Beispiel dafür ist die Belagerung von Leningrad, wo im Winter 1941/42 jeden Monat 100 000 Menschen starben, aber der Hungerplan wurde anderswo in gleicher Weise umgesetzt. Im ukrainischen Charkow starben während der deutschen Besetzung 80 000 Menschen. Unter deutscher Besatzungsherrschaft litt rund die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung Hunger. Das Oberkommando des Heeres, die Frontgeneräle und die Armeequartiermeister waren allesamt Komplizen dieser gegen Zivilisten gerichteten Hungerpolitik, ebenso wie die Wehrmacht für den durch Hunger, unzureichende Unterkunft und mangelnde medizinische Betreuung herbeigeführten Tod von mindestens drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen verantwortlich war.[73]
Bei der von Hoßbach protokollierten Zusammenkunft im November 1937 hatte Hitler die »Sicherheit unserer Ernährungslage« und die Eroberung von Siedlungsland als zwei Ziele europäischer Eroberungen angeführt. Außerdem sprach er des Längeren über ein drittes: Rohstoffe. »Auch die Rohstoffgebiete«, erklärte er, »seien zweckmäßiger im unmittelbaren Anschluss an das Reich in Europa und nicht in Übersee zu suchen […].«[74] Wie sich herausstellte, hing Deutschland im Zweiten Weltkrieg, wie zuvor im Ersten, von den Ressourcen Europas ab, weil es vom Weltmarkt abgeschnitten war. Waren die Alliierten, wie Lord Curzon es ausgedrückt hat, schon 1914 – 1918 »auf einer Ölwelle zum Sieg geritten«, war Erdöl in der Mitte des 20. Jahrhunderts umso mehr das Schmiermittel des Sieges.[75] Aber Hitlers Europa hatte nie genug davon. Die überwältigenden Siege von 1940 hatten eine Art Mitnahmeeffekt, da Deutschland vorübergehend förmlich in Erdöl und Benzin aus Raffinerien und Tanks in Frankreich und den Niederlanden schwamm. Auf lange Sicht fügte die Expansion dem deutschen Kontinentalimperium indes nur neue Länder hinzu, die wie Deutschland selbst in Bezug auf Erdöl keine Selbstversorger waren. Einseitige Abkommen mit Rumänien, damals dem größten Erdölproduzenten der Welt, sicherten Deutschland den größten Teil der dortigen Fördermenge, aber die Energiesicherheit blieb ein Problem. Hinter der Front operierende Sondereinheiten rückten rasch vor, um die Erdölfelder im polnischen Galizien und die estnischen Schiefervorkommen in Besitz zu nehmen. Trotz alledem und trotz der Produktion von synthetischem Treibstoff blieben Erdöl und Benzin knappe Güter. Ein General schlug deshalb erstaunlicherweise »eine gewisse Entmotorisierung der Wehrmacht« vor.[76] Dies war im Mai 1941, einen Monat vor dem Beginn des »Unternehmens Barbarossa«. Erdöl war einer der Gründe für den Angriff auf die Sowjetunion. Die Erdölvorkommen im Kaukasus waren eine lohnende Beute, und man hoffte, einen militärischen Erfolg dort mit der Eroberung der von Großbritannien kontrollierten Erdölfelder im Nahen Osten koppeln zu können. In der Praxis wurde keines von beiden Zielen erreicht, aber sie zeigen das Dilemma, das Hitlers Deutschland vorantrieb: Es kämpfte um Erdölquellen, weil es sie brauchte, um kämpfen zu können.[77]
Auch von anderen globalen Rohstoffmärkten war Deutschland abgeschnitten. Es kompensierte dies durch die höchstmögliche Ausbeutung seines Herrschaftsgebiets. Die deutschen Besatzer plünderten Europa in gigantischem Ausmaß. Vieh, einschließlich Pferden, Holz, Kupfer, Zinn, Mangan, Bauxit und angereichertes Uran (aus Belgien, das es aus dem Kongo hatte): All dies wurde fortgeschafft, ebenso wie Fertigprodukte – Waffen und Munition, Fahrzeuge, Lokomotiven, Güterwagen und Werkzeugmaschinen. Hinzu kam die massenhafte Plünderung von Kunstwerken, Möbeln, Teppichen, feiner Kleidung, Juwelen, alten Weinen und Ähnlichem. Zwischen 1940 und 1944 raubten die Deutschen in Frankreich Güter im Wert von schätzungsweise 154 Milliarden Francs.[78] Außerdem trafen die deutschen Besatzer ebenso wie in Belgien und den Niederlanden auch in Frankreich Vereinbarungen mit willfährigen Wirtschaftsführern. In Dänemark war das Besatzungsregime weniger hart. Die Geschäfte gingen ohne größere Brüche weiter, und die Besatzer begnügten sich damit, einen Teil der dänischen Industrieproduktion abzuschöpfen. In Osteuropa nahm die Ressourcenbeschaffung dagegen, wie zu erwarten, die Form gewaltsamer Plünderungen an. Wo in besetzten Gebieten produziert oder gebaut wurde, geschah es zu einem großen Teil durch Zwangsarbeiter in von der Wehrmacht errichteten Lagern. Unterstützt wurde sie dabei von Sicherheitskräften und zivilen Stellen wie der Organisation Todt oder Einrichtungen des metastasierenden SS-Arbeitslagersystems.
Die SS-Lager breiteten sich im gesamten besetzten Osten aus, auch als sich ihre Zahl im Reich selbst vervielfachte. Anfang 1945 hatten sie in Hauptlagern und einer Vielzahl von Außenlagern über 700 000 Insassen.[79] Neuengamme in Norddeutschland allein hatte 85 solcher Außenlager.[80] Die Zwangsarbeiter hinter Stacheldraht waren nur ein Teil eines riesigen Heeres ausländischer Arbeiter in Deutschland, zu dem auch Kriegsgefangene und zivile Freiwillige aus ganze Europa gehörten, die nicht physischem, sondern wirtschaftlichem Zwang nachgegeben hatten. »Europa arbeitet in Deutschland«, verkündete 1943 eine Propagandabroschüre begeistert.[81] Vor dem Krieg hatten rund eine halbe Million Ausländer in Deutschland gearbeitet, überwiegend Tschechen aus dem Protektorat und polnische Saisonarbeiter sowie einige Tausend italienische Bauarbeiter. Nach der Niederlage Polens im Herbst 1939 wurden polnische Arbeiter zwangsweise zur Arbeit ins Reich geholt, vor allem in der Landwirtschaft. Im Mai 1940 lag ihre Zahl bei 700 000. Sie waren verpflichtet, ein Abzeichen mit einem »P« darauf zu tragen – zu diesem Zeitpunkt mussten Juden in Deutschland noch keinen gelben Stern tragen –, mussten sich an Sperrstunden halten, und ihnen war verboten, mit der Eisenbahn zu fahren, öffentliche Bäder aufzusuchen und sogar Fahrrad zu fahren. Sie waren die ersten Arbeiter aus dem Osten, die in Deutschland als rassisch minderwertig behandelt wurden. Arbeiter aus Belgien und Frankreich, deren Zahl bis 1944 auf 1,3 Millionen stieg, wurden besser behandelt, und zwar nicht nur die erste Welle von Freiwilligen, sondern auch diejenigen, die später zur Arbeit in Deutschland gezwungen wurden. Am schlechtesten wurden Russen, Ukrainer und Weißrussen behandelt, die im Osten ausgehoben und als Zwangsarbeiter ins Reich gebracht wurden, wo sie ein Abzeichen tragen mussten, das sie als »Ostarbeiter« erkennbar machte. Zwischen April und Dezember 1942 wurden 1,3 Millionen Sowjetbürger nach Deutschland verschleppt, im Durchschnitt 40 000 pro Woche. Viele von ihnen kamen in eigens errichtete Lager, von denen es Zehntausende gab. Andere wurden in Kasernen, Schulen, Scheunen und Privathäusern untergebracht. Ihre gewaltsame Aushebung und Verbringung nach Deutschland wurde von dem früheren Gauleiter Fritz Sauckel organisiert, den Hitler im März 1942 zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ernannt hatte. Ohne die Insassen der Konzentrationslager der SS hielten sich 1945 über 7,5 Millionen ausländische Arbeiter in Deutschland auf, von denen drei Viertel Zivilisten und ein Viertel Kriegsgefangene waren. Sie machten ein Viertel der Arbeitskräfte aus.[82]
Das Paradox im Deutschland der Kriegszeit war, dass die rassenreine »Volksgemeinschaft« auf der unfreiwillig geleisteten Arbeit von Millionen Ausländern, überwiegend Slawen, ruhte, die in Landwirtschaft und Transportwesen unverzichtbar waren. Die Reichsbahn gab während des Krieges die Parole aus: »Räder müssen rollen für den Sieg!« Ohne die nahezu 200 000 Russen, die bei der Reichsbahn arbeiteten, hätten sie sich jedoch nicht gedreht; sie bekamen illustrierte Anleitungen in die Hand gedrückt, in denen Worte wie »Ölkanne« ins Russische übersetzt wurden.[83] Im mittelgroßen Oldenburg, nahe der niederländischen Grenze, beschäftigte die Reichsbahn, einschließlich ihrer Werkstätten, 350 ausländische Arbeiter.[84] Auch führende kriegswichtige Unternehmen, wie IG Farben, Siemens und Krupp, stützten sich auf die unfreiwillig geleistete Arbeit von »Fremdarbeitern«. Vier von zehn Rüstungsarbeitern waren Ausländer. Bei den »Dambuster«-Angriffen der britischen Luftwaffe im Mai 1943 – als Dambusters (Dammbrecher) wurden die verwendeten Rollbomben bezeichnet –, bei denen zwei große Ruhrstaudämme gebrochen und die unter ihnen liegenden Industrieanlagen zerstört wurden, ertranken 1284 Menschen in den Fluten; 700 von ihnen waren russische und ukrainische Zwangsarbeiterinnen in Rüstungsfabriken.[85]
Welche Auswirkungen hatte die Anwesenheit von Millionen Ausländern auf die deutsche Bevölkerung? Sie waren kaum zu übersehen, die Kolonnen von unterernährten, zerlumpten Menschen, die zwischen den Arbeitslagern oder Kasernen, in denen sie untergebracht waren, und ihren Arbeitsstellen hin- und hergeführt wurden. In Osnabrück zum Beispiel, wo vor dem Krieg nur wenige Ausländer gelebt hatten, gab es jetzt 12 000 Ausländer mit 19 verschiedenen Muttersprachen.[86] Die Quellen deuten darauf hin, dass die Deutschen die Ausländer bald als Teil ihres Lebensumfelds hinnahmen, ohne sie als Mitmenschen zu betrachten. Vielmehr begegneten sie ihnen mit Ressentiments und gaben ihnen die Schuld an heimischen Schwierigkeiten und dem Schwarzmarkt.[87] Aber es gab auch Deutsche, die Arbeitersolidarität übten und Hilfe leisteten, indem sie Brot oder Zigaretten gaben, bei der Orientierung halfen oder Briefe weiterleiteten. In manchen Fällen gehörten ausländische Arbeitskräfte unmittelbar zum Alltag von Deutschen, wie die 100 000 jungen Frauen, die Hälfte von ihnen aus der Sowjetunion, die als Haushaltshilfen und Kindermädchen in deutschen Großfamilien arbeiteten. Viele andere Ausländer, insbesondere Polen und Franzosen, waren in der Landwirtschaft eingesetzt. Bauernhöfen zugeteilten Zwangsarbeitern erging es im Allgemeinen besser als denjenigen, die anonym in großen Fabriken arbeiteten. In Süddeutschland scheinen katholische Bauern mit den polnischen Glaubensgenossen, die für sie arbeiteten, besser ausgekommen zu sein als mit aus dem Norden evakuierten Deutschen.[88] Die »Rassenpolitik« wurde weniger streng durchgesetzt, und es gab weniger Denunziationen. Das mangelnde Rassebewusstsein der Bauern war eine ständige Klage der Sicherheitspolizei.
Am heikelsten waren sexuelle Beziehungen zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, für gewöhnlich zwischen deutschen Frauen und ausländischen Männern, durch welche die Nationalsozialisten die »Blutsreinheit« bedroht sahen. Die Sicherheitskräfte mögen dazu geneigt haben, das »unmoralische Verhalten deutscher Frauen«, wie es ein Bericht von 1944 feststellte, zu übertreiben. Doch es gab viele Fälle, die vor Gericht kamen, manchmal nach einer Denunziation. Zwischen Oktober 1941 und Mai 1945 verhandelte das Landgericht Oldenburg 73 Fälle »verbotenen Umgangs«.[89] Der deutsche Schriftsteller Rolf Hochhuth hat in Eine Liebe in Deutschland (1978) eine solche Beziehung geschildert. Der auf einer wahren Begebenheit beruhende »Dokumentarroman« rekonstruiert die Entwicklung der Liebesgeschichte zwischen der süddeutschen Kaufmannsfrau Pauline und ihrem polnischen Arbeiter Stani, einem Kriegsgefangenen, die mit seiner Hinrichtung und ihrer Gefängnishaft endet.
Beziehungen wie die zwischen Pauline und Stani waren die intimste Art der Begegnung über nationale Grenzen hinweg. Indem Millionen von Männern und Frauen aus ganz Europa gezwungen wurden, in Deutschland zu arbeiten, schufen die deutschen Behörden massenhaft Gelegenheiten für transnationale Begegnungen – gute wie schlechte. In den Arbeitslagern gab es offenbar Unterschiede zwischen Nationalitäten, Generationen und Berufsgruppen. Spannungen waren unvermeidlich, und sie wurden durch die Unterschiede verstärkt, die man zwischen den Insassen machte, etwa in Bezug darauf, ob sie nach der Arbeit generell oder nur zu bestimmten Zeiten oder nur unter Bewachung ihre Unterkunft verlassen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren oder Bier kaufen durften. Wir betrachten die Zwangsarbeiter in Deutschland zu Recht als Opfer, weil ihr Leben fremdbestimmt, wenn nicht ruiniert wurde und manchmal auf Geheiß deutscher Gerichte endete. Aber es gab auch Gewalt und Raubtierverhalten in den Lagern. Zu Überarbeitung, Unterernährung, schlechter medizinischer Versorgung und anderen unwürdigen Lebensumständen in den Arbeitslagern kam hinzu, dass ihre Insassen sich ihre Nachbarn nicht aussuchen konnten.
Gelegenheiten, sich dem scharfen deutschen Kontrollsystem zu widersetzen, gab es kaum. Eine Möglichkeit war langsames Arbeiten. Zu diesem Mittel hatten Arbeiter seit der Entstehung des Industriekapitalismus gegriffen, einschließlich deutscher Arbeiter nach 1933, als es ihr einziges Kampfmittel geworden war. Aber dieses Mittel war gefährlich, denn »Sabotage« galt als Schwerverbrechen. Eine andere verbreitete Art nonkonformistischen Verhaltens war die Beteiligung am Tausch- und Schwarzmarkthandel, der mithilfe korrupter Wachen in den Arbeitslagern entstand. Er bot eine wichtige Möglichkeit, die dürftige Verpflegung zu ergänzen. Eine aktivere Reaktion auf die Lagerhaft waren Fluchtversuche. Zwischen Februar und Dezember 1943 stieg die Zahl der Fluchtversuche ausländischer Arbeiter auf mehr als das Doppelte, auf 46 000. Im selben Zeitraum, seit dem Winter 1942/43 und der Schlacht von Stalingrad, begannen sich in den Lagern, insbesondere unter den sowjetischen Insassen, organisierte Gruppen zu bilden, die Lebensmittel beschafften, Kranken halfen und Fluchtpapiere besorgten.[90]
Bildeten sie eine Art Gemeinschaft? Die Journalistin und Nazigegnerin Ursula von Kardorff hielt Ende November 1944 in ihrem Tagebuch ihren Eindruck von den ausländischen Arbeitern fest, die im Berliner Bahnhof Friedrichstraße Schutz gesucht hatten. So ähnlich stellte sie sich Schanghai vor:
»Zerlumpte malerische Gestalten in wattierten Jacken mit den hohen Backenknochen der Slawen, dazwischen hellblonde Dänen und Norweger, kokett aufgemachte Französinnen, Polen mit Hassblicken, fahle frierende Italiener – ein Völkergemisch, wie es wohl noch nie in einer deutschen Stadt zu sehen war. Fast ausschließlich Ausländer sind da unten, Deutsch hört man kaum.«
Auf Kardorff, deren Bericht nicht ohne Stereotype ist, machten sie keinen »gedrückten« Eindruck; vielmehr unterhielten sie sich laut, sangen, tauschten und handelten, »leb[t]en nach ihren eigenen Gesetzen«. Sie schienen sich zu kennen. Ihr Fazit: »Zwölf Millionen Fremdarbeiter gibt es in Deutschland. Eine Armee für sich. Manche nennen sie das Trojanische Pferd des heutigen Krieges.«[91]
Kardorff irrte sich. Die wirkliche »Armee« von Ausländern bildete sich in den Ländern, aus denen die Zwangsarbeiter stammten: der bewaffnete Widerstand mit dem Epizentrum in Osteuropa. Der zunehmende Widerstand und die brutale deutsche Reaktion setzten den Gewaltkreislauf, der in Polen begonnen hatte, fort. Mit dem »Unternehmen Barbarossa« erreichte die Brutalität des deutschen Vorgehens eine neue Intensität. Im März 1941 hatte Hitler vor 250 Generälen erklärt, der kommende Konflikt werde ein »Vernichtungskampf« sein.[92] Die Wehrmacht tat alles, um ihn Wirklichkeit werden zu lassen. Im Mai und Juni erlassene Befehle ermächtigten Kommandeure, Politkommissare der Roten Armee erschießen zu lassen oder an die SS zu übergeben, Guerillakämpfer hinzurichten und kollektive Strafmaßnahmen gegen Zivilisten, die im Verdacht standen, ihnen geholfen zu haben, durchzuführen.[93] Im Einklang mit dieser brutalen Geringschätzung des menschlichen Lebens stand die Misshandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen. Manchmal machte sich die Wehrmacht nicht einmal die Mühe, Gefangene zu machen: Sie erschoss sie einfach. Im Kriegstagebuch der 35. Infanterie-Division ist für den 30. Juni 1941 vermerkt: »Bei den Gefangenenmeldungen der letzten Tage kann angenommen werden, dass die Zahl der Toten des Feindes grundsätzlich das Vielfache der angegebenen Gefangenenzahl erreicht, da infolge der Grausamkeit des Gegners und der Rücksichtslosigkeit[,] sich zu verteidigen[,] durch unsere Truppe meist kein Pardon mehr gegeben wird, da die Truppe erbittert ist über die erheblichen eigenen Verluste, die Niedermetzelung der Verwundeten […] und die heimtückische Kampfesweise des Feindes.«[94] In vier Kampftagen machte die Division genau sieben Gefangene.
Als »Barbarossa« ins Stocken geriet, wurde das Vorgehen der Wehrmacht noch rücksichtsloser. Und nicht nur Russen bekamen ihre Brutalität zu spüren. Studien haben nachgewiesen, dass sie sich in ganz Ost- und Südosteuropa ähnlich verhielt, von Weißrussland über die Ukraine und Serbien bis nach Griechenland.[95] Angesichts von Partisanenangriffen bestimmte ein Befehl vom Oktober 1941, dass für jeden von Partisanen getöteten deutschen Soldaten hundert Zivilisten exekutiert werden sollten. Allein in Serbien wurden Zehntausende von Geiseln getötet. General Walter Hinghofer, der Befehlshaber der 342. Infanterie-Division, ließ als Vergeltung für den Tod von acht Wehrmachtssoldaten 2300 Zivilisten hinrichten. Nach diesem Blutbad hatte seine Einheit keine Geiseln mehr, die erschossen werden konnten.[96]
Das waren Gewaltmaßnahmen von kolonialem Niveau. Eine direkte Verbindungslinie zu deutschen Militäroperationen im früheren Deutsch-Südwestafrika lässt sich allerdings nicht ziehen. Eine plausiblere Beziehung zwischen den deutschen Kolonien und der Gewalt der 1940er-Jahre ist der in der Wehrmacht und der Nation insgesamt vorhandene Groll über ihren plötzlichen, demütigenden Verlust durch den dem Land aufgezwungenen Versailler Vertrag; hinzu kam, dass Deutschland damit auch einen kolonialen Raum jenseits des eigenen Territoriums verloren hatte, in den Gewalt »abgeleitet« werden konnte.[97] Deutschlands wahrer kolonialer Raum war Osteuropa, und ein ausreichender Grund für die besondere Brutalität des Krieges im Osten findet sich in der seit Langem vorhandenen antislawischen Einstellung, welche die Nationalsozialisten durch die ständige Beschwörung des »jüdisch-bolschewistischen« Feindes nur noch verschärften. Wehrmachtsoffiziere wurden nach 1933 in Vorträgen und Sommerlehrgängen über Themen wie den »Ostraum« oder »Rassen- und Bevölkerungspolitik« instruiert.[98] Außerdem hatte der deutsche Blutzoll an der Ostfront die Beförderung von Angehörigen einer jüngeren, stärker nazifizierten Generation zur Folge.[99] Aber auch hohe Wehrmachtsangehörige ohne starke nationalsozialistische Überzeugung wurden zu Komplizen. Eine Studie über 25 Generäle, die eine Heeresgruppe oder Armee befehligten, also zwischen Hitler und dem Oberkommando der Wehrmacht einerseits und den Feldkommandeuren andererseits standen, hat ihre Bereitschaft gezeigt, im Zeichen »militärischer Nützlichkeit« verbrecherische Befehle auszuführen.[100]
Partisanen erregten unter Soldaten besondere Wut. Die Aversion gegen irreguläre Kämpfer oder Franc-tireurs reichte in den Ersten Weltkrieg und darüber hinaus bis zum Deutsch-Französischen Krieg zurück. Aber genau damit, mit irregulärer Kriegsführung, sahen sich die deutschen Besatzer aufgrund des sich wandelnden Charakters des Krieges konfrontiert. Früher waren Länder schwer zu erobern, aber relativ leicht zu halten gewesen; in der Mitte des 20. Jahrhunderts waren sie dagegen relativ leicht zu erobern, aber schwer zu halten. In Ost- und Südosteuropa kamen Ideologie und Umstände zusammen und entfachten extreme Gewalt vonseiten der Deutschen: eine antislawische Einstellung, die Ablehnung von »jüdischem Bolschewismus« und sowjetischer »Bestialität«, unerwartet große Verluste und schließlich der abgrundtiefe Hass auf Partisanen und jene, die ihnen tatsächlich oder vermeintlich halfen.
Helmuth James von Moltke, der über die von der Wehrmacht begangenen Gräuel Bescheid wusste, warf im November 1941 in einem Brief an seine Frau einem gemeinsamen Bekannten vor, er sei zu kurzsichtig, um zu erkennen, dass Deutschland sich durch solch verbrecherisches Verhalten in ein schlechtes Licht setze. Er habe keinen Blick dafür, »dass keine Handlung im Universum verlorengeht, dass alles zusammenhängt, dass ein Mord in Warschau Rückwirkungen in Calcutta und Sydney, am Nordpol und in Kurdistan hat, nicht politische Rückwirkungen, sondern moralische«.[101] Aber die unmittelbaren Rückwirkungen spürte man in Europa selbst, wo das deutsche Verhalten jede Möglichkeit, bereitwillige Kollaborateure zu finden und zu behalten, selbst dort zunichtemachte, wo die Aussichten dafür gut zu sein schienen.
Die Bevölkerung der Ukraine hegte, seit Stalins Hungerpolitik 1933 zum Tod von drei Millionen Ukrainern geführt hatte, starke antisowjetische Gefühle und begrüßte die Deutschen weithin als Befreier. Viele Ukrainer traten freiwillig neu aufgestellten Einheiten der Waffen-SS bei. Aber was taten die Deutschen? Ihre Hungerpolitik kostete im Laufe ihrer Besetzung weitere vier Millionen Ukrainer das Leben, während 2,3 Millionen als Zwangsarbeiter ins Reich deportiert wurden. Die Besatzer enttäuschten die ukrainischen Nationalisten, indem sie als Bürgermeister, Dorfälteste und Vorsitzende landwirtschaftlicher Genossenschaften Volksdeutsche einsetzten. Unterdessen begann Himmlers SS zu tun, was sie in Polen getan hatte, und auf enteigneten Ländereien und Bauernhöfen von Ukrainern Deutsche anzusiedeln. Das größte dieser Projekte war Hegewald, ein Siedlungsvorhaben, das 28 Ortschaften in der Westukraine umfasste. Manche Vertreter des NS-Regimes rieten indes zu einer Politik der Kooperation, um die Ukrainer als Verbündete im Kampf gegen den Bolschewismus zu gewinnen. Der Minister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg setzte sich – mit Unterstützung des Auswärtigen Amts – nachdrücklich für diesen Kurs ein. Aber Hitler, die SS und Görings Amt für den Vierjahresplan bevorzugten die Ausbeutung.[102] Ebenso wie Erich Koch, der vehement antislawische Reichskommissar für die Ukraine, der die Ukrainer als »Negervolk« ansah und bemerkte, wann immer er einem intelligenten Ukrainer begegne, fühle er sich aufgefordert, ihn zu erschießen. Sein Arbeitsmotto lautete, »ohne Rücksicht auf Verluste alles aus diesem Land heraus[zuholen], was herauszuholen ist«.[103] Die Wirkung der deutschen Politik des Aushungerns, der gewaltsamen Ansiedlungen und der Aushebung von Zwangsarbeitern war vorhersehbar. Sie löste Widerstand aus, insbesondere bei der Gruppe, die am stärksten von der Zwangsarbeiterrekrutierung betroffen war, jungen Männern. Sich den Partisanen anzuschließen, schien weniger riskant zu sein, als gezwungen zu werden, mehr als tausend Kilometer entfernt unter furchtbaren Bedingungen zu arbeiten, wo die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass man an Erschöpfung starb oder bei einem Luftangriff den Tod fand. Die Ukrainische Aufstandsarmee, die im Frühjahr 1943 immerhin 20 000 Mann stark war, griff deutsche Siedlungen an, bevor sie sich darauf konzentrierte, Polen zu töten.
Von der Ukraine und Weißrussland im Osten bis Serbien im Südosten und Frankreich im Westen wuchs die Zahl der Partisanen, nahm der Widerstand zu und wurden die deutschen Vergeltungsmaßnahmen brutaler. »Befriedung« durch Terror war die Norm. In manchen Fällen wurden ganze Ortschaften oder Stadtteile zerstört, wie in Frankreich der alte Hafen von Marseille und das Dorf Oradour-sur-Glane, von dessen 648 Einwohnern nur sechs dem Tod entkamen und das dem Erdboden gleichgemacht wurde. Das böhmische Lidice erlitt als Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich, den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, das gleiche Schicksal: Die erwachsenen Männer wurden allesamt getötet; Frauen und Kinder – außer einigen wenigen, die man der Germanisierung für würdig erachtete – kamen in Konzentrationslager, und der Ort wurde vollständig zerstört. Im Osten wurden beim »Durchkämmen« von Gebieten nach Partisanen Hunderte von Dörfern und Kleinstädten niedergebrannt.[104] Den größten Todeszoll bei einem einzelnen Ereignis erlitt der Widerstand in Warschau, wo im August 1944 bei der Niederschlagung des Aufstands in der Stadt 15 000 polnische Kämpfer und 185 000 Zivilisten den Tod fanden und die Stadt selbst verwüstet wurde.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Blatt bereits unverkennbar gegen Deutschland gewendet. Im vorangegangenen Jahr hatten sich während der zehn Januartage, in denen die Schlacht von Stalingrad auf für die deutsche 6. Armee katastrophale Weise zu Ende ging, Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt bei einem Treffen in Casablanca auf das Kriegsziel der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands geeinigt. Auf späteren Konferenzen der »Großen Drei« – Churchill, Roosevelt und Stalin – in Teheran 1943 und in Jalta 1945 wurde es bekräftigt. In Jalta kamen sie außerdem überein, Deutschland nach Kriegsende in vier Besatzungszonen aufzuteilen; die vierte Zone im Südwesten war Frankreich zugedacht. Am 6. Juni 1944 begann mit der alliierten Landung in der Normandie der letzte, entscheidende Einbruch in Hitlers »Festung Europa«. Ende August war Paris befreit, und die Rote Armee stand in Ostpreußen. Die deutsche Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit. Überzeugt, dass sowohl der Krieg als auch Deutschlands Ehre verloren seien, und in der Hoffnung, dass man mit den Westalliierten einen Kompromissfrieden erreichen könne, bildeten einige Angehörige der militärischen und aristokratischen Elite Deutschlands eine Verschwörung und versuchten im Juli 1944 erfolglos, Hitler zu ermorden. Die letzte Kriegsphase wurde außerordentlich verlustreich. Deutschlands Verluste an Soldaten beliefen sich auf insgesamt über fünf Millionen, von denen ein Viertel in den ersten Monaten des Jahres 1945 fiel, als der Krieg offensichtlich verloren war. Der Januar 1945, in dem 450 000 deutsche Soldaten – mehr als Briten oder Amerikaner während des ganzen Krieges – ihr Leben verloren, war der in dieser Hinsicht schlimmste Monat des Krieges. Zum Zeitpunkt der Kapitulation am 7. Mai war jeder dritte zwischen 1915 und 1924 geborene deutsche Mann tot.[105]
Schon bevor alliierte Armeen deutschen Boden betraten, kehrte der Krieg über den Himmel nach Deutschland zurück. Der furchtbarste Luftangriff auf eine deutsche Stadt war die Operation Gomorrha, eine Angriffsserie auf Hamburg, die am 24. Juli 1943 begann, in acht Tagen und sieben Nächten 58 000 Todesopfer und 180 000 Verwundete forderte und die Stadt buchstäblich dem Erdboden gleichmachte. Der Angriff war sorgfältig geplant und die Mischung aus Spreng- und Brandbomben so zusammengestellt, dass sie die dann eingetretene Wirkung erzielen musste. Der berüchtigtste Luftangriff war derjenige auf Dresden fast zwei Jahre später vom 13. bis 15. Februar 1945, der 25 000 Menschen das Leben kostete und 40 Prozent der Wohnhäuser sowie die architektonischen und kulturellen Schätze, die Dresden zu »Elbflorenz« machten, zerstörte. Durch sorgfältige Nachprüfung konnten Historiker die Verlustzahl nach unten korrigieren; die NS-Propaganda hatte die Zahl der Toten auf 200 000 geschätzt. In ähnlicher Weise schätzt man die Gesamtzahl der bei Luftangriffen ums Leben Gekommenen nicht mehr auf mindestens 600 000, wie von manchen angegeben, sondern auf 350 000 bis 370 000.[106] Das sind immer noch neunmal mehr zivile Opfer, als der »Blitz« in Großbritannien gefordert hat. Hinzu kam die geplante, absichtliche Zerstörung von Wohnraum in ungekanntem Ausmaß. Im September 1944 wurden bei einem Luftangriff auf Darmstadt in der sogenannten »Brandnacht«, in der die britische Luftwaffe ein neues Brandsystem erprobte, über drei Viertel der Bauten der Stadt zerstört, und 70 000 ihrer Einwohner verloren ihr Obdach.[107] Insgesamt wurden sieben bis acht Millionen Deutsche obdachlos: Sie waren, mit einem hässlichen neu geprägten Wort, ausgebombt.
Die sowohl von der britischen als auch von der amerikanischen Luftwaffe durchgeführten »Flächenbombardements« werfen zwei große Fragen auf. Die eine ist ethischer Art und weit über Deutschland hinaus gestellt worden. Was Hamburg, Dresden und anderen Städten passiert ist, hat so unterschiedliche Autoren wie den Romancier Kurt Vonnegut, den britischen Holocaustleugner David Irving, den schwedischen Schriftsteller Sven Lindqvist und den israelischen Philosophen Igor Primoratz beschäftigt.[108] Von Vonneguts Roman Schlachthaus 5 (1969) über den Angriff auf Dresden wurden in den Vereinigten Staaten über 800 000 Exemplare verkauft. Er wurde verfilmt, auf die Bühne gebracht, als Hörspiel gesendet, zu einer Graphic Novel umgearbeitet und an der Bayerischen Staatsoper als Oper aufgeführt. Die absichtliche Bombardierung der deutschen Zivilbevölkerung ist als Terrorismus, Kriegsverbrechen und sogar Völkermord bezeichnet worden. Eine Verteidigung des Vorgehens ist das alte Schulhofargument: Der andere hat angefangen, in diesem Fall Deutschland. Arthur »Bomber« Harris, seit 1942 Oberbefehlshaber des Bomber Command der Royal Air Force, hat es nachdrücklich vertreten: Görings Luftwaffe habe Wind gesät, und die Deutschen hätten Sturm geerntet. Es gibt aber auch eine strategische Rechtfertigung: Dass die Wehrmacht Luftkräfte von der Ostfront abziehen musste, war sicherlich ein Vorteil für die Rote Armee, auch wenn er nicht ausschlaggebend war. Letztlich richtet sich der Standpunkt zur Moralität der Strategie zumeist danach, ob sie erfolgreich war, das heißt die Moral der Deutschen zusammenbrechen ließ und dadurch wahrscheinlich den Krieg verkürzte.
An diesem Punkt taucht die zweite Frage auf: Führten die Flächenbombardements tatsächlich zum Zusammenbruch der Moral der Deutschen? In Goebbels’ Augen waren die durch die Luftangriffe verursachten Probleme jedenfalls die größte innenpolitische Sorge des Dritten Reichs. Als sich die Bombenschäden häuften, brachen Streitfälle über den Wohnraum aus. Außerdem wurden Evakuierungen nötig. Manche wollten sich jedoch nicht evakuieren lassen – in Witten an der Ruhr zwangen wütende Frauen die örtlichen Behörden, die Zwangsevakuierung zu beenden –, und in ländlichen Gebieten waren Evakuierte nicht willkommen. Wie die im letzten Kriegsjahr zunehmenden Klagen über die ungleiche Rationierung von Lebensmitteln belasteten auch diese Konflikte das Gefühl, in Kriegszeiten eine »Schicksalsgemeinschaft« zu bilden. Selbst in einem Propagandafilm, der die Stimmung aufhellen sollte, wie dem romantischen Drama Die große Liebe von 1942 wurde Zank in einem Luftschutzbunker gezeigt – bis der Held, selbst Luftwaffenoffizier, das Heft in die Hand nahm. Dennoch räumten die Deutschen nach Luftangriffen auf, meldeten sich freiwillig zum Roten Kreuz und schlossen sich Luftabwehreinheiten an. Rund 650 000 deutsche Jungen und ältere Männer wurden zum Volkssturm eingezogen. Die Industrieproduktion blieb fast bis zum Ende überraschend hoch. Es gab zwar im Frühjahr 1945 eine Selbstmordwelle,[109] aber im großen Ganzen blieb die Zivilbevölkerung gefasst.
Zum Teil ist dies auf den verschärften Terror zurückzuführen, mit dem das Regime seine eigene Bevölkerung bedrohte, insbesondere nach Februar 1945 – als Frauen und Kinder mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurden, Barrikaden zu errichten, »Defätisten« standrechtlich erschossen wurden und viele mehr in Haft kamen. Außerdem bemühte sich die NS-Propaganda bis in die letzten Tage, die Hoffnung auf »Wunderwaffen«, die den »Endsieg« bringen würden, wachzuhalten. Hitlers Charisma und die NS-Ideologie scheinen in der letzten Kriegsphase weniger gezählt zu haben. Die Verteidigung von Familie, Freunden und der unmittelbaren Heimat wogen schwerer. Aber auch größere Fragen spielten eine Rolle. Die meisten Deutschen glaubten immer noch, dass der Bruch des Versailler Vertrags richtig gewesen war, und betrachteten das Endstadium des Konflikts als »Verteidigung« gegen den »jüdisch-bolschewistischen« Feind. Die NS-Propaganda über die »blinde Zerstörungswut« vermeintlicher »asiatischer Horden« entsprach einem verbreiteten Vorurteil. Ferner stand die Frage im Raum, was die Deutschen selbst getan hatten, vor allem »im Osten«, und was die Deutschen im Reich davon wussten. Das »gemeinsame Geheimnis« der Ermordung der Juden schuf ein besonderes Schuldgefühl, aber viele Deutsche beruhigten sich mit dem Gedanken, dass die alliierten Luftangriffe eine Bestrafung dafür seien. Dies wiederum verwandelte sich stillschweigend in die Überzeugung, dass zwischen dem, was ihnen angetan wurde, und dem, was sie anderen angetan hatten, ein Gleichgewicht bestehe, auch wenn die halb eingestandene eigene Schuld die Furcht vor dem nährte, was Niederlage und Besatzung bringen würden.[110]
In Briefen und Tagebüchern von Deutschen, die das Regime hassten und seine Verbrechen beklagten, wird deutlich ein Schuld- und Schamgefühl ausgedrückt. Ursula von Kardorff sprach von einem »geschändeten Land«. Der Romancier Friedrich von Reck-Malleczewen sah voraus, dass das Ende nicht heroisch sein würde, sondern »ein schmutziges Ende in Schmach und Schande«. In seinen im Dezember 1944 im Gefängnis in Berlin-Moabit verfassten Sonetten übte der Geograf Albrecht Haushofer, der auch als außenpolitischer Berater tätig gewesen war, scharfe Selbstkritik: »Ich musste früher meine Pflicht erkennen / Ich musste schärfer Unheil Unheil nennen«, und beschwor Kant, Bach und Goethe als Zeugen eines besseren Deutschland herauf. Moltke, der einen Monat später verhaftet wurde, hatte entsetzt die gegen Juden gerichteten Razzien in Berlin miterlebt und 1942 Einzelheiten über den »SS-Hochofen« im Generalgouvernement erfahren.[111] Ihre moralische Empörung war echt. Sie löste Widerstandshandlungen aus, die Reck-Malleczewen, Haushofer und Moltke das Leben kosteten. Aber es gab, mit der Scham vermischt und vielleicht untrennbar von ihr, auch eine starke Vorahnung der Abrechnung, die den Deutschen bevorstand – »wenn wir dran sind«, wie Moltke schrieb und Haushofer es in dem Sonett »Untergang« ganz ähnlich ausdrückte.[112] Die Furcht vor dem, was geschehen würde, wenn das Blatt sich wendete, zieht sich durch alle bekannten zeitgenössischen Aufzeichnungen gewöhnlicher Deutscher. »Möge Gott verhüten, dass wir den Krieg verlieren«, betete ein Fahrer einer motorisierten Wehrmachtseinheit, der in Litauen die Ermordung von Juden miterlebt hatte, »denn wenn die Rache über uns kommt, geht es uns bös.« Einer seiner Kameraden ergänzte, »dass wir uns alle gesagt haben, was denn wohl werde, falls wir den Krieg verlieren und das alles einmal büßen müssen«.[113] Auch in der Heimat ging diese Furcht um. Ein Alltagsgespräch in einer Berliner Straßenbahn führte zu einem Streit über den »jüdischen Krieg«, der einige Mitfahrer zu dem Ausruf veranlasste, man »müsse doch menschlich bleiben, denn wir hätten doch schon genug Schuld auf uns geladen durch die Juden- und Polenbehandlung, die man uns noch heimzahlen werde«.[114]
Während Deutsche eine gebührende Bestrafung fürchteten, mussten die europäischen Juden in jener Zeit ganz andere Dinge fürchten: nicht nur ihre eigene Verfolgung und ihren eigenen Tod, sondern auch, dass das, was ihnen angetan wurde, aus dem Gedächtnis gelöscht werden würde. Der Wunsch, alles bis in die letzte Kleinigkeit für die Nachwelt festzuhalten, ließ den Dresdner Juden Victor Klemperer sein Tagebuch führen, um »Zeugnis ab[zu]legen bis zum letzten«.[115] Eine, wenn möglich, noch größere Dringlichkeit erhielt dieser Wunsch in den Ghettos und Lagern. Der ehemalige Schuldirektor Chaim Kaplan führte im Warschauer Ghetto trotz der Gefahr, der er sich damit aussetzte, ein Tagebuch, da er fürchtete, »dass die Eindrücke dieser furchtbaren Ära verlorengehen werden, weil sie nicht zureichend festgehalten wurden«. Dies notierte er im August 1940. Zwei Jahre später hatte seine Furcht eine grimmige praktische Form angenommen: »Meine größte Sorge gilt der Verbergung meines Tagebuches, auf dass es künftigen Generationen erhalten bleibe.«[116] Er übergab es einem Freund, der es aus dem Ghetto hinausschmuggeln sollte. Nach dem Krieg fand man es in einem Petroleumkanister versteckt.
Das Warschauer Ghetto brachte die bemerkenswerteste Aufzeichnung jüdischen Lebens unter der NS-Herrschaft hervor, angeregt von Emanuel Ringelblum, der im November 1940, dem Monat, in dem das Ghetto geschaffen wurde, vierzig Jahre alt wurde. Er war Historiker und hatte mit einer Arbeit über die Juden im mittelalterlichen Warschau promoviert. Zusammen mit Kollegen legte er ein geheimes Archiv mit dem Decknamen Oneg Schabbat – Sabbatfreude – an, in dem Tagebücher, Berichte, Aufsätze, Kindererzählungen, Untergrundzeitungen, Fotografien, Kunstwerke, Konzertprogramme, Lebensmittelcoupons, amtliche Erlasse und Berichte von Deportierten gesammelt wurden. Als die ersten Mitglieder des Teams nach Treblinka deportiert wurden, begannen ihre Kollegen das Material in Milchkannen und anderen Behältnissen zu verstauen, von denen man zwei Drittel nach dem Krieg wiederfand.[117] In anderen Ghettos wurden weniger umfangreiche Archive angelegt. In den Lagern war es ungleich schwerer, irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen anzufertigen, aber manchen gelang es doch, beispielsweise drei Mitgliedern des »Sonderkommandos« in Auschwitz-Birkenau – Arbeitseinheiten aus Juden, die bei der Beseitigung der Opfer helfen mussten –, die ihre Erlebnisse niederschrieben und in der Nähe des Krematoriums von Birkenau vergruben, wo sie später gefunden wurden.[118] Dies waren buchstäblich hinterlegte dokumentarische Beweise gegen Vergessen und Unglauben. Lagergefangene quälte der Gedanke an diese doppelte Gefahr. Der vielleicht berühmteste Überlebende, Primo Levi, schrieb in seinen Memoiren, die Geschichte des Dritten Reichs könne als »Krieg gegen das Erinnern« gelesen werden.[119]
Als die Rote Armee sich den Todeslagern näherte, versuchten die Täter die Beweise für ihre Handlungen zu vernichten, aber sowohl vor Ort als auch anderswo blieb zu viel übrig, als dass sie hätten Erfolg haben können – physische Beweise, Deportationsakten, Todesregister von Gefangenen, Zyklon-B-Bestellungen, Fotografien von Kleidung und Besitztümern der Opfer, detaillierte Einsatzgruppenmeldungen, Tagebücher von NS-Führern und das Protokoll der Wannseekonferenz im Januar 1942, auf der die Einzelheiten der Durchführung der »Endlösung« besprochen wurden. Nach dem Krieg fügten die Ankläger des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg weiteres Material zu dem Berg an Beweisen hinzu, aus dem sie 27 Dokumentenbände zusammenstellten, die ergänzend zum 42-bändigen Prozessprotokoll veröffentlicht wurden. Auch die Geständnisse des Auschwitzkommandanten Rudolf Höß und anderer wurden Teil der Aufzeichnungen, ebenso wie auf schmerzlichere und profundere Weise die aus den Ghettos und Lagern geschmuggelten oder vergrabenen und später wiedergefundenen zeitgenössischen Beweisdokumente und die Berichte von Überlebenden, mit deren Sammlung bereits in den Nachkriegslagern für sogenannte »Displaced Persons« begonnen wurde.
Weit davon entfernt, dem Vergessen anheimzufallen, wurde der Holocaust zum »ultimativen Kernereignis ›unserer‹ Zeit«, zur »emblematischen Erinnerung des 20. Jahrhunderts« und zu einem Symbol des universellen Bösen.[120] Die Arbeit Tausender Gelehrter macht dieses Ereignis – seit den 1980er-Jahren mit zunehmender Intensität – zu einem der bestdokumentierten Ereignisse eines ohnedies gut dokumentierten Jahrhunderts. Die grundlegenden Tatsachen über die Ermordung der Juden sind bekannt und werden nur von einer kleinen Zahl starrsinniger Leugner angezweifelt. Während des Krieges wurden mindestens 5,7 Millionen Juden ermordet, die meisten von ihnen nach dem Juni 1941 und insbesondere in den 12 Monaten zwischen Januar 1942 und Januar 1943, in denen drei Millionen Juden starben. Die ermordeten Juden kamen zu einem unverhältnismäßig großen Teil aus dem nordöstlichen Quadranten Europas – rund 2,7 Millionen aus Polen, und 2,1 Millionen waren Sowjetbürger aus den Grenzregionen Litauen, Weißrussland und Ukraine. Anderthalb Millionen der Ermordeten waren Kinder. Zwei Drittel aller in Europa lebenden Juden und drei Viertel derjenigen, die im deutschen Herrschaftsbereich lebten, wurden ermordet. Infolge der Vorkriegsauswanderung deutscher und österreichischer Juden, des Holocausts selbst und der schließlichen Umsiedlung von Juden in die Vereinigten Staaten und nach Israel veränderte sich die Verteilung der jüdischen Bevölkerung auf der Welt deutlich. Dem israelischen Demografen Sergio DellaPergola zufolge lebten 1939 immer noch drei Fünftel der Juden der Welt in Europa. 1945 war dieser Anteil auf ein Drittel gesunken, und 1970 lag er nur noch bei einem Viertel.[121]
Heute besteht ein breiter Konsens über den zum Holocaust führenden zeitlichen Ablauf und Entscheidungsprozess. Auch wenn sie in vielen Details unterschiedlicher Meinung sind, stimmen die meisten Historiker in vier Punkten überein: erstens darin, dass es, ungeachtet der grausamen Verfolgung und der scharfen Rhetorik Hitlers und anderer NS-Führer – insbesondere während und nach dem Pogrom vom November 1938 –, keinen festen Plan gab, wann die Vernichtung der europäischen Juden beginnen sollte. Zweitens sind sie einhellig der Ansicht, dass die »Endlösung der Judenfrage« keine Einzelentscheidung war, sondern das Ergebnis einer Radikalisierung, einer Reihe kumulativer Entscheidungen oder »grüner Lichter«, mit 1941 als dem für das Schicksal der europäischen Juden entscheidenden Jahr. Drittens sind sie der Auffassung, dass Hitler die zentrale Figur war, auch wenn es fast sicher keinen formalen »Führerbefehl« über die Ermordung der Juden gab. Sein Fingerabdruck findet sich überall auf den Maßnahmen, die zum Holocaust führten, mehr noch als auf den Entscheidungen über die sogenannte »Judenpolitik« der Jahre 1933 – 1939. Viertens sind sich die Historiker darin einig, dass der Holocaust untrennbar mit dem Krieg verbunden war. So wie die Aussage »Ohne Hitler kein Holocaust« zutrifft, gilt auch die Aussage »Ohne Krieg kein Holocaust«, obwohl es, wie man sofort hinzufügen muss, schwer vorstellbar ist, dass das Dritte Reich als Regime am Ende nicht in den Krieg gezogen wäre.
Der Krieg, insbesondere derjenige im Osten, senkte die moralische Hemmschwelle und ermöglichte es, das Undenkbare zu denken. Dies wurde angesichts der Ermordung polnischer Zivilisten, jüdischer wie nichtjüdischer, 1939/40 sofort offensichtlich. Der Konflikt bedeutete auch, dass man kaum noch auf die öffentliche Meinung im Ausland Rücksicht nehmen musste. Mit einer Ausnahme: Da die Nationalsozialisten glaubten, die US-Politik würde von Juden an der Wall Street und anderswo bestimmt, dienten ihnen die europäischen Juden, solange die Vereinigten Staaten neutral blieben, in gewisser Weise als kollektive Geiseln. Gleichzeitig konterkarierte der Krieg das Projekt der Nationalsozialisten, Deutschland »judenfrei« zu machen, das seit ihrer Machtübernahme ein Grundpfeiler ihrer Politik gewesen war. Vor 1939 hatten sie dieses Ziel mit immer grausameren Ausschluss- und Verfolgungsmaßnahmen angestrebt, die zur Auswanderung führten, welche die Emigranten selbst mit »Steuern« bezahlten, die auf ihre Enteignung hinausliefen. Tatsächlich war die Auswanderung bis Mai 1941 nicht verboten, und einige Tausend Juden waren immer noch in der Lage, Deutschland zu verlassen. Im November 1938, als nach der »Reichskristallnacht« eine neue Auswanderungswelle einsetzte, hatte Reinhard Heydrich, damals Chef des Reichssicherheitshauptamts, geschätzt, dass das Regime ein weiteres Jahrzehnt brauchen würde, um Deutschland »judenfrei« zu machen.[122] Doch wie schon der »Anschluss« Österreichs und die Besetzung der Tschechoslowakei brachte auch der Krieg – und dies in erheblich größerem Ausmaß – weitere Juden unter deutsche Herrschaft, zuerst in Polen, das vor dem Krieg die Heimat der größten jüdische Gemeinde Europas war. Im deutsch besetzten Polen lebten 2,2 Millionen Juden und im ans Reich angegliederten Westpolen eine halbe Million. Die Gauleiter dieser Territorien erwarteten, dass ihre Herrschaftsgebiete »judenfrei« gemacht wurden.
Damit stand das NS-Regime vor dem ersten von mehreren selbst geschaffenen Problemen. Zunächst versuchte man es zu lösen, indem man Ghettos schuf, in denen die Juden bis zu ihrer Deportation vorübergehend untergebracht werden sollten. Aber wohin sollten sie deportiert werden? Es gab verschiedene Pläne, sie nach Osten zu transportieren, einschließlich des Vorschlags, am Ostrand des Generalgouvernements bei Lublin ein »Judenreservat« zu errichten. Aber diese Pläne zerschlugen sich aufgrund von Spannungen zwischen verschiedenen Behörden und widerstreitenden Zielen der NS-Politik. Die Priorität von Himmlers SS bestand 1939/40 darin, Land für die Ansiedlung von Volksdeutschen zu finden, was zur Folge hatte, dass mehr nichtjüdische Polen als polnische Juden deportiert wurden; die umfassende Entfernung der Juden wurde aufgeschoben. Nach dem Scheitern des Lubliner Siedlungsvorschlags wurden die Juden aus den ins Reich eingegliederten Gebieten ins Generalgouvernement abgeschoben. Polen und Juden wurden gleichermaßen ohne angemessene Verpflegung und Getränke in überfüllte Eisenbahnwaggons gezwängt. Die Transporte waren chaotisch organisiert und wurden manchmal tagelang umgeleitet, bis sie ihr Ziel erreichten – mit vorhersehbarem Resultat. Dies führte zu Beschwerden von Generalgouverneur Hans Frank, allerdings nicht aus humanitären Gründen. Ende 1942 schaute er in einer Rede vor Kollegen voller Selbstmitleid auf jene Monate im Jahr 1940 zurück: »Damals entstanden die Phantasien von der Umsiedlung vieler Hunderttausender von Juden und Polen ins GG. Sie entsinnen sich dieser Schreckensmonate, in denen Tag um Tag Güterzüge ins GG hineinrollten, vollbeladen mit Menschen, manche Waggons waren bis obenhin mit Leichen gefüllt. Das war eine furchtbare Zeit […].« Frank war entschlossen, seiner Domäne den Charakter eines Abladeplatzes zu nehmen, weil dies zu seiner Vision, sie in produktives deutsches Siedlungsland zu verwandeln, widersprach. Darin wurde er von Göring bestärkt, und auch Hitler sollte sich hinter ihn stellen.[123][123]
Ein weiterer Vorschlag für die Deportation wurde kurzzeitig ernsthaft erwogen: die europäischen Juden in die französische Kolonie Madagaskar vor der ostafrikanischen Küste zu bringen. Dieser Fantasie hatten in den späten 1930er-Jahren auch einige britische, französische und polnische Antisemiten angehangen. Wie zu erwarten, erregte sie die Aufmerksamkeit führender Nationalsozialisten. Aber der Funke, der die Diskussion der Kriegszeit entzündete, kam vom Auswärtigen Amt in Berlin. Joachim von Ribbentrop hatte 1938 in einem Gespräch mit seinem französischen Kollegen Georges Bonnet von der französischen Überlegung erfahren, 10 000 französische Juden nach Island zu schicken. Zwei Jahre später, im Juni 1940, als Frankreich kurz vor der Niederlage stand, verfasste Fritz Rademacher, ein ehrgeiziger junger Mitarbeiter des Judenreferats des Auswärtigen Amts, eine Denkschrift über das Thema, die von der SS und Hans Frank begeistert aufgenommen wurde, weil sie ihnen eine Möglichkeit zeigte, wie sie die Juden des Generalgouvernements loswerden konnten. Am 18. Juni sprach Hitler mit Mussolini und dem italienischen Außenminister Graf Ciano, als sie in München zusammenkamen, um über die Auflösung des französischen Kolonialreichs zu diskutieren, über den Madagaskarplan, und Mitte August lag eine vom SS-Judenreferenten Adolf Eichmann und seinem Assistenten Theo Dannecker stammende Druckfassung des Plans, samt Landkarten, vor. Frühere Machbarkeitsstudien, unter anderen eine polnische, hatten die Umsiedlung von einigen Tausend Juden vorgesehen; die SS-Version plante die Deportation von einer Million Juden pro Jahr, insgesamt vier Millionen in vier Jahren. Dies hatte nichts mehr mit Umsiedlung zu tun; vielmehr war es der Plan für eine mörderische Massendeportation mit absichtlich herbeigeführter hoher Todesrate. Doch der ausbleibende Sieg über Großbritannien machte die Umsetzung unmöglich, da Deutschland sowohl der nötige Schiffsraum als auch die Herrschaft über die Seewege fehlte.[124]
Wäre der Plan verwirklicht worden, hätte Madagaskar einem riesigen, von der SS geführten Ghetto geglichen. Nach Lage der Dinge wurden jedoch die Ghettos, die jetzt überall in deutsch besetzten Gebieten entstanden, aufgrund der abscheulichen Bedingungen, unter denen die Juden leben mussten, zu einem weiteren selbst geschaffenen Problem der deutschen Verwaltungen. Die für die Ghettos gewählten Standorte befanden sich stets im ärmsten Teil der jeweiligen Stadt, weil sich daraus die besten Gelegenheiten ergaben, reichen Juden ihr Eigentum zu rauben und gute Häuser für deutsche Besatzer frei zu machen. Die mageren Lebensmittelrationen von Juden – die weit unter denjenigen nichtjüdischer Polen lagen – schufen zusammen mit überfüllten Unterkünften, völlig unzureichender medizinischer Versorgung und Überarbeitung eine hungernde, unter Krankheiten leidende Bevölkerung. Außerdem förderten die Umstände Schmuggel und Schwarzmarkthandel. All dies machten Deutsche den von ihnen ghettoisierten Juden zum Vorwurf.[125] Deutsche Filme und Fotografien über die Ghettos, wie der Propagandafilm Der ewige Jude, zeichneten absichtlich ein Bild von »orientalischem« Schmutz und Elend. Der von jüdischen Zwangsarbeitern nach deutschen Vorgaben errichtete Eingang des Krakauer Ghettos trug asiatische Formelemente. »Asien in Mitteleuropa« lautete der vermutliche Arbeitstitel eines nicht fertiggestellten SS-Propagandastreifens über das Warschauer Ghetto.[126] Besucher aus Deutschland wurden in den Ghettos herumgeführt, um ihnen die Gefahr vor Augen zu führen, die angeblich von den Juden ausging. »[D]er Massenanblick dieser verrotteten, verderbten und bis in die Knochen verfaulten Rasse vertreibt jede Humanitätsduselei«, schrieb Alfred Rosenberg nach einem Besuch der Ghettos von Lublin und Warschau.[127]
Den Ghettoverwaltern war klar, dass die Konzentration von Juden auf diese Weise keine Dauerlösung sein konnte. Solange die Ghettos bestanden, gab es unter ihnen »Produktivisten«, die Beziehungen zu den örtlichen Judenräten pflegten und den Beitrag der Ghettoarbeit zur deutschen Kriegsanstrengung zu schätzen wussten, und »Zermürber«, die damit zufrieden waren, wenn die jüdische Bevölkerung ausgedünnt wurde. Beide Verwaltungsstile gingen mit Habgier und Korruption auf deutscher Seite und Hinfälligkeit und hohen Sterberaten auf jüdischer Seite einher. In den größten Ghettos, denjenigen von Łódź und Warschau, lag die Sterberate im Sommer 1941 bei 180 Toten pro Tag. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Überfall auf die Sowjetunion allerdings die Lage grundsätzlich verändert.
1941 entwickelte sich die Judenpolitik im Rahmen des allgemeinen Hungerplans und der ungeheuerlichen rassentechnischen Vorhaben des sogenannten »Generalplans Ost« weiter. Die militärischen Erfolge der Wehrmacht brachten zusätzliche Millionen unwillkommener Juden unter deutsche Herrschaft, die am meisten Verachteten unter den »unproduktiven Essern«. Dass das nationalsozialistische Deutschland dem »jüdisch-bolschewistischen« Feind schließlich direkt gegenüberstand, stärkte das Regime ideologisch. Die Identifizierung der Juden mit dem kommunistischen Feind war eine wirkungsvolle fixe Idee. Hinter der Front operierende sogenannte Einsatzgruppen begannen Juden in wesentlich größerer Zahl als in Polen zu ermorden – zunächst erwachsene Männer, aber bald auch immer mehr andere –, weil sie angeblich »Partisanen« Unterschlupf gewährt hatten oder eine »Sicherheitsbedrohung« darstellten. Darüber hinaus rechtfertigte die Wehrmacht die Ermordung der Juden als »Befriedungsanstrengung« angesichts eines »hinterhältigen«, »barbarischen« Feindes. Überall in den besetzten Gebieten des Baltikums, der Ukraine und Weißrusslands wurden neue Ghettos eingerichtet – mit den bekannten selbst geschaffenen Problemen und Dilemmas als Folgeerscheinung, nur dass dort, anders als in Polen, der Massenmord an Juden der Ghettoisierung vorausging.
Das schiere Ausmaß der Morde war atemberaubend, zumal wenn man bedenkt, dass die vier Einsatzgruppen, einschließlich Fahrern, Funkern und Dolmetschern, über nicht mehr als 3000 Mann verfügten. Es konnte nur durch die Mithilfe von anderen SS-Einheiten, Sicherungsdivisionen des Heeres, Ordnungspolizei und lokalen nichtdeutschen Milizen erreicht werden. Im Juli 1941 wurden unter Führung der Einsatzgruppe A in Ponar 5000 jüdische Männer aus Wilna ermordet. Es war der Beginn einer Mordorgie, die sich bis in den Herbst hinzog und auch Frauen und Kinder das Leben kostete.[128] Ende September erschoss eine Einheit der Einsatzgruppe C zusammen mit einem Ordnungspolizeibataillon in nur zwei Tagen 34 000 Juden aus Kiew und warf ihre Leichen in die sandige Schlucht Babi Jar. »Ich weiß nur eines«, notierte die Ukrainerin Irina Choroschunowa in ihrem Tagebuch, »da geht etwas Schreckliches, etwas Entsetzliches vor sich, etwas Unfassbares, das man nicht verstehen, begreifen oder erklären kann.« Einige Tage später hatte sie Genaueres erfahren. Die Berichte waren zwar immer noch »so ungeheuerlich, dass man sie gar nicht glauben kann. Aber wir sind gezwungen, sie zu glauben, denn die Erschießung der Juden ist eine Tatsache. Eine Tatsache, die uns jetzt zum Wahnsinn zu treiben beginnt.«[129]
Was trieb dieses mörderische Verhalten an? Nehmen wir die Einsatzgruppe D als Beispiel. Sie war mit 600 Mann die kleinste und folgte der Heeresgruppe Süd durch Rumänien, Bessarabien und über die Krim zum Kaukasus. Kommandeur der im Juni 1941 aufgestellten Einsatzgruppe war der akademische Überflieger Otto Ohlendorf, der einen Doktortitel der Rechtswissenschaft trug. Seine Einsatzgruppe erfüllte viele Aufgaben: Sie unterstützte die Wehrmacht, führte Aufklärungsoperationen durch und half Volksdeutschen. Aber ihre Hauptaufgabe war das Töten, zumeist durch Erschießen; Ohlendorf zog Distanzschüsse dem Schuss in den Nacken vor. Die Einsatzgruppe ermordete Sinti und Roma, Heiminsassen, sowjetische Ingenieure und tuberkulöse Kinder. Sie mordete sogar, um Häuser für ihre eigenen Erholungsbedürfnisse frei zu machen. Aber vor allem tötete sie Juden, die sie unter anderem in Kriegsgefangenenlagern aufspürte. Auf der Krim traf sie aus NS-Sicht auf drei jüdische Gruppen: die Karäer, die jüdischen Glaubens, aber ethnisch ein Turkvolk waren; die Krimtschaken, die ethnisch Juden waren, aber nicht dem Glauben nach; und auf die Krim eingewanderte aschkenasische Juden aus Mitteleuropa. Die Einsatzgruppe tötete die letzten beiden Gruppen.[130] Der Grund dafür war rassenbiologischer Art, die Ausrottung von rassisch »minderwertigem«, »lebensunwertem« Leben, »nutzlosen Essern«. Daneben spielten auch Karrierismus, Gruppendruck und ein Berufsstolz eine Rolle, der darauf beruhte, dass man den Verbrechen den perversen Sinn einer »Zivilisierungsmission« verlieh. Die Anführer der Einsatzgruppen, allesamt hochgebildet, teilten mit den Männern an der SS-Spitze, wie Heinrich Himmler, die Überzeugung, dass ihr Vorgehen »hart« und »entschlossen« sei, aber nicht »grausam« oder »brutal«. In dieser verdrehten Weltsicht repräsentierten die von ihnen Ermordeten die »Barbarei«.[131] Aber zugrunde lag all dem ein fanatischer, ideologisch tief verwurzelter Antisemitismus.[132] Zwischen Juli und Jahresende 1941 ermordeten die Einsatzgruppen eine halbe Million Juden. Dies war bereits systematischer Massenmord, dessen Todeszahlen sorgfältig registriert wurden, aber es war noch nicht die »Endlösung«.
Anfang 1941 waren die langfristigen Ziele der nationalsozialistischen Judenpolitik noch Deportation, Zwangsarbeit und selektive Tötung gewesen. Mit den Mordoperationen des Sommers und Herbsts wurde jedoch jede eventuell noch bestehende moralische Hemmschwelle überschritten. Die vier Einsatzgruppen gingen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zum unterschiedslosen Massenmord auch an Frauen und Kindern über. Dies war eine Folge der Zweideutigkeit von Heydrichs Anweisungen und der den Einheiten vor Ort zugestandenen Verschwiegenheit. Aber jeder einzelne Schritt in Richtung des unterschiedslosen Massenmords wurde von Berlin abgesegnet, und Hitler verlangte – insbesondere seit Anfang August –, regelmäßig informiert zu werden. Im Lauf des Jahres 1941 holte die gewalttätige Realität des Vorgehens des NS-Regimes zu seiner gewalttätigen Rhetorik auf. Hitler und andere hatten schon seit Jahren Wörter wie »Vernichtung« und »Ausrottung« im Munde geführt. Was Hitler betrifft, war das berüchtigtste Beispiel seine Reichstagsrede vom Januar 1939 mit der »Prophezeiung« der »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa«, sollten die Juden »die Völker noch einmal in einen Weltkrieg stürzen«. Eine solche Sprache war Ausdruck einer mörderischen Haltung, und sie weckte bei hart gesottenen NS-Anhängern Erwartungen. Aber sie blieb metaphorisch. Selbst der ausgebildete Literaturwissenschaftler Victor Klemperer, dessen Überleben als Jude in Deutschland davon abhing, dass er die Bedeutung amtlicher Verlautbarungen zu »lesen« verstand, glaubte bis weit in den Krieg hinein, dass Wörter wie »Auslöschung« künftige Pogrome einer bestimmten Form und nicht die völlige Vernichtung meinten.
Gleichwohl ging Deutschland 1941 zur Politik des systematischen Massenmords an den Juden über. Im Januar wies Hitler Himmler an, eine »Endlösung der Judenfrage« vorzubereiten. Im Mai ging die Weisung an die deutschen Herrscher im besetzten Westeuropa, bis zur bevorstehenden »Endlösung der Judenfrage« Juden nicht mehr ausreisen zu lassen. Im Juli wurde Heydrich von Göring, der seit November 1938 nominell für die Judenpolitik verantwortlich war, erneut ermächtigt, eine »Gesamtlösung der Judenfrage« auszuarbeiten. Von »End-« oder »Gesamtlösung« war im Lauf des Jahres 1941 immer öfter die Rede. Im Juli erhielten diese Begriffe die Bedeutung der Ermordung aller sowjetischen Juden, und irgendwann zwischen Mitte September und Ende Oktober weitete sich diese zur Vernichtung aller europäischen Juden aus. Dazu trugen mehrere Entwicklungen bei. Der Angriff auf die Sowjetunion markierte zwar den Wendepunkt zu einem noch mörderischeren Vorgehen, aber das langfristige Ziel der Judenpolitik blieb vorläufig eine Form von »territorialer Lösung«. Die Juden sollten aus den ins Reich eingegliederten Gebieten, dann aus dem Generalgouvernement deportiert und nach dem Sieg über die Sowjetunion an einen unbestimmten Ort »im Osten« – jenseits des Urals oder in der Arktis – umgesiedelt werden. Obwohl der deutsche Vormarsch noch im Gang war, als die schicksalhaften Entscheidungen getroffen wurden, breiteten sich Ungeduld und Zweifel daran aus, ob die »territoriale Lösung« umgesetzt werden würde. Sowohl der Gauleiter des Warthegaus, Arthur Greiser, als auch Generalgouverneur Hans Frank drängten auf sofortiges Handeln.
Auch Hitler war ungeduldig. Nach der Verkündung des amerikanischen Leih-Pacht-Programms im März 1941 und der Atlantikcharta im August, in der US-Präsident Roosevelt und der britische Premierminister Churchill die gemeinsamen angloamerikanischen Vorstellungen über eine demokratische Nachkriegswelt darlegten, hatten die europäischen Juden auch den letzten Nutzen als Geiseln zur Beeinflussung der Washingtoner Politik verloren. Schon vor der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten sah Hitler die amerikanische Politik als von Juden gesteuert, womit in seinen Augen eingetreten war, wovor er in seiner »Prophezeiung« vom Januar 1939 gewarnt hatte. Unterdessen war zu dem von den Deutschen selbst geschaffenen Problem der krankheitsverseuchten Ghettos das selbst geschaffene Problem der psychologischen »Belastung« der Einsatzgruppen und anderer Beteiligter an den Massenerschießungen hinzugekommen. Karl Jäger, Kommandeur einer Einheit der Einsatzgruppe A, berichtete, wie fordernd die »Arbeit« für seine Männer sei: Die Aktionen waren vorzubereiten, die lokalen Gegebenheiten zu erkunden, dann mussten die Juden an einem Ort gesammelt und zum Exekutionsplatz geführt und Gruben ausgehoben werden, und schließlich hatte man die »nervenaufreibende Arbeit« der Erschießungen selbst zu erledigen – die Zusammenbrüche und Trunkenheit nach sie zog. Trotz all dieser »Schwierigkeiten« meldete Jäger stolz, dass seine Männer bis zum 1. Dezember 1941 in ihrer Anstrengung, »das Judenproblem für Litauen zu lösen«, insgesamt 133 346 Menschen getötet hätten.[133]
Die Massenerschießungen zogen sich bis zum Jahresende und darüber hinaus hin, aber schon im Oktober wurde über die Verwendung von Vergasungsvorrichtungen diskutiert, um den Tötungsprozess zu beschleunigen. Die Technologie war bereits für die Ermordung von 70 000 Behinderten in Deutschland benutzt worden, bis das Euthanasieprogramm nach Protesten von Kirchenführern im September 1941 eingestellt wurde. Sowohl die Technologie als auch das Personal dieser sogenannten »Aktion T4«, wie sie nach der Adresse ihrer Leitstelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 genannt wurde, wurden einem neuen Zweck zugeführt. An sowjetischen Kriegsgefangenen wurden mobile Vergasungswagen getestet. Anfang November begann dann der Bau zweier neuer Lager, Chełmno und Belzec, die beide von T4-Personal verwaltet werden sollten. Ende des Monats empfing Heydrich Vertreter mehrerer Ministerien zu einer Besprechung über die »erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht für eine Gesamtlösung der Judenfrage in Europa«. Die ursprünglich für den 9. Dezember angesetzte Konferenz war wegen des sowjetischen Gegenangriffs bei Moskau vom 5. Dezember und des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor zwei Tage später auf den 20. Januar verlegt worden. Auf der Wannseekonferenz, wie sie später genannt wurde, sollte die Durchführung einer bereits getroffenen Entscheidung im Einzelnen geklärt werden.[134] Hitler hatte einen Tag nach der Kriegserklärung an Amerika vor Parteiführern, an seine »Prophezeiung« von 1939 anknüpfend, verkündet: »Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein.«[135]
Den ersten beiden Todeslagern, Chełmno und Belzec, folgten vier weitere: Sobibor, Treblinka, Auschwitz-Birkenau und Majdanek. Sie alle wurden zwischen März und Juli in Betrieb genommen. In ihnen wurden die eintreffenden Opfer mit erstaunlichem Tempo getötet, insbesondere in den vier Lagern, die an der »Aktion Reinhardt« beteiligt waren, der Ermordung der Juden im Generalgouvernement, die ihren Tarnnamen nach dem tödlichen Attentat tschechischer Widerstandskämpfer auf Reinhard Heydrich im Juni erhielt. In diesen vier Lagern – Chełmno, Belzec, Sobibor und Treblinka – wurden zwischen Juli und Dezember 1942 über eine Million Juden ermordet. Insgesamt starben in den Reinhardt-Lagern zwischen 1,75 und zwei Millionen Juden. Bis zu einer Million kamen in Auschwitz ums Leben, einer Mischung aus Todes- und Zwangsarbeitslager, und in Majdanek wurden 60 000 getötet. In der mörderischsten Phase zwischen März 1942 und Februar 1943 wurden in den Lagern täglich 10 000 Juden ermordet.[136]
Die Opfer kamen aus ganz Europa. In Auschwitz trafen die ersten Transporte aus den ins Reich eingegliederten polnischen Gebieten und dem Generalgouvernement ein, wo im Frühjahr 1942 die Ghettos geleert wurden. Danach kamen Juden aus der Slowakei und Westeuropa, die in wöchentlichen Transporten aus Übergangslagern in Frankreich (Drancy), den Niederlanden (Westerbork) und Belgien (Mechelen) in den Osten gebracht wurden. Ihnen folgten Juden aus Deutschland selbst sowie aus Rumänien, Norwegen und Kroatien, später vom Balkan, aus Ungarn und der Südhälfte Frankreichs. Die Nationalsozialisten brachten jüdische Bürger vom ganzen Kontinent zusammen, mit der Absicht, sie entweder sofort zu töten oder nachdem sie das letzte Quäntchen Arbeitskraft aus ihnen herausgepresst hatten. Die offizielle Sprache war Deutsch – »Lagerdeutsch«, eine Reihe gebellter Kommandowörter –, die inoffizielle Sprache variierte. In Auschwitz waren anfangs Jiddisch und Polnisch am gebräuchlichsten, später eine Zeit lang Ungarisch, als 1944 die ungarischen Juden deportiert wurden. Aber der überwältigende Eindruck war der eines »ständigen babylonischen Sprachengewirrs«, wie Primo Levi es nannte. Laut dem nichtjüdischen Polen Tadeusz Borowski, der Auschwitz überlebte – später aber wie Levi Selbstmord beging –, unterhielten sich Franzosen, Russen, Polen und Griechen in einem »Krematorium-Esperanto«, wie er es mit düsterem Humor nannte.[137]
Die Todeslager waren der berüchtigtste Teil des »KZ-Universums« des NS-Regimes, wie es ein französischer Überlebender von Neuengamme und Buchenwald genannt hat.[138] Das schiere Ausmaß und Tempo des Tötens haben sie zu den zentralen Symbolen des Holocausts gemacht. »Auschwitz« steht als Kürzel für das Gesamtgeschehen. Gewöhnliche Wörter wie »Ofen«, »Schornstein« oder »Haar« erfahren im Zusammenhang mit dem Holocaust eine enorme emotionale Aufladung.[139] Der Begriff »Todeslager« ruft mächtige Assoziationen hervor. Von der unablässigen Ankunft der Eisenbahntransporte über sorgfältige Buchführung und den Tötungsprozess bis zur Kremation der Leichen haben die meisten Menschen das Bild eines Fließbands im Kopf, einer wie geschmiert laufenden, industriellen High-Tech-Tötungsmaschine. Daran ist natürlich etwas Wahres, genauso wie es zutrifft, dass in den Lagern an wehrlosen menschlichen Versuchskaninchen grauenhafte medizinische Experimente durchgeführt wurden. All dies verweist ebenso auf die »Modernität« des Holocausts wie die Eugenik und die »Rassenlehre«, die zu seiner Rechtfertigung angeführt wurden.
Aber man darf auch nicht übersehen, dass die Todeslager grobe, sogar primitive Anlagen mit einfach zusammengeschusterten Bauten waren. Zum Teil mit in Ghettos geplünderten Materialien schnell und billig errichtet, wirkten sie wie Kriegsgefangenenlager und bestanden wie diese überwiegend aus Baracken und Stacheldraht. Das massive zweigeschossige gemauerte Eingangstor von Birkenau war das einzige seiner Art.[140] Die ersten beiden Gaskammern in Birkenau waren umgebaute Bauernkaten, und die Asche aus dem Krematorium wurde in die Weichsel geschüttet. Der Tötungsvorgang ähnelte mehr demjenigen in Schlachthäusern des 19. Jahrhunderts als der ausgeklügelten Fließbandproduktion der 1930er-Jahre.[141] Und nahezu die Hälfte der Toten in den Todeslagern starb nicht in den Gaskammern – oder den Gaswagen von Chełmno –, sondern auf vielerlei andere Art, insbesondere in Auschwitz, wo die Zeit zwischen der Ankunft der Gefangenen und ihrem Tod ungewöhnlich lang war. Sie starben durch Überanstrengung, Hunger, Krankheiten, Schläge, zufällige sadistische Erschießung oder einen Spatenhieb an die Kehle.
Als der italienische Journalist Curzio Malaparte Warschau besuchte, nachdem er kurz zuvor in Rumänien Zeuge eines Massakers an Juden geworden war, versicherte ihm Generalgouverneur Frank beim Mittagessen, dass er als Mann und Deutscher solche Pogrome missbillige: »Deutschland ist ein Land von überlegener Kultur und verabscheut gewisse barbarische Methoden.« Es wende keine »bestialischen Methoden« an, sondern werde von der Wissenschaft geleitet. Sein Vorbild sei der Chirurg, nicht der Schlächter.[142] Himmler benutzte wiederholt ähnliche Wendungen. Die Wirklichkeit untergrub jedoch die deutsche Selbsttäuschung, dass die eigenen Methoden »zivilisiert« und »wissenschaftlich« seien. Je genauer der Blick auf das, was wirklich während des Holocausts geschah, geworden ist, desto mehr Aufmerksamkeit hat man der Ermordung von Juden außerhalb der Lager geschenkt, wo bei Tausenden kleineren Ereignissen insgesamt fast die Hälfte aller Holocaustopfer starb.
Von den Einsatzgruppen oder auf ihren Befehl wurden 1,5 Millionen getötet. In den Ghettos starben rund eine halbe Million Juden an Hunger oder Krankheiten. Diese Zahl war so hoch, weil im Osten über 1100 Ghettos geschaffen wurden: über 140 in den ins Reich eingegliederten Gebieten, 380 im Generalgouvernement und rund 600 in anderen besetzten Gebieten. Bei der Auflösung der Ghettos wurden viel mehr Juden erschossen, als überhaupt die Todeslager erreichten. Zwangsarbeit unter haarsträubenden Umständen kostete Zehntausende das Leben. Der im September 1941 begonnene Bau der berüchtigten »Durchgangsstraße IV« in der Ukraine wurde von Juden und russischen Kriegsgefangenen ausgeführt, die mit dem Ziel der Vernichtung durch Arbeit eingesetzt wurden. Bei der Auflösung der mit dem Straßenbau verbundenen Arbeitslager Ende 1943 und Anfang 1944 wurden 25 000 Insassen ermordet.[143] Manche Zwangsarbeit war bereits ein Todesurteil. Im Arbeitslager Skarzysko-Kamienna im Generalgouvernement mussten jüdische Gefangene aus einer hochexplosiven Mischung aus Salpeter und Pikrinsäure ohne Schutzkleidung und Schutzhandschuhe Seeminen herstellen. Die meisten starben, bald nachdem sie in Kontakt mit den Chemikalien gekommen waren.
Auf wie viele unterschiedliche Arten Juden ermordet wurden, zeigt eine Mikrogeschichte der galizischen Stadt Buczacz, die ukrainische, polnische und jüdische Einwohner hatte. Die Deutschen töteten in dem Distrikt mit lokaler Unterstützung nicht weniger als 60 000 Juden, aber nicht alle auf einmal, sondern innerhalb von drei Jahren, und nicht mit der von Hans Frank beschworenen chirurgischen Präzision. Tausende wurden bei regelmäßigen »Aktionen« auf dem Fedorhügel oder dem Friedhof erschossen, manchmal aber auch eher zufällig in ihren Wohnungen oder auf der Straße. Im Dezember 1942 wurde ein Ghetto errichtet, in dem Juden an Hunger, unangemessenem Obdach und Krankheiten – einschließlich eines Typhusausbruchs – starben, manche aber auch erschossen wurden. Im Juni 1943 wurden im Rahmen einer Aktion mit dem Ziel, die Stadt »judenfrei« zu machen, Arbeiter aus einem Zwangsarbeitslager und Mitglieder der jüdischen »Ordnungspolizei« ermordet. Einige überlebten die Liquidierung und wurden in umliegenden Wäldern aufgespürt. Manche Juden aus Buczacz wurden auch zur Erschießung in eine Nachbarstadt oder – bis zu dessen Schließung Ende 1942 – ins nächstgelegene Todeslager, Belzec, gebracht.[144] Wegen seiner frühen Schließung gehörte Belzec nicht zu den Lagern, deren Insassen beim Anzug der Roten Armee hastig evakuiert und auf den Marsch nach Westen geschickt wurden.
Eines dieser Lager war Auschwitz, wo man Ende 1944 mit dem Abbau der Gaskammern und der Verbrennung von Akten begann. Als die Rote Armee im Januar 1945 näher rückte, wurden Insassen auf Todesmärsche, wie sie bald genannt wurden, geschickt. Andere Konzentrations- oder Arbeitslager wurden in diesen Wochen eilig aufgelöst. Die meisten der 700 000 bis 800 000 ehemaligen Lagerinsassen, die sich in den letzten Kriegsmonaten zwangsweise auf dem Marsch nach Westen befanden, waren Juden. Schätzungsweise eine Viertelmillion von ihnen starb auf dem Weg, entweder an Erschöpfung und Wetterbedingungen oder durch Erschießen. Nachzügler wurden routinemäßig getötet. Manchmal wurden ganze Gruppen erschossen.[145] Ende Januar wurden in Königsberg rund 7000 Menschen, überwiegend Frauen, aus Stutthof und seinen sechs Außenlagern versammelt. Diese in dreckige, fadenscheinige Decken, Zeitungen und Lumpen gehüllten Menschen mit Holzschuhen an den Füßen wurden mit vorgehaltener Waffe gezwungen, durch Eis und Schnee an der Ostseeküste entlangzumarschieren. Wer nicht Schritt hielt, wurde erschossen, mit Gewehrkolben geschlagen oder zum Sterben liegen gelassen. Als die Kolonne das Fischerdorf Palmnicken erreichte, stellte man fest, dass der Landweg durch die Rote Armee versperrt war. Daraufhin trafen örtliche SS-Männer, der frühere Lagerkommandant, der Gauleiter von Ostpreußen und Mitglieder der Organisation Todt gemeinsam die Entscheidung, die übrig gebliebenen 3000 Gefangenen zu erschießen. Unter den deutschen Wachen waren Hitlerjungen, die mit Alkohol abgefüllt wurden. Nur wenige Hundert Frauen überlebten das Massaker.[146]
Der Holocaust war kein einzelnes Ereignis, sondern bestand aus Tausenden von Ereignissen. Je mehr wir erfahren haben, desto größer wurde der Kreis der Täter. Er umfasst auch mittlere SS-Ränge und Mitglieder vieler anderer Organisationen, deren Verhalten sie über bloße Gleichgültigkeit hinaus zu Komplizen machte. Palmnicken war nicht der einzige Ort, an dem sich Mitglieder der Organisation Todt an Massenmorden beteiligten. Auch in Buczacz nahmen sie an der Festnahme und Ermordung der Juden teil. Ein Zeuge beobachtete, wie der örtliche Leiter der Organisation auf offener Straße einen Juden erschoss.[147] In derselben Stadt beteiligte sich ein Fahrer der Sicherheitspolizei der SS an den Erschießungen. Deutsche Mitarbeiter einer privaten Baufirma, die jüdische Zwangsarbeiter beschäftigte, sahen den Erschießungen zu, plünderten jüdische Wohnungen und griffen möglicherweise selbst zur Waffe.[148] In Litauen bewachten Mitglieder des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps einen Teil der 10 400 Juden, die dann bei einer »Aktion« ermordet wurden.[149] Anderswo halfen Mitarbeiter der örtlichen Sparkasse bei der Auflösung eines Ghettos.
So wie eine Armee Köche, Fahrer und Zahlmeister braucht, so brauchten auch die Mörder des NS-Regimes die mehr oder weniger aktive Mithilfe einfacher deutscher Zivilisten, die in Banken, Fabriken oder Behörden, bei der Reichsbahn oder in Baufirmen arbeiteten. Wenn sie nicht selbst Juden erschossen, dann bewachten sie Gefangene, erledigten den Papierkram, mit dem diese in den Tod geschickt wurden, oder unterstützten ihre Landsleute als beifällige Zuschauer von Erschießungen. Manche machten Fotos. Eine der am direktesten beteiligten Organisationen war die rund 400 000 Mann starke, grün uniformierte Ordnungspolizei, die sich schon nach dem »Anschluss« Österreichs und der Besetzung der Tschechoslowakei die Hände schmutzig gemacht hatte. Während des Krieges nahmen über zwanzig Bataillone der Ordnungspolizei eigenständig oder zusammen mit einer der hinter der Front operierenden Sicherheitsdivisionen der Wehrmacht oder einer der Einsatzgruppen an genozidalen Aktionen teil. Die Ordnungspolizei war an der Ermordung von bis zu einer Million Nichtkombattanten, überwiegend Juden, beteiligt. Insbesondere jüngere, nach 1933 an Offiziersschulen sozialisierte Bataillonskommandeure neigten dazu, aus eigener Initiative Massenmorde zu organisieren.[150]
Beim uniformierten Personal einer weit größeren Organisation, der Wehrmacht, gibt es dazu Parallelen. Dort führte die Beförderung jüngerer Offiziere zu einer ähnlichen Nazifizierung. Aber das mörderische Verhalten der Wehrmacht, das nach dem Krieg im Zeichen des Mythos von den »reinen Händen« des Heeres so lange geleugnet wurde, war nicht auf jüngere Nazischergen beschränkt. Die Ermordung der Juden geschah unter der »brutalsten militärischen Besatzungsherrschaft, die die Geschichte bis dahin gekannt hatte«.[151] Sie fand in einem Krieg statt, den die meisten Wehrmachtssoldaten als Kampf auf Leben und Tod gegen einen einzigartig gefährlichen »jüdisch-bolschewistischen« Feind betrachteten. Der im September 1944 in Frankreich in Kriegsgefangenschaft geratene General Bernhard Ramcke erklärte seinen Vernehmern aus einer britischen Aufklärungseinheit, Hitler habe recht gehabt, »dass er diese große, jüdische Gefahr für alle Völker erkannt und dass er die jüdisch-kommunistische Gefahr im Osten für Europa erkannt hat. Früher hieß es mal Dschingis Khan und hieß es mal Attila. Diesmal ist es der jüdische Bolschewismus, der von den Weiten Asiens [her] über Europa reinbricht und dem wir uns entgegenstemmen mussten.«[152] Ramcke, der von den Briten nicht zur »Naziclique« unter den gefangen genommenen deutschen Offizieren gezählt wurde, hatte damit keine untypische Ansicht geäußert. Besonders stark war das Heer am Massenmord an den Juden von Serbien und Weißrussland beteiligt. Aber überall an der Ostfront bot die »Partisanenbekämpfung« Gelegenheiten für die Ermordung von Juden. Nach anfänglichem Misstrauen entwickelten Heeresbefehlshaber gute Arbeitsbeziehungen mit der SS, einschließlich der Einsatzgruppen. Das Heer stellte der SS Ausrüstung, Munition, Transportmittel und Unterkünfte zur Verfügung. Wehrmachtseinheiten halfen, Ghettos einzurichten und Opfer zu bewachen. Manchmal nahmen sie auch an Erschießungen teil. Kommandeure jeder Ebene waren für die Erschießung jüdischer und anderer Zivilisten verantwortlich, und zu den Tätern gehörten sowohl Fronttruppen als auch hinter den Linien operierende Sicherheitseinheiten.[153]
Ähnlich wie eine breitere (und schärfer verurteilende) Perspektive auf die deutschen Täter üblich geworden ist, hat eine breitere (und großzügigere) Perspektive unsere Ansicht über die jüdische Reaktion verändert. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten gehörte es zum Selbstverständnis des neuen israelischen Staats, dass die in ihm lebenden Juden einen neuen jüdischen Typ repräsentierten, der im Gegensatz zu den »passiven« Juden der europäischen Diaspora hart und kampfbereit sei. In Israel und einigen europäischen Ländern übten Juden scharfe Kritik an den von den Nationalsozialisten ernannten Judenräten, weil sie sich zu bereitwillig deutschen Befehlen gebeugt hätten. Zwei in den frühen 1960er-Jahren erschienene einflussreiche Bücher verliehen dieser Auffassung Gewicht. Das eine war Raul Hilbergs bahnbrechendes Werk Die Vernichtung des europäischen Judentums (1961), das andere Hannah Arendts auf einer in der Zeitschrift New Yorker veröffentlichten Artikelreihe über den Eichmann-Prozess beruhender Bericht Eichmann in Jerusalem (1963). Sechzig Jahre später ist von der Ansicht, Juden seien, von ihren Führern darin bestärkt, »wie Schafe zur Schlachtbank« gegangen, nicht mehr viel übrig.
Zunächst einmal gab es physischen Widerstand, wie einige Autoren schon früh einwandten. Die biblische Metapher von den zur Schlachtbank trottenden Schafen geht auf Juden zurück, die 1942/43 zu aktivem Widerstand aufriefen. »Lassen wir uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank führen«, hieß es in einem Anfang 1942 von jungen Zionisten im Wilnaer Ghetto verfassten Manifest. Denselben Appell richtete im folgenden Jahr die Widerstandsorganisation im Warschauer Ghetto an dessen Insassen, und auch in einem Manifest des Jüdischen Militärverbands des Ghettos war er enthalten.[154] In fünfzig polnischen Ghettos, einschließlich eines halben Dutzends der größten, entstanden bewaffnete Untergrundbewegungen. In einigen Ghettos, wie denen von Minsk und Białystok, stand die jüdische Führung in regelmäßiger Verbindung mit dem kommunistischen Untergrund innerhalb und außerhalb des Ghettos. In mehreren Ghettos brachen Aufstände aus, nicht nur in Warschau, wo der berühmteste stattfand, sondern beispielsweise auch in Wilna. Auch in drei Todeslagern – Treblinka, Sobibor und Auschwitz – und anderen Lagern gab es Aufstände. Jüdische Partisanengruppen – mit insgesamt vielleicht 30 000 Angehörigen – bildeten sich sowohl in Litauen und Polen als auch in der besetzten Sowjetunion.[155] Primo Levi hat in seinem Roman Wann, wenn nicht jetzt? (1982), der auf Gesprächen mit ehemaligen Partisanen beruht, die er auf seiner langen, umwegigen Nachkriegsrückreise nach Italien führte, eine solche Gruppe porträtiert, die zu der in den Pripjetsümpfen in Ostpolen und Weißrussland operierenden Widerstandsorganisation gehörte. Im Entscheidungsjahr 1941 diente die Metapher »in die Sümpfe treiben« als Euphemismus, der dennoch die Mordabsicht der NS-Führer offenbarte. »Ausdrücklicher Befehl des RF-SS«, ließ Himmler die Einsatzgruppe C am 31. Juli wissen. »Sämtliche Juden müssen erschossen werden. Judenweiber in die Sümpfe treiben.« Drei Monate später ereiferte sich Hitler mit ähnlichen Worten über diese »Verbrecherrasse«: »Sage mir keiner: Wir können sie doch nicht in den Morast schicken!«[156] 1943 waren die Pripjetsümpfe jedoch, wie die Wälder und Gebirge anderswo in Europa, die Ausgangsbasis von Operationen jüdischer (und nichtjüdischer) Partisanen.
Juden, insbesondere junge, die Deportationen, Ghettos und Arbeitslagern entkommen waren, schlossen sich auch Partisanengruppen an, die nicht ausschließlich jüdisch waren.[157] Historiker sind sich bewusst, dass einer der Ihren im Kampf für die französische Résistance sein Leben gab. Der 54-jährige bebrillte Mediävist Marc Bloch mit dem Decknamen Narbonne wurde, obwohl er nicht dem Bild des typischen Résistancekämpfers entsprach, in der Region von Lyon zu einem wichtigen Organisator des vereinigten nichtkommunistischen Widerstands. Er führte Agenten, hielt Verbindung zu den Guerillagruppen des Maquis und half die Aufstände vorzubereiten, welche die alliierte Landung begleiten sollten. Nach seiner Verhaftung im März 1944 wurde er verhört und gefoltert, bevor er am 16. Juni, zehn Tage nach dem D-Day, zusammen mit anderen Widerstandskämpfern hingerichtet wurde. Seine letzten Worte sollen »Vive la France!« gewesen sein. Bloch war ein zutiefst assimilierter, säkularer französischer Jude, der leidenschaftlich an das universale republikanische Ideal glaubte.[158] Wie bei vielen linken Juden, die sich der Résistance anschlossen, stand auch bei ihm seine jüdische Identität nicht im Vordergrund. Vielmehr war sein Beitritt zur Résistance ein deutliches Zeichen dafür, dass er weder den Deutschen noch dem Vichy-Regime das Recht zugestand, ihn, weil er Jude war, anders zu behandeln als andere Franzosen.[159]
Der organisierte jüdische Widerstand, ob nun in Ghettos oder Lagern, Sümpfen oder Wäldern, war real. Aber er sollte nicht der Maßstab sein, an dem alle jüdischen Reaktionen gemessen werden. In den Ghettos und noch mehr in den Lagern standen Rebellionen gewaltige Hindernisse im Weg. Es begann schon mit der körperlichen Schwäche von durch Hunger und Krankheit entkräfteten Menschen. Bei 2000 Kalorien am Tag war Widerstand schwer auszuführen oder auch nur vorzustellen. Man denke nur an die in denselben Jahren internierten sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen über drei Millionen starben. Sie waren militärisch ausgebildete junge Männer, die sahen – wenn sie denn lange genug überlebten –, wie hoch die Todesrate war, und gewiss nicht viel zu verlieren hatten. Doch auch sie waren derart von Unterernährung und Krankheiten geschwächt, dass sie nicht revoltierten. Jüdische Ghettoinsassen kannten ihr weiteres Schicksal nicht und wollten nicht das Schlimmste annehmen. Solange das Ghetto produktiv war, hofften sie, würden sie, wenn auch mit ungewissen Aussichten, am Leben bleiben. Dies war eine verständliche Hoffnung, insbesondere in Ghettos wie denen in Łódź und Kaunas, die am längsten bestehen blieben. Außerdem verbargen die Deutschen ihre Absichten, staffelten Deportationen zeitlich und gaben für diejenigen, die »umgesiedelt« werden sollten, sogar eine neue Währung aus. Darüber hinaus waren die ihnen zur Verfügung stehende physische Macht überwältigend und der Preis für Widerstand hoch. Die Todeszahlen nach den Ghettoaufständen in Warschau und Wilna waren entsetzlich. Der Widerstand gegen die Auflösung des Ghettos von Białystok im August 1943 hatte das gleiche Ergebnis. Die Aufständischen hatten Molotowcocktails, aber nur wenige Gewehre. Ihr Widerstand wurde gnadenlos niedergeschlagen. Einige Dutzend Aufständische konnten zwar entkommen und sich den Partisanen in den umliegenden Wäldern anschließen, aber die Deportation von Zehntausenden Białystoker Juden nach Majdanek, Treblinka und Auschwitz war kaum verzögert worden.[160]
Überall wurde an Widerstandskämpfern und den Familien von aus den Ghettos Geflohenen brutale Vergeltung geübt. Am 17. April 1942 bekamen die Deutschen Wind von organisierter politischer Tätigkeit im Warschauer Ghetto und erschossen 51 Juden, überwiegend Mitglieder des sozialistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes, kurz Bund genannt, und Mitarbeiter der Untergrundpresse.[161] Mitglieder des Judenrats lebten in ständiger Gefahr. Mancherorts wurden diejenigen, die bei der Umsetzung deutscher Anordnungen zu zögerlich waren, standrechtlich erschossen, um Schrecken zu verbreiten. In Warschau teilte man Adam Czerniaków mit, dass seine Frau getötet werde, wenn er Deportationen zu verhindern versuche.[162] Damit waren die Machtverhältnisse im Ghetto aufs Deutlichste offengelegt. Der beflissene, gutmütige Czerniaków war, wie sein Tagebuch zeigt, täglich bemüht, die Auswirkungen der deutschen Anordnungen abzumildern. Er hatte aber nur wenig und kurzzeitig Erfolg damit und beging im Juli 1942 in der Erkenntnis, dass die Deutschen einen Völkermord planten, schließlich Selbstmord. Sein Pendant in Łódź, Chaim Rumkowski, glaubte dagegen immer noch an die Möglichkeit eines Handels, in dem man das eine opferte, um anderes zu bewahren. Im September 1942 forderte er in einer grauenhaften Rede vor 1500 Ghettobewohnern diese auf, ihm ihre Kinder zu übergeben, um die Deportationsquote der Deutschen – 20 000 Menschen, darunter alle Kinder und alle Älteren von über 65 Jahren – zu erfüllen, obwohl er sehr wahrscheinlich wusste, dass die Kinder nicht überleben würden: »Ich muss diese schreckliche blutige Operation ausführen, ich muss Glieder amputieren, um den Leib zu retten!«[163]
NS-Herren auf jeder Ebene gaben eine Art Pseudo-Entscheidungskompetenz an Juden weiter, die ihnen die Verantwortung aufbürdete, aber keine Macht gab. Sie standen, wie der US-Holocaustforscher Lawrence Lange es ausdrückt, vor »entscheidungslosen Entscheidungen«.[164] Czerniaków war ein fantasieloser, aber anständiger Mann, Rumkowski ein eitler, diktatorischer Größenwahnsinniger – »König Chaim« –, aber am Ende machte es keinen Unterschied, ebenso wenig wie es etwas ausmachte, ob jüdische Ghettoführer bereit waren, Kontakt zu Untergrundbewegungen aufzunehmen. Alle Ghettos ereilte das gleiche Schicksal. Rumkowskis hartes Regime und das Beharren darauf, sein Ghetto »produktiv« zu erhalten, bewirkten nur, dass es als letztes aufgelöst wurde und seine 60 000 Bewohner, einschließlich Rumkowskis und seiner Familie, erst im August 1944 nach Auschwitz geschickt wurden. Weil es – nicht zuletzt, könnte man hinzufügen, wegen Rumkowskis Politik – so spät aufgelöst wurde, hatten nur noch drei Tage bis zur Befreiung durch die Rote Armee gefehlt.[165]
Rumkowski war zu seiner Zeit und in der späteren jüdischen Erinnerung eine verhasste Figur, ebenso wie andere Juden, die sich, aus welchen Gründen auch immer, bereitgefunden hatten, sich von den Deutschen deren dreckige Arbeit aufhalsen zu lassen: Mitglieder der jüdischen Ghettopolizeien, die Kapos und Sonderkommandos in den Lagern, deren Aufgabe es war, andere Juden zu ihrer Ermordung zu bringen und hinterher ihre Haare abzuschneiden, ihre Goldzähne herauszubrechen, ihre Leichen zu verbrennen und ihre Asche zu entsorgen. Was das Urteil betrifft, so hat Primo Levi von einer »Grauzone« gesprochen, die eine unumwundene Verdammung verbiete.[166] Heute ist das Verständnis dafür, dass dies Menschen waren, die von deutscher Macht in eine unmögliche Situation gebracht worden waren, an die Stelle der Klagen über mangelnden Kampfgeist getreten. Erkennt man dies an, wird jede trotzige Geste bewegend, wie diejenige von Erschießungsopfern, die ihre Geldscheine zerrissen, damit sie nicht von den Deutschen benutzt werden konnten. Die Juden versuchten sich den Deutschen mit kleinen nonkonformen Handlungen zu widersetzen – indem sie Tagebuch führten, an Musikaufführungen teilnahmen oder Lebensmittel und Arzneimittel schmuggelten, die ihr eigenes Leben und dasjenige anderer verlängerten. Unter einem Regime, das seine Opfer verhungern ließ und entwürdigte, bevor es sie direkt umbrachte, war das Bemühen, sich nicht entwürdigen und entmenschlichen zu lassen, oder auch nur am Leben zu bleiben, eine Form des Widerstands.[167]
Ein immer genaueres Verständnis des Holocausts hat eine Vielzahl weiterer Akteure auf die historische Bühne gebracht, die nicht durchweg zur Haupttäter- oder Hauptopfergruppe gehörten, also Deutsche oder Juden waren. Die Stockholmer Erklärung des Internationalen Forums über den Holocaust vom Januar 2000 spricht von den »Schrecken, die die jüdischen Mitmenschen durchleben mussten«, fügt dann aber hinzu: »Das schreckliche Leid der Millionen weiterer Opfer der Nazis hat auch das gesamte Europa mit einer unauslöschlichen Narbe gezeichnet.«[168] Das ist ein Hinweis auf die Tatsache, dass die Juden nicht die einzige Opfergruppe der Nationalsozialisten waren, ebenso wie es Tatsache ist, dass es den Deutschen nie an Kollaborateuren bei der Ermordung der Juden fehlte. Dies sind schwierige, aber unbestreitbare Wahrheiten.
Die »Universalisierung« des Holocausts in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, seine Stellung als ultimatives Beispiel von Unmenschlichkeit, ist ein Grund dafür, dass wir vergleichen können und müssen. Und es gibt ein Wort, das uns dabei hilft: Genozid. Tatsächlich ist es ein Nebenprodukt des Holocausts, geprägt von dem polnischen Juden Raphael Lemkin, der es in einem Buch benutzte, das er nach seiner Flucht aus Polen zunächst nach Schweden, dann in die Vereinigten Staaten 1944 veröffentlichte. Der Begriff lag zum Teil auch der Anklage des Nürnberger Militärgerichtshofs zugrunde, der zusammentrat, um die Haupttäter der deutschen Kriegsverbrechen abzuurteilen. Auch an der Verabschiedung der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords im Jahr 1948 war Lemkin maßgeblich beteiligt. Über das Thema und insbesondere die Notwendigkeit der Bestrafung der Täter – er war von Beruf Jurist mit Schwerpunkt Völkerrecht – nachzudenken begonnen hatte er, als er in den 1920er-Jahren vom Schicksal der Armenier erfuhr.[169]
Hitler bewunderte, was die Türken den Armeniern 1913 – 1916 angetan hatten, und er war sich bewusst, dass man die Türkei für ihr Handeln international nicht zur Rechenschaft gezogen hatte.[170] Eine Woche vor dem Angriff auf Polen im Herbst 1939 fragte er die Oberbefehlshaber der Wehrmacht sarkastisch: »Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?«[171] Der Holocaust wies einige Parallelen zum Völkermord an den Armeniern auf. Auch ihm waren einzelne Gewaltakte vorangegangen, und wie der Holocaust war er eine in einem Krieg ergriffene und von der Regierung unterstützte Maßnahme gegen einen vermeintlichen »inneren Feind«, die von einer Ideologie der nationalen Wiedergeburt angetrieben wurde. Aber es gab auch Unterschiede. Einer war strategischer Art: Obwohl die türkische Behauptung eines armenischen Aufstands falsch war, stellten die Armenier sicherlich potenziell eine größere innere Bedrohung dar als die Juden im deutsch kontrollierten Europa. Die türkische Politik beruhte nicht auf biologischem Rassismus, und Zehntausende Armenier retteten sich, indem sie zum Islam konvertierten. Außerdem war das Morden nicht allgemein. Neben den Armeniern, die sich der Gewalt durch Flucht entzogen, überlebten 140 000 in der Türkei und wurden Bürger der nach dem Krieg gegründeten türkischen Republik – in der sie allerdings stark diskriminiert wurden. Die Täter des Völkermords dachten offenbar nicht, dass sie ihre Aufgabe nicht ganz erfüllt hatten, noch gingen sie gegen außerhalb des anatolischen Kernlands – im osmanischen Jerusalem etwa – lebende Armenier vor.[172] Dennoch war der Völkermord an den Armeniern in Hitlers Augen ein Vorläufer. Beim Vergleich beider Ereignisse findet man Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede. Beide sind von Bedeutung, und zu vergleichen heißt nicht gleichsetzen.
Dies gilt mutatis mutandis auch, wenn man den Holocaust in den größeren Zusammenhang des Vorgehens des NS-Regimes im Zweiten Weltkrieg stellt, insbesondere in denjenigen der Geschehnisse an der Ostfront. Die Vernichtung der europäischen Juden stand im Mittelpunkt eines mörderischen bevölkerungspolitischen Programms, das Millionen nichtjüdischer Zivilisten das Leben kostete, hauptsächlich Slawen – Russen, Ukrainer, Polen, Serben. Darüber hinaus ließen die Deutschen drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene an Hunger und Entbehrung sterben. Der Historiker Christopher Browning hat angemerkt, dass diese Massentode, wäre das NS-Regime im Frühjahr 1942 zusammengebrochen, als das größte seiner Kriegsverbrechen angesehen worden wären.[173] Mörderisches deutsches Vorgehen betraf viele Gruppen: Zeugen Jehovas, Schwule, Behinderte. In Auschwitz wurden auch Geisteskranke, sowjetische Kriegsgefangene und nichtjüdische Polen vergast, ebenso wie 20 000 Sinti und Roma aus dem »Zigeunerlager«. Aber selbst dort, wo das mörderische deutsche Vorgehen Millionen ziviler Opfer das Leben kostete, bestand nicht die Absicht, alle Polen oder Russen zu töten; vielmehr sollten sie auf die Stufe von Sklaven herabgedrückt werden. Die antislawische Haltung der deutschen Besatzer hatte rassistische Wurzeln, war aber nicht durchgängig vorhanden. Kroaten, Slowaken und Bulgaren, ebenfalls Slawen, galten als »Rassenverbündete«; sogar manche Polen hielt man der Germanisierung für würdig.
Die deutsche Politik gegenüber Sinti und Roma verdeutlicht vielleicht mehr als jede andere sowohl die Ähnlichkeiten als auch die grundsätzlichen Unterschiede der Behandlung anderer Opfergruppen im Vergleich zum Vorgehen gegen die Juden. Gab es einen Porrajmos, einen Roma-Holocaust? Ein SS-Dokument vom März 1938 befasst sich mit der »Lösung der Zigeunerfrage«, und während des Krieges wurde insbesondere in der SS viel darüber diskutiert, ob die »Zigeuner« in dieselbe Kategorie gehörten wie die Juden. Der in Brasilien geborene SS-Mann Pery Broad, der von 1942 bis 1945 in der politischen Abteilung von Auschwitz arbeitete, sagte später aus, es sei »der Wille des allmächtigen Reichsführers« Himmler gewesen, »die Zigeuner vom Erdboden verschwinden zu lassen«.[174] In der Praxis war das deutsche Vorgehen jedoch nicht einheitlich. Der Befehl, »Zigeuner« aus der Wehrmacht auszuschließen, erging erst 1941, und manchen wurde bis 1943 zu bleiben gestattet. Darin spiegelte sich die Diskussion darüber wider, wie Sinti und Roma einzuordnen waren. Himmler war überzeugt, dass manche Roma »reinblütige« Nachfahren eines arischen Stammes waren, weshalb er sich gegen ihre Deportation aus Deutschland und Österreich aussprach. Im deutsch besetzten Mittel- und Osteuropa wurden Sinti und Roma jedoch wie Juden durch Massenerschießungen getötet und in Todeslager geschickt. Das ungleichmäßige Flickwerk der deutschen Politik tritt jedoch in den von Land zu Land stark differierenden Todesraten zutage. In Lettland und Estland oder auf der Krim, wo Einsatzgruppe D ihre Anweisungen anders auslegte als andere Einsatzgruppen und alle Sinti und Roma tötete, die sie finden konnte, überlebten nur wenige. Auch im Protektorat Böhmen und Mähren war die Todesrate hoch. Anderswo, etwa in Serbien und Ungarn, überlebte dagegen die Mehrheit der Sinti und Roma. Die Gesamtzahl der Ermordeten, die allgemein auf 200 000 bis 500 000 geschätzt wird, ist entsetzlich genug, zumal manche sie noch höher ansetzen. Die Größe der Vorkriegsbevölkerung der Sinti und Roma lässt sich zwar nicht mit Sicherheit angeben, aber der Anteil der Ermordeten könnte ein Viertel betragen haben. Dass er nicht höher war, ist eine Folge nicht nur von uneinheitlichem Vorgehen und umstrittenen Definitionen, sondern auch der Ende 1941 offenbar getroffenen Grundsatzentscheidung, wandernde Sinti und Roma zu töten, sesshafte aber zu verschonen. Dies erklärt auch, warum die Deportationsraten aus Westeuropa so niedrig waren.[175]
Leid ist unteilbar, und Mord ist Mord. Es ist richtig und sogar unerlässlich zu erkennen, dass der Holocaust Teil eines größeren mörderischen Vorhabens des NS-Regimes war. Rassistisches Denken trieb die NS-Politik gegenüber slawischen »Untermenschen« und »gemischtblütigen« Zigeunern an und lag auch der Zwangseuthanasie von behinderten Deutschen zugrunde. Aber die Nationalsozialisten hoben die Juden als besondere, einzigartige rassische Bedrohung heraus. Die Juden erfüllten alle Kriterien der NS-Dämonologie, rassische, politische, ökonomische, soziale und kulturelle. Sie waren aus ihrer Sicht zugleich der innere Feind sowie Schmarotzer, Krankheitsherde, Spekulanten und Ausbeuter, aber auch Revolutionsanstifter und degenerierte Agenten kultureller Zersetzung. Und nur in Bezug auf die Juden beschlossen die Nationalsozialisten im Herbst 1941, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind zu töten. Diese systematische Anstrengung, sämtliche Angehörigen einer ethnischen Gruppe zu töten, macht die Ermordung der europäischen Juden zu einem Sonderfall. Dies spiegelt sich in der Tatsache wider, dass ein derart großer Anteil der in Reichweite des NS-Regimes befindlichen Juden tatsächlich getötet wurde. Und deshalb wurden in den Papieren für die Wannseekonferenz auch noch die winzigen jüdischen Gemeinden von Irland und Portugal aufgeführt, die das Regime zu diesem Zeitpunkt nicht in die Hand bekommen konnte.[176]
Die Juden, die sich in seinem Herrschaftsbereich befanden, hätten ohne die Kollaboration von Nichtdeutschen, die es überall unterstützten, von Trondheim bis Athen und von Biarritz bis Babi Jar, nicht derart umfassend ermordet werden können. Der Holocaust war ein deutsch geleitetes gesamteuropäisches Ereignis, ein »höchst transnationales« Unterfangen.[177] Die Komplizenschaft von Nichtdeutschen nahm verschiedene Formen an. Es gab die Zusammenarbeit von Verbündeten und Satellitenstaaten wie Italien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien und der Slowakei. Daneben gab es nichtstaatliche Akteure, von spontanen Mobs über Paramilitärs bis zu von den Deutschen organisierten lokalen Polizeikräften, die für die Ermordung der Juden im Baltikum sowie in Polen, Weißrussland und der Ukraine unverzichtbar waren. Und schließlich gab es die indirekte, ermöglichende Mithilfe von Beamten, Unternehmern und anderen, die auf die eine oder andere Weise zu Komplizen wurden.
Rumänien, das Land mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde Europas, ermordete mehr Juden als jedes andere Land außer Deutschland. Der Antisemitismus war tief in der rumänischen Politik verwurzelt. Vorkriegsministerpräsident Octavian Coga, einer jener Dichter-Politiker, die in jenen Jahren Konjunktur hatten, wollte eine halbe Million Juden aus allen Funktionen im nationalen Leben entfernen und sie ausbürgern. Sein Stellvertreter, Alexander Cusa, sah sich selbst als wahren Vater des modernen Antisemitismus – und Hitler als nicht mehr denn einen Gefolgsmann. Ihre Regierung stürzte nach drei Wochen an der Macht, aber die antisemitischen Maßnahmen wurden fortgesetzt. Nach Kriegsausbruch wurde König Karl II. vom starken Mann der rumänischen Politik, General Ion Antonescu, gezwungen, zugunsten seines Sohns abzudanken. Die faschistische Eiserne Garde übernahm die Regierung und verkündete eine Politik der »Romanisierung«, durch die Juden aus Wirtschaft, freien Berufen, Schulen und Universitäten vertrieben werden sollten. Im Juli 1940 verlor Rumänien Gebiete an die Sowjetunion und Ungarn. Die Schuld daran, die eigentlich die deutsche Diplomatie trug, schob man den Juden in die Schuhe. Die Armee beging bei ihrem Rückzug ein Massaker. Und es sollte noch schlimmer kommen. Nach einem gescheiterten Putsch im Januar 1941 lief die Eiserne Garde drei Tage lang im jüdischen Viertel von Bukarest Amok und mordete mit »absoluter Bestialität«, wie ein Zeuge festhielt.[178] Nachdem rumänische Truppen im Rahmen des »Unternehmens Barbarossa« in die Sowjetunion eingefallen waren, wobei der »jüdisch-bolschewistische« Feind ihnen schwere Verluste zufügte, fand die erste Massentötung von Juden auf rumänischem Boden statt, in Iasi, der Geburtsstadt Alexander Cusas und politischen Ausgangsbasis des Gründers der Eisernen Garde, Corneliu Codreanu. Soldaten, Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter und Legionäre der Eisernen Garde erstachen, erschlugen und erschossen Tausende von Juden und plünderten ihre Leichen, bevor sie Tausende weitere Juden in versiegelte Güterwagen sperrten, in denen sie erstickten oder verdursteten.
Dieses Pogrom in Iasi hatte der italienische Journalist Curzio Malaparte miterlebt, bevor er zum Essen mit Hans Frank nach Warschau flog. Dessen Erstaunen über die Brutalität der Rumänen war freilich heuchlerisch, denn Offiziere der Aufklärung der Wehrmacht hatten geholfen, diese angebliche Niederschlagung eines »jüdischen Aufstands« Ende Juni zu inszenieren. Einige Wochen später war die Rückeroberung der »verlorenen Provinzen« Bukowina und Bessarabien von einer antijüdischen Mordorgie begleitet, die ein Jahr andauerte. Ausgeführt wurde sie von rumänischen Truppen und Polizisten in Zusammenarbeit mit der Einsatzgruppe D und mit voller Unterstützung des Antonescu-Regimes, das eine Politik der »ethnischen Säuberung« betrieb. Juden wurden deportiert, in Arbeitslager gesperrt, erschossen, mit Sprengstoff getötet und lebendig verbrannt. Nachdem Rumänien im Oktober 1941 Odessa besetzt hatte, wurden Zehntausende getötet. Insgesamt fanden nicht weniger als 380 000 Opfer den Tod.[179]
Was das Ausmaß des Mordens betraf, war Rumänien eine Ausnahme. Ansonsten glich sein Verhalten demjenigen anderer deutscher Verbündeter. Rumänien arbeitete eng mit der Wehrmacht zusammen, verfolgte aber gleichzeitig eigene Ziele. In der besetzten Ukraine kam es zu Spannungen zwischen rumänischen Sicherheitskräften und der Einsatzgruppe D, weil eines der rumänischen Hauptziele in der ethnischen Säuberung von Ukrainern bestand, während die Deutschen bei der Ermordung von Juden ukrainische Hilfskräfte einsetzten. Am Balkan entstand eine ähnliche Diskrepanz. Das Ustascha-Regime in Kroatien richtete seine mörderische Aufmerksamkeit auf die Serben, von denen es insgesamt 400 000 tötete; gleichzeitig ermordete es allerdings auch die meisten der 45 000 Juden im Land entweder selbst oder indem es sie dem deutschen Verbündeten übergab.[180] Viele verbündete Staaten legten enormen mörderischen Eifer an den Tag, aber in manchem unterschieden sie sich doch noch von Deutschland. Rumänien und Bulgarien verfolgten in den von ihnen während des Krieges besetzten Gebieten Juden mit größerer Konsequenz als in ihrem Kernland. Rumänien zügelte außerdem die Judenverfolgung nach 1942, als die Aussicht auf einen deutschen Sieg im Krieg schwand, während Deutschland sie angesichts der absehbaren Niederlage forcierte. Diese fanatische Entschlossenheit zeigte sich unter anderem darin, dass im Juli 1944 eine kleine Zahl von Juden von den Ägäisinseln Rhodos und Kos aufs griechische Festland und – wenige Tage vor der Befreiung von Majdanek durch die Rote Armee – weiter nach Auschwitz gebracht wurde.
Eine ähnliche Dynamik war in Ungarn zu beobachten, allerdings mit besonders tragischer Wendung. Vor dem Krieg hatte der ungarische Regent, der traditionell konservative Admiral Horthy, der mit Rückendeckung der Kirche herrschte, die fanatisch antisemitische Bewegung der Pfeilkreuzler in Schach gehalten, indem er »gemäßigt« antijüdische Gesetze erließ und beispielsweise Quoten einführte. Während des Krieges verfolgte er Deutschland gegenüber eine ähnliche Linie. Zu seinen Zugeständnissen gehörten die Entsendung von 40 000 Juden als Zwangsarbeiter in den Osten und die Übergabe von 18 000 in Ungarn lebenden ausländischen Juden an die SS. Sie wurden letztlich ermordet, was Horthy in seiner Entschlossenheit bestärkte, die ungarischen Juden nicht den Deutschen zu übergeben. Im März 1942 ersetzte er den bisherigen Ministerpräsidenten durch den weniger deutschfreundlichen Miklós Kállay. In den folgenden zwei Jahren ergriff sein Regime zwar weitere antijüdische Maßnahmen, widerstand aber dem deutschen Druck, die große jüdische Gemeinde Ungarns auszuliefern oder Juden den gelben Stern tragen zu lassen, was eine Vorstufe zur Deportation gewesen wäre. Auch bei einem persönlichen Treffen mit Hitler ließ Horthy sich nicht einschüchtern. Kállay stellte 1943 in einer Rede klar, dass Ungarn seine Juden nicht übergeben könne, solange die Frage, wohin sie umgesiedelt werden sollten, nicht zufriedenstellend beantwortet sei.
Die Deutschen verloren die Geduld und übernahmen im März 1944 die direkte politische Kontrolle über Ungarn. Danach wurden die ungarischen Juden mit außergewöhnlichem Tempo deportiert – rund 435 000 in nur 55 Tagen im Mai, Juni und Juli. Die meisten von ihnen wurden in Auschwitz ermordet. Zusammen mit den Opfern einer zweiten Deportationswelle im Oktober und einer Reihe von Todesmärschen verloren über eine halbe Million ungarische Juden im Holocaust ihr Leben. Dies alles geschah unter Leitung von Deutschen, die jedoch einem detaillierten Plan folgten, den rechte ungarische Generäle zwei Jahre zuvor ausgearbeitet hatten. Es gab nicht mehr als 200 SS-Männer in Ungarn, die ohne die Unterstützung der ungarischen Polizei und Bürokratie sowie der einheimischen Faschisten nicht hätten tun können, was sie getan haben. Dies traf im Sommer 1944 ebenso zu wie nach Horthys Sturz im Oktober unter der neuen Pfeilkreuzler-Regierung. Die Brutalität der Judenrazzien erinnerte an die rumänischen Ereignisse drei Jahre zuvor. Aber der Zeitpunkt bedeutete, dass einige ausländische Diplomaten und humanitäre Organisationen den Juden zu Hilfe eilten, indem sie ihnen »Schutzpässe« ausstellten, sichere Unterkünfte zur Verfügung stellten und Fluchtwege organisierten. Der bekannteste Vertreter dieser Gruppe ist der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg, der Tausenden von Juden das Leben rettete.[181]
Ein anderer diplomatischer Helfer war Giorgio Perlasca, ein ehemaliger Faschist, der im Spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger auf Francos Seite gekämpft hatte. Er war ein unwahrscheinlicher Held, aber seine Verachtung für den Nationalsozialismus brachte ihn dazu, sich ähnlich zu verhalten wie Wallenberg. Als italienischer Diplomat in Budapest distanzierte er sich von der Republik von Salò, dem von den Deutschen geschaffenen Satellitenstaat, nachdem sie im September 1943 Italien besetzt hatten. Er wurde interniert, nutzte aber einen medizinischen Pass, um bei der spanischen Botschaft vorstellig zu werden, wo er seine Bürgerkriegsverdienste geltend machte. Er nahm den Vornamen Jorge an und begann zusammen mit dem spanischen Geschäftsträger, Ángel Sanz Briz, Juden mit allen möglichen Mitteln vor der Deportation zu schützen. Gemeinsam retteten sie über 5000 Juden das Leben.[182]
In Budapest im Oktober 1944 von faschistischen Pfeilkreuzlern zusammengetriebene Jüdinnen.
Perlascas Verhalten war keineswegs typisch für die italienischen Reaktionen auf den Holocaust, aber es ist gleichwohl erstaunlich, wie wenig Unterstützung das NS-Regime, relativ gesehen, von seinem wichtigsten diplomatischen Partner erhielt. Der Antisemitismus war dem italienischen Faschismus nie besonders wichtig gewesen, was erklärt, weshalb über 10 Prozent der italienischen Juden zwischen 1928 und 1933 Mussolinis Partei beitraten. Die im November 1938 erlassenen Rassengesetze waren ein Zugeständnis an Deutschland und bei vielen Italienern unbeliebt, einschließlich führender Faschisten wie des Fliegers Italo Balbo. Juden wurden danach tatsächlich diskriminiert, aber ihre Isolation im Alltagsleben war bei Weitem nicht so vollständig wie in Deutschland. Es ist ein klassisches Beispiel des italienischen Tanzes mit dem Teufel, dass Juden sich nicht mehr in Telefonbücher eintragen lassen durften, man bei der Auskunft aber weiterhin ihre Nummern erfahren konnte. Bis 1943 blieben Juden in Italien auch während des Krieges relativ sicher, weshalb Tausende ausländischer Juden nach Italien oder in italienisch besetzte Gebiete gegangen waren. Nachdem die Deutschen Mussolinis Marionettenregime von Salò installiert hatten, versuchten sie mit mäßigem Erfolg, die italienischen Juden in Todeslager zu deportieren. Von Ende 1943 bis zur Befreiung Italiens nahmen viele italienische Organisationen an Judenrazzien teil: die Nationalgarde, die Schwarze Brigade, die Faschistische Partei, die italienische SS und faschistische Irreguläre. Ihre Aufgabe wurde durch Informanten erleichtert, aber es gab auch erheblichen Widerstand. Schon vor 1943 hatten sich italienische Soldaten und Beamte in Griechenland und Kroatien mit einfallsreichen Mitteln gegen deutsche Forderungen, Juden auszuliefern, gesträubt. Das Gleiche geschah ab Ende 1943 im besetzten Italien. Faschistische Bürgermeister schlossen gegenüber Flüchtlingen beide Augen, Carabinieri warnten vor bevorstehenden Verhaftungen, und viele Italiener versorgten Juden mit Essen, Unterkunft und falschen Papieren. Katholische Geistliche gewährten ihnen in Kirchen und Klöstern Zuflucht.[183]
Rund 85 Prozent der italienischen Juden überlebten den Holocaust; eine ähnlich hohe Überlebensrate hatte nur Dänemark zu verzeichnen. Zeitpunkt und Topografie waren zwei der Hauptgründe dafür. Das Chaos des deutschen Einmarschs in Italien ließ den Juden Zeit, sich in den Apennin oder die Alpen zu flüchten. Außerdem war die Besetzung relativ kurz – wenn auch länger als die deutsche Besetzung Ungarns. Ferner spielte es eine Rolle, dass die Juden in Italien, wie in Dänemark, eine kleine, stark assimilierte Gemeinde waren, die weder mit der Wirtschaft noch mit der kommunistischen Politik eng verbunden war. Schließlich war nicht nur die faschistische Bewegung in Italien weniger antisemitisch als ihre Pendants in Rumänien und Ungarn, sondern Italien hatte auch als Ganzes keine starke antisemitische Tradition.
Die meisten Holocaustopfer lebten in dem alten jüdischen Siedlungsgebiet, wo die Deutschen nicht durch verbündete oder Marionettenregime agierten, sondern direkt herrschten. Hier, in Polen, Weißrussland, dem Baltikum und der Ukraine, lebten Juden getrennt von der übrigen Bevölkerung. Konversionen, Mischehen und gemeinsame Aktivitäten mit der nichtjüdischen Mehrheit waren selten. Regelmäßige Pogrome belegten ein fortdauerndes, tief sitzendes antijüdisches Ressentiment. Außerdem spielte die Politik der jüngsten Zeit eine Rolle. Bevor die Deutschen im Juni oder Juli 1941 eintrafen, waren diese Gebiete seit 1939 – oder länger – von der Sowjetunion okkupiert gewesen, wovon Erbitterung über die brutale Behandlung und Deportation der lokalen Bevölkerung zurückgeblieben war. In dieser Situation wurde der Hass auf die Bolschewiken nur allzu leicht auf die Juden übertragen. Tatsächlich waren jüngere Juden als verständliche Reaktion auf die vorherige Verfolgung im lokalen kommunistischen Kader stark vertreten. Die größere Wahrheit, dass die sowjetischen Besatzer in Wirklichkeit Juden in größerer Zahl enteigneten und deportierten als Angehörige anderer Nationalitäten, vermochte die selbstgewisse Überzeugung lokaler Antisemiten nicht zu erschüttern.
Der Abzug der Sowjets und die Ankunft der Deutschen im Sommer 1941 löste in der gesamten Region eine mörderische Gewaltwelle aus, der Tausende von Juden zum Opfer fielen. Besonders in der Phase zwischen dem Abzug der Sowjets und der Ankunft der Deutschen brach die Gewalt häufig spontan aus. Aber im Hinblick darauf ist Vorsicht geboten, denn die Deutschen versuchten auch von ihnen gesteuerte Pogrome spontan erscheinen zu lassen, und in manchen Fällen gaben sie ihre Enttäuschung über mangelnde örtliche Beteiligung sogar zu den Akten. Franz Walter Stahlecker, der Kommandeur der Einsatzgruppe A, berichtete aus Litauen, dass man binnen weniger Stunden nach der Ankunft seiner Gruppe in Kaunas »einheimische antisemitische Kräfte zu Pogromen gegen die Juden veranlasst« habe, wenn auch, wie er hinzufügte, »unter erheblichen Schwierigkeiten«. Es müsse »nach außen gezeigt werden«, fuhr er fort, »dass die einheimische Bevölkerung selbst als natürliche Reaktion gegen jahrzehntelange Unterdrückung durch die Juden und gegen den Terror durch die Kommunisten in der vergangenen Zeit die ersten Maßnahmen von sich aus getroffen hat«. Später im selben Bericht kam er noch einmal darauf zurück, dass es »überraschenderweise zunächst nicht einfach« gewesen sei, »dort ein Judenpogrom größeren Ausmaßes in Gang zu setzen«.[184]
Dennoch legten litauische Antisemiten, nachdem sie einmal begonnen hatten, großen Eifer an den Tag. Eine paramilitärische Gruppe tötete Ende Juni in vier Tagen in Kaunas und seiner Umgebung nicht weniger als 5000 Juden. Fotos zeigen die Leichen von Juden, die unter den Augen einer Zuschauermenge, in der auch Frauen und Kinder waren, zu Tode geprügelt worden waren, während deutsche Soldaten fotografierten. In den berüchtigten Forts VII und IX außerhalb der Stadt fanden in wenigen Monaten 45 000 bis 50 000 Juden den Tod. Bis Ende 1941 wurden 180 000 litauische Juden ermordet, überwiegend durch litauische Milizionäre, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten.[185] Dieses Muster wiederholte sich anderswo im Baltikum und im ehemaligen jüdischen Siedlungsgebiet,[186] aber auch in der Ukraine, wo die Zahl der zusammengeschlagenen und ermordeten Opfer litauisches Niveau erreichte. Wiederum bildete die Veränderung der politischen Herrschaftsverhältnisse den Hintergrund des Mordens. Ukrainische Nationalisten veröffentlichten am 1. Juli, einen Tag nach der deutschen Besetzung von Lwiw, ein Flugblatt, in dem sie die »Zerstörung« des Judentums forderten. Rund 200 000 Juden wurden Opfer ukrainischer Antisemiten.[187] In Polen löste der deutsche Einmarsch in vorher sowjetisch besetzte ostpolnische Gebiete ebenfalls Pogrome aus. Das bekannteste geschah am 10. Juli 1941 in Jedwabne, wo man 340 jüdische Männer, Frauen und Kinder in eine Scheune sperrte, die anschließend in Brand gesteckt wurde.[188] Es war jedoch nur eines von 200 ähnlichen Vorkommnissen in dieser Zeit in vormals sowjetisch besetzten polnischen Gebieten.[189]
Je mehr wir über das Morden an Hunderten von Orten erfahren haben, desto schwerer ließ sich die Rolle von Nichtdeutschen übersehen. Bei vielen der Pogrome im Juni und Juli 1941 war ein spontanes lokales Element beteiligt. Deutsche waren jedoch überall präsent, und die mörderische Gewalt gegen Juden hätte ohne ihre Einwilligung und Aufwiegelung nicht stattfinden können. An einer zweiten Mordwelle, die 1942/43 ausgelöst wurde, waren Litauer, Ukrainer und andere als Hilfspolizisten unter deutscher Führung beteiligt. Sie mordeten, halfen, Ghettos zu leeren, bewachten bei Razzien zusammengetriebene und in Lagern eingesperrte Juden, halfen den Deutschen mit dem Wissen über ihre Gemeinden, Juden aufzuspüren – ihre ehemaligen Nachbarn –, und unterstützten sie bei Menschenjagden, bei denen ihre Kenntnis von Wäldern und Sümpfen unverzichtbar war.[190]
Die Kollaborateure hatten viele Motive: Hass oder Ressentiments gegen Juden, Antikommunismus und Nationalismus, Machtverlangen, Gewaltneigung, Angst, Karrierismus, Gruppendruck, Berechnung, Habgier.[191] Letztere sollte nicht unterschätzt werden. Es gab viel Beute zu machen. Ein ums andere Mal liest man davon, dass Häuser geplündert und Leichen gefleddert wurden. Die Täter mussten nicht in erster Linie ideologisch motiviert sein; Habgier, gepaart mit herzloser Gleichgültigkeit, genügte völlig. Auf systematische Weise wurden Leichen in den Todeslagern gefleddert, zum großen Teil zum Vorteil der Deutschen, die dort alles in der Hand hatten, und der nichtdeutschen Wachen, die bekamen, was übrig blieb. In ganz Europa wurden Menschen um des materiellen Vorteils willen mitschuldig am Schicksal der Juden. Wenigstens 10 000 Franzosen wurden Geschäftsführer vormals jüdischer Unternehmen.[192] Andere plünderten einfach. Der Fall der gestohlenen und quasi-gestohlenen Kunstwerke ist berühmt geworden. Die meisten wurden nach Deutschland geschickt, aber manche gelangten auch in die begehrlichen Hände anderer Europäer, und alle generierten Einnahmen für Händler, Transporteure und Versicherer. Kunst war jedoch nur ein Teil der geplünderten Güter. In Paris wurden 40 000 Wohnungen jüdischer Familien geräumt, wofür 1500 Möbelpacker und viele andere nötig waren, die wussten, was geschah und warum: Vermieter und Concierges, die Polizei, Sachbearbeiter von Grundbüchern, Steuerbeamte, Bankangestellte, Versicherungsagenten.
In W. G. Sebalds letztem Roman kehrt ein Jude namens Jacques Austerlitz, der als Junge mit einem Kindertransport aus Mitteleuropa nach England entkommen war, auf den Kontinent zurück, wo er von einem überlebenden Zeugen erfährt, dass die Wohnung seiner Mutter in Prag geplündert wurde. In Paris erzählt ein weiterer Zeuge, dass dort das Gleiche geschah. Louis-seize-Möbel, Meißener Porzellan, persische Teppiche, ganze Bibliotheken, Geigen, Kochtöpfe, Geschirr: Alles, »bis zum letzten Salz- und Pfefferstreuer«, wurde weggetragen und nach Deutschland geschickt. Die dafür verantwortlichen französischen Personen und Institutionen wussten, dass die internierten Juden nicht zurückkehren würden.[193] Dies geschah überall in Europa.[194] Überall gab es Faschisten und Nichtfaschisten, die diese Aufgaben erfüllten, und Polizisten, die Juden verhafteten und zu den Transitlagern brachten, von wo sie nach Auschwitz deportiert wurden. Viele andere waren indirekt beteiligt oder schauten weg.
Im deutsch besetzten Europa lebende Nichtjuden standen nicht wie jüdische Führer vor schrecklichen »entscheidungslosen Entscheidungen«, aber auch sie waren keine freien Akteure. Ihr Handlungsspielraum war begrenzt. Das eine Mal, als eine lokale Bevölkerung als direkte Reaktion auf antijüdische Maßnahmen kollektiv aufstand, erwies es sich als kontraproduktiv. Das Ergebnis unterstrich nur die deutsche Macht. Im Februar 1941 führte die Empörung der Niederländer über eine Razzia im Judenviertel von Amsterdam zu einem von der kommunistischen Partei organisierten Generalstreik. Den Anfang machten die Straßenbahnfahrer, denen sich bald andere Arbeiter anschlossen. Schließlich standen 300 000 Amsterdamer im Streik, und der Ausstand breitete sich rasch nach Utrecht und Hilversum aus. Anfangs waren die Deutschen überrascht, doch sie gewannen die Kontrolle über die Straßen binnen weniger Tage zurück. Die Folgen für die niederländischen Juden waren verheerend. Die Deportationen wurden beschleunigt. Ein Ergebnis war das »holländische Paradox«, dass ein so großer Anteil der Juden aus einem der tolerantesten Länder Europas getötet wurde – 70 Prozent, im Vergleich zu 20 Prozent der französischen Juden.[195] Außerdem wurden die Niederländer, denen Goebbels ein unbeabsichtigtes Kompliment machte, als er ihnen bescheinigte, sie seien »im ganzen Westen das frechste und aufsässigste Volk«, durch eine deutsche Machtdemonstration eingeschüchtert.[196] Dennoch gab es in den Niederlanden, wie anderswo auch, Menschen, die trotz des Risikos Juden versteckten oder mit Essen versorgten und sogar Untergrundkanäle unterhielten, durch die Juden in Sicherheit geschleust wurden, und die Wege fanden, ihre Namen anschließend aus den amtlichen Akten zu streichen. Solche Aktivitäten gab es sogar in Teilen Europas, in denen das deutsche Vorgehen gegen die Juden breite Unterstützung fand. Es ist wenig bekannt, dass Polen die größte nationale Gruppe der in Yad Vashem als »Gerechte unter den Völkern« Geehrten bilden. Nicht weniger als tausend Polen wurden hingerichtet, weil sie Juden geholfen hatten.[197]
Täter, Opfer und Zuschauer – dies war einst die bekannte Trinität des Holocausts. Die dritte Gruppe ist im Lauf der Zeit geschrumpft, da sich immer mehr Zuschauer als Täter oder wenigstens Komplizen der einen oder anderen Art herausstellten. Aber es gab im deutsch besetzten Europa trotzdem noch Zuschauer, die weder mithalfen noch Widerstand leisteten, sondern ihren eigenen Geschäften nachgingen und einfach aufs eigene Überleben bedacht waren. Damit ist auch das Verhalten mancher Institutionen, wie des Papsttums, beschrieben. Schon vor dem Krieg hatte Papst Pius XI. gezögert, Hitlers Politik direkt zu verurteilen. Im Juli 1933 schloss er mit dem neuen Regime in Deutschland ein Konkordat, und in der berühmten Enzyklika Mit brennender Sorge, die er vier Jahre später veröffentlichte, kritisierte er zwar den Rassismus, nannte den Nationalsozialismus aber nicht beim Namen. Nach seinem Tod im Februar 1939 folgte ihm Berlins Favorit Eugenio Pacelli, ein ehemaliger Nuntius in Deutschland, als Pius XII. auf dem Heiligen Stuhl. Als erzkonservativer Feind sowohl des Kommunismus als auch der Demokratie war der neue Papst noch weniger als sein Vorgänger geneigt, die Kirche in Gefahr zu bringen. Mehr noch als der in führenden Vatikankreisen herrschende Antisemitismus und Antikommunismus bestimmte dieses Bemühen seine übervorsichtige Politik. Er ließ die Pläne Pius’ XI. für kritischere Enzykliken fallen und weigerte sich selbst dann noch, die NS-Politik zu verurteilen, als 1943 im deutsch besetzten Rom Judenrazzien begannen.[198] Diejenigen, die im Rückblick Verdammungsurteile aussprachen, haben nicht immer anerkannt, dass in Rom echte Furcht herrschte. Aber man kann der lauwarmen öffentlichen Kritik des Vatikans am Nationalsozialismus durchaus die ätzende Schärfe der Angriffe der katholischen Kirche auf den Kommunismus oder ihre deutliche Ablehnung von staatlicher »Überdehnung« in den verschiedenen Kulturkämpfen des späten 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt in Deutschland, gegenüberstellen. Genauso trifft es indes zu, dass sich zwar von Polen bis Kroatien manche katholische Geistliche und Laien an der mörderischen Verfolgung von Juden beteiligten, andere aber sich völlig anders verhielten. In allen Teilen Europas boten katholische Priester Juden Zuflucht und Verpflegung, unterhielten Fluchtrouten und bezahlten manchmal mit ihrem Leben dafür.
Päpstliche Nuntien gehörten zu den Diplomaten neutraler Staaten, die am meisten zur Verbreitung der Nachrichten über den Holocaust beitrugen. Manche setzten sich bei lokalen Herrschern für eine humane Behandlung von Juden und den Stopp von Deportationen ein, wie Giuseppe Burzio in der Slowakei, Andrea Cassulo in Rumänien und Angelo Roncalli, der künftige Papst Johannes XXIII., in der Türkei. Der energischste und wirkungsvollste Fürsprecher der Juden war Angelo Rotta, der als Nuntius in Budapest eine führende Rolle bei der Schaffung des »Internationalen Ghettos« spielte, über das neutrale Staaten – Schweden, die Schweiz, Spanien, Portugal und der Vatikan – ihre schützende Hand hielten. Rotta protestierte an der Spitze neutraler Diplomaten gegen Deportationen und erlangte vom Vatikan die Genehmigung, Tausende von Schutzpässen auszugeben.[199]
Rotta arbeitete mit dem Schweizer Friedrich Born zusammen, dem Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Budapest. Auch Born war eine Ausnahme in der Organisation, für die er tätig war. Das Rote Kreuz wusste besser als die meisten, was vor sich ging. Sein stellvertretender Präsident, Carl Jacob Burckhardt, informierte sogar das US-Außenministerium über die Vergasung von Juden in den Todeslagern. Wie der Vatikan entschied sich jedoch auch das Rote Kreuz dafür, öffentlich Stillschweigen zu bewahren. Auf einer Schlüsselsitzung im Oktober 1942 wurde beschlossen, den bereits im Gang befindlichen Völkermord nicht zu enthüllen oder zu verurteilen, obwohl durch Berichte des polnischen Untergrunds sowie von Diplomaten und Zeitungskorrespondenten aus neutralen Ländern bereits Einzelheiten über ihn allgemein bekannt waren. Das Rote Kreuz hatte seinen Sitz sogar in derselben Stadt – Genf – wie der Jüdische Weltkongress, der im August 1942 meldete, dass Deutschland vorhabe, alle europäischen Juden zu ermorden. Aber die Organisation betrachtete die Sache der Juden nicht als ihre Aufgabe und fürchtete ihre Neutralität zu gefährden, wenn sie sie öffentlich ansprach. Aus denselben Gründen gab das Rote Kreuz der deutschen Forderung nach, sich an der Ostfront nicht um sowjetische Kriegsgefangene zu kümmern.[200]
Eine dritte globale Institution, die sich zurückhielt, war Hollywood. Außer Twentieth Century Fox wurden alle großen Filmstudios in Hollywood von Juden geleitet, und auch von den antinazistischen deutschen Emigranten, die dorthin gelangten, waren viele, wie oben gesehen, Juden. Dies rief eine nervöse Sorge über den institutionellen Selbsterhalt hervor, die den Befürchtungen von katholischer Kirche und Rotem Kreuz nicht unähnlich war. Wegen des potenziellen antisemitischen Gegenschlags hatten die Studiobosse durchaus Grund zur Sorge. Der vom Hays Office als Wächter über den Produktionskodex eingesetzte rechtsgerichtete Katholik Joseph I. Breen schrieb einmal an einen Freund, »Menschen, deren Alltagsmoral selbst in der Toilette eines Pesthauses nicht toleriert würde, nehmen hier die guten Stellungen ein und setzen Fett in ihnen an. 95 Prozent dieser Leute sind Juden osteuropäischer Herkunft. Sie sind wahrscheinlich der Abschaum des Abschaums der Erde.«[201] Der NS-deutsche Konsul in Los Angeles, Georg Gyssling, besuchte Probevorführungen, schrieb Briefe, schlug Änderungen vor und machte sich allgemein zu einer Landplage, bis die Vereinigten Staaten im Juni 1941 die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abbrachen.[202] Die Befürchtung der Studios, als Verfechter der jüdischen Sache wahrgenommen zu werden, wurde von der Anti-Defamation League geteilt. Die Folge war das Fehlen jeglicher Kritik an NS-Deutschland, wie vorsichtig auch immer. Selbst in einem Film über Émile Zola und die Dreyfus-Affäre blieb der Antisemitismus unerwähnt. Als Hollywood nach dem Dezember 1941 in den Krieg zog, zeichnete es ein stark verzerrtes Bild vom deutsch besetzten Europa. Die Nazis waren eine kleine Gruppe von Bösewichten, das deutsche Volk bestand überwiegend aus irregeleiteten Opfern, und die christlichen Kirchen waren sowohl das Hauptziel als auch die Hauptgegner des »gottlosen« Nationalsozialismus.[203] Die verzweifelten Flüchtlinge, die in Casablanca eine Überfahrt in einen sicheren Hafen suchten, waren zumeist Juden, aber die Flüchtlinge in Casablanca wurden nicht als solche kenntlich gemacht.
Die Alliierten waren – zumindest in ihren Verlautbarungen – deutlicher. Am 17. Dezember 1942 gaben sie eine gemeinsame Erklärung heraus, die auf einem Bericht mit Informationen des polnischen Untergrunds beruhte, den die polnische Exilregierung in London der britischen Regierung übergeben hatte. In der Erklärung hieß es unmissverständlich, »dass sich die deutschen Behörden in allen Gebieten, auf die sich ihr barbarisches Regime erstreckt, nicht nur auf die Entziehung der elementarsten Menschenrechte von Personen jüdischer Abstammung begrenzen, sondern die von Hitler mehrfach ausgedrückte Absicht verwirklichen, das jüdische Volk in Europa auszutilgen«.[204] Der britische Außenminister Anthony Eden verlas die Erklärung im Unterhaus; gleichzeitig wurde sie von den Alliierten veröffentlicht und in den Medien alliierter und neutraler Länder verbreitet. Baron Addison drückte den Ernst des Anlasses und den Schock über die Enthüllungen aus, als er den Bericht der polnischen Exilregierung im Oberhaus historisch einordnete: »Schrecklicheres ist, glaube ich, in der Geschichte der Welt noch nie von einer Regierung enthüllt worden.«[205] Im Sommer 1944 bezeichnete Winston Churchill den Völkermord als »das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen der ganzen Weltgeschichte«, eine bemerkenswerte Feststellung aus dem Munde eines Politikers, der sich gern selbst als Historiker betrachtete.[206]
Doch die Alliierten unternahmen wenig, um das Schicksal der europäischen Juden zu ändern. Churchill, der am stärksten Mitfühlende der »Großen Drei«, wollte 1944 Pläne für einen Angriff auf Auschwitz ausarbeiten lassen, aber sein Kabinett zog nicht mit. Als die deutsche Herrschaft schwächer wurde und sich die Möglichkeit ergab, Juden in Rumänien, Ungarn und anderswo zu retten – oder freizukaufen –, zögerte Großbritannien aus Furcht vor der arabischen Reaktion und daraus resultierender politischer Unruhe, Juden in sein palästinensisches Mandatsgebiet einzulassen. Stalin erwähnte die Verfolgung der Juden während des Krieges nur ein einziges Mal in einer Rede, die er im November 1941 über die deutschen Pogrome hielt. Die Sowjetunion hatte sicherlich die größte realistische Möglichkeit, Auschwitz anzugreifen, denn die Rote Armee war im Spätsommer 1944 nicht mehr weit von dem Lager entfernt und besaß, als sie das Lager im Januar 1945 schließlich einnahm, bereits seit fünf Monaten die Luftherrschaft an der Ostfront. (Eine Bombardierung von Auschwitz hätte natürlich kontraproduktiv sein können, weil bei ihr viele Juden getötet worden wären und die Deutschen die Todesmärsche, auf denen später viele ums Leben kamen, beschleunigt in Gang gesetzt hätten.) Roosevelt verhielt sich angesichts des verbreiteten Antisemitismus in der amerikanischen Bevölkerung – 1942 ergab eine Meinungsumfrage, dass 44 Prozent der Amerikaner glaubten, die Juden besäßen in den Vereinigten Staaten zu viel Macht und Einfluss – außerordentlich vorsichtig und war nicht bereit, politisches Kapital für diese Sache zu verspielen.[207] Er verurteilte das deutsche Vorgehen erst im März 1944 in aller Form, hatte allerdings schon zwei Monate zuvor – auf Druck – ein War Refugee Board gebildet, das Zehntausenden Juden das Leben rettete.
Die beiden westlichen Staatslenker wollten der NS-Propaganda nicht in die Hände spielen, indem sie den Anschein erweckten, sie würden den Krieg »für die Juden« führen. Diese echte Sorge überlappte sich mit der Überlegung, dass man den Juden am besten durch die schnellstmögliche Beendigung des Krieges helfe. Wie Stalin hatten auch Churchill und Roosevelt eine rhetorische Vorstellung von dem, was im Krieg auf dem Spiel stand, und in dieser kam das Thema der Ermordung der europäischen Juden, das stets als untergeordnet betrachtet wurde, nicht vor. Alle drei konzentrierten sich auf das unmittelbare Kriegsziel, den Sieg über Hitler und die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Dies bekräftigten sie auf den Konferenzen von Teheran und Jalta, und dies war der Kurs, dem sie bis zur deutschen Kapitulation am 7. Mai 1945 folgten.
Einen Monat vor der deutschen Kapitulation befreiten Einheiten der 6. Panzerdivision der 3. US-Armee das Konzentrationslager Buchenwald. Sie fanden 21 000 ausgemergelte Männer vor, von denen es einer kleinen Gruppe dennoch gelungen war, kurz vor dem Eintreffen ihrer Befreier von den verbliebenen deutschen Wachen die Kontrolle über das Lager zu übernehmen. Zu den Überlebenden gehörten politische Langzeitgefangene und Juden, die im Januar aus den Lagern Auschwitz und Groß-Rosen in Niederschlesien nach Buchenwald marschieren mussten. Sie stammten aus über dreißig europäischen und außereuropäischen Ländern. Manche waren vor ihrer Haft in Buchenwald bekannte Persönlichkeiten gewesen, wie der polnische Naturwissenschaftler Marian Ciepielowski und der Wiener Kabarettist Hermann Leopoldi. Andere, wie der spanische Schriftsteller und linke Aktivist Jorge Semprún, standen noch in den Zwanzigern. Semprún sollte später das tiefschürfendste Buch über die Gefangenschaft in einem nationalsozialistischen Lager und deren Nachwirkungen schreiben, Schreiben oder Leben (1994). Darin erzählt er von Menschen, die er in Buchenwald kennengelernt hat, wie die Mitglieder einer illegal spielenden Jazzcombo unter Leitung des tschechischen Schlagzeugers Jiři Žák, mit einem Serben als Saxofonisten und einem Norweger als Trompeter, die Arrangements von Semprúns gutem Freund, dem Franzosen Yves Darriet, spielte.[208] Unter den Gefangenen waren auch zwei junge Juden, gerade einmal 15, 16 Jahre alt, die später berühmt werden sollten: der in Rumänien geborene Elie Wiesel, der 1986 den Friedensnobelpreis erhielt, und der Ungar Imre Kertész, der 2002 den Literaturnobelpreis entgegennahm. Ein anderer, nur wenig älterer junger Mann, Robert Widerman, gelangte unter dem Namen Robert Clary als Schauspieler zu Bekanntheit, als er in Ein Käfig voller Helden (Hogan’s Heroes), einer in einem deutschen Kriegsgefangenenlager spielenden US-Fernsehserie aus den 1960er-Jahren, den Corporal LeBeau verkörperte.
Dies waren nur die Insassen von Buchenwald selbst. Das Lager hatte über hundert Außenlager. Bei ihrem Vormarsch in Deutschland befreiten die Alliierten mehr als tausend Lager, diejenigen von ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen nicht mitgerechnet. Alle zusammen bildeten einen riesigen Archipel von Lagern mit überwiegend nichtdeutschen Insassen, die jetzt freikamen. Der in Dachau befreite Tadeusz Borowski sprach von einem »unglaublichen, fast komischen Schmelztiegel von Völkern und Nationalitäten, der im Herzen Europa köchelte«,[209] der Historiker Karl Schlögel von einem Nachkriegsmitteleuropa voller verzweifelter »Passagiere«, die ein Leben im Transit führten.[210]
Bei Kriegsende gab es auf deutschem Territorium, zuzüglich zu den Kriegsgefangenen, rund acht Millionen sogenannte »Displaced Persons«, um die sich Hilfseinheiten der Alliierten sowie die neu gegründete Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) kümmerten.[211] Die meisten wollten in ihre Heimat zurückkehren, was bis Ende 1945 gut sechs Millionen auch erreicht hatten. Aber über eine Million blieb, überwiegend Polen, Ukrainer und Balten, die nicht in ein sowjetisch beherrschtes Gebiet gehen wollten, und Juden, die darauf warteten, in die Vereinigten Staaten oder nach Palästina reisen zu können. Deren Zahl war mittlerweile durch den Zustrom von in den Westen geflohenen oder aus Osteuropa wieder zurückgekehrten Juden auf nicht weniger als eine Viertelmillion angewachsen. Diejenigen, die zunächst nach Osteuropa gegangen waren, hatten dort ihre Wohnungen von Menschen besetzt vorgefunden, die während des Krieges in sie eingezogen und jetzt nicht bereit waren, sie aufzugeben. Aber feindselige Einheimische taten mehr, als den Rückkehrern die kalte Schulter zu zeigen. So wurden mehrere Juden, die ins südpolnische Nowy Targ zurückgekehrt waren, von polnischen Nationalisten ermordet, unter ihnen Ludwig Herz und Salomon Lindenberger, die während des Krieges von Oskar Schindler am Leben erhalten worden waren.[212] Physische Angriffe auf Juden waren alltäglich. Erneut wurde ihnen vorgeworfen, den sowjetischen Besatzungstruppen zu viel Sympathie entgegenzubringen, und manchmal waren sie mit einer Gewalttätigkeit von furchtbar bekannter Art konfrontiert. Im Juli 1946 kamen bei einem auf Ritualmordvorwürfe folgenden Pogrom in Kielce 42 Juden ums Leben.
In Deutschland wurden die Displaced Persons, fast ausnahmslos ehemalige Insassen von NS-Lagern, in Hunderten von UNRRA-Lagern untergebracht. Die beiden Hauptgruppen – Antikommunisten, häufig antisemitische Polen und Ukrainer, und Juden, darunter viele Zionisten – lebten in getrennten Lagern, in denen sie sich selbst organisierten, Komitees bildeten und Forderungen stellten.[213] Diese Langzeitheimatlosen erhielten neben Verpflegung und Unterkunft auch eine schulische oder berufliche Ausbildung. Die Lager wurden zu einer Art Laboratorium internationaler Fürsorge und ihre Insassen zu Beobachtungsobjekten von Sozialarbeitern, Psychologen und Kindeswohlexperten. Fast alle wurden schließlich angesiedelt, wenn auch nicht unbedingt »repatriiert«. Von den rund 1,3 Millionen Displaced Persons, die sich noch in der Obhut der UNRRA oder ab 1947 ihrer Nachfolgeorganisation befanden, erhielten 100 000 in Lateinamerika und 182 000 in Australien eine neue Heimat. Die Übrigen gingen in die Vereinigten Staaten oder nach Kanada beziehungsweise, im Fall der Juden, nach Palästina und nach 1948 in den neu gegründeten Staat Israel. So kurz das Nachkriegsphänomen Displaced Persons war, so tiefgreifend und wahrhaft global waren seine Auswirkungen, denn die Displaced Persons selbst ließen sich nicht nur in aller Welt nieder, sie etablierten mit ihren Erfahrungen auch die moderne Kategorie des »Flüchtlings« und den Begriff des politischen Asyls, die beide in die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 eingingen.[214]
Während Millionen Nichtdeutsche in ihre Heimat zurückkehrten oder sich anderswo niederließen, flohen Millionen Deutsche aus Ostmitteleuropa oder wurden von dort vertrieben, insgesamt rund 12,5 Millionen: 7 Millionen aus Polen, 3 Millionen aus der Tschechoslowakei und zusammengenommen 2,5 Millionen aus Russland, der Ukraine, dem Baltikum, Rumänien, Ungarn und Jugoslawien. Es war die größte unfreiwillige Völkerbewegung der modernen Geschichte. Die Deutschen flohen aus Furcht vor der Roten Armee oder wurden im Zuge ethnischer Säuberungen vertrieben, die dem ähnelten, was die Deutschen nur wenige Jahre zuvor in denselben Gebieten praktiziert hatten. Manche fanden Transportmittel. Die schneidige Gräfin Marion Dönhoff ritt auf einem Pferderücken nach Westen. Aber die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen legten den Weg, mit so vielen ihrer Besitztümer, wie in einen Handkarren passten, in beschwerlichen Fußmärschen zurück. Der Handkarren wurde später in Erinnerungen und Museen zu einem ikonischen Objekt der Geschichte von Flucht und Vertreibung.[215] Nicht weniger als eine Viertelmillion Deutsche wurden ermordet. Weitere zwei Millionen starben an Frost, Unterernährung, Krankheiten oder Erschöpfung.
Deutsche, die nach 1944 aus dem Osten flohen oder vertrieben worden waren. Man beachte die Handkarren, die zu einem Symbol von Flucht und Vertreibung wurden.
Die gegen Deutsche gerichtete Gewalt war organisiert. Sie half den kommunistischen Behörden, die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu gewinnen. Deutsche wurden in Lagern interniert, häufig denselben, welche sie vorher selbst betrieben hatten – einschließlich Auschwitz –; sie wurden gezwungen, Abzeichen zu tragen, die sie als Deutsche kenntlich machten, so wie sie zuvor andere zum Tragen von Abzeichen gezwungen hatten; und sie wurden auf Märsche geschickt, die auf schreckliche Weise an die von ihnen organisierten Todesmärsche erinnerten. Ende Mai 1945 mussten sich 30 000 aus ihren tschechischen Wohnungen vertriebene Deutsche auf einen berüchtigten Todesmarsch von Brünn (Brno) an die österreichische Grenze begeben, auf dem 1700 von ihnen ums Leben kamen. Manchmal waren sogar sowjetische Soldaten und tschechische Beamte über die Gewalt entsetzt. Bei den frühen, »wilden« Vertreibungen wurden Deutsche geschlagen, gedemütigt, erschossen oder mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt. Diese von unten kommende Gewalt wurde von einer ganzen Reihe von Motiven angetrieben, zu denen offensichtlich Rache gehörte. Aber es gab auch den Wunsch, in einer Zeit von Entbehrung und Obdachlosigkeit deutsche Wohnungen in Besitz zu nehmen, insbesondere wenn dies als Akt nationaler »Reinigung« angesehen werden konnte, worin frühere deutsche Rechtfertigungen von Brutalität widerhallten. Die Vertreibung sprach dem von den Alliierten geforderten »ordnungsgemäßen«, humanen Vorgehen Hohn. Aber die Sieger, die westlichen wie die östlichen, hatten geopolitische Gründe dafür, sowohl den deutschen Einfluss als auch das deutsche Territorium in Ostmitteleuropa zu verringern. Mit der Säuberung von allen Deutschen wurden beide Ziele erreicht. Die während des Krieges getroffenen Entscheidungen legitimierten die Vertreibung, auch wenn die Alliierten die Gewalttätigkeit der ethnischen Säuberung nicht vorausgesehen hatten.[216]
Das Schicksal der Deutschen war die größte der vielen Vertreibungen, die nach Kriegsende den Kontinent erschütterten. An der polnischen Ostgrenze forderten Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern 100 000 Tote und 1,4 Millionen Vertriebene. Zusammen mit der Ermordung polnischer Juden während des Krieges und der ethnischen Säuberung von Deutschen aus den polnischen Westgebieten verwandelte dies Polen, das vor dem Krieg 35 Prozent nichtdeutsche Einwohner hatte, in einen ethnisch homogenen Staat. Gleiches geschah auch anderswo: Aus Bulgarien wurden 150 000 Türken vertrieben, aus Dalmatien und Istrien flohen 200 000 Italiener vor Terrorkampagnen, und auch sonst überall waren in diesem »Mahlstrom der Jahrhundertmitte« erzwungene Bevölkerungsbewegungen zu verzeichnen. Die Gründung Israels hatte die Entwurzelung von 700 000 Palästinensern zur Folge, und die übereilte Teilung des indischen Subkontinents im Jahr 1947 brachte 15 Millionen Menschen in Bewegung, die von West- und Ostpakistan nach Indien oder in umgekehrter Richtung zogen.[217] In diesen Fällen folgten mit Gewalt herbeigeführte Bevölkerungsbewegungen dem Rückzug des Kolonialismus. In mancher Hinsicht war auch der Abzug der Deutschen aus von ihnen einst – manchmal schon im Hochmittelalter – kolonisierten Gebieten Ostmitteleuropas ein solcher Fall. Und es gab Parallelen zwischen den deutschen Vertriebenen und den algerischen pied-noirs 15 Jahre später.[218]
Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene durchliefen zunächst Auffanglager. Ihre Zahl war atemberaubend. Im April 1946 trafen allein in Bayern 85 000 ein, und im Juni waren es 142 000.[219] In den Lagern sollten Neuankömmlinge rasch erfasst, verpflegt und medizinisch versorgt werden, um dann, mit DDT-Puder eingestäubt, ihrer Wege zu ziehen. Aber wie in Flüchtlingslagern unserer Zeit wurden viele zu Langzeitinsassen. Schätzungsweise 10 Prozent der Flüchtlingsfamilien lebten noch 1953 in Lagern oder anderen Notunterkünften. Das Lager im oberfränkischen Poxdorf, ein ehemaliges Ersatzteillager der Luftwaffe, das zum Auffanglager von Sudetendeutschen geworden war, wurde erst 1963 geschlossen.[220] Langzeitlager schufen ein Gemeinschaftsgefühl und mögen Flüchtlingen geholfen haben, sich auf die eigenen Füße zu stellen. Aber sie waren auch ein Anzeichen dafür, wie schwer ihnen dies fiel. 1948 brach im Auffanglager Dachau ein Aufstand wegen der schlechten Bedingungen aus. Im Gegensatz zu späteren gut gelaunten Erzählungen von Ankömmlingen, die sich schnell eingelebt und ihren Weg gefunden hatten, erlebten die meisten eine »kalte Heimat«, in der sie sich nicht willkommen fühlten.[221] Dies lag zum Teil daran, dass sie aus dem Osten kamen, für den man – trotz der NS-Propaganda – im übrigen Deutschland kaum Sympathie hegte. Häufig bedeutete ihr Zuzug das Eindringen einer anderen Konfession, der ersten Katholiken oder Protestanten, die man an ihren Niederlassungsorten sah. Lagerinsassen wurden mit Seuchen und Kriminalität assoziiert; außerdem stellten sie, insbesondere in den verzweifelten ersten Nachkriegsjahren, eine Konkurrenz um knappe Lebensmittel, Treibstoff und Unterkünfte dar.
Die ländlichen Gebiete, in denen anfangs viele Flüchtlinge unterkamen, von Schleswig-Holstein bis Württemberg, waren auch die Regionen, in denen andere Deutsche vorübergehend Zuflucht gesucht hatten: Kriegsevakuierte, von denen 1946 drei Millionen noch nicht in ihre Heimatorte zurückgekehrt waren, oder Menschen, die einfach aus zerbombten Städten zu Verwandten aufs Land geflohen waren. Die Lage in den städtischen Ballungszentren war katastrophal. Bei der Dauerbombardierung Hamburgs im Juli 1943 waren die Wohnungen einer Viertelmillion Menschen sowie 300 Schulen und 25 Krankenhäuser zerstört worden. In Frankfurt am Main standen nur noch 44 000 von 177 000 Häuser; in Nürnberg war nur eins von zehn Wohnhäusern unbeschädigt geblieben, im Ruhrgebiet nur jedes zwanzigste. Insgesamt war in Deutschland ein Viertel des Hausbestands zerstört und ein mindestens ebenso großer Anteil beschädigt worden. Manche Ausgebombte kamen in hastig errichteten Wellblechhütten unter, andere begnügten sich mit beschädigten Wohnungen oder überfluteten Kellern. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die »Trümmerfrau«, die in langen Ketten ruinierte Gebäude Stein für Stein abtrug, zur Symbolfigur.
Die deutsche Industrie war weit weniger zerstört, konnte aber erst wieder in Gang gesetzt werden, als die Arbeiter eine Unterkunft hatten und das Transportsystem repariert war. 1945/46 war es aufgrund der Trümmer und der unterbrochenen Schienenwege nicht nur für Menschen schwierig, von Ort zu Ort zu kommen, sondern auch für Kohle, Lebensmittel und Rohstoffe. »Nur die Flüsse waren noch unversehrt«, erinnert sich eine Romanfigur von John le Carré an diese Jahre.[222] Aber auch dies stimmte nicht, denn die Flüsse waren voller nicht explodierter Munition sowie Schrott gesunkener Schiffe und Trümmer von Brücken, welche die Wehrmacht bei ihrem Rückzug gesprengt hatte. Die Brückenruinen – am eindrücklichsten die eingeknickte Hohenzollernbrücke in Köln – waren das nachhaltige Sinnbild einer auf den Kopf gestellten Welt. »Die Brücken knien im Wasser«, notierte der Schweizer Schriftsteller Max Frisch in seinem Tagebuch.[223]
Frisch spielte auf die von den Nationalsozialisten hinterlassene moralische Krise an. Viele ausländische Beobachter hatten allerdings den starken Eindruck, dass die Deutschen nicht wirklich erkannten, dass es eine moralische Krise gab. Es war unvermeidlich, dass die Besatzer die einheimische Bevölkerung beurteilten. Tatsächlich wurde es von ihnen erwartet. In dem von Theodor Geisel (besser bekannt als Dr. Seuss) geschriebenen und von Frank Capra gedrehten Dokumentarkurzfilm Your Job in Germany wurde amerikanischen GIs gesagt: »Ihr werdet Ruinen sehen. Ihr werdet Blumen sehen. Ihr werdet einige ausgesprochen schöne Landschaften sehen. Lasst euch davon nicht täuschen. Ihr seid in Feindesland.«[224] Das Fraternisierungsverbot für alliierte Soldaten verstärkte diese Botschaft, auch wenn es häufig missachtet wurde. Was die alliierten Soldaten bei der Befreiung der Lager sahen, schockierte sie. Im Sommer 1945 wurden in deutschen Städten und Dörfern Plakate aufgehängt, auf denen unter dem schwarzen Schriftzug »Diese Stadt ist schuld! Du bist schuld!« Bilder aus Bergen-Belsen zu sehen waren. In einem 1946 erschienenen Buch über die Frage der deutschen Schuld wies der deutsche Philosoph Karl Jaspers – dessen antinazistische Einstellung unbestreitbar war – darauf hin, dass die Anklage angesichts des Fehlens einer Autorität, welche die Verantwortung für sie einfordere, wie ein Blitz aus heiterem Himmel komme und Verwirrung auslöse.[225] Aber den Deutschen konnte kaum entgehen, welchen Schrecken sie in den Augen zumindest einiger der Besatzer auslösten. Es gibt viele Berichte darüber, wie sich kampfgestählte GIs, als sie die Lager befreiten, abwandten und weinten oder erbrachen.
Hier kann auch ein bemerkenswerter Fall von »vorher« und »nachher« angeführt werden. Während des Krieges schrieb der weltmännische britische Schauspieler Hugh Williams leichtherzige Briefe an seine Frau, einschließlich eines launischen Gedichts im Stil Noël Cowards. Aber nachdem er Bergen-Belsen gesehen hatte, wies er Cowards berühmte Aufforderung »Seien wir nicht gemein zu den Deutschen« zurück und schrieb in ganz anderem Ton an seine Frau: »Rache, Rache, Rache. Ich verachte jeden einzelnen verfaulten, schmierigen Sohn eines verdammten Bastards von ihnen […]. Solange ich raus kann und die dreckigen Schweine entweder in Käfigen oder die Straße entlanghumpeln sehe, werde ich mich nicht langweilen.« Der Schwefelgeruch ist auch ein Dreivierteljahrhundert später noch wahrnehmbar.[226] Es war der Impuls, die Deutschen mit der Nase auf ihre Verbrechen zu stoßen, der die Alliierten dazu brachte, sie in Vorführungen von Dokumentarfilmen wie Die Todesmühlen zu führen.[227]
Dass die Deutschen sich allein mit ihrem eigenen Elend zu beschäftigen schienen, verstärkte den Abscheu zusätzlich. Natürlich waren ihre Entbehrungen erschreckend real. Selbst für diejenigen, die nicht geflohen oder vertrieben worden waren, waren es harte Jahre der Obdachlosigkeit und Kellerexistenz, des verzweifelten Schwarzmarkthandels und des Diebstahls von Kohlen und Lebensmitteln. Die Alliierten folgten nicht der Kriegspraxis der Wehrmacht. Die Deutschen wurden mit alliierten Rationen am Leben erhalten, aber diese waren mager: In der amerikanischen Zone beliefen sie sich 1945 auf 860 (Kilo-)Kalorien pro Tag.[228] Eine der größten Ungewissheiten war die Rückkehr von Millionen Ehemännern und Söhnen aus dem Krieg, deren Frauen und Mütter sich häufig falsche Hoffnungen machten, da die Wehrmacht in der letzten Kriegsphase bei der Zählung der Gefallenen mit dem Geschehen nicht mehr Schritt halten konnte und man glaubte, 1,5 Millionen hätten in Kriegsgefangenschaft überlebt, weit mehr als tatsächlich.[229] Viele der wartenden Frauen erlitten Vergewaltigungen. In Berlin betraf dies 100 000 Frauen, in Ostpreußen, Schlesien und Pommern zusammengenommen 1,4 Millionen. Vergewaltigungen wurden in allen Besatzungszonen begangen, aber in besonderem Ausmaß in der sowjetischen, und sie setzten sich bis Anfang 1947 fort.[230] Für Deutsche war es ein Gewaltfrieden, eine »Wolfszeit«.[231]
Viele ausländische Schriftsteller, die in diesen Jahren Deutschland bereisten, hatten Mitgefühl mit den unter ihren Lebensbedingungen leidenden Deutschen. Der frühreife schwedische Dichter, Romancier und Literaturjournalist Stig Dagerman war mit der Tochter eines linken Deutschen verheiratet, der im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte und schließlich nach Schweden geflohen war. Er traf im Herbst 1946, kurz vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag, in Deutschland ein, wo er eine Reihe von Skizzen über das Alltagsleben der Deutschen verfasste, die unter dem Titel Deutscher Herbst als Buch erschienen. In einer Vignette erzählt er von einer alten Dame, die mit einem Beutel Kartoffeln an einer Straßenbahnhaltestelle in Hamburg wartet, als der Henkel reißt und die Kartoffeln auf die Straße rollen, wo Kinder, Frauen und Männer miteinander unter dem Hupen englischer Militärautos um die Kartoffeln rangeln. Fräulein S., die Dagerman durch die Stadt führt, kommentiert es verbittert: »Das ist das Deutschland von heute – wage das Leben für eine Kartoffel!«[232] Dagerman ärgerte sich über alliierte Journalisten, die sich damit begnügten, die Bedingungen in Deutschland »unbeschreiblich« zu nennen, ohne sie zu beschreiben. Diese Journalisten hätten die Gewohnheit, halb verhungerte Menschen in überfluteten Kellern zu fragen, ob es ihnen unter Hitler besser gegangen sei, und dann, nachdem sie die erwartete Antwort erhalten hatten, ihren Lesern zu verkünden, dass der Nazismus noch lebe. Dagerman zweifelte nicht an den NS-Verbrechen, wies aber den Gedanken einer Kollektivschuld zurück und betrachtete Hunger als schlechtes Erziehungsmittel.
Die berühmte amerikanische Auslandskorrespondentin Dorothy Thompson vertrat einen ähnlichen Standpunkt. Obwohl sie 1934 wegen ihrer antinationalsozialistischen Einstellung aus Deutschland ausgewiesen worden war, weigerte sie sich, als sie nach dem Krieg zurückkehrte, alle Deutschen schuldig zu sprechen, und sah sich bald mit der Kritik konfrontiert, sie zeige mehr Mitgefühl für die Nationalsozialisten als für deren Opfer.[233] Allerdings bildete Deutschland nach ihrer Ansicht nur einen Teil einer größeren moralischen Nachkriegskrise. Die Sympathie des jüdischen britischen Publizisten und Verlegers Victor Gollancz für das deutsche Volk wurzelte in seiner sozialistischen Überzeugung. Er sah im Nachkriegsdeutschland eine Arbeiterklasse, die gezwungen war, unter unmenschlichen Bedingungen zu leben. Besonders betroffen war er über das Kinderelend. Ihm fiel auf, dass die Kinder in kaputten, nicht passenden oder überhaupt keinen Schuhen zur Schule gingen. Sein Buch In Darkest Germany enthält viele Bilder von kaputten Schuhen. Auch seine eigene Hand ist häufig zu sehen, was er so erklärt: »Ich dachte, meine sichtbare Präsenz würde die Glaubwürdigkeit stärken und beispielsweise dem Vorwurf vorbeugen, dass es sich in Wirklichkeit um 1932 in China aufgenommene Agenturfotos handle.«[234]
Auch Stephen Spender reiste durch Nachkriegsdeutschland und berichtete in seinem Buch Deutschland in Ruinen (1946) darüber. Als zum Liberalen gewandelter Kommunist stand er der Kollektivschuldthese skeptisch gegenüber und fühlte sich in seiner offiziellen Rolle nicht wohl – er sollte der Alliierten Kontrollkommission über die Lage von Intellektuellen und Bibliotheken berichten. Stattdessen sprach er mit immer noch in Deutschland gestrandeten Polen, die ihm erklärten, Briten und Amerikaner würden die Deutschen zu gut behandeln.[235] Ein Landsmann Spenders, der anglo-irische Schriftsteller James Stern, der wie Spender teils jüdischer Herkunft war, erlebte Ähnliches. Er war mit einem von ihm »Mervyn« genannten Begleiter unterwegs, bei dem es sich in Wirklichkeit um W. H. Auden handelte, der an alte Treffpunkte zurückkehrte. Stern und Auden erfuhren von einer Gruppe Polen, wie verwundert sie über die gute Behandlung der Deutschen seien. Sie spielten ihren englischen Gesprächspartnern vor, wie deutsche Soldaten sich verhalten hätten, wenn die Rollen umgekehrt verteilt gewesen wären (und unterstrichen es »dadurch, dass sie sich auf unsere Zigarettenkippen stürzten«). Stern selbst war entsetzt darüber, wie wenig Reue die Deutschen zeigten, und gelangte zu der Ansicht, dass ihr »ungeheures Schuldgefühl« zu groß sei, um sich ihm zu stellen.[236]
Stalin, Roosevelt und Churchill hatten sich in Jalta auf eine Politik der »Entnazifizierung« geeinigt, aber was dies in der Praxis bedeuten sollte, blieb – wie vieles andere – unbestimmt. Sogar die Frage, wie die Hauptnaziführer behandelt werden sollten, war umstritten. Nach der Moskauer Deklaration der »Großen Drei« vom 1. November 1943 sollten die »NS-Verbrecher« entweder den Ländern ausgeliefert werden, »in denen ihre abscheulichen Taten ausgeübt wurden«, oder, falls keine örtliche Eingrenzung möglich war, »durch gemeinsames Urteil der Regierungen der Verbündeten bestraft werden«.[237] Auf der Teheraner Konferenz später im selben Monat zog Stalin Churchill offenbar mit dem Vorschlag auf, 50 000 summarisch hinzurichten, aber der britische Premierminister sprach selbst von summarischer Aburteilung, und in der britischen Öffentlichkeit gab es eine starke Abneigung gegen ein ordentliches gerichtliches Vorgehen. John Simon, der als Lordkanzler den höchsten Posten in der britischen Justiz innehatte, vertrat den Standpunkt, dass dies keine juristische, sondern eine politische Angelegenheit sei. Ein wie immer geartetes Gericht einzuberufen, wäre zeitaufwendig und könnte als Siegerjustiz betrachtet werden. Und was, wenn die Angeklagten den Spieß umdrehten und unangenehme Fragen stellten oder politische Reden hielten, wie Hitler es 1924 getan hatte? Aber im Sommer 1945 war Hitler tot, und die Briten hatten sich von Sowjets und Amerikanern davon überzeugen lassen, dass ein vollgültiges Gerichtsverfahren nötig war.
Der Internationale Militärgerichtshof, der im November 1945 in Nürnberg zusammentrat, bestand aus Richtern der drei alliierten Länder und Frankreichs. Nürnberg war als Sitzungsort nicht nur gewählt worden, weil das dortige Gerichtsgebäude und das benachbarte Gefängnis nicht zerbombt waren, sondern auch wegen der Bedeutung, die es als Versammlungsort der NSDAP-Reichsparteitage für den Nationalsozialismus gehabt hatte. Anklage erhoben wurde gegen 24 prominente Nationalsozialisten, von denen gegen 22 auch das Gerichtsverfahren eröffnet wurde. Nach knapp einjährigen Verhandlungen in vier Sprachen – erstmals wurde ein IBM-System für Simultanübersetzungen eingesetzt – in 400 Sitzungen, in denen Hunderte Zeugen gehört und Hunderttausende Affidavits zu den Akten genommen wurden, verurteilte das Gericht 12 Angeklagte zum Tod – einen von ihnen, Martin Bormann, in Abwesenheit – und sieben zu Haftstrafen; drei wurden freigesprochen. Zehn Verurteilte wurden am 16. Oktober 1946 gehängt; Göring hatte in der Nacht zuvor eine Zyankalikapsel geschluckt.
Das Gerichtsverfahren wurde von Zeitgenossen scharf kritisiert. Harlan Fiske Stone, der Oberste Richter der Vereinigten Staaten, bezeichnete den Prozess in einem Privatbrief als »hochgradige Lynchjustiz«. Mindestens zwei der Anklagepunkte bereiteten erhebliche Probleme. Der eine war der Vorwurf von Verbrechen gegen den Frieden, der auf der zweifelhaften Annahme beruhte, dass internationale Akteure verpflichtet seien, Konflikte mit legalen Mitteln zu lösen. Wie heuchlerisch dies war, zeigte sich darin, dass die Vereinigten Staaten dem Völkerbund nie beigetreten waren und die Sowjetunion nach ihrem Angriff auf Finnland aus ihm ausgeschlossen worden war. Was Großbritannien betraf, so hatte es bis zum September 1939 sämtliche aggressiven Handlungen Hitlers akzeptiert, wie der Historiker und Berater des britischen Außenministeriums E. L. Woodward während der Vorbereitungen des Nürnberger Prozesses hervorgehoben hatte.[238] Für den moralischen Stand der Alliierten noch unangenehmer war die Tatsache, dass die Sowjetunion mit Deutschland verbündet war, als dieses Polen angriff. Der zweite problematische Anklagepunkt war der Vorwurf der »Verschwörung gegen den Frieden«. Er war das Geisteskind von Murray Bernays vom US-Kriegsministerium. Vorher hatte er bei der Börsen- und Wertpapierkommission gearbeitet, die bei der Verfolgung von Finanzverbrechen mit Verschwörungen zu tun hatte.[239] Die anderen Alliierten griffen die Idee begeistert auf. Robert H. Jackson, dem amerikanischen Chefankläger, fiel die Aufgabe zu, den Verschwörungsvorwurf durch den Nachweis eines Aggressionsplans vonseiten Hitlers zu untermauern. Der Militärgerichtshof hätte vielleicht gut daran getan, sich auf die anderen beiden Anklagepunkte, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu konzentrieren, obwohl auch sie nicht unproblematisch waren. Sie erlaubten es den Anklägern, sowohl die Ermordung der Juden als auch Gräueltaten wie die Zerstörung von Gemeinden wie Lidice und Oradour-sur-Glane im Einzelnen zu schildern. Allerdings setzten sich die Alliierten wegen der Brandbombardierung Hamburgs und Dresdens sowie der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki dem Vorwurf der Heuchelei aus. Dem leistete auch die Sowjetunion durch ihr Beharren darauf Vorschub, das bei Katyn begangene Massaker an polnischen Offizieren im April und Mai 1940 NS-Deutschland zur Last zu legen.
Dennoch war der Nürnberger Militärgerichtshof sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft wichtig. Er half den Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu etablieren. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 war eines der Nebenprodukte. Direktere gerichtliche Nachfahren waren der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (1993), der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (1994) und der 2002 geschaffene Internationale Strafgerichtshof. Der Nürnberger Prozess diente auch einem zeitgenössischen Zweck. Primo Levi sprach später von dem »(symbolischen, unvollständigen, tendenziösen) Mysterienspiel von Nürnberg«, hielt es aber für »völlig gerechtfertigt«.[240] Die Hauptkriegsverbrecher waren nicht durch Standrecht, sondern durch ein förmliches Gerichtsverfahren zur Rechenschaft gezogen worden. Die Urteile waren ausgewogen und ergingen gegen Einzelne, was die deutsche Kritik an der Idee der »Kollektivschuld« hätte beschwichtigen müssen, aber natürlich nicht tat.
Nürnberg war ein Präzedenzfall für den Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten, der im April 1946 zusammentrat, und die vielen Nachfolgeprozesse in Deutschland. Einige der wichtigsten wurden ebenfalls in Nürnberg abgehalten, aber von den Vereinigten Staaten allein. Der erste war der im Dezember 1946 eröffnete Prozess gegen NS-Ärzte. Weitere elf Verfahren folgten – gegen nationalsozialistische Richter und Staatsanwälte, Minister und Diplomaten, Militärführer, Industrielle und Finanziers, SS-Offiziere und Mitglieder der Einsatzgruppen. Von den insgesamt 177 Angeklagten wurden 144 schuldig befunden; 25 von ihnen wurden zum Tod und die anderen zu Haftstrafen verurteilt – obwohl keiner von ihnen lange einsaß (der letzte wurde 1958 aus dem Gefängnis entlassen).[241] Diese weitreichenden amerikanischen Militärgerichtshöfe sind ein Grund dafür, dass die Abrechnung mit den NS-Tätern umfassender war als bei jedem anderen modernen Völkermord.[242] Außerdem hatten sie Pendants in den anderen Besatzungszonen, wo Zehntausende in Gerichtsverfahren – insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone – schuldig gesprochen wurden.[243]
Dies waren immer noch relativ bescheidene Zahlen, wenn man bedenkt, dass die NSDAP 8,5 Millionen Mitglieder hatte und weitere Millionen anderen NS-Organisationen angehörten. Die Entnazifizierung der breiten Bevölkerung ging weiter. Der ehrgeizigste Versuch, die gesamte Bevölkerung zu durchleuchten, wurde in der amerikanischen Besatzungszone unternommen. Nach einer ersten Entlassungswelle im Öffentlichen Dienst im April 1945 verpflichtete eine neue Direktive vom Juli die gesamte Bevölkerung, einen Fragebogen mit 131 Fragen auszufüllen, der bald zum Gegenstand bitterer Witze wurde, wie: »Hast du von den drei amerikanischen Schiffen gehört, die in Hamburg angelegt haben? Eins mit Lebensmitteln und zwei mit Fragebögen.« Bis Ende November beurteilte die zuständige Abteilung der US-Armee 783 000 Fragebögen, ordnete fast 164 000 Entlassungen an und empfahl 59 000 weitere.[244] Der Umfang der Entlassungen drohte den Öffentlichen Dienst zu lähmen, und in Washington wuchs die Kritik. Die Kriterien wurden gelockert, ein großer Teil der Beurteilungen den Deutschen übertragen, und die Nachsicht nahm zu. Immer mehr Beurteilte wurden in die minderschwere Kategorie der Mitläufer eingestuft, so dass das Fragebogenverfahren gewissermaßen zur »Mitläuferfabrik« wurde.[245] Die Anhörung zum Fragebogen wurde zu einer Gelegenheit, die eigene Vergangenheit reinzuwaschen und mit einem »Persilschein«, wie er sarkastisch genannt wurde, gesäubert daraus hervorzugehen.
Die Besatzungszonen im Nachkriegsdeutschland.
Die britische und die französische Besatzungszone folgten im großen Ganzen dem amerikanischen Beispiel, strebten aber nicht so ehrgeizig danach, die gesamte Bevölkerung zu durchleuchten. Da es in ihnen im Gegensatz zur amerikanischen Zone keine Meldepflicht gab, wurden sie zum Zufluchtsort schwer belasteter früherer Nationalsozialisten, insbesondere wenn sie freie Berufe ausübten oder vorübergehend als Handarbeiter unterschlüpften, wie Goebbels’ designierter Nachfolger an der Spitze des Propagandaministeriums, Werner Naumann, der als Bauarbeiter in der britischen Zone untertauchte. Franzosen und Briten maßen einer effektiven Verwaltung eine größere Bedeutung bei als die Amerikaner, weshalb sie weniger bereit waren, die Industrie von früheren Nationalsozialisten zu säubern oder wenigstens die vorgenommenen Entlassungen zu endgültigen Entscheidungen zu machen. Beispielsweise waren von den 200 höchstrangigen Volkswagenmitarbeitern, welche die Briten entlassen hatten, 138 im Februar 1947 wieder auf ihrem alten Posten.[246] Die Verhältnisse in der französischen Zone galten allgemein als die laxesten; die französischen Soldaten waren für Bestechungen empfänglich und eher bereit, über die NS-Vergangenheit hinwegzusehen, wenn jemand separatistische Ansichten äußerte, die mit der französischen Weltsicht übereinstimmten. Aber sie beurteilten wesentlich weniger Personen als »entlastet« als die Briten. Es bestand eine gewisse Konvergenz in den drei Westzonen: In allen dreien gelangten Entlassene, wie Richter und hohe Beamte, nach und nach auf ihre Posten zurück. Überall wurde das Vorgehen mit der Zeit gelockert, obwohl Deutsche sich über Willkür und Ungerechtigkeit beklagten. Es gab zweifellos viel von beidem. Eine verbreitete Klage war, dass zu viele kleine Fische zur Rechenschaft gezogen würden, während die großen davonkämen. Auch daran war viel Wahres: Die Überprüfung begann in der Regel mit den einfachsten Fällen, während potenziell schwerwiegendere auf später verschoben wurden, als die Wahrscheinlichkeit, entlastet zu werden, erheblich größer war.
In der sowjetischen Besatzungszone folgte die Entnazifizierung einem anderen Muster: Mehr Personen wurden entlassen, und weniger von ihnen kehrten auf ihre Posten zurück; Öffentlicher Dienst, Justiz und Bildungswesen wurden umfassender und nachhaltiger von ehemaligen Nationalsozialisten gesäubert, ebenso wie – gemäß der marxistischen Auffassung, dass der Kapitalismus die Wurzel des Faschismus sei – die Wirtschaft. Es gab allerdings regionale Unterschiede. Thüringen, das im Vergleich mit anderen Teilen der sowjetischen Zone eine besondere NS-Brutstätte gewesen war, hinkte beim Großreinemachen hinterher. Walter Ulbricht, der stellvertretende Vorsitzende der neuen Sozialistischen Einheitspartei (SED) und ihr starker Mann, schon bevor er Generalsekretär ihres Zentralkomitees wurde, rügte den dortigen Parteivorsitzenden im Sommer 1947 wegen der schleppenden Enteignung von Fabriken ehemaliger Nationalsozialisten.[247] Aufgrund ihres strukturelleren Ansatzes konnte man der Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone nicht vorwerfen, sie würde die großen Fische davonkommen lassen. Dafür warf sie andere Probleme auf. Obwohl den Parteiführern klar war, dass die gewöhnlichen Deutschen, einschließlich der Arbeiterklasse, keine unschuldigen Opfer des NS-Regimes waren – dass sie, marxistisch gesprochen, »im Test der Geschichte versagt« hatten –, wirkte die offiziell vertretene These von der Schlüsselrolle von Kapitalisten, Junkern und Militärs bei Hitlers Aufstieg zur Macht für alle anderen entlastend. So waren »kleine« Ex-Nazis in den Reihen der SED durchaus willkommen, vorausgesetzt, sie bekannten sich zum Aufbau des Sozialismus.
Auch in anderer Hinsicht gab es in der Praxis der Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone Verzerrungen. Bei der Besetzung offener Stellen in der öffentlichen Verwaltung und an Universitäten führte die strenge Beachtung ideologischer Kriterien und der Klassenzugehörigkeit zu vielen individuellen Ungerechtigkeiten. Sie waren auch ein Mittel, politische Gegner auszuschalten, insbesondere frühere Sozialdemokraten. Dies galt auch für die sowjetische Internierungspolitik. Alle Besatzungsmächte internierten Deutsche und benutzten dafür ehemalige NS-Lager, aber in der Sowjetzone wurden die Gefangenen besonders brutal behandelt. In den überfüllten »Speziallagern« forderten Mangelernährung und Krankheiten viele Tote. Nach späteren offiziellen sowjetischen Angaben starben 43 000 Menschen in den Lagern, das heißt jeder dritte Internierte – westliche Schätzungen lagen weit höher. Als die Sterberate stieg – sie erreichte 1947 ihren Höchststand –, wurde in den Westzonen die Kritik an den »Konzentrationslagern« immer lauter.[248]
Zu diesem Zeitpunkt war die eine Welt der Koalition gegen Hitler bereits zur zweigeteilten Welt des Kalten Krieges geworden.[249] Die von den Alliierten im Krieg eingegangene Vernunftehe war unrettbar gescheitert. Viele verschiedene Brennpunkte verschärften den Konflikt. Da war zum Ersten die Sorge des Westens über Stalins Politik gegenüber Polen und dem Iran. Ebenso beunruhigend war der 1946 ausgebrochene Bürgerkrieg zwischen monarchistischen und kommunistischen Kräften in Griechenland, obwohl Stalin die griechischen Kommunisten sogar zur Mäßigung aufgerufen hatte. Als die Briten sich aus Griechenland zurückzogen, drängte US-Präsident Harry S. Truman den Kongress am 12. März 1947 in einer Rede, die Griechen als »freies Volk« zu unterstützen. In der Truman-Doktrin, wie sie bald genannt wurde, wurde Griechenland oder das griechische Volk 49-mal erwähnt. Außerdem sprach Truman über die Gefahr des »Totalitarismus« in der Türkei und im Nahen Osten, aber auch auf dem Balkan, wo er Albanien, Bulgarien und Jugoslawien Verletzungen der Grenze zu Griechenland vorwarf. Ferner geißelte er »Zwang und Einschüchterung«, die unter Verletzung der Vereinbarungen von Jalta auf Polen und Rumänien ausgeübt würden. Deutschland kam in der Rede nur zweimal vor, beide Male mit Bezug auf das NS-Regime.[250]
Doch Deutschland war kein bloßes Opfer des Kalten Krieges, der anderswo begann. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Alliierten über die Behandlung ihres besiegten Feindes trugen wesentlich dazu bei, dass ihr gegenseitiges Misstrauen wuchs. Die Teilung Deutschlands im Jahr 1949 war wie die Konflikte, die zu ihr geführt hatten, auf doppelte Weise mit dem Ausbruch des Kalten Krieges verbunden – als Ursache und Folge. Am 5. März 1946, fast genau ein Jahr vor Trumans Kongressrede, hielt Winston Churchill in Fulton in Missouri seine berühmte Rede mit dem Bild des Eisernen Vorhangs, der sich von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria, also zwischen einer ehemals deutschen, gerade erst polnisch gewordenen Stadt und dem alten Habsburger Hochseehafen, über Europa gesenkt habe. Mitteleuropa befand sich im Mittelpunkt des frühen Kalten Krieges, und das geteilte Deutschland wurde zum starken Symbol eines geteilten Kontinents und einer geteilten Welt. Aber dies war nicht vorbestimmt, und es gab mindestens zwei andere mögliche Ergebnisse der Nachkriegssituation, die zwar nicht eintraten, aber historisch plausible Möglichkeiten darstellten.[251]
Die erste war ein ungeteiltes Deutschland in einem geteilten Europa: ein großer neutraler Staat wie ein größeres Österreich oder Finnland. Dies war die Lösung, für welche die europäische Linke in den 1980er-Jahren eintrat, als der Kalte Krieg sich erneut verschärfte, und die manche in den 1940er-Jahren angestrebt hatten – zu denen Stalin gehört haben könnte.[252] Das zweite hypothetische Ergebnis war ein geteiltes Deutschland in einem vereinten Europa. Immerhin war vonseiten der Alliierten mehrfach vorgeschlagen worden, Deutschland aufzuteilen. Auf der Teheraner Konferenz hatte Roosevelt den Plan aufgebracht, Deutschland in fünf unabhängige Staaten mit zwei unter internationaler Verwaltung stehenden Industriegebieten – dem Saar-Ruhr-Gebiet und Hamburg-Kiel mit dem Nordostseekanal – zu zerbrechen. Sumner Welles, sein einflussreicher stellvertretender Außenminister, bis ein Sexskandal ihn im September 1943 das Amt kostete, hatte sich ebenfalls für eine Aufteilung ausgesprochen, um die Aggressionsfähigkeit eines künftigen Deutschland zu begrenzen.[253] Den folgenschwersten Strafplan legte 1944 Finanzminister Henry Morgenthau vor, der forderte, Deutschland aufzubrechen und zu »agrarisieren«. In Großbritannien befürworteten die meisten Planer eine Nachkriegsteilung.[254] Stalin erwärmte sich ebenfalls für die Idee. In der Erklärung von Jalta hatten die »Großen Drei« eine »Aufgliederung« Deutschlands angekündigt.[255] Dies strebte auch Frankreich an, ebenso wie andere Nachbarn Deutschlands. Der frühere tschechische Ministerpräsident Edvard Beneš hatte 1942 geschrieben, dass Deutschland in eine dezentralisierte Konföderation, wie sie im 19. Jahrhundert bestanden hatte, umgewandelt werden sollte.[256]
Deutschland wurde tatsächlich gespalten, aber nicht zerbrochen oder aufgegliedert, wie in den während des Krieges vorgebrachten Vorschlägen vorgesehen, noch wurde es als Strafmaßnahme aufgeteilt. Im Gegenteil, die Initiative zur Zweiteilung des Landes kam von den Vereinigten Staaten, die die wirtschaftliche Erholung der drei Westzonen beschleunigen wollten. Washington begann ab 1946, gefolgt von seinen westlichen Verbündeten, von seiner ursprünglichen Haltung zu Deutschland abzurücken, und unternahm eine Reihe von Schritten, welche die dauerhafte Teilung immer unvermeidlicher machten. Mit ihren Maßnahmen reagierten die Westmächte auf die verzweifelte materielle Lage und die Furcht, sie könnten dem Kommunismus Tür und Tor öffnen, so wie ein Dutzend Jahre zuvor eine verzweifelte materielle Lage Hitlers Türöffner gewesen war. Heftige sowjetische Reaktionen auf jeden ihrer Schritte bestärkten die westlichen Staatsführer nur noch in ihrer Auffassung – ebenso wie das Verhalten von Stalins Vertretern in Polen und der Tschechoslowakei, seiner Einflusssphäre in Ostmitteleuropa. Aus Moskauer Sicht waren die Amerikaner und ihre Verbündeten Heuchler, die frühere Vereinbarungen eine nach der anderen brachen und die Flagge der »freien Welt« schwenkten, um ihr Vormachtstreben zu verschleiern. Der Weg zur deutschen Spaltung war also zum Teil mit gegenseitigen Missverständnissen gepflastert; zumindest wurde er von zwei Seiten geebnet, die sich gegenseitig in zunehmendem Maß böse Absichten unterstellten. Jenseits der Wahrnehmungsebene spielten auch automatische Reaktionen eine Rolle, in denen sich die unterschiedlichen Kriegserfahrungen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion und die völlig verschiedenen Umstände am Kriegsende widerspiegelten.
Fast ein Jahr lang nach Kriegsende funktionierte die alliierte Zusammenarbeit. Die frühesten Probleme der Viermächteverwaltung wurden zumeist von den Franzosen verursacht, nicht von den Sowjets. Der stellvertretende amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay beklagte sich im Oktober 1945 über den »Unwillen der französischen Behörden, der Bildung eines zentralen deutschen Verwaltungsapparats, wie er im Potsdamer Abkommen vorgesehen ist, zuzustimmen«. In dieser Einschätzung bestätigt wurde er durch die Erkenntnisse einer später im Herbst von Präsident Truman entsandten Untersuchungskommission, die feststellte, dass die Versuche, in Bezug auf die Eisenbahn und andere grundlegende Einrichtungen gemeinsame Maßnahmen zu ergreifen, »fast immer an der rigiden Ablehnung der Franzosen« gescheitert seien.[257] Churchills später als prophetisch angesehene Rede über den Eisernen Vorhang im folgenden Frühjahr wurde damals weithin als kriegstreiberisch kritisiert.
Im Mai 1946 verschärfte sich der amerikanisch-sowjetische Gegensatz, als Clay die »Demontage« der deutschen Industrie beendete und die in Potsdam als Reparation an die Sowjetunion vereinbarten Transfers von West nach Ost stoppte. Briten und Franzosen folgten diesem Schritt. Gründe dafür waren der strenge Winter 1945/46, das Flüchtlingsproblem und das materielle Elend überall in Deutschland. Moskau sah darin einen Verrat. In einem entscheidenden Moment der Entstehung des Kalten Krieges in Deutschland gab US-Außenminister James F. Byrnes im September 1946 einen neuen Kurs bekannt. Im Stuttgarter Opernhaus sprach er vor einem großen Publikum, zu dem neben Clay US-Senatoren und prominente Deutsche gehörten, in optimistischer Weise über die politische und wirtschaftliche Erholung Deutschlands. Das Land sei ein Teil Europas, und wenn man es »in ein Armenhaus« verwandle, werde auch die Erholung von Ländern wie Belgien und den Niederlanden in Mitleidenschaft gezogen. Die scharfen Töne vom April 1945 waren verschwunden. Dies war eine »Rede der Hoffnung«. Byrnes eröffnete sogar die Aussicht auf die Oder-Neiße-Linie als künftige deutsch-polnische Grenze.[258]
Wann wird eine Entwicklung unaufhaltsam? An welchem Punkt war die künftige Teilung Deutschlands besiegelt? Wahrscheinlich irgendwann im ersten Halbjahr 1947, einem Zeitraum, der durch drei bedeutende Ereignisse und ein ausgebliebenes Ereignis bestimmt wurde. Das erste Ereignis war die Entscheidung der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, ihre Besatzungszonen im Januar 1947 zur Bizone zusammenzulegen. Dadurch wurde der Austausch von Gütern zwischen der stark industrialisierten britischen und der stärker landwirtschaftlich geprägten amerikanischen Zone erleichtert. Außerdem verringerten sich die Besatzungskosten für die Steuerzahler in der Heimat. Der Schritt wurde als Reaktion auf praktische Umstände präsentiert, die eine künftige deutschlandweite Zusammenarbeit der Alliierten nicht ausschloss. Aber er bedeutete, dass die beiden großen westlichen Besatzungsmächte unter Abkehr von den in Potsdam vereinbarten Grundsätzen beschlossen hatten, Deutschland ökonomisch wiederaufzubauen. Zudem ließ der Zusammenschluss der beiden Besatzungszonen den Umriss eines künftigen westdeutschen Staats erkennen.
Etwas mehr als zwei Monate nach der Bildung der Bizone kamen die Außenminister der vier Besatzungsmächte in Moskau zusammen: der neue US-Außenminister George Marshall, der britische Außenminister Ernest Bevin, der französische Außenminister Georges Bidault und ihr sowjetischer Gastgeber Wjatscheslaw Molotow. Hier in Moskau hätte das ausgebliebene Ereignis stattfinden können: eine Einigung über einen Friedensvertrag mit Deutschland – oder sonst etwas. Eine Woche nach Konferenzbeginn verkündete Präsident Truman im US-Kongress seine Doktrin – dies war das zweite bedeutende Ereignis, das stattfand –, doch nicht sie ließ die Konferenz scheitern, denn wie Truman es sorgfältig vermieden hatte, die Sowjetunion beim Namen zu nennen, so vermied Molotow die Erwähnung der Truman-Rede. Im Mittelpunkt der Gespräche stand weiterhin Deutschland, und bei jedem angesprochenen Thema war man sich uneins: in Bezug auf die Kontrolle über das Ruhrgebiet, das Ausmaß des industriellen Wiederaufbaus, die Reparationen, die deutsche Entwaffnung. Bei der Vorbereitung auf die Konferenz hatten die Hardliner im US-Außenministerium die Oberhand über den Wunsch der amerikanischen Militärverwaltung in Deutschland gewonnen, weiterhin einen gemeinsamen Boden für die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Kriegsverbündeten anzustreben. Clay hatte sich verärgert von der Konferenz zurückgezogen, wurde dann aber zur Teilnahme verpflichtet. Die US-Delegation war entschlossen, die deutsche Wirtschaft wiederaufzubauen, wenn nicht anders möglich, in den Westzonen allein. Dementsprechend unterbreitete sie der sowjetischen Seite Vorschläge, mit deren Ablehnung zu rechnen war. Die ursprünglich auf drei Monate angesetzte Konferenz wurde nach sieben fruchtlosen Wochen beendet.[259]
Gegen Ende der Konferenz führte Marshall in der Hoffnung, die Verhandlungen voranbringen zu können, ein Gespräch mit Stalin. Der Kremlherr forderte zur Geduld auf, eine Vereinbarung sei immer noch erreichbar. Marshall war jedoch enttäuscht und dramatisierte die Verzögerung am 28. April in einer Radioansprache an das amerikanische Publikum zur Gefahr für den Wiederaufbau Europas: »Der Patient verendet, während die Ärzte beratschlagen.«[260] Gut fünf Wochen später verkündete er auf einer Abschlussfeier der Harvard University das Europäische Wiederaufbauprogramm, das als Marshallplan bekannt wurde. Es behandelte das Problem, wie die US-Planer es sahen, indem es die deutsche Frage in den Kontext eines notleidenden Europa stellte und das Wachstum einer freien Marktwirtschaft als Lösung für beides präsentierte. »Das wirtschaftliche Gefüge Europas ist während des Krieges vollständig zusammengebrochen«, erklärte Marshall. »Der Wiederaufbau ist dadurch, dass zwei Jahre nach Beendigung der Feindseligkeiten eine Einigung über den Frieden mit Deutschland und Österreich noch nicht erzielt werden konnte, ernstlich verzögert worden.«[261] Die Bekanntgabe des Marshallplans war nach der Bildung der Bizone und der Verkündung der Truman-Doktrin das letzte der drei Schlüsselereignisse im ersten Halbjahr 1947, und man kann es mit Fug und Recht als das bedeutendste der drei auf die Teilung Deutschland hinwirkenden Ereignisse betrachten.
In der zweiten Jahreshälfte 1947 verhärteten sich die Positionen beider Seiten. Der kommunistische Griff um Osteuropa verengte sich, im Kreml gewannen die außenpolitischen Hardliner an Einfluss, und die Sowjetunion gab die Gründung des Kommunistischen Informationsbüros (Kominform) als Nachfolger der 1943 aufgelösten Kommunistischen Internationale bekannt. Gleichzeitig dachten die Vereinigten Staaten und ihr britischer Verbündeter bereits über die Schaffung eines separaten westdeutschen Staats nach und bedienten sich in Bezug auf die deutsche Frage einer dem Kalten Krieg entsprechenden scharfen Sprache. Als die Außenminister der Kriegsalliierten Ende November erneut zusammenkamen, diesmal in London, hoffte die US-Delegation auf einen Ausbruch wütender Kompromisslosigkeit der Sowjets. Molotow tat ihr mit einer Hetzrede über gebrochene Versprechen, Heuchelei und kapitalistischen Egoismus den Gefallen. Doch dann schien er sich zum Kummer der Amerikaner für einen Kompromiss offen zu zeigen. Ein führendes Mitglied der US-Delegation, der amerikanische Botschafter in Moskau, Walter Bedell Smith, brachte es in einem Privatbrief auf den Punkt. Er schrieb am 10. Dezember 1947 besorgt an General Dwight D. Eisenhower, dessen Stabschef er einst gewesen war: »Die Schwierigkeit, mit der wir hier zu kämpfen haben, besteht darin, dass wir, trotz unserer öffentlich vertretenen Position, eine deutsche Vereinigung zu Bedingungen, denen die Russen zustimmen würden, weder wollen noch zulassen würden, selbst wenn sie die meisten unserer Anforderungen zu erfüllen scheinen.«[262] Ende 1947 stellten beide Seiten die jeweils andere als Aggressor dar. Außerdem hatten beide ihre Verpflichtungen gegenüber ihren deutschen politischen Verbündeten, deren Wünsche Teil der Rechnung waren, im Sinn. Konrad Adenauer und seine christdemokratischen Kollegen in den Westzonen waren nicht erpichter auf die Fortsetzung des sowjetischen Einflusses – und der Viermächtekontrolle an der Ruhr – als Walter Ulbricht und seine stalinistischen Genossen darauf, ihre Macht in der sowjetischen Zone zu gefährden, indem sie sich einer gesamtdeutschen Wahl stellten.
Die Geschehnisse der folgenden zwei Jahre entsprachen der 1947 entstandenen Teilungslogik. Im Februar 1948 reagierte man im Westen auf den kommunistischen Staatsstreich in der Tschechoslowakei sowohl mit echtem als auch mit theatralischem Abscheu. In Frankreich hatte der Putsch tiefgreifende Folgen, denn Schlüsselfiguren wie Georges Bidault, der bisher auf eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten gedrängt hatte, sahen die künftige Sicherheit ihres Landes jetzt innerhalb eines von den Vereinigten Staaten gestützten Bündnisses.[263] Im selben Monat kamen auf einer Sechs-Mächte-Konferenz in London die drei westlichen Besatzungsmächte mit Vertretern der Beneluxstaaten zusammen. Die Sowjetunion war nicht eingeladen worden. Das wichtigste Thema der Konferenz war die Währungsreform in Deutschland. Im März verhandelten alle vier Besatzungsmächte über eine neue, deutschlandweit eingeführte Währung, aber die Westmächte hatten für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern sollten, bereits den Plan für eine eigene Währung in der Schublade. Jack Bennett von der Finanzabteilung der amerikanischen Militärregierung sagte zu einem britischen Kollegen, er hoffe auf einen Schlussbericht mit der Feststellung von »Meinungsverschiedenheiten in zwei oder drei weltbewegenden Punkten«, das heißt Propagandapunkten, die gegen die Sowjetunion verwendet werden konnten.[264] Als die Sowjets im März aus Protest gegen die Londoner Konferenz den Alliierten Kontrollrat verließen, war für die Westmächte der Weg frei, allein zu handeln. Im Juni 1948 wurde in den Westzonen die Deutsche Mark eingeführt. Die Währungsreform war der Vorbote der Teilung, ebenso wie 1990 die Währungsreform der Vorbote der Vereinigung sein sollte. Frankreich war überredet worden mitzuziehen, und so wurde im August 1948 die Bizone durch den Beitritt der französischen Zone zur Trizone – »Trizonien«, wie viele Deutsche das Gebilde nannten. Die Bezeichnung war witzig und ironisch gemeint, hatte aber auch eine Spitze gegen die Besatzungsmächte, wie in Karl Berbuers Lied »Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien«, das zu dessen inoffizieller Nationalhymne wurde.
Berbuers Lied kam im November 1948 heraus, während der dramatischen Berliner Luftbrücke, über die Amerikaner und Briten Lebensmittel, Kohle und Treibstoff nach Westberlin flogen, nachdem die Sowjets als Vergeltung für die Währungsreform den Zugang zu der Halbstadt auf dem Landweg abgesperrt hatten. Die Luftbrücke erfüllte von Juni 1948 bis Mai 1949 323 Tage lang ihre Aufgabe. Insgesamt fanden 276 926 Flüge statt. Zeitweise landete auf dem Flughafen Tempelhof alle drei Minuten ein Flugzeug. Die Legende der Luftbrücke blendet allerdings vieles aus – die anfänglichen Zweifel, den holprigen Beginn, die Engpässe und operativen Streitigkeiten, das Glück, dass ein milder Winter den Kohlebedarf verringerte, und die Tatsache, dass der Westen zugunsten seines umfassenderen Programms bereit gewesen wäre, Westberlin zu opfern.[265] Dennoch waren die Blockade und die Luftbrücke eine diplomatische Katastrophe für Stalin, da sie den hässlichen Zwangsaspekt der sowjetischen Politik offenbarten und bei Europäern, insbesondere Deutschen, die Reste von Sympathie für die Sowjetunion zerstörten. Andererseits dämpfte die Episode bei europäischen Arbeitern wie Eliten den Argwohn gegenüber allzu »nassforschen« Amerikanern. Deutsche entnahmen den Bildern, dass die Sowjets sie aushungern wollten, während Amerikaner und Briten sie ernährten.
Die Luftbrücke brachte Gefahren mit sich. Auf amerikanischer Seite gehörte Botschafter Smith zu denjenigen, die über die Konsequenzen der Konfrontation beunruhigt waren. Andere hatten aus anderen Gründen Bedenken. George Kennan vom US-Außenministerium, ein bekannter Kritiker der sowjetischen Absichten und Fürsprecher der deutschen Teilung, war sich in Bezug auf die Teilung nach 1948 nicht mehr so sicher, weil sie die Aussicht auf eine künftige Befreiung in Osteuropa zunichtemachen würde. Sogar Präsident Truman, einer der nachdrücklichsten Verfechter der Luftbrücke, musste davon abgehalten werden, im Herbst 1948 einen letzten persönlichen Vorstoß bei Stalin zu unternehmen, der die geplante Gründung des westdeutschen Staats hinausgezögert hätte.[266] So aber konnte die Bundesrepublik Deutschland, wie geplant, im Mai 1949 gegründet werden. Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) folgte fünf Monate später. Während Truman in Bezug auf Deutschland in vieler Hinsicht unaufmerksam und schlecht informiert war, war auch Stalin hin- und hergerissen zwischen einer Teilung, welche die sowjetische Herrschaft über die Ostzone zementieren würde, und dem Fortbestehen der Vier-Mächte-Verwaltung eines vereinigten Landes.
Beide Staatsführer strebten die 1949 vollzogene Teilung bewusst an, aber dieses Ergebnis war von Mitspielern auf beiden Seiten vorbereitet worden, einschließlich deutscher Politiker. Während die Amerikaner bei den zur Teilung führenden einzelnen Entscheidungen die Führung innehatten, was kaum bestritten werden kann, handelten sie vor dem Hintergrund einer immer schärfer werdenden politischen Repression in der sowjetischen Einflusssphäre in Europa, einschließlich Ostdeutschlands. Letztlich kam es zur Teilung, weil die beiden Großmächte, die 1945 übrig geblieben waren, beide in Deutschland standen und grundsätzlich unterschiedlicher Meinung darüber waren, was mit dem besiegten Land geschehen sollte. Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung bedeuteten für sie nicht das Gleiche. Dies war sowohl eine Folge des ideologischen Gegensatzes als auch der völlig unterschiedlichen Nachkriegsumstände in den beiden Ländern – mit den Worten eines Historikers: »Das eine war fast unversehrt, das andere fast ruiniert.«[267] Der amerikanische Kontinent war nicht besetzt gewesen und hatte keinerlei physische Schäden erlitten, und das Bruttoinlandsprodukt des Landes hatte sich während des Krieges nahezu verdoppelt. Die Sowjetunion hingegen war besetzt gewesen und lag weithin in Trümmern; Landwirtschaft und Industrie waren verwüstet, 1700 Städte und 70 000 Dörfer zerstört. Die Vereinigten Staaten hatten 418 000 Kriegstote zu beklagen, während der sowjetische Verlust an Menschenleben sich auf 27 Millionen belief, also 65-mal so groß war.
Kein Wunder, dass die Sowjetunion die deutsche Industriekapazität mit anderen Augen sah und der Viermächteverwaltung des Ruhrgebiets mehr Bedeutung beimaß als die Vereinigten Staaten. Was aus westlicher Sicht wie ein zynischer kommunistischer Trick wirkte, die Deutschen arm zu halten, um ihre Not politisch ausnutzen zu können, war aus Moskauer Perspektive eine Frage der künftigen Sicherheit. Für die Sowjetunion war die Demontage- und Reparationspolitik eine Form der Entmilitarisierung. Jede westliche Abkehr von den Beschlüssen von Jalta und Potsdam schien ein Schritt zum Wiedererstarken der deutschen Wirtschaftsmacht im Interesse des amerikanischen Kapitalismus des freien Markts zum Schaden des ehemaligen sowjetischen Verbündeten zu sein. Deshalb bestand Moskau mit legalistischer Unnachgiebigkeit auf den Buchstaben der Vereinbarungen über Deutschland, selbst als sie oppositionelle politische Stimmen in ihren neuen osteuropäischen Satelliten brutal zum Schweigen brachte und dabei Zusagen brach wie das Versprechen, in Polen freie Wahlen abzuhalten. So wie die sowjetische Politik von einem Gefühl der ökonomischen und politischen Verletzlichkeit bestimmt wurde, war die amerikanische Politik Ausdruck der einzigartigen Machtfülle, welche die Vereinigten Staaten 1945 und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren besaßen. Bei Kriegsende kontrollierten sie zwei Drittel der Goldvorräte der Welt, die Hälfte der globalen Schifffahrt und über die Hälfte der weltweiten Güterproduktion. Da alle anderen Mächte – nicht nur Deutschland, sondern auch seine einstigen Verbündeten in Ost und West – am Boden lagen, befand sich Amerika in diesem historischen Schlüsselmoment in einer einzigartigen Position. 1950, ein Jahr nach der Gründung der beiden deutschen Staaten, war das Bruttoinlandsprodukt der Vereinigten Staaten immer noch größer als dasjenige der Sowjetunion, Großbritanniens, Frankreichs, Westdeutschlands, Italiens und Japans zusammengenommen.
Das internationale System nach 1945 war bipolar, das heißt, es gab anstelle der fünf Großmächte, die in den vorangegangenen 300 Jahren üblicherweise als solche galten, nur noch zwei. Aber diese zwei waren nicht gleich. Es war also eine »asymmetrische Bipolarität«. Dies entging den Sowjets natürlich nicht. In einer Rede auf einer Friedenskonferenz im Oktober 1946 in Paris führte Molotow einige der Zahlen über die ökonomische Dominanz der Vereinigten Staaten an, um seinen Angriff auf die amerikanische Forderung nach »gleichen Chancen« in Osteuropa zu untermauern. Wie »gleich«, fragte er dann, würden die Chancen in Rumänien oder Jugoslawien wirklich sein, wenn diese vom Krieg zerstörten Länder mit dem Eindringen amerikanischen Kapitals fertigwerden müssten?[268] Das hatte etwas für sich. Doch es wäre erstaunlich gewesen, wenn die Vereinigten Staaten die Gelegenheit dieses einzigartigen Augenblicks nicht genutzt hätten, um die Welt, jedenfalls einen großen Teil von ihr, in ihrem Sinn zu gestalten, umso mehr als die Instrumente der amerikanischen Vorherrschaft – der kapitalistische freie Markt und konvertible Währungen, beides gestützt von Internationalem Währungsfonds, Weltbank und Allgemeinem Zoll- und Handelsabkommen (GATT), dem Vorläufer der Welthandelsorganisation – von amerikanischen Entscheidungsträgern als Grundpfeiler der natürlichen Ordnung der Dinge betrachtet wurden. Nach ihrer Ansicht hatten Protektionismus und Autarkiestreben der Welt den Nationalsozialismus beschert und griff die Sowjetunion nun zu derselben Medizin, nur mit einem anderen Etikett auf der Flasche. Dabei spielte sicherlich Eigeninteresse eine Rolle, aber auch ein starkes Gefühl, dass Amerika eine Mission habe.[269]
Deutschlands Teilung war eine »Doppellösung« des seit Langem virulenten »deutschen Problems«.[270] Karl Berbuers ebenso ernstes wie komisches Lied über die Eingeborenen von Trizonesien zeichnet Deutsche als Spielfiguren der Alliierten:
»Ein kleines Häuflein Diplomaten
macht heut’ die große Politik,
sie schaffen Zonen, ändern Staaten.«
So sahen die Deutschen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren sich selbst, und es ist eine Möglichkeit, den Ausgang der Nachkriegszeit zu sehen: als Kondominatsvertrag von der Art, wie sie westliche Mächte in den vorangegangenen Jahrhunderten regelmäßig über schwächere Länder geschlossen hatten, zum Beispiel, als Großbritannien, Deutschland und die Vereinigten Staaten sich 1889 über die Aufteilung Samoas einigten. Aber bei dieser Sichtweise wird deutsches Handeln in zweierlei Hinsicht außer Acht gelassen. Zum einen hatte die Unterstützung der Deutschen für Hitlers Regime die Katastrophe von 1945 überhaupt erst ermöglicht und den Weg zur Teilung geebnet. Zum anderen folgten die Deutschen in allen vier Besatzungszonen nicht einfach nur den Vorgaben der Besatzungsmächte. In der sowjetischen Zone machte es Walter Ulbrichts Entschlossenheit, seine Partei an der Macht zu halten, zusammen mit deren enttäuschenden Wahlergebnissen, Stalin schwer, sich eindeutig für eine Politik der Bewahrung der deutschen Einheit zu entscheiden. Ulbricht untergrub – manche würden sogar sagen: sabotierte – durch sein Vorgehen die von Stalin bevorzugte Politik.[271] Im Westen war Konrad Adenauer, trotz aller gegenteiligen Lippenbekenntnisse, froh, die Deutschen in der Ostzone abschreiben zu können, wenn damit die Gelegenheit geschaffen wurde, einen westdeutschen Staat von der Art, wie er und seine Mitstreiter ihn wollten, aufzubauen.
Nicht nur die ideologischen Gegensätze der Besatzungsmächte verschärften sich in den Jahren 1945 bis 1949. Während das politische Leben unter alliierter Aufsicht langsam wieder in Gang kam, erfasste die Logik der Teilung auch deutsche Politiker. Im Osten, wo die Unterdrückung politischer Opposition Sozialdemokraten wie Christdemokraten betraf, geschah dies auf brutalere Weise als im Westen. Andere in der sowjetischen Besatzungszone kapitulierten vor einer sich verhärtenden Orthodoxie. Anton Ackermann, einer der bekanntesten Kommunisten, die 1945 aus Moskau zurückgekehrt waren, widerrief 1948 seine zwei Jahre zuvor geäußerte Auffassung von einem »besonderen deutschen Weg zum Sozialismus«, weil sie »dem Antisowjetismus Raum lässt«.[272] Auch im Westen verengte sich die politische Perspektive, abgesehen davon, dass allen Parteien, außer den Kommunisten, der Antikommunismus gemeinsam war. Dies passte zur politischen Stoßrichtung des Marshallplans, mit dem die Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien in ganz Westeuropa für den Antikommunismus gewonnen werden sollten.
Manche deutschen Politiker in den Westzonen waren eher bereit als andere, sich den Auffassungen der Besatzungsmächte anzuschließen. Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, ein Überlebender des NS-Lagersystems, war zwar geschworener Antikommunist und lehnte das alte Klassenkampfvokabular seiner Partei ab, stand aber auch einigen amerikanischen Maßnahmen kritisch gegenüber. Zum Liebling der Amerikaner avancierte sein Parteigenosse, der Westberliner Oberbürgermeister Ernst Reuter. Als Held der Berliner Luftbrücke stellte er sich gemeinsam mit anderen führenden SPD-Politikern hinter den amerikanischen Plan, als Gründungsdokument eines neuen westdeutschen Staats ein Grundgesetz auszuarbeiten, was Schumacher ablehnte. Für das Nachrichtenmagazin Time war Reuter, nicht Schumacher, »einer der wenigen wirklich großen Männer Westeuropas«.[273] Bei den Christdemokraten fiel die Hinwendung zur Politik der Westmächte noch deutlicher aus. Im Zuge dessen wurde ihr linker Flügel an den Rand gedrängt, und als dominierende Figur trat Adenauer in den Vordergrund, der Verfechter eines »atlantizistischen« Kurses. Der Antikommunismus gehörte bei der Gründung der Bundesrepublik und danach zu den Kernelementen von Adenauers Repertoire. Die beiden deutschen Staaten, die sich ab 1949, durch die Symbolfiguren Ulbricht und Adenauer verkörpert, gegenüberstanden, repräsentierten politische Gegensätze in konzentrierter Form.
Gab es keinen »dritten Weg«, kein Tor zu einer authentisch deutschen, linksgerichteten, aber nichtkommunistischen Lösung der Nachkriegssituation? Die antifaschistischen Komitees, die sich nach Kriegsende spontan gebildet hatten, hätten möglicherweise eine Antwort auf diese Frage sein können. In einem kleinen Teil Deutschlands gab es kurzzeitig ein kontrolliertes Experiment zur Prüfung dieser Möglichkeit. Im westlichen Erzgebirge, eingezwängt zwischen der Tschechoslowakei und Sachsen, lag ein dreieckiges Niemandsland, aus dem sich sowohl die US-Armee als auch die Rote Armee fernhielt, so dass eine halbe Million Menschen für zwei Monate unter die politische Verwaltung lokaler »Antifa«-Gruppen kamen, die sich bemühten, Lebensmittel, Verkehr und Obdach zu organisieren sowie die Rückführung von Zwangsarbeitern und den Zuzug von Flüchtlingen zu bewältigen. Das Experiment scheiterte, was zum Teil an der Größe der Aufgabe lag, aber auch am Verhalten der überwiegend jungen, männlichen, linksgerichteten Antifaschisten, die sich bewusst waren, dass ihr Herrschaftsgebiet einst eine Hochburg der Nationalsozialisten war, und deshalb den Menschen misstrauten und auf jede Enttäuschung mit derselben schroffen Überheblichkeit ihnen gegenüber reagierten, wie die Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone sie von Ulbricht und seinen Genossen kannte. Dass das Gebiet bestimmt schien, der Sowjetzone zugeschlagen zu werden – wie es dann auch geschah –, machte die Aufgabe der antifaschistischen Komitees nicht einfacher.[274] 1949 war der Antifaschismus zu einem Schlagwort von Ulbrichts Sozialistischer Einheitspartei geworden, so wie auf der anderen Seite der Antikommunismus zu einer Parole von Adenauers Christdemokraten.