Im 19. Jahrhundert war die Welt in Bewegung. Menschen und Güter reisten in nie da gewesenem Ausmaß um einen immer enger vernetzten Erdball herum, vielleicht auch in einem seither nie wieder erreichten Ausmaß, denn der Anteil der reisenden Menschen an der Gesamtbevölkerung dürfte größer gewesen sein als in unserer globalisierten Zeit. All dies wurde teils von den gleichen Kräften vorangetrieben wie heute: einem globalen Arbeitsmarkt, schnelleren und sichereren Transport- und Kommunikationsmitteln sowie einer Freihandelsideologie. Neben mehreren zehn Millionen Südasiaten und Chinesen emigrierten im 19. Jahrhundert rund 60 Millionen Europäer – eine wahre »Exit-Revolution«.[1] Unter ihnen waren 5,5 Millionen Deutsche. Ein erster, relativ kleiner Höhepunkt war 1817 nach einer Reihe von Missernten zu beobachten. Nach einer leichten Aufwärtskurve in den 1830er-Jahren entstand zwischen 1846 und 1857 eine riesige Auswanderungswelle von insgesamt rund 1,3 Millionen Menschen. Eine zweite Welle folgte zwischen 1864 und 1873 und eine noch größere dritte zwischen 1880 und 1893, als zwei Millionen Menschen das Land verließen. In den Spitzenjahren des 19. Jahrhunderts wanderten jährlich annähernd eine Viertelmillion Menschen aus.[2]
Manche hatten religiöse Gründe, wie die schwäbischen Pietisten, die nach Russland gingen, oder die preußischen Altlutheraner, die sich in Australien, Kanada und den Vereinigten Staaten ansiedelten. Auch Mitglieder der kleinen deutschen Mennonitengemeinde emigrierten. Auf katholischer Seite wanderten über hundert Anhänger des charismatischen Priesters Ambros Oschwald unter seiner Führung aus dem Schwarzwald nach Wisconsin aus, wo sie eine urchristlich-urkommunistische Kolonie gründeten.[3] Es gab auch säkulare Pendants solcher utopischer Unternehmungen. Im Frühjahr 1834 überquerten fast 500 Mitglieder der Gießener Auswanderungsgesellschaft auf zwei Schiffen den Atlantik, um in Amerika eine von Demokratie und Freiheit geprägte Kolonie zu gründen. Angeführt wurden sie von zwei Männern mit Verbindungen zur radikalen Burschenschaftsbewegung. Ihr Traum verwirklichte sich nicht, aber sie spielten eine bedeutende Rolle in der abolitionistischen Bewegung und bereicherten Missouri durch ihre Fähigkeiten in der Weinherstellung.[4] Eine berühmte deutsche Abolitionistin war der radikale Freigeist Ottilie Assing, die eng mit Frederick Douglass zusammenarbeitete und seine Geliebte wurde.[5]
Nicht immer lässt sich eine klare Trennlinie zwischen Emigranten mit politischen und religiösen Gründen und der großen Mehrheit der Auswanderer mit hauptsächlich wirtschaftlichen Gründen ziehen. Immerhin standen Erstere vor materiellen Herausforderungen, während Letztere ihre religiöse Identität und ihre Traditionen mitbrachten. Hinzu kommt, dass eine kleine Minderheit der »Wirtschaftsemigranten« Geschäftsleute oder Fachkräfte waren – Kaufleute, Ingenieure und Gelehrte –, die entweder von einem sich verengenden Markt in der Heimat verdrängt worden waren oder hofften, ihre Fähigkeiten im Ausland mit mehr Erfolg einsetzen zu können. Aber die meisten Auswanderer hatten schlichte materielle Gründe. Die Wellenbewegung der Massenauswanderung folgte dem Wirtschaftszyklus. Die meisten Auswanderer der ersten beiden Wellen waren Bauern und Handwerker aus übervölkerten Regionen im Südwesten und Westen Deutschlands. Dort waren Höfe infolge der Erbschaftsbräuche immer weiter aufgeteilt worden, bis sie zu »Zwergwirtschaften« geschrumpft waren, so dass Söhne nicht mehr mit einem ertragreichen Erbe rechnen konnten und Töchter keine nennenswerte Mitgift mehr erhielten.[6] Auswanderung schien der einzige Ausweg zu sein. Die meisten gingen wenige Jahre nach einer großen Krise, da die Familien den sich erholenden Markt nutzten, um ihr Land zu verkaufen und ihre Schulden zu begleichen. Später kamen die Auswanderer zunehmend aus dem Osten und Nordosten, wo es weniger Kleinbauernhöfe gab. Sie waren häufiger Landarbeiter und Dienstboten oder Fabrikarbeiter, die von dem Wirtschaftsabschwung betroffen waren, der 1873 einsetzte, nachdem die nach der Vereinigung entstandene Wirtschaftsblase geplatzt war.
Wohin zogen die Auswanderer? In den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts gingen viele in noch florierende Teile Nordwesteuropas. Damit setzten sie eine lange Tradition der saisonalen Migration fort, die manchmal zu dauerhafter Emigration wurde. Die Niederlande waren ein häufiges Ziel geblieben. Manche Auswanderer übten hochgeschätzte Berufe aus, etwa deutsche Konditoren in Amsterdam, doch die meisten erledigten wie ihre Vorgänger in früheren Jahrhunderten niedere Arbeiten. In Frankreich war es ähnlich. Unter den Deutschen in Paris waren Akademiker und andere mit speziellen Fähigkeiten – wie der Dichter und Satiriker Heinrich Heine –, aber die meisten entstammten der armen Landbevölkerung Hessens und der Pfalz und arbeiteten auf dem Bau, in Fabriken, als Straßenkehrer oder Dienstboten. Um 1850 lebten rund 100 000 Deutsche in Paris, was die französische Kapitale zur sechstgrößten »deutschen« Stadt auf der Welt machte.[7] Selbst während des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 blieb ihre Zahl hoch; erst in den 1880er-Jahren nahm sie deutlich ab.
In Großbritannien lebten weniger Deutsche, am Ende des 19. Jahrhunderts knapp 60 000. Bis zur Ankunft osteuropäischer Juden ungefähr zur selben Zeit stellten sie allerdings die – abgesehen von den Iren – größte Einwanderergruppe. Die Hälfte von ihnen lebte in London, kleinere Gruppen in Glasgow und Provinzstädten im Norden. Manche von ihnen waren Kaufleute oder Akademiker; in London bildeten sie in Vierteln wie Camberwell und Sydenham im Südosten kleine Kolonien. Aber die meisten Deutschen in Großbritannien stammten aus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht. Unter ihnen waren Handwerker wie Schneider und Schuhmacher, Färber und insbesondere »Zuckerbäcker« und »Zuckerkocher« in Zuckerraffinerien. Auch im Dienstleistungssektor waren viele Deutsche zu finden, nicht nur Dienstboten, sondern auch Fleischer, Bäcker, Kellner und Friseure.[8] 1900 lebten außerdem rund 2000 deutsche kaufmännische Angestellte in England. Ihre englischen Kollegen reagierten mit Unmut auf ihren Zustrom. Die Zeitschrift The Clerks’ Journal sprach 1888 missmutig von einer »unglaublichen Zahl deutscher Angestellter in London«, die sich, wie sie behauptete, auf einem »übervollen Markt« die besten Posten schnappten. Der Londoner Telegraph sah es genauso: Die Eindringlinge würden englische Angestellte »von ihren Schreibtischen vertreiben«. Ein Angestellter aus Liverpool beschwerte sich über den »unterwürfigen deutschen Angestellten Max von Sauerkraut«.[9]
In der deutschen Gemeinde in England gab es eine große Fluktuation. Während die einen nach Deutschland zurückkehrten, trafen andere ein, die ihren Platz einnahmen. Dies galt insbesondere für Berufe wie Kellner und kaufmännische Angestellte, für die der Aufenthalt in England – und im Fall der Kellner häufig auch in Frankreich – ein Auslandspraktikum darstellte, das einer Daueranstellung in einem deutschen Hotel oder Handelshaus voranging. Auch manche Handarbeiter pendelten zwischen Heimat und Ausland. Für Deutsche in Großbritannien, Frankreich oder den Niederlanden war die Aussicht auf die Rückkehr real. Je kürzer die Entfernung war, desto eher dachten sie darüber nach. Mit anderen Worten, der Auslandsaufenthalt war für viele immer noch eine Form der saisonalen Migration, selbst wenn er Jahre dauern mochte. In größerer Ferne, insbesondere außerhalb Europas, sah die Sache anders aus. Von dort war eine Rückkehr weniger wahrscheinlich, aber immer noch häufiger, als man für gewöhnlich glaubt.
Die Massenauswanderung nach Übersee war ein neuer Aspekt der Migration im 19. Jahrhundert. Sie begann vor der allgemeinen Verbreitung der neuen, dampfgetriebenen Technologien. Frühe Auswanderer legten den Weg zu den Einschiffungshäfen mit Planwagen oder auf kleinen Schiffen zurück. In Bremen oder Hamburg angekommen, gingen sie in den 1840er- und 1850er-Jahren höchstwahrscheinlich nicht an Bord eines Dampfschiffs, sondern eines Segelschiffs. Noch 1866, als die zweite große Auswanderungswelle bereits im Gang war, schifften sich zwei Drittel der Passagiere, die von Bremen aus in See stachen, auf einem Segelschiff ein. Sie galten als sicherer; außerdem waren sie billiger.[10] In den nächsten Jahren änderte sich dies jedoch drastisch. 1871 reiste nur noch jeder sechste Auswanderer auf einem Segelschiff. Die meisten nutzten, so wie sie mit der Eisenbahn zu den norddeutschen Häfen fuhren, die größere Aufnahmekapazität und Geschwindigkeit von Dampfschiffen, zumal die Ticketpreise sanken.[11] Schiffsgesellschaften, Auswanderungsagenten und Anwerber taten das Ihre, um das Geschäft anzutreiben, ebenso wie Flugschriften, die ferne Länder priesen, in denen angeblich Milch und Honig flossen, und auf direktere Weise Organisationen, die Auswanderer unterstützten, wie das katholische Raphaelswerk. Ein weiterer Aspekt der »großen Akzeleration« im 19. Jahrhundert war das Tempo, mit dem Briefe und finanzielle Zuwendungen nach Deutschland zurückgelangten.[12] Dies ermutigte die Empfänger, sich ihrerseits auf den Weg zu machen. Vorausbezahlte Tickets für Verwandte und Freunde förderten die Kettenmigration.
Massenauswanderung wird leicht als abstraktes Phänomen gesehen. Um dem entgegenzuwirken, bietet es sich an, einen bestimmten Ort näher zu betrachten. 1851 schrieb der deutsch-australische Zeitungsherausgeber Rudolf Reimer, Australien liege »[s]o zu sagen am Ende der Welt«.[13] Die Broschüre, aus der diese Worte stammen, war im Auftrag des Deutschen Einwanderungs-Vereins von Adelaide geschrieben worden. Sie sollte falsche Informationen über Land und Klima ausräumen und künftigen Einwanderern praktische Ratschläge geben. Als sie verfasst wurde, befanden sich bereits 8000 Deutsche in Südaustralien, genug, um eine erstaunliche Anzahl deutschsprachiger Zeitungen, wie die Adelaider Deutsche Zeitung und die Süd-Australische Zeitung, am Leben zu erhalten. Die ersten deutschen Einwanderer waren vor der Verfolgung in Preußen geflohene Altlutheraner gewesen, die von Hamburg aus die Reise angetreten hatten. Die erste Gruppe, die an Bord der Zebra kurz nach Weihnachten 1838 die Känguru-Insel passierte und in Holdfast bei Adelaide an Land ging, war bei ihrer Ankunft nicht mehr vollzählig, da einige Mitreisende an Typhus gestorben und auf See bestattet worden waren. Drei weitere Schiffe brachten insgesamt fast 500 Einwanderer nach Australien. Sie waren vom schottischen Besitzer der South Australia Company, einem mitfühlenden Baptisten, finanziell unterstützt worden.[14] Die Lutheraner benannten ihre Siedlungen häufig nach ihren früheren schlesischen Dörfern, wie Klemzig im Torrens Valley bei Adelaide. Ihnen folgten bald Wirtschaftsmigranten aus denselben Regionen.[15]
Die zuerst und die später Angekommenen schwärmten gleichermaßen in die Umgebung von Adelaide aus, zunächst in die Adelaide Hills und dann ins nordöstlich der Stadt gelegene Barossa Valley, wo der Boden den Anbau von Weizen, Gerste, Obst, Gemüse und Wein erlaubte. Deutsche Einwanderer eröffneten dort – wie anderswo in Australien – die ersten Weinkellereien. Die Kettenmigration, die in den 1840er-Jahren begann, setzte sich bis ins späte 19. Jahrhundert fort. Aber aufgrund hoher Geburtenraten und steigender Landpreise zogen viele deutsche Familien weiter, nach Victoria oder nach Riverina in Neusüdwales. Diese Gemeinden entsprachen dem von Deutschaustraliern gepflegten Bild vom »robusten deutschen Bauerntum«. Es war freilich schon immer irreführend gewesen, denn es blendete nicht nur Arbeiter und Arme aus, sondern auch diejenigen, die sich in Städten niedergelassen hatten. Allein in Adelaide lebten in den frühen 1850er-Jahren 2500 Deutsche.[16] Die meisten von ihnen waren Handwerker oder Arbeiter. Sie trafen sich unter anderem im Süd-Australischen Allgemeinen Deutschen Verein, dessen aus der Arbeiterklasse stammenden Mitgliedern Radikalismus nachgesagt wurde.[17] Vielleicht waren sie die »ungläubigen, zügellosen Deutschen, die jetzt«, wie ein englischer Geistlicher beklagte, »überall in unserer Bevölkerung zu finden sind«.[18] Manche deutschen Handwerker bauten sich aber auch Häuser und vermieteten dann Zimmer, um ihr Einkommen aufzubessern. Mit anderen Worten, die in Deutschland gezogene Trennlinie zwischen »rauer« und »respektabler« Arbeiterschaft wurde offenbar in Australien reproduziert.
Die reichen australischen Rohstoffvorkommen zogen auch eine höchst mobile Gruppe deutscher Bergarbeiter an. Nicht weniger als 1300 von ihnen zogen zwischen 1845 und 1855 in die neu erschlossenen Kupferminen bei Burra in Südaustralien, wo sie neben Kollegen aus Cornwall, Wales, Südamerika und China arbeiteten. Viele von ihnen kamen aus dem Harz und waren vom Staat Hannover, der ihnen das Geld für die Überfahrt lieh, zur Auswanderung ermuntert worden, um das soziale Problem des Niedergangs der heimischen Bleiförderung zu verringern.[19] Der Goldrausch der 1850er-Jahre brachte eine große Zahl von Zuwanderern nach Victoria. 1861 lebten 10 000 der 30 000 nach Australien ausgewanderten Deutschen in diesem Bundesstaat, 6000 von ihnen auf den Goldfeldern von Ballarat und Castlemaine.[20] Die meisten von ihnen schlossen sich dem steten Strom deutscher Einwanderer an, die sich in diesen Staaten und ab 1860 auch in Queensland niederließen, wo Deutsche einen großen Anteil an der Entwicklung des Zuckerrohranbaus hatten.[21]
Es gab auch wohlhabende deutsche Auswanderer. Zu dem Kreis, von dem Rudolf Reimer sich die Richtigkeit seiner Darstellung von Südaustralien bestätigen ließ, gehörten Kaufleute und Akademiker wie der in Bremen geborene Kaufmann Henry (Heinrich) Noltenius, über den eine englischsprachige Zeitung reimte: Er sei »ein Anglo-Deutscher, in dem man gefunden / Alle Tugenden beider Länder verbunden«.[22] Dies war das andere deutsche Adelaide, das aus Männern – und es waren ausschließlich Männer – aus dem wohlhabenden, gebildeten Bürgertum bestand, die sich im Deutschen Klub in der Pirie Street oder im Hotel Hamburg trafen, dem von einem Deutschen übernommenen und umbenannten ehemaligen Suffolk Inn. Kaufleute und Ärzte, Tuchhändler und Apotheker, Journalisten und hohe Geistliche verschiedener Konfessionen gründeten Gesangsvereine, unterstützten Theater und übten sich in Wohltätigkeit. Der Kontrast zu den Einwanderern aus der Unterschicht hätte kaum größer sein können. Dennoch gab es Berührungspunkte. Die vornehmen Mitglieder des Deutschen Klubs beschäftigten Deutsche – zumeist Frauen – als Dienstboten. Ihre wohltätigen Unternehmungen, wie das Vorhaben, in Adelaide ein deutsches Krankenhaus zu errichten, waren auf ihre deutschen Landsleute ausgerichtet. Sie ermutigten durch Veröffentlichungen wie Reimers Broschüre die Einwanderung von Deutschen, die sie gelegentlich auch direkt unterstützten, wie im Fall der von Noltenius ins Land geholten Bergarbeiter.
Otto Schomburgk, einer der in Reimers Broschüre genannten Bürgen seiner Darstellung, hatte einen völlig anderen Hintergrund. Der ehemalige Medizinstudent, der als radikaler Burschenschaftler bei der sächsischen Obrigkeit in Ungnade gefallen war, verdankte seine Freilassung aus der Zitadelle Magdeburg im Jahr 1837 der Intervention Alexander von Humboldts. Humboldt kannte die Familie Schomburgk und hatte zwei Brüder Ottos, Robert und Richard, als Mitglieder einer Expedition nach Britisch-Guayana empfohlen. Otto und Richard Schomburgk waren beteiligt an der Revolution von 1848. Im folgenden Jahr gründeten sie, enttäuscht und beunruhigt, zusammen mit Gleichgesinnten die Auswanderungsgesellschaft für Südaustralien, die mit finanzieller Unterstützung eines mit Humboldt befreundeten Geologen das Segelschiff Prinzessin Luise charterte. Es traf Anfang August 1849 nach viermonatiger Reise mit einer bemerkenswerten Ansammlung von Talenten unter seinen 162 Passagieren in Adelaide ein. Sie wurden als die 49er bekannt, und die Künstler und Akademiker unter ihnen sollten in den folgenden Jahrzehnten das kulturelle Leben in Südaustralien mitprägen.[23]
Die Massenmigration war also die Summe vieler Mikromigrationen. Es gab die unterschiedlichsten Deutschen in Australien; allerdings vergrößerten sich die Zahlen in Richtung unterer Mittel- und Unterschicht. In den fünfzig Jahren nach 1840 gingen rund 70 000 deutschsprachige Auswanderer nach Australien. 1891 stellten deutsche Auswanderer, von denen besonders viele in Südaustralien und Queensland lebten, ein Zwanzigstel der australischen Bevölkerung.[24] Damit bildeten sie nach Schotten und Iren die drittgrößte Einwanderergruppe. Gleiches galt für Neuseeland, wo sich zwischen 1840 und 1914 20 000 Deutsche niederließen.[25] Auch in die britische Kapkolonie in Südafrika und nach Kanada wanderten Deutsche aus; als Letzteres 1867 unabhängig wurde, lebten dort 150 000 Deutsche.[26]
Wollten Deutsche, die in nichtdeutschsprachige Länder auswanderten, ihre Sprache und Kultur bewahren, und in welchem Maß taten sie es? Dies ist eine Identitätsfrage, und was man zuallererst feststellen muss, ist, dass die sogenannten Deutsch-Amerikaner und Deutsch-Kanadier in Wirklichkeit weder das eine noch das andere ganz waren. Sie transplantierten nicht einfach die deutsche Kultur in ihr Gastland, wie Erznationalisten in der Heimat glauben wollten; aber sie passten sich in einer »Nation aus Einwanderern« auch nicht einfach an, wie Staatenbauer in Australien und Kanada es gern ausdrückten. Vielmehr führten die Zuwanderer ihr Leben auf höchst unterschiedliche Weise, häufig unabhängig von jeder nationalistischen Politik, auf einer Achse zwischen Abschottung und Integration. Viel hing von den Besonderheiten von Geschlecht, sozialer Stellung und Herkunftsregion ab.
Ein Beispiel ist das in den 1850er-Jahren vorgeschlagene, aber nie verwirklichte Projekt eines deutschen Krankenhauses in Adelaide. Das Komitee, das den Vorschlag aufbrachte, sprach anfangs von einem German Hospital; in späteren Dokumenten wurde es jedoch abwechselnd German and British, Deutsches und Britisches, Deutsch-Britisches, German and English oder English and German Hospital genannt.[27] Offensichtlich wollten diese bürgerlichen deutschen Würdenträger sich nicht abkapseln und insbesondere nicht »illoyal« erscheinen, aber die begriffliche Verwirrung verweist auch darauf, dass die Männer dieser Schicht ein transnationales Leben führten, weshalb es häufig schwer war, Anglodeutsche und Deutsch-Engländer voneinander zu unterscheiden – den englischen Kaufmann etwa, der nach Australien gekommen war, nachdem er jahrelang in Hamburg gelebt hatte, von seinem deutschen Pendant, das jahrelang in London gelebt hatte. In Adelaide und Melbourne waren beide zu Hause – vorübergehend jedenfalls, denn sie waren mobil.
Am anderen Ende des sozialen Spektrums befanden sich die Altlutheraner im Barossa Valley. Sie erfüllten alle Kriterien von Gemeinden, die wahrscheinlich ihre Sprache und Kultur bewahren würden. Sie lebten relativ isoliert auf dem Land und bildeten eine homogene Gemeinschaft; geheiratet wurde zumeist innerhalb der Gruppe, und in der Kirche, der Sonntagsschule und lutherischen Tagesschulen wurde Deutsch gesprochen. Außerdem bekräftigten sie durch Kleidung, Musik und Küche eine »Auslandsheimat« und schufen klassische »Grenzgeschichten«, wie jene über den »großen Wagenzug« vom Barossa Valley aus den Fluss Murray entlang in den Distrikt Albury in Neusüdwales. Die von ihnen konstruierte machtvolle kollektive Erinnerung war eng mit ihrer altlutherischen Identität und ihrer Herkunftsregion in Deutschland verknüpft. Aber selbst in diese Gemeinden wirkten Einflüsse hinein, die gegen eine unveränderliche, singuläre Identität arbeiteten. In den öffentlichen Schulen wurde Englisch gesprochen – manchmal, als Zugeständnis, im Religionsunterricht auch Deutsch –, und auf jeden Fall war das Deutsch, dass sie sprachen, für lexikalische Übertragungen offen. Neue Worte wurden aufgenommen, und die Syntax änderte sich, so dass ein »Kompromissdialekt« entstand. Aus welcher Sprache stammen Phrasen wie »if der Vater hat keine Farm« und »seinen Foot downputten«?[28] Das eigentliche Paradox bestand darin, dass sich die Sprache, auch wenn sie dieselbe blieb, unweigerlich von dem sich verändernden Deutschen, das in Deutschland gesprochen wurde, entfernte, da sie immer mehr unbewusste Archaismen enthielt.
Selbst abgeschottete altlutherische Gemeinden mussten auf diversen Gebieten, von materiellen (Arbeit, Handel) bis zu emotionalen (Heiratspartner), zwischen den Kulturen lavieren, insbesondere in städtischer Umgebung. Männer, die nicht als Angehörige einer bestimmten Gruppe erkennbar waren, heirateten eher eine Nichtdeutsche. (Sie waren auch diejenigen, die am wahrscheinlichsten mit Gewerkschafts- oder sozialdemokratischen Parteifreunden in der Heimat in Kontakt blieben; nicht nur bürgerliche Deutsche führten ein transnationales Leben.)[29] Junge deutsche städtische Einwanderer waren besonders empfänglich für die Querströmungen der Populärkultur, was Sport, Lesestoff und Musik jenseits der deutschen Blaskapellen und Schützen- oder Turnvereine betraf. Schon bevor das Jahr 1914 die Zeit in »vorher« und »nachher« teilte, lebten Deutsche in Australien kulturübergreifend. Sie waren sowohl in zwei Kulturen als auch in zwei Sprachen zu Hause und konnten zwischen beiden wechseln. Wie die australischen Weingüter, die für gewöhnlich von Deutschen angelegt worden waren, aber nichtdeutsche Trauben und Weine hervorbrachten, waren auch sie Hybride.
In nichtenglischsprachigen Ländern findet man die meisten deutschen Einwanderer in Südamerika. Am Anfang des 19. Jahrhundert gingen einige Tausend dorthin. Zwischen 1840 und 1914 folgten ihnen mindesten 150 000. Über die Hälfte ging nach Brasilien, die Übrigen in spanischsprachige Länder, von denen Argentinien und Chile die beliebtesten Ziele waren.[30] Je kleiner die Einwanderergemeinde, desto wahrscheinlicher war es, dass sie aus sozial Etablierten bestand, oder wenigstens aus jungen Männern aus guter Familie, die im Ausland ihren Weg zu machen hofften. Ein gutes Beispiel dafür ist Rudolf Ludwig, der älteste Sohn eines Württemberger Geistlichen, der mit 21 Jahren als Repräsentant einer Import-Export-Firma nach Bolivien ging. In Briefen an seine Eltern und Brüder – von denen einer nach Schanghai auswanderte – entwarf er ein lebendiges Bild des Lebens in Südamerika, das er als »Land meiner Zukunft« bezeichnete. Er genoss es, sein eigener Herr zu sein, sich gutes Essen und guten Wein leisten zu können, zu reiten und – als ein weiteres Zeichen seines Reichtums – von einem indigenen Dienstmädchen bedient zu werden. Nicht zuletzt genoss er die Bälle, auf denen »Don Rodolfo« ein gefragter Tänzer war. »Hier bin ich ein großes Tier«, schrieb er seiner Mutter. All dies spricht für eine gewisse Selbststilisierung mit der Absicht, zu beweisen, dass er es geschafft hatte. Selbst wenn er einen mürrischen Ton anschlägt, macht Ludwig klar, welches Leben er gewählt hat. So beschwert er sich darüber, dass eine bestellte Zither noch nicht eingetroffen sei, und bittet seine Familie, ihm deutsche Zeitschriften zu schicken, und keine religiösen Traktate. Außerdem beklagt er sich über Regen, Mücken und gelegentliche Anfälle von Heimweh. Dennoch rechnet Ludwig nicht damit, nach Deutschland zurückzukehren. Er würde in Südamerika bleiben oder sich vielleicht um eine Stellung in China, Japan oder Australien bewerben.[31]
In Lateinamerika lebten viele deutsche Kaufleute. Mexiko-Stadt ist ein gutes Beispiel dafür, wie um einen merkantilen Kern herum eine deutsche Gemeinde entstand. Sie war von 1820 bis 1914 von 50 auf mehr als 1200 Menschen angewachsen. Zudem war sie nicht mehr vorwiegend männlich geprägt, sondern umfasste auch viele Frauen und Kinder. Gäste waren zu Dauereinwohnern geworden, die lockere deutsche Diaspora zu einer ethnischen Enklave. In den letzten zwanzig Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstanden eine deutsche Zeitung, Ruder-, Reit-, Schwimm- und Turnvereine, Freimaurerlogen, eine Frauenorganisation und eine deutsche Schule. In dieser selbstgenügsamen Welt waren Mischehen selten, und zu Hause wurde weiterhin Deutsch gesprochen, abgesehen von dem wenigen Spanisch, das man für Anweisungen an Dienstboten brauchte.[32] Deutsche Gemeinden wie diese gab es überall in Lateinamerika. Neben den Kaufleuten oder Finanziers im Zentrum gehörten Ingenieure, Wissenschaftler, Angehörige freier Berufe, Diplomaten und manchmal auch Offiziere zu ihnen. Lebten in dem jeweiligen Land außerdem deutsche Bergleute oder Siedler, gab es buchstäblich keinen Kontakt zwischen ihnen und den wohlhabenden städtischen Deutschen. Sie lebten in getrennten Welten.
Die beiden größten deutschen Gemeinden waren diejenigen in Brasilien und Argentinien, obwohl es in beiden Fällen eher irreführend ist, angesichts ihrer disparaten Zusammensetzung von einer »Gemeinde« zu sprechen. Ein Beispiel ist das im 19. Jahrhundert boomende Buenos Aires, wo es eine deutsche Kaufmannskolonie gab, die in der Mitte des Jahrhunderts eigene gesellschaftliche Organisationen sowie eine protestantische Kirche besaß. Aber die Bankiers und Kaufleute waren bald von einer breiteren Schicht von Vertretern freier Berufe, Gelehrten, Druckern, Gastronomen und Unternehmern, die außerhalb der Stadt Brauereien betrieben, umgeben. Sie alle hielten deutsche Sportvereine, Theater und Zeitungen – die konservative Deutsche La Plata Zeitung und das liberale Argentinische Tageblatt – am Leben. Die Kinder der Einwanderer besuchten eine der vielen deutschen Schulen in der Stadt, die mit Beiträgen der Eltern und großzügigen Zuschüssen des deutschen Außenministeriums, die sich 1914 auf mehrere Zehntausend Mark beliefen, finanziert wurden. Die Lehrer, typischerweise Freiwillige, die für kurze Zeit im Ausland arbeiteten, bevor sie nach Deutschland zurückkehrten, bildeten eine weitere Verbindung zur Heimat. Diese bewusste Pflege der deutschen Sprache und Kultur schloss Mischehen mit sozial gleichgestellten Einheimischen nicht aus. In Buenos Aires entwickelte sich das nach einem wohlhabenden Vorort der Hauptstadt benannte Belgrano-Deutsch, eine Mischsprache aus Deutsch und Spanisch.[33] In Belgrano kam 1895 als Sohn eines deutschen Kaufmanns hugenottischer Herkunft und einer schwedisch-deutsch-spanischen Mutter der spätere »Blut und Boden«-Ernährungsminister Walther Darré (eigentlich Ricardo Walther Oscar Darré) zur Welt.
Mehr Deutsche lebten in weniger begüterten Vierteln der Stadt. Der Hafen von Buenos Aires wurde zu einem bedeutenden Umschlagplatz von Weizen und Rindfleisch aus der Pampa. Tausende deutscher Seeleute kamen in die Stadt, manche vorübergehend, manche aber auch für immer. Eine Ahnung von ihrer Zahl erhält man, wenn man weiß, dass zwischen 1890 und 1910 allein 1200 aus Hamburg gekommene Seeleute in Buenos Aires von Bord gingen. Der Ort war gut gewählt, denn zwischen Argentinien und Deutschland gab es kein Auslieferungsabkommen. Was die Seeleute betraf, die an Bord zurückkehrten, so veranlassten die moralischen Gefahren, denen sie angeblich ausgesetzt waren, die protestantische Innere Mission, im Hafenviertel La Boca ein deutsches Seemannsheim zu eröffnen.[34] Die billige Unterkunft samt Waschmöglichkeit, Postdienst und Verpflegung – einschließlich Bier – war beliebt. Ob das Heim den Bordellbesuch der Matrosen oder das »Wachstum eines nutzlosen Seemannsproletariats« verhinderte, ist weniger gewiss.[35] Sicher ist, dass aufgrund der umfangreichen Einwanderung von Deutschen in den Jahrzehnten vor 1914 ein Proletariat auf dem Festland entstand. Die deutschen Handwerker und Arbeiter gingen in Buenos Aires wie in Adelaide mit sozialistischen Ideen im Gepäck an Land. 1882 gründeten sie eine sozialistische Organisation, deren Zeitung, nach deutschem Vorbild Vorwärts genannt, die Klassenanalyse nach deutscher Art auf die Viehhöfe und Fabriken der boomenden argentinischen Hauptstadt anwandte. Nach ihrer Ansicht war sie Teil eines ausbeuterischen Weltmarkts. Den deutschen Arbeitern riet sie, Spanisch zu lernen und sich der argentinischen Arbeiterbewegung anzuschließen.[36] Der Kontrast zur Weltsicht der bürgerlichen Deutschen hätte kaum größer sein können.
Auch deutschstämmige Russen emigrierten nach Argentinien. Sie bildeten, ähnlich wie die Altlutheraner in Australien, eine eigene, abgegrenzte Gruppe. Manche von ihnen waren Mennoniten. Diese in den 1880er-Jahren nach Argentinien einwandernden Deutschen waren Nachfahren derjenigen, die ein Jahrhundert zuvor, von Katharina der Großen dazu ermuntert, aus Südwestdeutschland ausgewandert waren. So wie sie einst vom Rhein an die Wolga gegangen waren, zogen sie jetzt an den Río de la Plata. Im Gegensatz zu Russland, wo ihre eigenen Schulen und die Befreiung vom Wehrdienst inzwischen infrage gestellt wurden, hieß man sie in Argentinien willkommen und gewährte ihnen Sonderkonditionen, wenn sie sich in Gebieten ansiedelten, die jüngst durch eine mörderische Militärkampagne – die sogenannte conquista del desierto, die argentinische Version der US-Indianerkriege – »befriedet« worden waren. Laut Domingo Faustino Sarmiento, dem deutschfreundlichen argentinischen Präsidenten, war die »Säuberung« der Pampa ein Sieg der Zivilisation über die Barbarei. Jedenfalls erschloss sie der Viehzucht und dem Getreideanbau riesige neue Gebiete. An diesem Prozess waren die Wolgadeutschen, die in den früheren Grenzprovinzen La Pampa und Río Negro Kolonien aufbauten, ebenso beteiligt wie deutsche Kaufleute und Arbeiter in Buenos Aires.[37]
Auch in Brasilien halfen Deutsche dabei, das Hinterland zu erschließen. Deutsche waren seit dem 16. Jahrhundert im Zuckerrohranbau aktiv. Percy Ernst Schramm beschreibt in Neun Generationen, seiner auf Familienaufzeichnungen basierenden Geschichte einer Hamburger Kaufmannsdynastie, die drei Jahrzehnte, die einer seiner Vorfahren, Ernst Schramm, in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Brasilien verbrachte. Er ging mit Frau und Kind dorthin, um eine von seinem Bruder in einer Stadt am Fluss Sergipe gegründete Zuckerexportfirma zu leiten. 1858, wenige Jahre nach der Aufnahme des Dampfschiffverkehrs, schwärmte er in einem Brief in die Heimat von den »ungeheuren Ressourcen« des Landes und den großartigen Dingen, die von »kultivierten europäischen Menschenhänden« erreicht werden könnten. Leider liege noch alles brach, denn es sei der »Fluch« des Landes, dass seine Bewohner die »trägsten und nachlässigsten« seien. Es war eine typisch europäische Sichtweise, ebenso wie die Haltung zur Sklaverei, die Schramms Frau Adolphine in einem Brief darlegte: »Wir sind mit unseren Sklaven ziemlich glücklich; stehlen und lügen tun sie natürlich alle. Bei uns im Haus wird aber nie geschlagen; die größte Strafe ist ihnen, wenn wir ihnen drohen, sie zu verkaufen. Denn sie lieben uns und das gute Leben in unserem Hause genug, um sich vor jedem Wechsel zu scheuen.« Sie beeilte sich, ihrer deutschen Freundin zu versichern, die Familie Schramm würde ihre Sklaven ja gern freilassen, aber die Sklaverei sei ein »notwendiges Übel« und die von schwärmerischen Abolitionisten geforderte Emanzipation »ganz unstatthaft«.[38]
So lagen die Dinge im Zuckerland. Aber in den Städten gab es auch in Brasilien, wie in anderen südamerikanischen Ländern, überall Gruppen von deutschen Kaufleuten, Freiberuflern und Gelehrten. Und wo immer Bergbau betrieben wurde, waren auch deutsche Ingenieure zu finden. Aber die meisten Deutschen in Brasilien lebten auf dem Land. Sie siedelten in den drei südlichen Bundesstaaten Río Grande do Sul, Paraná und Santa Catarina, die zwischen 1820 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Mehrheit der rund 100 000 deutschen Einwanderer aufnahmen. Ihre Geburtenrate war ungewöhnlich hoch. Familien mit zehn Kindern waren keine Ausnahme, so dass die Zahl der Deutschbrasilianer in der zweiten und dritten Generation rasch anstieg. 1914 hatte Río Grande do Sul allein 150 000 deutschstämmige Einwohner. Deutsche Einwanderer gründeten insgesamt 300 Siedlungen, häufig indem sie Regenwald rodeten und Viehzucht betrieben oder Getreide für den Verkauf anbauten – Weizen, Mais, Tabak oder Maniok. Ländliche Unternehmen, wie Mühlen, Gerbereien und Geschäfte, zur Versorgung dieser colonias wurden eröffnet, und stark deutsch geprägte Städte wie Pôrto Alegre entstanden. Viele Pioniermythen über die mühselige Arbeit und die Opfer, welche die Eroberung der »wilden Natur« erfordert hatte, entstanden und wurden von deutschen Besuchern, die daheim in Deutschland die von harter »deutscher« Arbeit geschaffene Ordnung rühmten, verbreitet. Dass sie auf Brandrodung beruhte, wurde ebenso übergangen wie die Behandlung der indigenen Völker, die der wirtschaftlichen Entwicklung im Wege standen.[39]
Dass die brasilianische Regierung im späten 19. Jahrhundert die Einwanderung aus Europa förderte, hatte sowohl rassische als auch ökonomische Gründe. Sie war Teil des sogenannten embranquecimento, des »Weiß-Machens« der Bevölkerung.[40] Die Deutschen waren insofern, ebenso wie die zahlreicheren italienischen, spanischen und portugiesischen Einwanderer, ein rassenpolitisches Instrument. Aber sie blieben mehr als andere europäische Einwanderergruppen unter sich, was auch damit zusammenhing, dass ihre ländlichen Siedlungen relativ abgelegen waren. Sie gründeten eigene deutsche Schulen, in denen im Gegensatz zu allen anderen brasilianischen Schulen kein Portugiesisch unterrichtet wurde. Dies führte zu Klagen über Arroganz und fehlende Anpassungsbereitschaft der Deutschen. Außerdem waren ihre Schulen protestantisch, was sie ebenfalls von anderen unterschied.
Manche deutschen Protestanten gehörten religiösen Sekten an. In deren Milieu entstand in den 1870er-Jahren im ländlichen Río Grande do Sul eine militante messianische Bewegung. Jakobine Mentz war die Tochter eines Wiedertäufers, der 1824 aus religiösen Gründen aus Deutschland ausgewandert war. Sie heiratete den Siedler Georg Maurer, der in dem Ruf stand, Wunderheilungen zu vollbringen, und begann 1872 sich als »weiblichen Christus« zu bezeichnen, als der sie angeblich einen direkten Draht zu Jesus und zum Allmächtigen hatte. Wie viele europäische weibliche Propheten im 19. Jahrhundert, die das Ende der Zeit kommen sahen und nur jenen Rettung versprachen, die ihnen folgten, gewann sie rasch eine gläubige Anhängerschaft. Die Bewegung nahm einen immer dunkleren Ton an, als Jakobine Maurer Gewalt gegen Gegner und Abtrünnige zu predigen begann. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung, als ihre fanatischen Anhänger in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni 1874 in über einem Dutzend Siedlungen in Schießereien oder durch Brandstiftung eine große Zahl deutscher Kolonisten ermordeten. Die erste Militäreinheit, die entsandt wurde, um die mittlerweile als Aufstand verstandenen Gewalttätigkeiten zu beenden, geriet in einen Hinterhalt, in dem 35 Offiziere und Mannschaftsdienstgrade getötet oder verletzt wurden, und musste sich zurückziehen. Daraufhin ging eine zweite Einheit, die diesmal 500 Mann stark war, gegen das von Sektenmitgliedern zur Festung umgebaute, gut ausgerüstete Bethaus vor. In dem Gefecht um die Festung und den anschließenden Schießereien in den umliegenden Wäldern fanden sehr wahrscheinlich über hundert Sektierer und Soldaten den Tod. Danach rächten sich wutentbrannte Siedler an den Kultanhängern, indem sie deren Leichen verstümmelten. Die Ereignisse stellten das übliche Siedlernarrativ völlig auf den Kopf. Der liberale protestantische Herausgeber der im nahe gelegenen Pôrto Alegre erscheinenden Deutschen Zeitung, Karl von Koseritz, schrieb für eine deutsche Zeitschrift einen Bericht über das Geschehen, der voller Empörung darüber war, dass im Zeitalter des Fortschritts ein solcher »Fanatismus« – noch dazu von Protestanten – hatte entstehen und die Leistungen der hart arbeitenden deutschen Siedler überschatten können.[41]
Die Erfahrungen der Deutschen in Australien, Brasilien und Argentinien waren bemerkenswert vielfältig. Ihre Gemeinden waren relativ klein, umfassten aber ein breites Spektrum deutscher und gemischter Identitäten. Alle möglichen Varianten der deutschen Diasporaerfahrungen finden sich an dem Ort, an den die mit weitem Abstand größte Zahl von Deutschen ging: in den Vereinigten Staaten. Der größte Anteil der Deutschen, die im 19. Jahrhundert nach Übersee auswanderten, ging dorthin, rund 5 von 5,5 Millionen. Mit anderen Worten, von zehn deutschen Auswanderern emigrierten neun in die Vereinigten Staaten, ein Anteil, der größer war als bei allen anderen europäischen Migranten.[42] Sie trafen in Wellen ein, mit Höhepunkten, wie in anderen Zielländern, in den 1850er-, 1860er- und insbesondere 1880er-Jahren. Zwischen 1878 und 1893 gingen zwei Millionen deutsche Männer, Frauen und Kinder in die Vereinigten Staaten.[43] Der Höhepunkt der deutschen Massenauswanderung fiel mit der Migration anderer Nordeuropäer über den Atlantik zusammen – Schotten, Iren, Skandinavier – und überlappte sich am Ende mit der zunehmenden Migration von Italienern und Osteuropäern.
Wohin gingen sie? Fast überallhin. Im 18. Jahrhundert entstanden die ersten deutschen Siedlungen an der Ostküste. Die Neuankömmlinge zogen ins Ohio-Tal und in den Mittelwesten. Nach dem Bürgerkrieg schwärmten diejenigen, die Land suchten, in Michigan, Wisconsin, Iowa und Minnesota und später auch weiter westlich aus. Lange Zeit drehten sich Darstellungen des »deutschen Elements« in den Vereinigten Staaten um die Gestalt des wehrhaften Farmers an der Westgrenze.[44] Dass die frühen deutschen Einwanderer in einer Zeit der Westexpansion und weißen Besiedlung eintrafen, bedeutete, dass viele deutsche Bauernfamilien aus Baden oder Württemberg ihren Landhunger in Indiana oder Wisconsin stillten. Eine Generation nach dem Homestead Act von 1862 war rund ein Drittel der deutschstämmigen Bevölkerung der Vereinigten Staaten in der Landwirtschaft tätig.
Ein undatiertes Foto deutscher Auswanderer, die in Hamburg ein gemeinsames Mahl einnahmen, bevor sie an Bord des Schiffes gingen, das sie nach Amerika bringen würde.
Aber der typische deutsche Einwanderer lebte in einer Stadt, und dies im Lauf des Jahrhunderts mit zunehmender Wahrscheinlichkeit. Deutschstämmige Einwanderer und ihre Kinder bevölkerten amerikanische Städte von der Atlantikküste über den Staat New York und die Industriegebiete von Pennsylvania und Ohio bis zum »deutschen Dreieck« im Mittelwesten zwischen Cincinnati, St. Louis und Milwaukee.[45] Ein Zeichen dafür, wie stark Deutsche in urbanen Gebieten vertreten waren, war die Entscheidung amerikanischer Großstädte – zwischen 1864 und 1874 waren es immerhin acht –, an öffentlichen Schulen Deutsch als Lehrfach einzuführen.[46] Die am stärksten deutsch geprägte Stadt war Milwaukee, dessen Einwohner 1910 zu mehr als der Hälfte Deutsche der ersten oder zweiten Einwanderergeneration waren. Ein Besuch in Milwaukee gleiche, sagte man, »einem Besuch in einer der Städte am Rhein«.[47] Am Ufer des Michigansees entlang ein Stück nach Süden, in Chicago, war die deutsche Präsenz, an der Einwohnerzahl gemessen, noch größer. Deutsche machten zwischen einem Viertel und einem Drittel der Massen aus, die das erstaunliche Wachstum der Stadt vorantrieben, die zwischen 1870 und 1890 von 300 000 auf eine Million Einwohner wuchs. 1900 war Chicago eine der führenden »deutschen« Städte auf der Welt, so wie es Paris fünfzig Jahr zuvor gewesen war.
Deutsche schufen eigene Stadtviertel: Klein Deutschland in New York, Swillburg in Rochester im Staat New York, Over-the-Rhine in Cincinnati, Deutschtown in Pittsburgh, Little Saxony in New Orleans. In Tennessee besaß sowohl Memphis als auch Nashville eine Germantown. In den größeren Städten gab es deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften, Theater, Gesang-, Turn-, Schützen- und andere Vereine und natürlich Biergärten. Die schiere Vielzahl dieser Institutionen ist erstaunlich. Am Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen in den Vereinigten Staaten mehr Zeitschriften in Deutsch als in allen anderen nichtenglischen Sprachen zusammengenommen.[48] Deutsch-amerikanische Theater waren derart dominant, dass es Studien über ihre Tätigkeit in zwanzig Städten und Bundesstaaten gibt.[49] Essen und Trinken, Singen und Spielen – die aufgeschlossene Geselligkeit des deutschamerikanischen Lebens fiel auf. Es schien »öffentlicher und sinnenfreudiger« zu sein als die Kultur der Umgebung,[50] und die nach Tausenden zählenden Institutionen trugen zur Entstehung einer eigenen deutschamerikanischen Welt bei. Sie markierten die »Erfindung der Ethnizität« durch deutsche Einwanderer.[51]
Dies bedeutete nicht, dass die deutschen Viertel homogen waren. Die in Städten lebenden Deutschen kamen, anders als die Bewohner vieler ländlicher Siedlungen, aus unterschiedlichen Heimatregionen. Zudem waren sie religiös gespalten, weshalb es in deutschen Vierteln neben Biergärten, Geschäften und Vereinen sowohl evangelische als auch katholische Kirchen gab. Auch sozial boten urbane deutsche Gemeinden ein vielfältiges Bild. Die Traditionsindustrie konzentrierte sich, neben den unübersehbaren 48ern, auf Industriekapitäne und berühmte Erfolgsgeschichten, wie sie in einer groß angelegten Studie über deutsche »Einwandererunternehmer« zusammengefasst sind.[52] Sie enthält 128 Einträge über einzelne Persönlichkeiten, deren Namen häufig zum Begriff geworden sind: Pfizer (Pharmazie), Singer (Nähmaschinen), Levi Strauss (Jeans), Steinway (Klaviere), Wurlitzer (Musikinstrumente), Berlitz (Sprachschulen), Kroger (Lebensmittelgeschäfte), Filenes (Kaufhäuser), Goldman von Goldman Sachs (Finanzen), Ridder von Knight Ridder (Zeitungen), beide Teile von Anheuser-Busch sowie Pabst und Yuengling (Bier). Man hätte auch den Gründer der H. J. Heinz Company aufnehmen können, der geboren worden war, kurz nachdem seine Eltern sich in den 1840er-Jahren, aus der Pfalz kommend, in Pittsburgh niedergelassen hatten. Die Namen von anderen sind zwar weniger bekannt, aber sie leisteten ebenfalls einen bedeutenden Beitrag zum American Way of Life. Claus Spreckels, der »Zuckerkönig des Westens«, führte sowohl den Kristallzucker als auch den Zuckerwürfel in den Vereinigten Staaten ein, was ihn zu einem der zehn reichsten Männer des Landes machte.[53] Einige der erfolgreichen Unternehmer waren deutsch-jüdische Einwanderer, die – wie die weit größere Zahl ihrer Glaubensgenossen, die nicht reich wurden – in vielen frühen Darstellungen des deutschen Amerika ignoriert wurden.[54] Tritt man einen Schritt zurück, ist der auffälligste Aspekt dieses Unternehmeraufmarschs jedoch, wie viele von ihnen auf dem Dienstleistungssektor tätig waren: Essen, Trinken, Einzelhandel, Bekleidung, Freizeit. Dies verweist auf ein allgemeineres Merkmal der Deutschamerikaner, nämlich den großen Anteil von kleinen Geschäftsleuten und Dienstleistern.
Die größte Gruppe von Deutschen in den Vereinigten Staaten bildeten jedoch die Arbeiter. Dies traf umso mehr zu, als in späterer Zeit nicht mehr Kleinbauern, sondern in zunehmender Zahl Arbeiter und Hilfskräfte auswanderten. Deutsche waren aktive Anhänger und gelegentlich auch Gründer von Gewerkschaften, sozialistischen Parteien und linken Zeitungen. Dieses politisch bewusste proletarische Milieu, Männer wie Frauen, unterstützte die deutsche Sozialdemokratie während der Verbotszeit zwischen 1878 und 1890. Der deutsche Sozialismus in Amerika reproduzierte sogar einige der Spaltungen innerhalb der SPD zwischen radikalen und pragmatischen oder reformerischen Strömungen. Eine klassische Verkörperung der Letzteren war der führende Sozialist Victor Berger aus Milwaukee, der zum »evolutionär Gemäßigten« wurde.[55] Die gleichen Risse gab es in der Gewerkschaftsbewegung. In Milwaukee wurden sowohl die radikale Central Labor Union als auch die gemäßigteren Knights of Labor von Deutschamerikanern geführt.[56]
Daneben gab es die deutschen Anarchisten. Am bekanntesten sind sie vielleicht für den Haymarket Riot im Mai 1886, als eine friedliche Demonstration für den Achtstundentag in Chicago damit endete, dass ein Unbekannter eine Bombe warf, deren Explosion sieben Polizisten und vier weitere Menschen tötete. In der Folgezeit wurden acht Anarchisten wegen Verschwörung angeklagt. Die Gerichtsverhandlung, die vor dem Hintergrund einer »Rotenangst« stattfand, war von Verfahrensmängeln geprägt. Sie endete trotz fehlender Beweise für die Beteiligung der Angeklagten an dem Bombenanschlag mit sieben Todesurteilen und einer Haftstrafe von 15 Jahren. Zwei Todesurteile wurden später vom Gouverneur von Illinois umgewandelt, ein Verurteilter nahm sich in seiner Zelle das Leben, und die übrigen vier wurden hingerichtet. Wie das Verfahren gegen Sacco und Vanzetti 34 Jahre später erregte auch der Haymarket-Prozess internationales Aufsehen. Fünf der acht Angeklagten waren in Deutschland geborene Einwanderer und ein sechster Deutschamerikaner der zweiten Generation.[57]
Von Unternehmern bis zu Radikalen hinterließen deutsche Einwanderer ihre Spuren in der US-Geschichte. Die Architektur ganzer Stadtviertel trug den Stempel ihrer Erbauer, wie die verschnörkelten Backsteinfassaden von Over-the-Rhine in Cincinnati belegen. Im Zentrum von Milwaukee gibt es das Hotel Pfister, das Pabst-Theater und den Schlitz-Palmengarten sowie den vornehmsten Wolkenkratzer der Stadt, das 1892 fertiggestellte 13-stöckige Pabst Building.[58] Ein Deutschamerikaner der zweiten Generation gab Amerika den Referenz-Baseballschläger »Louisville Slugger«; Deutsche brachten Amerika Brezeln, Bratwurst und Bier – Letzteres ein großer Streitgegenstand einheimischer Alkoholgegner.[59] Die Deutschen Rudolph Dirks und Harold Knerr schenkten Amerika einen der ersten und langlebigsten Comic-Strips, die auf Wilhelm Buschs Geschichten über Max und Moritz beruhenden Katzenjammer Kids.[60] All dies bildet eine Seite eines zweiseitigen Prozesses, denn umgekehrt prägte sich Amerika den deutschen Einwanderern ein. Das Reproduktionsverhalten änderte sich, da die Familien in der zweiten Generation kleiner wurden. Namensänderungen markierten einen weiteren Wandel. Als Beispiel sei hier nur ein deutschamerikanisches Baby genannt, das 1891 in Manhattan geboren wurde, in Brooklyn aufwuchs und zu dem ebenso gefeierten wie umstrittenen Romancier Henry Miller wurde. Der Sohn von Heinrich Miller und Enkel von Heinrich Müller war das perfekte Beispiel eines Namenswechsels über drei Generationen hinweg.
Henry Millers Eltern waren beide Deutsche. Eheschließungen über die eigenen Gemeindegrenzen hinweg waren ein weiterer Weg der Akkulturation. Es gab viele andere. Deutschamerikanische Frauenorganisationen zeigten, wie sie im Alltag begangen wurde. Bei von Frauenvereinen veranstalteten gesellschaftlichen Ereignissen wurde neben dem Vereinsbanner die US-Fahne gezeigt. Die Frauen folgten einer amerikanischen Praxis, die bis 1914 in Deutschland unbekannt war, und gründeten Frauenabteilungen von Freimaurerlogen. Selbst eine traditionalistische katholische Organisation wie die Christian Mothers Association übernahm amerikanische Methoden, die in der alten Heimat unüblich waren, wie Sammlungen von Tür zu Tür.[61] Auf dem Arbeitsmarkt trafen Arbeiter unterschiedlicher Herkunft aufeinander, jedenfalls solche männlichen Geschlechts, denn der Anteil deutscher Frauen, die außerhalb des eigenen Haushalts arbeiteten, war geringer als in jeder anderen Einwanderergruppe, mit Ausnahme der Italiener.[62] Dass Deutsche im Dienstleistungssektor unverhältnismäßig stark vertreten waren – als Brauer, Schneider, Tabakwarenhändler oder Musikinstrumenteverkäufer –, brachte sie unweigerlich mit nichtdeutschen Kunden in Kontakt. Man könnte sie sogar als Vermittler zwischen den ethnischen Gemeinden bezeichnen. Zugleich »übersetzten« die nach Tausenden zählenden deutschen Zeitungen und Zeitschriften ihren deutschen Lesern Amerika und zeigten ihnen, wie es funktionierte, auch wenn die Wächter der »institutionellen« deutschamerikanischen Kultur von ihnen erwarteten, die deutsche Identität zu festigen.[63] Die erhitzten Diskussionen unter selbst ernannten Wächtern der deutschen Kultur über die »Amerikanisierung« der Jugend deuten darauf hin, wie verbreitet das Phänomen war.
Die Sprache war das Schlüsselelement. Deutschamerikanische Lehrer bemerkten, dass die Kinder aus deutschen Familien untereinander englisch sprachen. In deutschen Turnvereinen und selbst von den Schriftsetzern deutschamerikanischer Zeitungen wurde englisch gesprochen.[64] Doch dies ging nicht geradlinig mit dem Verlust der deutschen Sprache und Identität im amerikanischen Schmelztiegel einher. Viele Deutschamerikaner benutzten sowohl die Mutter- als auch die Fremdsprache, indem sie zwischen dem Deutschen im »Tischgespräch« und dem Englischen als öffentlicher Sprache hin- und herwechselten.[65] In einem breiteren Sinn schufen sie eine Mischkultur mit verschwommenen Grenzen. Sie lebten kulturübergreifend und wechselten zwischen den Kulturen. Wie in Australien geschah dies auch in Amerika in Städten schneller als auf dem Land, und der Prozess beschleunigte sich, als der Zustrom von Neuankömmlingen verebbte und frühere Generationen wegstarben. In Orten wie New Orleans, wo der Zustrom neuer Einwanderer ungewöhnlich früh abbrach, setzte diese Entwicklung zuerst ein.[66] Anderswo markierten die 1890er-Jahre zumeist einen Höhepunkt der Größe und des Einflusses der deutschen Presse und des deutschen Theaters, der später nie wieder erreicht werden sollte.
Welche Auswirkung hatte die deutsche Auswanderung nach Amerika auf die Gesellschaft in der alten Heimat? Viele Auswanderer kehrten zurück, insbesondere seit die Überfahrt mit dem Dampfschiff nur noch neun oder zehn Tage dauerte. Die Zahl der deutschen Rückkehrer war größer als jene der Iren, aber kleiner als jene der Italiener und nahm im späten 19. Jahrhundert deutlich zu. Genaue Zahlen sind jedoch schwer festzustellen, da man die Rückkehrer von Geschäftsreisenden und Touristen trennen muss, doch sie gehen in die Hunderttausende. Die Gründe waren vielfältig. Manche waren in ihren Hoffnungen enttäuscht worden. Ein enttäuschter Polsterer und Dekorateur, der sich im Staat New York niedergelassen hatte, beklagte sich in einem Brief an einen Freund darüber, dass die in Amerika angebotenen Stellungen schlechter seien als diejenigen in Deutschland. Er war nach nur neun Monaten zutiefst unzufrieden: »Das Leben in Buffalo ist ein wahres Hundeleben.« Er bat einen Freund, seine Mutter aufzusuchen und ihr zu sagen, dass er sich erschießen würde, wenn sie ihm nicht das Geld für die Rückreise schicke.[67] Aber die enttäuschten »Gescheiterten« bildeten wahrscheinlich nur eine Minderheit der Rückkehrer. Die meisten besaßen mehr Eigentum als bei der Auswanderung. Sie kehrten zurück, um mit mehr Kapital im Hintergrund ihre alte Tätigkeit wiederaufzunehmen, ein Stück Land zu erwerben oder mit ihrem amerikanischen Verdienst in den Ruhestand zu gehen. Johann Albert Diercks war 1872 als 16-Jähriger in die Vereinigten Staaten gegangen und hatte als Handelsangestellter in New York und Savannah gearbeitet, wo er erst ein Lebensmittelgeschäft und dann eine Bar eröffnet hatte. 1903 kehrte er als 47-Jähriger nach Bremen zurück, wo er von den Einnahmen seines Geschäfts und der Besitzungen in Georgia fortan ein bequemes Leben führte.[68] Ein anderer Rückwanderertyp war der Unternehmer, der in Amerika erlernte Techniken auf den deutschen Markt anwenden wollte. Die meisten Rückkehrer konnten sicherlich keine vergleichbaren Vorteile nutzen. Aber sie alle führten auf die eine oder andere Weise ein transnationales Leben. Dies galt auch für die zurückkehrenden politischen Emigranten: die 48er, die schließlich nach Deutschland – manche nach zwanzig Jahren – zurückgingen, und die Sozialdemokraten, die 1878 in die Vereinigten Staaten geflohen und dort geblieben waren, bis Bismarcks Sozialistengesetz 1890 aufgehoben wurde. Sie alle brachten ihre amerikanischen Erfahrungen nach Deutschland mit, so wie sie einst ihre deutschen Erfahrungen nach Amerika mitgebracht hatten.
Der amerikanische Einfluss auf Deutschland ging über die physische Präsenz der Rückkehrer hinaus. Der Onkel in Amerika war am Ende des Jahrhunderts zu einer sprichwörtlichen Figur geworden, und jeder, der Briefe von Verwandten oder Freunden aus Amerika erhielt, entwickelte ein persönliches Bild der Neuen Welt.[69] Auch die umfangreiche deutsche Reiseliteratur und die fiktiven Geschichten über die Vereinigten Staaten vermittelten ein Fantasiebild von Amerika.[70] Friedrich Gerstäcker trug zu beiden Genres bei. Der in Hamburg geborene Sohn einer Schauspielerin und eines Operntenors war nach dem Tod des Vaters für eine Kaufmannslaufbahn bestimmt, begehrte aber auf und erklärte seiner Mutter, nachdem er sowohl Robinson Crusoe als auch James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Erzählungen verschlungen hatte, er wolle nach Amerika auswandern. 1837, kurz nach seinem 21. Geburtstag, setzte er seinen Wunsch in die Tat um. Seine Mutter hatte ihn überredet, sich vor der Auswanderung einige landwirtschaftliche Kenntnisse anzueignen, damit er als Farmer arbeiten konnte. Doch er führte in den Vereinigten Staaten ein eher pikareskes Leben und verdiente seinen Lebensunterhalt als Farmer, Jäger, Holzfäller, Deckhelfer, Flussschiffer, Schokoladenmacher, Silberschmied, Händler und Hotelier. Nach sechs Jahren kehrte er nach Deutschland zurück. 1845 erschien sein Roman Die Regulatoren in Arkansas, drei Jahre später der Roman Die Flußpiraten des Mississippi. Beide waren Bestseller, die es Gerstäcker erlaubten, sich als freischaffender Schriftsteller zu etablieren. Weitere Romane folgten, ebenso wie Theaterstücke, Gedichte und Essays. Gerstäcker unternahm noch zwei Amerikareisen, deren Eindrücke er in lebendigen Reportagen für deutsche Leser verarbeitete, wie Mississippi-Bilder, Amerikanische Wald- und Strombilder, Californische Skizze und viele andere. Auch über deutsche Auswanderer schrieb Gerstäcker, und in einem Buch mit dem Titel Nach Amerika! ermunterte er dazu, ihnen zu folgen.
Auch andere deutsche Schriftsteller machten sich mit Büchern über Amerika einen Namen. Der in Mähren geborene Carl Anton Postl, der unter dem Pseudonym Charles Sealsfield veröffentlichte, war einer von ihnen. Wie Gerstäcker hatte er in den Vereinigten Staaten gelebt und kannte das Land gut. Auf Karl May, den berühmtesten deutschen Schriftsteller, der über Amerika schrieb – und Hitlers Lieblingsschriftsteller war –, traf nichts von beidem zu. Seine vielen Erzählungen über Winnetou, Old Shatterhand und den amerikanischen Westen waren von keinerlei persönlicher Erfahrung getrübt. May reiste erst 1908 in die Vereinigten Staaten, wo er sechs Wochen weit entfernt vom Westen in New York und Massachusetts verbrachte.[71] Auch in Gustav Freytags Bestseller Soll und Haben kam Amerika vor. Eine der Romanfiguren, Fritz von Fink, lebt eine Zeit lang an der amerikanischen Westgrenze, bevor er nach Deutschland zurückkehrt und dem Helden des Romans, Anton Wohlfart, an einer anderen »Grenze« – im deutschen Osten statt im amerikanischen Westen – hilft, eine deutsche Siedlung gegen polnische Aufständische zu verteidigen.
Während die deutsche Liebesaffäre mit der polnischen Sache nach 1848 abebbte, ist es erstaunlich, wie oft deutsche Schriftsteller zwischen dem Zusammenstoß von weißen Siedlern und amerikanischen Ureinwohnern und näher gelegenen ethnischen Konflikten eine Parallele zogen. Deutsche Autoren bezeichneten Polen häufig abschätzig als »Indianer« oder »Rothäute«, was ihr polnischer Kollege Ludwik Powidaj schon 1864 in einem Aufsatz mit dem Titel »Polen und Indianer« kritisierte.[72] Deutsche wurden dagegen als zähe, furchtlose Siedler gezeichnet, und diese Ansicht fand auch in historische und fiktionale Darstellungen der mittelalterlichen deutschen Besiedlung des Ostens Eingang, die im 19. Jahrhundert in großer Zahl erschienen. In ihnen traten Deutsche stets als »Pioniere« auf, die Landwirtschaft, Handel und Rechtlichkeit mit sich brachten, während die einheimischen Slawen nomadische Völker waren, die sich dem Fortschritt der Zivilisation widersetzten. Dieses deutsche Selbstbild, das sich der Grenzsprache bediente, sollte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine noch größere Wirkung entfalten. Es kollidierte allerdings mit einem anderen Selbstbild, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt wegen Karl Mays Romanen, an Beliebtheit gewann: demjenigen des anständigen, aufrechten Deutschen, der im »edlen« amerikanischen Eingeborenen eine verwandte Seele gefunden hatte.[73] Konnten Deutsche wirklich beides sein, kämpferische Grenzbewohner und Freunde »edler« Indigener? Im 20. Jahrhundert sollten sie gezwungen sein, zwischen beidem zu wählen. Im 19. Jahrhundert blieb Amerika für Deutsche in Deutschland ein Spiegel, in dem sie – allerdings stark verzerrt – ihre eigene Gesellschaft sahen.
Regierungen versuchten aus Sorge darüber, produktive Bürger zu verlieren, häufig, die Auswanderung zu begrenzen. Aber sie sahen auch die Vorteile des Exports potenzieller innerer Unruheherde. Dieser Gedanke eines »Sicherheitsventils« fand im 19. Jahrhundert viel Anklang. Er ging auf das katastrophale Jahr 1817 zurück, in dem als Folge des Krieges Hunger und ländlicher Aufruhr herrschten. Im Jahr darauf hatte der Diplomat und Politiker Hans von Gagern geschrieben, »ein leises und fortgesetztes Abströmen der Classen mit zu geringem Eigenthum« sei politisch »ohne Zweifel […] etwas sehr Erwünschtes, die innere Ruhe ungemein Beförderndes«.[74] Spätere Autoren pflichteten ihm angesichts der deutschen »Übervölkerung«, wie sie üblicherweise genannt wurde, darin bei, dass die Auswanderung gefördert werden sollte, um der Gefahr der Verarmung und des sozialen Aufruhrs vorzubeugen.
Die Angelegenheit hatte indes auch eine andere Seite. Paul Pfizer hatte bereits Anfang der 1830er-Jahre in seinem Buch Briefwechsel zweier Deutschen die Befürchtung geäußert, dass die Deutschen von ihren Gastgesellschaften assimiliert würden und ihr »Deutschtum« verlören. Viele Zeitgenossen schrieben Ähnliches. Einer der einflussreichsten Warner war Friedrich List. Er kannte die Vereinigten Staaten gut, weil er in den 1820er-Jahren dort gelebt hatte. Als Württemberger Staatsbeamter während der Krise von 1817 hatte er selbst miterlebt, wie Gleichgültigkeit und Inkompetenz der Regierung die Menschen außer Landes trieben. Er beklagte die Folgen. »Was hilft es der deutschen Nation«, fragte er, »wenn die nach Nordamerika Auswandernden noch so glücklich werden, ihre Persönlichkeit geht der deutschen Nationalität für immer verloren […].«[75] Diese Frage stellten 1848 auch die Frankfurter Abgeordneten.[76] In der Zeit der Massenauswanderung nach der Mitte des Jahrhunderts beschäftigte der »Verlust« der »Volkskraft« viele Deutsche. Dass Preußen und andere deutsche Staaten die Staatsangehörigkeit von Personen, die mindestens zehn Jahre ununterbrochen im Ausland gelebt hatten, nicht mehr anerkannten, verstärkte die Besorgnis zusätzlich. Als Reaktion auf den befürchteten »Verlust« von Deutschen wurde im Staatsangehörigkeitsgesetz von 1870, das im folgenden Jahr in Kraft trat, die Zehnjahresregel modifiziert. Deutsche konnten jetzt ihre Staatsangehörigkeit behalten, wenn sie sich alle zehn Jahre in einem deutschen Konsulat meldeten; das war keine allzu hohe Hürde, brachte Auswanderer aber dazu, über eine mögliche Rückkehr nachzudenken oder sich wenigstens alle Optionen offenzuhalten.[77]
Wie sollte man diejenigen, die Deutschland verlassen hatten, nennen? »Auswanderer« oder »Auslandsdeutsche«? Ab Mitte des Jahrhunderts begann der zweite Begriff den ersten zu ersetzen. Er enthielt die tröstliche Botschaft, dass die Ausgewanderten ihr Heimatland nicht wirklich »verloren« hatten, sondern Angehörige einer imaginierten Nation geblieben waren und die Werte der deutschen Kultur – harte Arbeit und Disziplin – überall auf der Welt verbreiteten.[78] Durch die Erfindung des Begriffs des »Auslandsdeutschen« versicherten sich deutsche Nationalisten ihrer selbst, so wie die italienische Elite es tat, indem sie im Ausland lebende Landsleute als italiani al estero bezeichnete.[79] Die Vorstellung eines globalen Deutschland, das über die Grenzen von Bismarcks Nationalstaat hinausreichte, war für radikale Nationalisten ein Glaubensartikel. 1881 wurde eine Organisation zur Unterstützung der deutschen Diaspora gegründet, die beim Auswärtigen Amt erfolgreich dafür warb, deutsche Schulen im Ausland zu finanzieren. Die Zehntausenden von Mark, die für deutsche Schulen in Buenos Aires zur Verfügung gestellt wurden, waren nur ein kleiner Teil der Millionen, die bis 1914 in alle Welt flossen, um deutsche Lehrer, Bücher, Landkarten und Turngeräte zu bezahlen.[80]
Landkarten und Pauschenpferde dienten zweifellos dazu, die Flamme der deutschen Identität am Leben zu erhalten, aber Nationalisten verlangten eine stärkere Reaktion auf den »Verlust« des Deutschtums im Ausland. Die von ihnen bevorzugte war die Gründung deutscher Siedlerkolonien. Im 19. Jahrhundert schauten deutsche Verfechter des Kolonialgedankens lange Zeit auf die Vereinigten Staaten als dafür geeignetsten Ort. 1817 sandte Hans von Gagern einen Cousin auf eine Erkundungsmission, um die Chancen für eine deutsche Kolonie im amerikanischen Westen auszuloten, gelangte aber zu dem Schluss, dass die Errichtung einer solchen Kolonie aus politischen Gründen bedauerlicherweise unmöglich war.[81] Andere Enthusiasten ließen sich davon jedoch nicht abschrecken. So sah die Allgemeine Zeitung die Gründung deutscher Kolonien in Nordamerika als dringliche Aufgabe an und bedauerte die Auswanderung ohne koloniale Ambitionen. »Deutschland«, erklärte sie 1841, »könnte Jahrhunderte lang jährlich sein Herzblut ausgießen, ohne daß es in einem andern Welttheil ein neues Deutschland gründete […].«[82] Als die deutsche Auswanderung in den 1840er-Jahren stark zunahm, vermehrten sich auch die Zeitungsartikel, die Auswanderung mit Kolonialisierung in Verbindung brachten. Dabei warfen auch bekannte Amerikakenner wie Friedrich List und Robert von Mohl ihr Renommee in die Waagschale.
Die Meinungen darüber, wo genau diese deutschen Kolonien liegen sollten, gingen auseinander. Manche wiesen auf den amerikanischen Mittelwesten, andere auf den Südwesten und wieder andere auf den fernen Westen. Der demokratische Nationalist Franz Löher schlug vor, dass der Deutsche Bund entweder in Kanada oder in Mexiko Land für eine deutsche Ansiedlung erwerben solle.[83] Dagegen propagierten die liberalen Nationalisten Hermann Blumenau und Ernst Ludwig Brauns den Westen als idealen Ort für deutsche Siedler. Brauns vertrat seine Forderung äußerst nachdrücklich, um nicht zu sagen kämpferisch. Anstatt zuzulassen, dass das Deutschtum in zerstreuten Siedlungen verwässert werde und dann ganz verschwinde, schrieb er, sollte man westlich des Mississippi eine zusammenhängende deutsche Kolonie gründen. Deutschland sei nicht San Marino, und die Deutschen sollten nicht wie ein »Anhängsel« der Yankees, als ihre »Heloten«, behandelt werden. Die deutsche Bevölkerung dürfe sich nicht »herabwürdigen […] lassen, gleich einem Neger von der afrikanischen Küste«. Die Deutschen sollten von Mexiko oder den »tapfern Comantsches und Apatsches« Land erwerben, dort ein »blühendes« Neudeutschland errichten und stolz die deutsche Fahne aufpflanzen.[84]
Tatsächlich war wenige Jahre zuvor versucht worden, im Südwesten Nordamerikas eine deutsche Kolonie zu schaffen. Akteur war der Mainzer Adelsverein, besser bekannt als Texas-Verein, der 1842 von rheinischen Aristokraten gegründet worden war, um durch organisierte Massenauswanderung in Texas eine deutsche Kolonie aufzubauen. Letztlich siedelte er nur 7000 Deutsche in Texas an, von denen über die Hälfte starb. Das Unternehmen war ein Fiasko. 1845 war klar, dass der Verein sein Hauptziel nicht erreicht hatte, und 1853 ging er bankrott.[85] Tatsächlich ist es kaum vorstellbar, dass ein Neudeutschland, wie Blumenau und Brauns es erträumten, in Texas oder Kalifornien hätte errichtet werden können. Man befand sich in der Ära von Amerikas »offenkundiger Bestimmung«, seiner »Manifest Destiny« – der Begriff wurde 1845 von dem Zeitungsherausgeber John O’Sullivan geprägt. In diesem Jahr annektierten die Vereinigten Staaten Texas, und im folgenden Jahr führten sie einen Krieg gegen Mexiko, um es zu behalten. Im Zuge dieses Krieges sicherte Commodore John Sloat den Vereinigten Staaten durch seinen Vorstoß in die Monterey Bay zudem die Herrschaft über Kalifornien.[86] Darüber hinaus waren die Amerikaner in diesen Jahren argwöhnisch, was die britischen Absichten in Oregon betraf. Vor diesem Hintergrund hätte die US-Regierung unter keinen Umständen die Gründung einer souveränen Kolonie unter der Fahne des Deutschen Bundes zugelassen.
Dennoch brachte das Revolutionsjahr 1848 eine neue Begeisterung für koloniale Pläne in den Vereinigten Staaten mit sich. Abgeordnete in Frankfurt vertraten die Ansicht, dass der neu zu gründende deutsche Nationalstaat das Sprungbrett dafür bilde. Das vereinigte Deutschland würde die Macht besitzen, die Einzelnen und kleinen Staaten fehle, und Washington würde das Vorhaben begrüßen, da es die »natürliche Freundschaft der Vereinigten Staaten mit uns« stärken würde.[87] Begeisterung für deutsche Kolonien in Nordamerika gab es zwar im gesamten politischen Spektrum, aber am größten war sie bei der Linken. Die Revolution verlieh der Politik neuen Schwung und holte das Thema ins Rampenlicht. 1848/49 wurden 22 neue Organisationen gegründet, die der Auswanderung und der Kolonisierung in Amerika gewidmet waren. Dutzende Pläne, Petitionen und Denkschriften über das Thema erreichten das Frankfurter Parlament.[88]
Es blieb jedoch illusorisch zu glauben, die bereits in den Vereinigten Staaten lebenden Deutschen könnten zusammen mit im Rahmen von Siedlungsplänen eintreffenden Neuankömmlingen den Grundstock deutscher Kolonien bilden und die deutschen Siedlern zugeschriebenen Vorzüge wären irgendwie in eine Form von Souveränität umzuwandeln. Dieser Traum wurde ausgerechnet in dem Augenblick verfolgt, als die von den Träumern ins Auge gefassten Gebiete eins nach dem anderen als neue Bundesstaaten der Union beitraten – Texas 1845, Iowa 1846, Wisconsin 1848, Kalifornien 1850. Der Radikaldemokrat Wilhelm Schulz drängte die Deutschen, sich zu beeilen, aber es war schon zu spät. In den 1850er-Jahren wurden die kolonialen Fantasien ohne viel Aufhebens ad acta gelegt. In Publikumszeitschriften und Fachpublikationen wurde zwar weiterhin über deutsche Siedler in Amerika geschrieben, aber jetzt ging es um ihren Beitrag zur amerikanischen Westexpansion, um eine schmeichelhafte Vorstellung von der Rolle, welche die »deutsche Rasse« angeblich bei der Öffnung des weiten Raums des amerikanischen Kontinents für weiße Siedler spielte.
Viele deutsche Kolonialenthusiasten wandten sich nach der Mitte des Jahrhunderts von Nordamerika ab und Mittel- und Südamerika zu, von dessen vermeintlich »weichen« hispanischen Einwohnern man erwartete, dass sie weniger Assimilationsdruck ausüben würden.[89] Schon in den 1840er-Jahren hatten manche für Lateinamerika als Zielgebiet plädiert, und es wurden immer neue Pläne entworfen. Alexander von Bülow gründete in Berlin einen Verein zur Centralisation Deutscher Auswanderung und Kolonisation, der 1853 hundert deutsche Familien in Nicaragua ansiedelte. Trotz vieler Beispiele für misslungene Ansiedlungen in jüngster Vergangenheit behielt die »Moskitoküste« ihre Anziehungskraft.[90] Eine Stimme in diesem Chor war der Schriftsteller und Musikkritiker Karl Gaillard – ein früher Wagnerianer –, der sich vorstellte, dass Deutsche von Nicaragua aus nach Guatemala und darüber hinaus ausschwärmen könnten. »Das Spanische Amerika. Dies ist unser Kanaan«, verkündete er großspurig.[91] Außerdem schlug er vor, in Brasilien, dem Lieblingsland vieler Kolonialfreunde, in dem sie das Deutschtum florieren sahen, eine deutsche Kolonie zu gründen.
In den 1870er-Jahren gab es kaum noch eine Weltgegend, die nicht irgendwann als idealer Ort für eine deutsche Kolonie in Betracht gezogen worden wäre. Friedrich List, der immer neue Orte für eine deutsche Besiedlung ins Gespräch brachte, hatte Australien, Neuseeland und die Südseeinseln ins Auge gefasst. Auch das untere Donautal, Bermuda, Abessinien und Borneo hatten ihre Befürworter.[92] 1847 wurde in einer Broschüre über Preußens Zukunft als See-, Kolonial- und Weltmacht Afrika als »Schlüssel der Welt« ausgemacht und vorgeschlagen, zehn bis zwanzig Millionen Preußen dorthin zu schicken, um »1000 Millionen Schwarze« zu »germanisieren«. Die drei großen deutschen Reiche – in Afrika, Europa und Amerika – würden es dem »deutschen Blut« ermöglichen, mit »Menschlichkeit, Tugend und Gerechtigkeit« die Welt zu beherrschen.[93] 32 Jahre später zeigte sich der frühere Missionar und Verfechter des Kolonialgedankens Friedrich Fabri in seinem viel gelesenen Buch Bedarf Deutschland der Colonien?, wenn auch in nüchternerem Tonfall, in Bezug auf die vor dem deutschen Volk stehenden »Aufgaben« und seine globale Rolle ebenso zuversichtlich. Er unterschied zwei Hauptarten von Kolonien, eine für die Besiedlung und eine für den Handel, erwähnte aber auch kurz eine dritte Art: Strafkolonien, in die politisch »Widerspenstige« geschickt werden konnten; immerhin war dies das Zeitalter anarchistischer Verschwörungen. Fabri nannte allerdings keinen Ort, wo Deutschland seine Version von Russlands Sibirien oder Frankreichs Teufelsinsel errichten konnte. Seine Vorstellungen davon, wo es seine anderen kolonialen »Bedürfnisse« befriedigen konnte, waren inzwischen, Ende der 1870er-Jahre, vertraut. Er schlug Kleinasien, Australien und Neuseeland, vor allem aber Südafrika als die Gebiete vor, in welche die deutsche Auswanderung gelenkt werden sollte. Was Handelskolonien betraf, sah er überall Möglichkeiten, von den Samoainseln bis nach Zentralafrika.[94]
Durch eine Reihe territorialer Erwerbungen in Afrika in der Mitte der 1880er-Jahre katapultierte sich Deutschland in die Reihen der Kolonialmächte. Innerhalb von nur zwei Jahren gelangte es in den Besitz von Kolonien in Südwestafrika, Togo, Kamerun und Ostafrika. Eine zweite Welle kolonialer Erwerbungen folgte Ende der 1890er-Jahre; diesmal in Kiautschou im Süden der Shandong-Halbinsel in Ostchina, im Osten von Neuguinea sowie inSamoa und kleineren pazifischen Inselketten. Am Ende des Jahrhunderts besaß Deutschland das viertgrößte Kolonialreich.[95] Wie ist dieser plötzliche Drang, Kolonien zu erwerben, zu erklären, und wie wirkte er sich auf Deutschland aus?
Die Ursachen waren, um einen Begriff Sigmund Freuds zu verwenden, »überdeterminiert«, das heißt, es gibt mehr Gründe als nötig, um zu erklären, warum Deutschland eine Kolonialmacht wurde und warum es zu diesem Zeitpunkt dazu wurde.[96] Eine treibende Kraft war der Druck von öffentlicher Meinung und Lobbygruppen. Bücher wie Fabris Schrift und Wilhelm Hübbe-Schleidens Deutsche Kolonisation (1881) standen für eine neue, aggressivere Tonart der Verfechter kolonialer Erwerbungen. Sie verstärkten die Forderungen von Organisationen wie dem Deutschen Kolonialverein und der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation. Diese Autoren und Interessengruppen äußerten eine Reihe von Sorgen, unter anderem die seit Langem vorgebrachte Klage von Nationalisten, die Auswanderung bedeute einen Verlust von »Volkskraft«. Angesichts der letzten und größten Auswanderungswelle in den 1870er- und 1880er-Jahren wurde diese Befürchtung immer nachdrücklicher geäußert und mit der dringlichen Forderung verbunden, die deutsche Kultur durch die Besiedlung von Kolonien zu bewahren.[97] In diesen Jahren erlebte die Welt die »Große Depression«, ein globales Konjunkturtief, das 1873 begann und einen Wechsel zu Schutzzöllen und einer neuen Art des Imperialismus mit sich brachte. Der sogenannte Wettlauf um Afrika war der klassische Ausdruck dieser Entwicklung. Unternehmen, koloniale Interessengruppen und andere Verfechter imperialer Politik führten an, Kolonien hätten den dreifachen Vorteil von Rohstoffen, Märkten und Investitionsstandorten. So präsentierte Fabri Kolonien als Lösung des Problems, wohin Menschen, Waren und Kapital exportiert werden könnten. Er bot in seiner bahnbrechenden Schrift eine »kumulative kolonialexpansive Krisentherapie« an.[98]
Die Argumente für den Erwerb von Kolonien waren nicht nur ökonomischer Art, und die nichtökonomischen Argumente waren nicht nur Rationalisierungen materieller Interessen. Vielmehr waren sie Ausdruck einer globalen Vorstellungswelt, in der sich das Lesepublikum in den 1880er-Jahren wie selbstverständlich bewegte. Deutsche kannten sich durch Berichte über ferne Länder in der Welt aus. Manche Berichte stammten von Missionaren, andere von Forschungsreisenden oder Entdeckern, und sie wurden nicht nur in der wichtigsten geografischen Zeitschrift der Zeit, Petermanns Geographischen Mitteilungen, sondern auch in Publikumszeitschriften veröffentlicht. Kapitän Carl Koldeweys zweite Nordpolexpedition von 1869/70 wurde zum Gegenstand des Nationalstolzes, als seine Mannschaft mitten im Deutsch-Französischen Krieg, nachdem sie im Packeis überwintert hatte, wieder in Bremen eintraf. Die Expedition wurde in höchsten Tönen gerühmt: Sie habe »deutsche seemännische Tüchtigkeit, deutsche Ausdauer, deutsches Streben nach Bereicherung der Wissenschaft herrlich zur Geltung gebracht«.[99]
Die kalte, weiße Arktis war ein Ort, wo man Fahnen aufpflanzte oder einem Sund einen Namen gab. Eine exotischere, rassistisch getönte Faszination übte das »heiße«, »dunkle« Afrika auf die Deutschen aus. Für die fünfbändigen Reisen und Entdeckungen in Nord- und Centralafrika, die der Geograf und Forschungsreisende Heinrich Barth 1855 bis 1858 veröffentlichte, interessierte sich vor allem das Fachpublikum. Eine breitere Leserschaft erreichte Gerhard Rohlfs. Als jugendlicher Freiwilliger in der nationalistischen Schleswig-Holsteinischen Erhebung (1848 – 1851) und ehemaliger Arzt in der französischen Fremdenlegion war er eher Abenteurer denn Gelehrter. Mitte der 1860er-Jahre durchquerte er die Sahara von Tripolis bis zum Golf von Guinea.[100] Er war nur einer aus einer ganzen Reihe deutscher Afrikaforscher, die in den 1860er- und 1870er-Jahren zu Berühmtheit gelangten, wie Georg Schweinfurth, Karl Mauch, Gustav Nachtigal und Eduard Mohr. Die Liste ließe sich verlängern. Ihre Reisen führten sie an die Ost- und Westküste und ins Innere des Kontinents, aber die meisten unternahmen schließlich Vorstöße in die Sahara. Sie befriedigten einen Wissensdurst über Afrika, den sie selbst mit geschaffen hatten,[101] und stärkten ein europäisches Überlegenheitsgefühl und den Glauben, Deutsche hätten aufgrund ihrer angeblich größeren Kraft und höherentwickelten Kultur in Afrika und anderswo eine zivilisatorische Mission.[102]
Die deutschen kolonialen Erwerbungen hatten einen verwickelten politischen Hintergrund. Der Kurswechsel in der Mitte der 1880er-Jahre war zum Teil eine Folge daraus, dass Afrikaabenteurer wie Carl Peters und Adolf Lüderitz vor Ort Tatsachen geschaffen hatten. Der Pfarrerssohn und promovierte Historiker Peters, der einige Zeit in Großbritannien gelebt hatte, sah sich als deutscher Cecil Rhodes. 1884 gründete er die Gesellschaft für Deutsche Kolonisation, und am Ende desselben Jahres unternahm er eine Expedition nach Ostafrika ins Gebiet des heutigen Tansania, wo er eine Reihe von skrupellos einseitigen »Verträgen« mit örtlichen Häuptlingen schloss, durch die er das Recht zur wirtschaftlichen Ausbeutung des Landes erhielt.[103] 2500 Kilometer südwestlich, an der gegenüberliegenden Küste Afrikas, setzte Lüderitz dieselben Tricks ein. Er stammte aus einer Bremer Kaufmannsfamilie, die mit Tabak handelte. Nachdem er an Tabakbörsen in den Vereinigten Staaten gearbeitet und sich erfolglos als Rancher in Mexiko versucht hatte, kehrte er, 25-jährig, bankrott nach Bremen zurück. Dort heiratete er eine Tochter aus reichem Hause und übernahm nach dem Tod seines Vaters das Familienunternehmen. 1882 erwarb er eine Handelsfirma an der Goldküste, doch das Geschäft scheiterte. Im folgenden Jahr kaufte er die Bucht von Angra Pequena im heutigen Namibia und führte anschließend eine Reihe unehrenhafter Verhandlungen mit afrikanischen Häuptlingen, durch die er sich einen Landbesitz von rund 600 000 Quadratkilometern aneignete.
Bismarck willigte ein, diese Territorien zu deutschen Schutzgebieten zu machen. Dies markierte den Anfang des deutschen Kolonialreichs. Ähnlich wie das souveräne Regime, das James Brooke als selbst ernannter Raja von Sarawak –Vorbild von Rudyard Kiplings Der Mann, der König sein wollte – auf Borneo errichtete, zimmerten sich auch Peters und Lüderitz Privatstaaten – »Schurkenreiche«. Dies war einer der Gründe, aus denen Bismarck, dessen Abneigung gegen Kolonien bekannt war, sich für diese Territorien gewinnen ließ, insbesondere nachdem Peters gedroht hatte, seine Besitzungen an König Leopold von Belgien zu verkaufen. Beamte des Auswärtigen Amts hielten Bismarck mit Bedacht über den Präzedenzfall Sarawak auf dem Laufenden. Man ging davon aus, dass Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika den deutschen Staatshaushalt nicht belasten würden, nachdem Bismarck beide zu Schutzgebieten erklärt hatte – er vermied den Begriff »Kolonie« –, und seine Entscheidung, dies zu tun, markierte keinen grundlegenden Kurswechsel seiner Politik. Gleichwohl wurde das Deutsche Reich dadurch in ein größeres koloniales – und schließlich auch militärisches – Engagement hineingezogen, wie man es von anderen europäischen Kolonialmächten kannte.[104]
Bismarck hatte außerdem die Innenpolitik im Blick. Für ihn war die Kolonialfrage eine Gelegenheit, die Mitte-Rechts-Parteien vor der bevorstehenden Reichstagswahl hinter sich zu scharen und, indem er die Nationalfahne schwenkte, vielleicht sogar der Anziehungskraft der Sozialdemokratie auf die deutschen Arbeiter entgegenzuwirken.[105] Dieses Argument brachten sowohl Konservative als auch Liberale vor. Fabris Buch stellte die konservative Variante dar.[106] Nationalliberale vertraten eine eigene Version des »Sozialimperialismus«, der Idee, dass Arbeiter dem Sozialismus abspenstig gemacht werden konnten, wenn man ihnen einen Grund gab, sich stärker mit der Nation zu identifizieren. Doch nicht alle Liberalen teilten diese Auffassung. Unter Fortschrittlern gab es stets eine hartnäckig antikoloniale Strömung. Aber in den 1880er-Jahren waren viele Liberale unterschiedlicher Couleur, wie schon 1848, der Ansicht, dass eine Nation in einer in zunehmendem Maß von Konkurrenz geprägten Welt Kolonien und zu ihrem Schutz eine Kriegsmarine brauchte. Diese nach außen gerichtete Projektion deutscher Macht, so glaubte man, würde eine erzieherische Wirkung auf die Unterschicht in der Heimat haben.[107] Hinzu kam ein weiteres wirkungsvolles Element, das die verbreitete Zustimmung zum Erwerb von Kolonien zu erklären hilft: der Glaube, dass das endlich vereinigte Deutschland verlorene Zeit aufholen müsse. Man kann von einem neuen Selbstvertrauen in einer »verspäteten Nation« sprechen, dem Wunsch – häufig mit einem Seitenblick auf Großbritannien, das man bewunderte und beneidete –, in der Welt etwas darzustellen. Dies war eine in konservativen und liberalen Kreisen sowie in der Wirtschaftselite und im Bildungsbürgertum verbreitete Einstellung. Bei Sozialdemokraten, Katholiken und manchen Fortschrittlern stieß sie allerdings auf Ablehnung.
In den späten 1890er-Jahren brachten Befürworter dieselben ökonomischen Argumente vor, um weitere koloniale Erwerbungen zu rechtfertigen. Der Rückgang der Auswanderung bedeutete allerdings, dass Siedlungskolonien in den Hintergrund traten, während aufgrund des raschen Wachstums der Weltwirtschaft der Bedarf an Marinestützpunkten und Kohlestationen stärker betont wurde. Sozialimperialistische Argumente über den heimischen Nutzen einer aggressiven Außenpolitik traten noch weiter in den Mittelpunkt. Zu ihren Verfechtern gehörte der Chef des Reichsmarineamts Alfred von Tirpitz, der Begründer der deutschen Hochseeflotte, der große nationale Anstrengungen als »starkes Palliativ gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokraten« betrachtete.[108] Aber auch liberale Imperialisten vertraten sie, wie der Soziologe Max Weber, einer von vielen »Flottenprofessoren«, die dem Deutschen Flottenverein beitraten, einer zivilen Massenorganisation mit breiter Mitgliedschaft. In den 1890er-Jahren nahm das Prestigeargument, das heißt das Verlangen, Deutschland einen »angemessenen« Platz in der Welt zu sichern, einen schärferen Ton an, wobei Großbritannien weiterhin als bewunderter, aber oft auch scheel angesehener Bezugspunkt diente.
Kaiser Wilhelm II., der 1888 den Thron bestieg, gab den Ton vor, indem er den Wunsch nach einer energischen »Weltpolitik« ausdrückte. Einer seiner bevorzugten Helfer war der beredte, selbstbewusste Bernhard von Bülow, der von 1897 bis 1900 Außenminister und danach bis zu einem großen Streit mit dem Kaiser im Jahr 1909 Reichskanzler war. Seine erste Rede als Außenminister enthielt zwei Phrasen, die rasch Eingang in die Zitatenlexika fanden: Die eine handelte von dem Deutschland zustehenden »Platz an der Sonne« – »wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne« –; die andere war eine scharfe Zurückweisung der Vorstellung, dass Deutschland ein kontemplatives »Land der Dichter und Denker« sei: »Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber.«[109] In seiner Amtszeit als Außenminister erwarb das Deutsche Reich die zweite große Tranche von Kolonien, diejenigen in China und im Pazifik.
Deutschland behielt seine Kolonien gerade einmal dreißig Jahre. Die Holländer waren elfmal länger in Java, die Briten sechsmal länger in Indien. Aber in diesen drei Jahrzehnten übten die Deutschen jede Form von Herrschaft aus, die das imperiale Repertoire bereithielt: direkte, indirekte, »wissenschaftliche« und entwicklungsorientierte, paternalistische und gewaltsame. Diese Vielfalt war zum Teil eine Folge der Unterschiedlichkeit der deutschen Kolonien, was Größe, Umfeld, Bevölkerung und Funktion betraf – ob sie vorrangig als Handels-, Pflanzungs- oder Siedlungsgebiete betrachtet wurden. Wie die Macht ausgeübt wurde, hing außerdem davon ab, welche politischen Strukturen man vorfand, wie die indigene Bevölkerung auf die koloniale Autorität reagierte und was die Deutschen in einer Zeit, in der ein Viertel des Globus von den Westmächten beherrscht wurde, von anderen Kolonialmächten lernten oder für sich anpassten. Wie in anderen Kolonialreichen wurde die Herrschaft häufig von den Männern vor Ort ausgeübt, deren Zahl zumeist gering war: Deutsch-Ostafrika wurde im Jahr 1900 von nur 400 deutschen Offizieren und Verwaltungsbeamten regiert. Gleichwohl änderte sich die von Berlin vorgegebene Politik mehrfach. In der ersten experimentellen Phase übten einige Einzelne, überwiegend Kaufleute und Abenteurer, im Rahmen des Protektoratssystems kaiserlicher Satzungen eine informelle Herrschaft aus. Das daraus folgende Missmanagement und die krassen Missbräuche, die ein Eingreifen Berlins nötig machten, führten nach 1890 – und Bismarcks Sturz – unter einer neuen Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt zu einem systematischeren Vorgehen. Diese zweite Phase der Kolonialherrschaft endete, als die deutschen Maßnahmen, vor allem in Deutsch-Ost- und Deutsch-Südwestafrika, Widerstand hervorriefen. Deutschland reagierte darauf mit militärischer Gewalt, die genozidale Ausmaße erreichte. Nachdem die Kolonialkrise in der Heimat politische Kritik ausgelöst hatte, übte man ab 1907 unter Bernhard Dernburg, dem liberalen Chef des neu geschaffenen Reichskolonialamts, die koloniale Macht auf weniger drakonische Weise aus.[110]
Im Pazifik war die deutsche Herrschaft besonders tolerant und paternalistisch, sowohl in Neuguinea, das 1898 nach dem Scheitern der deutschen Neuguinea-Kompagnie zu einer förmlichen Kolonie wurde, als auch in Samoa, das Deutschland – nach einer ebenso unergiebigen Phase der indirekten Herrschaft durch eine Handelsgesellschaft – durch ein internationales Abkommen im selben Jahr erwarb. Die Toleranz hatte ihren Grund, und er ging über den Wunsch hinaus, die vorherige Ausbeutung durch deutsche Händler und Pflanzer vergessen zu machen. Seit der Zeit von Forsters und Chamissos Reisen in den Pazifik hatten Deutsche vom romantischen »Paradies« der Südsee und den »edlen Wilden«, die dort lebten, gelesen. In den 1860er-Jahren hatte der unermüdliche Weltreisende Friedrich Gerstäcker Ähnliches geschrieben. Und am Ende des 19. Jahrhunderts, als Deutschland pazifische Kolonien erwarb, erfuhr die Sympathie mit den einfachen, unschuldigen Südseevölkern, als die sie in trüben europäischen Augen erschienen, einen neuen Aufschwung, zumal zur selben Zeit eine gezierte Abneigung gegenüber dem Materialismus Mode wurde.[111]
Die Gouverneure, die nach 1899 amtierten, bewiesen eine bemerkenswerte Rücksicht auf die lokale Kultur. Der Gouverneur von Deutsch-Neuguinea, der Bayer Albert Hahl, von Hause aus Rechtsanwalt, begrenzte den Einfluss der deutschen Pflanzer und unterstützte die Kultivierung des Landes durch Einheimische. Er setzte örtliche Vertreter als Vermittler zwischen der deutschen Verwaltung und der indigenen Bevölkerung ein und nutzte traditionelle Machtstrukturen, statt sie zu zerstören, zum eigenen Vorteil. Er erlernte die Tolai-Sprache und hatte eine Beziehung mit einer Tolai-Frau, aus der ein Kind hervorging. In Samoa wurde im Jahr 1900 der promovierte Indologe Wilhelm Solf Gouverneur. Er gab seinen Kindern samoanische Namen, beachtete samoanische Sitten und Riten, wenn er sich mit lokalen Führern traf, und schlüpfte, wenn es seinen Zwecken nutzte, ohne zu zögern in die Rolle eines Eingeborenenkönigs. In diesen symbolischen Handlungen nutzte er samoanische Traditionen, um die deutsche Herrschaft ohne Zwang aufrechtzuerhalten. Deutsche Truppen oder Polizisten gab es in Samoa nicht. Aber an der deutschen Herrschaft bestand letzten Endes kein Zweifel. Was die lokale Kultur betraf, gestattete Solf eine geregelte Ausübung sowohl altehrwürdiger Traditionen als auch neuer Vorlieben wie Cricket. Außerdem setzte er dem Missionseifer Grenzen, indem er die lokale Tradition des avaga, einer Form des Fliehens, schützte. Sein Oberrichter, Erich Schultz-Ewerth, stimmte gemäß der allgemeinen deutschen Politik, mithilfe traditioneller Machtstrukturen zu regieren, der Inhaftierung von Samoanern zu, die lokale Häuptlinge beleidigt hatten. Schultz-Ewerth, der sich sogar tätowieren ließ, wurde 1911 Solfs Nachfolger als Gouverneur.[112]
Solf, Schultz-Ewerth und Hahl stellten sich allesamt den deutschen Pflanzern – deren Zahl relativ klein war – in den Weg, um eine Ausbeutung der indigenen Völker zu verhindern. Aber nicht alles war schön und gut. In einem Bericht der Rheinischen Missionsgesellschaft aus Neuguinea von 1903, fünf Jahre nach dem Ende der Herrschaft der Neuguinea-Kompagnie, hieß es, Missionare müssten immer noch als »Anwälte der Eingeborenen manchen gewissenlosen Europäern gegenüber« agieren. Ihr Eingreifen habe »Ungerechtigkeit und Gemeinheit« verhindert.[113] Der Erfolg der deutschen Gouverneure beim Schutz der indigenen Völker von Neuguinea und Samoa beruhte allerdings auf zweifelhaften Grundlagen, denn ein Mittel, mit dem sie die Ausbeutung der »edlen« Eingeborenen verhinderten, war die Einfuhr billiger chinesischer »Kuli«-Arbeiter für die Baumwoll-, Kaffee- und Kakaoplantagen. 1914 arbeiteten in den beiden deutschen Kolonien rund 3500 Chinesen und 200 Malaien, wegen deren Behandlung chinesische Botschafter in Berlin mehrfach diplomatischen Protest einreichten.[114]
In China selbst unterschied sich die deutsche Herrschaft grundlegend von derjenigen im Pazifik. Kiautschou wurde 1897 nach der Ermordung zweier katholischer Missionare eine deutsche Kolonie. Der auf 99 Jahre angelegte Pachtvertrag – Großbritannien hatte mit China einen ähnlichen Vertrag über Hongkong geschlossen – war Teil des nach dem Tod der beiden Missionare mit dem Qing-Hof gefundenen Übereinkommens. Die Morde waren indes nur ein Vorwand, um die Herrschaft über ein Gebiet zu übernehmen, das man schon lange als potenziell wertvollen Marinestützpunkt und Kohlestation ins Auge gefasst hatte. Der deutsche Geograf und Chinareisende Ferdinand von Richthofen, der sein Wissen über die Region seit den 1860er-Jahren an Bismarck weitergegeben hatte, beschrieb die Bucht von Kiautschou 1882 als den »größten und besten Seehafen der ganzen nördlichen Hälfte des Reiches«. Tirpitz besuchte sie und forderte ihre Besetzung, und 1896 wies Wilhelm II. das Reichsmarineamt an, einen entsprechenden Plan auszuarbeiten. Die Ermordung der Missionare im folgenden Jahr war dann ein willkommener Anlass für Deutschland, seine Ansprüche anzumelden.[115]
Die Provinz und ihre Hauptstadt, Tsingtau, waren insofern einzigartig, als sie direkt von Marineoffizieren verwaltet wurden. Kiautschou war als Marine- und Handelsstützpunkt gedacht, sollte aber auch eine »Musterkolonie« sein, ein Schaufenster deutscher Kultur und Wissenschaft. Was dies in der Praxis genau bedeutete, änderte sich im Lauf der Zeit. Aber es beinhaltete stets die Zurschaustellung deutscher technologischer Fähigkeiten. In Tsingtau wurden neue Hafenanlagen gebaut und nach einem Gesamtplan eine neue Stadt errichtet. Flüsse wurden begradigt, Eisenbahntrassen gebaut, um den Hafen mit dem kohlereichen Hinterland zu verbinden, und Fachleute für die Verwaltung in deutschem Besitz befindlicher Bergwerke hinzugeholt. In den ersten Jahren der Kolonie führte diese Hyperaktivität der »ausländischen Teufel« zum Widerstand der chinesischen Boxer-Aufständischen, der nach der Ermordung eines deutschen Gesandten im Jahr 1900 durch eine brutale »Befriedung« unterdrückt wurde. Der Kaiser forderte nach China abreisende Soldaten in einer berüchtigten Rede auf, sich wie die »Hunnen« zu verhalten, und die unter dem Befehl von Alfred von Waldersee stehenden Truppen gingen denn auch mit brutaler Gewalt vor und verübten Massaker, die von antikolonialen Kräften in Deutschland scharf verurteilt wurden.
Die meisten deutschen Kolonialbeamten und Einwohner von Tsingtau legten den Chinesen gegenüber eine rassistische Verachtung an den Tag. Die Stadt war durch Rassentrennung geprägt, während sie in nur 15 Jahren von einem Fischerdorf zu einem bedeutenden Hafen und Handelszentrum mit über 55 000 – überwiegend chinesischen – Einwohnern heranwuchs. Um 1904 herum verschob sich das Schwergewicht jedoch, und der Begriff »Musterkolonie« nahm eine neue Bedeutung an. Ein Zusammentreffen mehrerer Umstände – ein zunehmender Gegenwind vonseiten der chinesischen Regierung, der Wunsch, chinesischen Geschäftsinteressen entgegenzukommen, und der Einfluss liberalerer Kräfte im Auswärtigen Amt – führte zu einem Kurswechsel. Sinophile Beamte, Dolmetscher und Missionare kamen nach Kiautschou und gewannen Einfluss auf die »Eingeborenenpolitik«, wobei sie an eine frühere Tradition des Respekts für die chinesische Kultur anknüpften. Das Seminar für orientalische Sprachen der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (wie die heutige Humboldt-Universität von 1828 bis 1945 hieß) schickte wohlmeinende Neulinge in die Kolonie, wo 1909 eine neue Institution gegründet wurde, die Deutsch-Chinesische Hochschule, die einzige Universität in den deutschen Kolonien. Wo einst deutsche Einwohner Chinesen, die nicht schnell genug vom Bürgersteig sprangen, mit einer Peitsche dazu brachten, wurde nun auch einigen Chinesen der Zutritt zum Tennisklub von Tsingtau gestattet. Während die Architekten in der Anfangszeit der Kolonie Gebäude von herrschaftlich europäischer Anmutung entworfen hatten, wurden jetzt chinesische Elemente aufgegriffen. All dies änderte nichts an der grundsätzlichen Rassentrennung, aber es war Ausdruck einer dem ursprünglichen System übergestülpten kulturellen Annäherung und Wechselbeziehung – eines gutartigen Orientalismus, wie man ihn nennen könnte. Nachdem es Nordchina die gepanzerte Faust gezeigt hatte, hatte Deutschland gleichsam Samthandschuhe übergezogen.[116]
Ausrichtung und Härte der deutschen Herrschaft in Afrika unterschieden sich von Kolonie zu Kolonie, aber physische Gewalt war stets eine Option. Die Episoden extremer Brutalität gegen Afrikaner geschahen eine Generation nach der Ankunft der Deutschen, als Militär eingesetzt wurde, um Aufstände niederzuschlagen. Der Widerstand war eine Reaktion auf Maßnahmen, welche die althergebrachte Lebensweise untergruben und in einigen Fällen zerstörten. Diese Entwicklung begann mit der willkürlichen Grenzziehung, die afrikanische Völker zwischen deutschen und anderen Kolonien teilte. Selbst die »Stämme«, auf deren Grundlage die Kolonialmächte die indigenen Völker definierten, waren eine Projektion ihres Verständnisses von Ethnizität und Identität auf Afrikaner.[117] Während deutsche Verwalter sich gelegentlich örtliche Zeremonien – wie die Schauri in Ostafrika, eine Art der Verhandlungsführung – zunutze machten, wurden lokale Machthaber von Distriktbeamten, die eine enorme Machtfülle besaßen, regelmäßig herabgewürdigt und manchmal auch abgesetzt. Dies traf insbesondere auf Militärexpeditionen aus den Küstenregionen, wo die Kolonialherren sich am sichersten fühlten, ins Landesinnere zu. Auch die »Zivilisierungsmission«, wie Verwalter und Missionare sie ebenso großspurig wie zynisch nannten, schwächte einheimische kulturelle Praktiken, religiöse Riten, Geschlechterbeziehungen und Erbschaftsbräuche. Am folgenreichsten waren jedoch die ökonomischen Arrangements, welche die Deutschen unwilligen Afrikanern aufzwängten. Überall wurde Land enteignet, manchmal, um große Baumwoll-, Kakao-, Sisal- und andere Monokulturplantagen anzulegen, wie in Kamerun und Deutsch-Ostafrika, ein andermal, um es in Farmen für deutsche Siedler aufzuteilen, wie in Deutsch-Südwestafrika.
In Südwestafrika wurden drei Viertel des Landes der Herero und Nama beschlagnahmt, samt einem großen Teil ihres Viehs. Die »ganze Zukunft der Kolonie«, erklärte Gouverneur Theodor Leutwein 1894, liege »in dem allmählichen Uebergang des nicht bewirthschafteten Landes aus den Händen der arbeitsscheuen Eingeborenen in diejenigen der Europäer begründet«.[118] Die Beschlagnahme von Land und Vieh, die Erhebung von Steuern und ein Erziehungswesen, das dazu diente, europäische »Arbeitsdisziplin« zu vermitteln: All dies sollte halbnomadische afrikanische Viehzüchter in ergebene, in Reservaten lebende Arbeitskräfte verwandeln. Ein Ausbruch der Rinderpest im Jahr 1897 raffte die den Herero verbliebenen Tiere dahin und verstärkte ihren Unmut. Der Gegenschlag kam in Form von Angriffen auf deutsche Siedler, angeführt von Samuel Maherero, der zuvor mit Gouverneur Leutwein kooperiert hatte, um das Tempo der Landenteignung zu verlangsamen. Der Herero-Aufstand begann 1904 und dauerte drei Jahre. Er wurde schließlich von Truppen unter dem Befehl von General Lothar von Trotha, der bereits »Befriedungskampagnen« in Ostafrika und China geleitet hatte, niedergeschlagen. Trotha, der anstelle des konzilianteren Leutwein zum Gouverneur ernannt wurde, sprach offen über sein Vorgehen: Afrikaner, schrieb er an seinen Vorgänger, »gleichen sich alle in dem Gedankengang, dass sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik.« Er versprach, die Aufständischen in »Strömen von Blut« zu ertränken.[119]
Trotha hielt Wort. Nachdem seinen Truppen zu seinem Ärger in der Schlacht am Waterberg kein totaler Sieg über die Herero gelungen war, ging er zu einer Vernichtungspolitik über. Deutsche Soldaten erschossen Männer, Frauen und Kinder und verfolgten dann die verbliebenen Herero in die Omaheke-Wüste, eine westliche Erweiterung der Kalahari, wo sie eingekesselt und von jeder Wasserquelle abgeschnitten wurden. Wer zu fliehen versuchte, wurde erschossen. Andere Herero wurden bei völlig unzureichender Verpflegung in Konzentrationslagern interniert. Auch die Nama erhoben sich 1904 und führten einen Guerillakrieg, auf den die Deutschen mit gleicher Brutalität reagierten. Sie wurden in kaum versorgte Lager gesperrt, wie auf der berüchtigten Haifischinsel. 65 000 von 80 000 Herero und die Hälfte der 20 000 Nama verloren in diesen genozidalen Kampagnen ihr Leben.[120]
Der Todeszoll im fast gleichzeitig ausgebrochenen Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika war sogar noch höher. Die Ursache war ein ähnlicher Unmut über die selbstherrliche Verwaltung, Eingriffe in lokale Kulturpraktiken und ein neues Wirtschaftsregime, das Landenteignung und Zwangsarbeit auf Plantagen mit sich brachte. Letztere war schließlich der Auslöser des 1905 ausbrechenden Aufstands. Angefacht wurde er, wie der Boxeraufstand in China, von einer religiösen Endzeitstimmung, und wie dieser wurde er mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Gefangene Aufständische wurden summarisch erschossen, häufig fünfzig oder hundert auf einmal, weil sie angeblich keine Behandlung verdienten, wie sie in Kriegen zwischen »zivilisierten« Europäern üblich war. In den Kämpfen kamen 80 000 Afrikaner ums Leben, weitere 200 000 in der anschließenden Hungersnot.[121]
In Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika – der »kolonialen Groteske«[122] – setzten die deutschen Truppen den Hinterlader und das Maschinengewehr am augenfälligsten als »Reichswerkzeuge« ein.[123] Aber auch in Kamerun fanden – wenn auch weniger tödliche – Strafexpeditionen statt, um Widerstand gegen Landenteignung und Zwangsarbeit auf den neuen Kakao- und Baumwollplantagen zu brechen. Der Gouverneur war der Karrierediplomat Jesko von Puttkamer, ein Freund des britischen Diplomaten und irischen Nationalisten Roger Casement, der einen großen Anteil an der Aufdeckung der Kolonialverbrechen in Belgisch-Kongo hatte. Puttkamer erwies sich allerdings als Autokrat, der – trotz der Kritik von Missionaren – Militärexpeditionen ins Landesinnere förderte und die verbreitete Gewalt gegen Afrikaner auf den Plantagen duldete. Die Kritik an ihm führte schließlich zu seiner frühen Ablösung, wenn auch nur wegen geringfügiger Vergehen und nicht wegen seines autokratischen Verhaltens.[124] Selbst in der sogenannten Musterkolonie Togo, einem Küstenhandelsposten, wo Kaufleute und Missionare gemeinsam eine Landenteignung in großem Stil verhinderten, wurden Militärkampagnen ins Landesinnere unternommen. Während des Tové-Aufstands von 1895 wurden Vergeltungsmaßnahmen gegen aufständische Bauern durchgeführt, Anpflanzungen und Häuser niedergebrannt und Kriegsgefangene zu Zwangsarbeit eingesetzt. Örtliches Gewerbe wurde zerstört, wie die Keramikherstellung, die sich überwiegend in den Händen von Frauen befand, deren Produkte zerschlagen wurden; die Scherben waren noch jahrelang an Straßenrändern zu finden.[125] Sogar in Togo griff der Staat also, wenn auch nur vorübergehend, zu Gewalt. Auch dort demonstrierte man, wie in allen deutschen Kolonien in Afrika, mit öffentlichen Hinrichtungen und der Zurschaustellung von Leichen die Macht der Kolonialverwaltung. Überall erlebten Afrikaner außerdem die »weiche« Gewalt von Wohnorttrennung und Ausgangssperren sowie routinemäßige Prügel auf Plantagen und in Privathaushalten.
Offene Gewalt war in deutschen Kolonien, besonders in den afrikanischen, auf eine Weise üblich, wie es in der Heimat nicht der Fall war. Rassismus und kulturelle Verachtung machten koloniale Untertanen zu entmenschlichten Objekten, während Berlin den Männern vor Ort einen weiten Ermessensspielraum zubilligte und nicht allzu viele Fragen stellte, solange nicht ein Missionar oder Reichstagsabgeordneter einen Fall von Gewalttätigkeit publik machte, so dass er nicht mehr ignoriert werden konnte; Missionare hielten sich allerdings häufig zurück, weil sie dadurch einen Hebel gegenüber der Kolonialverwaltung in die Hand bekamen, der ihre Handlungsfreiheit vergrößerte.[126] Gewalt war außerdem die Kehrseite einer schwachen alltäglichen Kontrolle, der ungesicherten Staatsmacht außerhalb der »Inseln von Herrschaft« in Deutsch-Ostafrika und der ausgewiesenen »Polizeizone« in Deutsch-Südwestafrika. Anders gesagt, die deutsche Herrschaft erreichte nie das Ausmaß und den Grad an Legitimität, die sie in den Grenzen des Nationalstaats von 1871 besaß.[127] Damit unterschied sich Deutschland nicht von anderen europäischen Mächten, die allesamt aus ähnlichen Gründen ein hohes Maß an Gewalt gegenüber ihren kolonialen Untertanen billigten oder duldeten. Wenn Deutschland sich durch etwas abhob, dann war es die Größe der Kluft zwischen der sozial und bürokratisch disziplinierten Gesellschaft in der Heimat und der Gewalttätigkeit, welche die deutsche Herrschaft in Afrika kennzeichnete. Die mancherorts in Deutschland von der Polizei durchgesetzte Schulpflicht, die Fabriksirenen und Stechkarten, die Anwesenheit uniformierter Staatsbeamter in allen Lebensbereichen, das Arbeitshaus: Dies alles hatte eine disziplinierende Wirkung, die öffentliche Hinrichtungen und Auspeitschungen, die in Kamerun und Deutsch-Südwestafrika alltäglich waren, in Württemberg oder Sachsen überflüssig machte.
Die Wehrpflicht war ein weiteres Disziplinierungsinstrument in Deutschland. Beim Militär gab es ein hohes Maß an Gewalt, einschließlich der Prügelstrafe. Der Sozialdemokrat Karl Liebknecht machte dies 1907 in einer Polemik gegen den Militarismus öffentlich bekannt.[128] Aber er bemerkte auch, dass in Deutschland das Militär seltener als in den meisten anderen europäischen Ländern eingriff, um Streiks zu beenden. Er hätte hinzufügen können, dass es diese Zurückhaltung auch gegenüber Minderheitengemeinden in deutschen Grenzregionen bewies. Der berüchtigtste Übergriff des deutschen Heeres geschah 1913 im elsässischen Zabern, wo Beschimpfungen eines jungen Offiziers gegenüber der örtlichen Bevölkerung Proteste auslösten, die mit einer Verhaftungswelle beantwortet wurden. 26 Personen wurden über Nacht in einem Kohlenkeller eingesperrt, und über die Stadt wurde vorübergehend der Belagerungszustand verhängt. Die Zabern-Affäre erregte öffentliches Aufsehen und wurde zum Gegenstand einer Reichstagsdebatte über den Militarismus. Aber es gab keine Toten oder Schwerverletzten.[129] Im Vergleich mit den Geschehnissen in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika wirkt der Skandal beinah lächerlich, ebenso wie die Aktionen antisemitischer Studenten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die in Kaufhäusern mit jüdischen Besitzern Mäuse aussetzten, im Vergleich mit dem, was dreißig Jahre später geschehen sollte, als bloße, wenn auch widerwärtige Streiche erscheinen.
Dies wirft eine große Frage auf: Die Kolonien waren Orte der Gewalt. Waren sie auch Brutstätten genozidaler Gewalt? Wer eine Linie von deutschen Gräueln in Südwestafrika zu nationalsozialistischen Verbrechen in Osteuropa – »von Windhuk nach Auschwitz« – ziehen will, kann auf Kontinuitäten von Personal und Ideen verweisen. Daran besteht kein Zweifel.[130] Aber diese Verbindungslinien sind kompliziert. Man kann ebenso plausibel argumentieren, dass die Deutschen in Afrika anwandten, was sie bei der brutalen Verfolgung französischer Franc-tireurs im Krieg von 1870/71 gelernt hatten, wie man die Grausamkeit der deutschen militärischen Kultur nach 1914 auf frühere koloniale Geschehnisse zurückzuführen kann.[131] Die Gewalttätigkeit der deutschen Kolonialherrschaft mag im Rückblick größer erscheinen, als Zeitgenossen sie wahrnahmen. Es ist aufschlussreich, die Ereignisse einmal mit den Augen des britischen Majors Charles Edward Callwell zu sehen, der in seinem 1896 erschienenen bahnbrechenden Buch über koloniale Aufstandsbekämpfung, Small Wars. Their Principles and Practice, irreguläre Guerillakonflikte in europäischen Kolonialreichen untersuchte, dem französischen, niederländischen, belgischen, portugiesischen ebenso wie dem britischen. Auch über die Vereinigten Staaten und Japan hatte er einiges zu sagen. Über Deutschland verlor er indes kein Wort. Erst in der dritten Auflage von 1906 wird es erwähnt, allerdings nur am Rande.[132]
Waren die deutschen Kolonien in einem weiteren Sinn »Laboratorien der Moderne« – Orte, an denen es möglich war, Dinge auszuprobieren, die man zu Hause nicht testen konnte?[133] In mancher Hinsicht waren sie es tatsächlich, beispielsweise in der Landwirtschaft. In Ostafrika errichtete die Kolonialmacht eine zwei Millionen Mark teure landwirtschaftliche Forschungseinrichtung, das Amani-Institut. Neue Wirtschaftspflanzen, wie Baumwolle, Sisal, Kakao und Tabak, wurden – insbesondere in Afrika – in großem Stil angebaut. In einem Fall wurde Booker T. Washingtons Tuskegee Institute in Alabama eingeladen, ein Team nach Togo zu entsenden, weil man hoffte, dort eine Baumwollwirtschaft wie im amerikanischen Süden aufbauen zu können. Es war ein erstaunliches Beispiel eines dreiseitigen Transfers.[134] Viele dieser Experimente schlugen fehl, wie es häufig geschieht, wenn man Monokulturen anlegt. Die deutschen Kolonisatoren ignorierten die Vorteile des dem Klima angepassten afrikanischen Mischanbaus, der den Boden schonte, aber in europäischen Augen unordentlich und asymmetrisch aussah.[135] Außerdem gab es ständige stadtplanerische Anstrengungen, nicht nur in Tsingtau, sondern auch in Duala in Kamerun, in beiden Fällen mit rücksichtsloser Landenteignung, der Zerstörung vorhandener Straßenpläne und dem Ziel, rassisch getrennte Gemeinden zu schaffen.[136] Hongkong hatte möglicherweise einen gewissen Einfluss auf den Gesamtplan für Tsingtau. Aber letzten Endes konnten es die deutschen Stadtplanungen nicht mit dem Ausmaß der französischen Projekte in Marokko, Indochina und Madagaskar oder der britischen in Indien aufnehmen.[137]
Maßnahmen, die scheinbar auf die größeren Gelegenheiten – das heißt den geringeren Widerstand – in Kolonien zurückzuführen sind, erweisen sich bei genauerem Hinsehen häufig als keineswegs kühner als entsprechende Maßnahmen in der Heimat. Waren die Pläne für Tsingtau oder Duala wirklich weitreichender als James Hobrechts in den 1860er-Jahren ausgearbeiteter Bebauungsplan für Berlin mit seinem Zeitrahmen von fünfzig Jahren?[138] Um ein anderes Beispiel anzuführen: Deutsche Kolonialverwaltungen bemühten sich, die Bewegungen von Eingeborenen zu kontrollieren, aber diese Anstrengungen gingen nicht über die immer strengeren Kontrollen in Deutschland hinaus, insbesondere von nichtdeutschen Gruppen wie Polen sowie Sinti und Roma. Selbst die Leichtigkeit, mit der Europäer aus deutschen Kolonien deportiert wurden, muss im Licht der Geschichte der Deportation von Europäern – von Elsässern, Polen, Dänen, deutschen Jesuiten – gesehen werden.[139] Diese Kontrollen und Deportationen in der Heimat geschahen nicht nach kolonialem Vorbild, denn sie fanden vorher statt, nicht nachher. Gleiches gilt beispielsweise für die Medizin. Die Impfung von Soldaten gegen Typhus mag zuerst in Deutsch-Südwestafrika erprobt worden sein, doch die Impfpflicht gegen Pocken war in Deutschland bereits 1874, nur drei Jahre nach der Vereinigung, verordnet worden.
Gleichwohl rühmten sich die Deutschen ihrer technologischen Leistungen in den Kolonien. Sie liefen unter dem Etikett des »Fortschritts«, eines Schlüsselbegriffs heimischer liberaler Nationalisten im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts, der jetzt auf die globale Bühne übertragen wurde. Damit wurden Kolonien, insbesondere nach 1907, als die »Zivilisierungsmission« fortschrittlich gewendet wurde, ebenso zu einem liberalen Projekt, wie sie ein konservatives waren. Ein Aspekt dessen war ein riesiges Eisenbahnbauprogramm in den späteren Jahren des deutschen Kolonialismus, insbesondere in Afrika. Mit den Eisenbahnstrecken wurden gleichsam strategische Pflöcke im Hinterland eingeschlagen und Transportwege geschaffen, auf denen deutsche Produkte ins Land hinein und Edelmetalle und andere Rohstoffe aus ihm hinaus transportiert werden konnten. Außerdem waren sie demonstrative Vorzeigeobjekte. Die Deutschen verfolgten natürlich, was andere Kolonialmächte – insbesondere Großbritannien – taten, und es gab einiges Zähneknirschen angesichts dessen, was die Briten in Bezug auf die Infrastruktur erreicht hatten. Der Assuan-Staudamm erregte weithin Neid.
Deutsche waren stolz auf ihre Tropenmedizin, Immunologie und Veterinärmedizin. Die Kolonien waren ein Schaufenster für deren Leistungen; allerdings hatten viele der »Erfolge« eine dunkle Seite. Deutsche Wissenschaftler entwickelten ein Serum gegen die Rinderpest, das jedoch nicht für den Schutz afrikanischer, sondern nur für den Schutz europäischer Viehbestände eingesetzt wurde. Die unterschiedliche Todesrate beider Bestände war ein entscheidender Faktor bei der Vernichtung der Lebensgrundlagen der Herero in Deutsch-Südwestafrika. Die Kolonialmedizin war von auf rassistischem Denken beruhenden eugenischen Annahmen durchsetzt. Hans Ziemann, der Leiter der Medizinalverwaltung in Kamerun, gelangte in einer Studie über Malaria zu dem Schluss, dass das Auftreten der Krankheit in der afrikanischen Bevölkerung aus hygienischen Gründen eine strenge Rassentrennung in Duala nötig mache.[140] Man ist versucht, von dort eine Linie zur rassistischen Eugenik des NS-Regimes zu ziehen. Aber das deutsche Verhalten in dieser Hinsicht unterschied sich vor 1914 kaum von demjenigen anderer Kolonialmächte. Kolonien verliehen europäischen Institutionen auf Gebieten wie der Hygiene und der Tropenmedizin Auftrieb. In Deutschland – wie anderswo – wirkte sich der Kolonialbesitz auf viele Fächer aus, von der Medizin über die Zoologie bis zur Anthropologie. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden in den deutschen Kolonien allerdings selbstbewusster angewandt als anderswo. Dies mussten sogar diejenigen zugeben, die sonst wenig für Deutschland übrighatten.
Afrikanische Arbeiter beim Bau der Ostafrikanischen Eisenbahn. Fotografie von Dezember 1909.
Viele betrachteten Kolonien als möglichen Ausgangspunkt einer deutschen »Erneuerung«, als einen Ort, wo rechtschaffene Siedler die Ideale des Deutschtums verwirklichen konnten. Dies war ein wesentliches Argument von Friedrich Fabri gewesen. Auch jüngere Figuren aus demselben Milieu, wie Ernst Albert Fabarius, Militärgeistlicher in Koblenz und Sekretär des Rheinischen Verbands des Evangelischen Afrika-Vereins, führten es an. 1899 gründete Fabarius in Witzenhausen an der Werra eine deutsche Kolonialschule, an der junge Männer zu bäuerlichen Siedlern und »Kulturpionieren« ausgebildet wurden.[141] Für Frauen gründete der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft – diese war 1887 aus der Vereinigung des Deutschen Kolonialvereins und der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation hervorgegangen – eine eigene Kolonialschule, an der künftige Siedlerfrauen in Wöchnerinnenpflege, Kochen, Nähen und anderen Fähigkeiten loyaler Gefährtinnen in Grenzlanden ausgebildet wurden. Die Zahl der Absolventen dieser Schulen war gering, entsprach aber der bescheidenen Größe deutscher Siedlungen in den Kolonien. Deutsch-Südwestafrika, die einzige wirkliche Siedlerkolonie, hatte nie mehr als 14 000 deutsche Einwohner. So viele Menschen zogen alle vier Monate nach Großberlin, und dies vierzig Jahre lang.
Dass der Siedlerkolonialismus einen solchen Ruf genoss, lag zum Teil daran, dass er das Idealbild einer weißen Familie repräsentierte – im Gegensatz zu rassisch gemischten Ehen oder anderen sexuellen Beziehungen zwischen deutschen Männern und indigenen Frauen, die besonders in den ersten Jahren der deutschen Kolonialherrschaft üblich waren. Sie riefen die Befürchtung hervor, dass deutsche Männer »verkafferten«[142] oder sich ein Verhalten angewöhnten, das die vermeintliche rassische Überlegenheit der Europäer untergrub. 1905 verbot die deutsche Verwaltung in Südwestafrika Ehen zwischen deutschen Männern und afrikanischen Frauen, und zwar auch rückwirkend, so dass bestehende Ehen annulliert wurden.[143] Später wurde ein solches Verbot auch in Ostafrika und Samoa erlassen. Die Sorge über die rassische Vermischung veranlasste Gouverneur Leutwein 1898 zudem zu dem Vorschlag, alleinstehenden Frauen die Überfahrt nach Südwestafrika zu bezahlen, um »wohlgeeignetes weibliches Reichs-Zuchtmaterial« dorthin zu bringen, wie es die Feministin Gertrud Bülow von Dennewitz verächtlich ausdrückte.[144] Aber viele Frauen, sowohl in Deutschland als auch in den Kolonien, befürworteten eine solche Maßnahme. Grete Ziemann, die als Haushälterin ihres Bruders, des erwähnten Medizinalbeamten Hans Ziemann, nach Kamerun gegangen war, ließ keinen Zweifel an ihrem Standpunkt aufkommen: »Meines Erachtens kann der Rassenstolz, natürlich nur im besten und edlen Sinne, gar nicht scharf genug geübt werden. Wenn Deutschland Afrika erobern will, darf dort jedenfalls kein Mischvolk entstehen.«[145] Selbst Feministinnen wie Minna Cauer ermunterten Frauen, in die Kolonien zu gehen, und zwar mit dem klassischen Argument zeitgenössischer Feministinnen, dass sie dort das »unzivilisierte« Verhalten, zu dem Männer stets neigten, »zivilisieren« sollten.[146]
Als der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft Frauen in einer Annonce aufforderte, Unterstützung für die Reise in die Kolonien zu beantragen, traf er auf ein überraschend starkes Echo. Neben anspruchslosen »einfachen Mädchen«, die am leichtesten zu vermitteln waren, meldeten sich auch gebildete Frauen – Haushälterinnen, Kindergärtnerinnen, Gesellschafterinnen –, welche die Gelegenheit nutzen wollten, ein unabhängigeres Leben zu führen, als es ihnen in Deutschland möglich war. Sie wurden von Margarete Schnitzker, einer der Frauen, welche die Anträge prüften, abgelehnt. Für solche Frauen bestand in den Kolonien kein Bedarf. Andere Antragstellerinnen wollten von ihren Ehemännern fortkommen, waren »in eine bedrängte Lage geraten […] – meist durch den plötzlichen Tod des Vaters« – oder wollten »nur einmal ein bißchen heraus«, oder ihnen stand »die Abenteuerlust in jeder Hinsicht recht deutlich auf dem Gesicht geschrieben«.[147] Schnitzker wies auch diese Frauen umstandslos ab.
Dennoch verhielten sich viele Männer in den Kolonien auf eine Weise, die nicht nur der Idee einer »Zivilisierungsmission« Hohn sprach, sondern sie übertraten selbst das, was ihnen nach dem Doppelmaßstab für männliches und weibliches Verhalten zugestanden wurde. Was konnte sie in Schwierigkeiten bringen oder sogar zur Deportation führen? Mittellosigkeit zum Beispiel, wenn sie als Siedler versagten, dem Alkohol verfielen (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) und zu anrüchigen Schmarotzern wurden. Damit brachten sie die weiße Rasse in Verruf. Gleiches galt für homosexuelle Handlungen, vor allem wenn sie mit afrikanischen Männern vorgenommen wurden.[148] Außerdem gab es Verbrechen, die über die stillschweigend geduldete alltägliche Gewalt hinausgingen, einschließlich sexueller Gewalt. Deutsche Missionare in Südwestafrika klagten wiederholt über die Vergewaltigung afrikanischer Frauen. Manche nannten die sogenannte Schutztruppe in der Kolonie deshalb auch »Schmutztruppe«.[149] Aber die Klagen hatten kaum Folgen, und es bedurfte schon außergewöhnlicher Umstände, um einen Skandal zu entfachen. So wurde ein gewisser Heinrich Odelwald 1912 wegen der Vergewaltigung eines afrikanischen Kindes inhaftiert und aus Deutsch-Südwestafrika deportiert.[150] Bei vielen Vorfällen, die Aufsehen erregten, war Alkoholmissbrauch im Spiel. Ein Siedler namens Kurt Berner wurde zur Deportation aus Südwestafrika empfohlen, nachdem er in alkoholisiertem Zustand einen seiner afrikanischen Arbeiter erschossen hatte.[151] Einen Fall von Alkoholmissbrauch und sexuellem Übergriff schildert die Feministin und Nationalistin Frieda von Bülow, eine entfernte Cousine Gertrud von Bülows, in einem ihrer afrikanischen Romane. Sie hatte in den späten 1880er-Jahren in Ostafrika persönliche Freiheit gesucht und dort eine deutsche Krankenstation gegründet und geleitet. In ihrem Roman Tropenkoller (1896) brechen der Bruder der Heldin und seine Freunde betrunken in die Häuser von Afrikanern ein und versuchen Frauen zu vergewaltigen.[152] Es ist erwähnenswert, dass Frieda von Bülow sich in Ostafrika unglücklich in Carl Peters verliebte, der gezwungen wurde, die Kolonie zu verlassen, nachdem er zwei Afrikaner, seine Geliebte und deren angeblichen Liebhaber, hatte erhängen und ihre Heimatdörfer niederbrennen lassen.[153] Der linksliberale Kulturkritiker Franz Giesebrecht verfasste 1897 eine Studie über Peters mit dem sarkastischen Titel Ein deutscher Kolonialheld. Sie ist das psychologische Porträt eines Ungeheuers, aber laut Giesebrecht wurden dessen Abscheulichkeiten – »Kolonialgreuel« – irgendwie von Afrika hervorgerufen: »[D]ort draußen, im wilden Land, […] da werden Kultur und Zivilisation zum Teufel gejagt.« Dort trete das bisher verborgene Böse zutage, »da triumphiert – die Bestie im Menschen«.[154] Anscheinend glaubte Giesebrecht, solche Schrecken könnten nur in einem afrikanischen Umfeld entfesselt werden. Seine Studie handelte vom »Herz der Finsternis«, wie Joseph Conrad es zwei Jahre später beschrieb.
Die Kolonien erlangten in der deutschen Vorstellungswelt eine unverhältnismäßig große Bedeutung. Ein Aspekt, der nicht übersehen werden sollte, ist die Kritik mancher Deutscher an der Brutalität der kolonialen Ausbeutung. Ihren Höhepunkt erreichte sie 1906/07, als Deutschland in Afrika zwei Kriege führte und von Missionaren ins Bild gesetzte Reichstagsabgeordnete der katholischen Zentrumspartei die Kolonialverwaltung attackierten. Die Sozialdemokraten, seit jeher Kritiker des Kolonialismus, beeilten sich, ihrerseits Öl ins Feuer zu gießen. Das Ergebnis war, dass Reichskanzler Bülow 1907 eine Reichstagswahl ansetzte, die sogenannte Hottentottenwahl, durch die er Katholiken und Sozialdemokraten zu isolieren hoffte. Der Plan ging auf, auch wenn eine neue, reformorientierte Kolonialverwaltung unter Bernhard Dernburg installiert wurde. Die Parteienkonstellation aus Konservativen, rechten Nationalliberalen und Fortschrittlern, die Bülow in der Wahl unterstützt hatte, zeigt, wie breit die Unterstützung des kolonialen Projekts war. Die stärkste Unterstützung erhielt es jedoch von Kriegerverbänden und der radikalen Rechten: von der Kolonialgesellschaft, dem Alldeutschen Verband und dem Flottenverein. Diese Organisationen stellten Schautafeln und Landkarten für Schulen und Wartezimmer von Arztpraxen her und finanzierten Vorträge und Diavorführungen berühmter Figuren wie Gerhard Rohlfs und anderer Verfechter der deutschen kolonialen Mission. Sie zogen ein großes Publikum an; in einer mittelgroßen Stadt wie Osnabrück etwa kamen siebenhundert Besucher zu einer solchen Abendveranstaltung, als der »Abenteurer« Albert Spring im Februar 1913 dort über Ostafrika sprach. Vor dem Eintreffen der Deutschen, erklärte er, sei das Land »noch fast im Urzustande« gewesen, und die »Neger hockten nichtstuend vor ihren schmutzigen Hütten«. Dann kam die koloniale Umwälzung: »Jetzt gibt es saubere Dörfer, in denen nachts elektrisches Licht erstrahlt. Das Dampfroß durchzieht das fruchtbare Land. Gut gekleidete Neger und Negerinnen gehen, ganz wie bei uns in den Provinzen, nach den Stationen, um die Züge abzuwarten.«[155] Dies war der verächtliche Rassismus der »Zivilisierungsmission«.
Konnte man in Deutschland einem Afrikaner begegnen? Es war möglich, aber unwahrscheinlich. Afrikaner aus deutschen Kolonien reisten nach Deutschland, insbesondere aus Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika. Manche waren Kinder der gesellschaftlichen Elite, deren Eltern ihnen eine deutsche Bildung zukommen lassen wollten. Andere gingen als Dolmetscher und Sprachlehrer, als Diener deutscher Kolonialbeamter oder im Rahmen eines der Ausbildungsprogramme deutscher Missionen nach Deutschland. Manche waren Matrosen oder Lehrlinge, die ein Handwerk erlernten, das sie dann in Afrika ausüben sollten. Es war also eine sehr disparate Gruppe. Unter den Kamerunern, die nach Deutschland reisten, waren sowohl Christen als auch Muslime sowie Angehörige von vier Sprachgruppen.[156] Auch die Erfahrungen der Afrikaner in Deutschland waren unterschiedlich. Zwei Kinder aus Kameruner Elitefamilien, die im württembergischen Aalen eine evangelische Schule besuchen sollten, wurden von einer Blaskapelle begrüßt und waren auch danach anscheinend sehr beliebt. Aber häufiger erlebten die Afrikaner unerwünschte Neugier und Schmähungen.[157] Gemeinsam war den Afrikanern in Deutschland, dass sie erwarteten – und von ihnen erwartet wurde –, nach Afrika zurückzukehren. Dies erklärt die große Fluktuation der schwarzafrikanischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Bis 1914 dürften mehrere Tausend Afrikaner dort gewesen sein, aber gleichzeitig waren es stets weniger als eintausend.[158] Statistisch gesehen kam also nie mehr als ein Afrikaner auf 70 000 Deutsche.
Wahrscheinlicher war die Begegnung mit im Allgemeinen karikierenden und herabwürdigenden Darstellungen von Afrikanern. Die Dias, die bei Vorträgen wie demjenigen von Albert Spring in Osnabrück gezeigt wurden, stellten nur einen Teil der exotischen Bilder aus den Kolonien dar, von denen das Publikum förmlich überschwemmt wurde, in Illustrierten mit Massenauflage ebenso wie auf Plakaten und Reklamen. Wer sich durch die wachsenden deutschen Großstädte bewegte, kam nicht umhin, diese visuellen Zeichen zu lesen und die spektakulären Bilder, mit denen für eine Show oder ein Produkt geworben wurde, wahrzunehmen.[159] Viele Reklamen setzten auf Exotik. Stilisierte, häufig karikierte Bilder schwarzer Menschen erschienen in Reklamen für eine Vielzahl von Produkten: Schokolade, Kuchenmischungen, Margarine, Zigarren und Zigaretten, Alkohol (»Herero-Likör«), Fahrradreifen, Natron, Seife, Zahnpasta, Metallpolitur, Schuhcreme. Besonders häufig handelte es sich um Reinigungsprodukte und Bilder, die irgendeine Form der Säuberung zeigten, wie eine Reklamezeichnung für Mohr’s Seifen und Seifenpulver, auf der ein schwarzes Kind sich mit weißem Seifenschaum das Gesicht wäscht.[160] Ähnliche Bilder zierten Sammelkarten und Reklameplakate, die für Wachsfigurenkabinette, Ausstellungen und Shows warben.
In manchen Shows wurden Vertreter kolonialer und anderer Völker aus aller Welt, die als »exotisch« oder »primitiv« galten, live ausgestellt. Dies waren die berüchtigten »Völkerschauen«, in denen einem europäischen Publikum Nichteuropäer aus Regionen von der Arktis bis zu den Tropen – Afrikaner, amerikanische Ureinwohner, Inuit, pazifische Inselbewohner, Singhalesen – vorgeführt wurden.[161] Diese Shows waren einige Jahrzehnte bevor Deutschland Kolonien erwarb, als karnevalistisches Beiprogramm entstanden, wurden aber in den 1880er-Jahren zu einer beliebten Hauptattraktion, die mit dem Segen von Gelehrten stattfand, die sie für wissenschaftlich korrekt und daher lehrreich erklärten. Wissenschaftler untersuchten die Ausgestellten, bezeugten ihre »Echtheit« und verliehen den Veranstaltern einen akademischen Nimbus. Es handelte sich um eine Art »kommerzieller Völkerkunde«, ein Zusammenspiel von profitorientierter Unterhaltung und Gelehrsamkeit.[162] In den dreißig Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs tourten über hundert große sowie zahlreiche kleinere Völkerschauen durch Deutschland und andere europäische Länder. Für Carl Hagenbeck, den bedeutendsten deutschen Veranstalter, ergab sich die Völkerschau gleichsam natürlich aus seinem bisherigen Geschäft, der Einfuhr wilder Tiere für zoologische Gärten.[163] Zoos gehörten zu den respektablen, vom Bürgertum besuchten Orten, an denen Völkerschauen gezeigt wurden.
Eine Variante der Völkerschau war das durchinszenierte »Eingeborenendorf«, komplett mit Hütten, Werkzeugen und Tieren, das zu einem Standardteil großer Völkerschauen wurde. Die Berliner Gewerbeausstellung von 1896 warb mit solch einer Schau, ebenso wie die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung in Leipzig im folgenden Jahr, auf der 47 sorgfältig ausgewählte Afrikaner vorgeführt wurden, die eigens nach Deutschland geholt worden waren, um die Europäern unbekannten »innerafrikanischen Stämme« zu repräsentieren. Der Anschein von Seriosität und Volksbildung, den diese Schauen sich stets gaben, wurde diesmal jedoch von den Organisatoren untergraben, die in der Ausstellungszeitung schamlos aufs Spektakuläre setzten, indem sie das Gerücht verbreiteten, der Stamm der Wadoe praktiziere Kannibalismus und habe möglicherweise drei im Jahr 1886 vermisste deutsche Matrosen verspeist.[164] Völkerschauen fanden auch auf großen öffentlichen Festen wie dem Münchener Oktoberfest statt. 1910 besuchte der bayerische Prinzregent Luitpold dort eine Samoa-Schau.[165]
Das einstige Beiprogramm hatte inzwischen auch Eingang in Wachsfigurenkabinette oder Panoptiken gefunden, die im späten 19. Jahrhundert nach dem Vorbild von Madame Tussauds in London in mehreren deutschen Städten gegründet wurden. Castans Panoptikum in Berlin, mit später vier Ablegern in anderen Städten, war 1871 das erste. Konkurrenten und Nachahmer folgten in der damaligen Hamburger Vorstadt St. Pauli und in Frankfurt am Main. Carl Gabriel, Sohn eines Zirkusdirektors, veranstaltete bereits Völkerschauen auf dem Oktoberfest, als er sein Internationales Handelspanoptikum in München eröffnete.[166] Zu diesen Einrichtungen gehörte in der Regel ein Theater, in dem Völkerschauen stattfanden. Sie alle hoben das Exotische und Sensationelle hervor.
Bilder, Shows und Vorträge über die weite, »exotische« Welt gab es nicht nur in Großstädten wie Berlin, Hamburg und München. Auch in kleineren Städten wie Oldenburg im nordwestdeutschen Marschland, wo 1905 ein »afrikanisches Dorf« besichtigt werden konnte, machten sie Furore.[167] Die kleine, aber berühmte Residenzstadt Weimar, die in ihrem »Silbernen Zeitalter« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts berühmte Musiker (Franz Liszt, Richard Strauss), Kunstliebhaber (Harry Graf Kessler) und einen umnachteten Philosophen (Friedrich Nietzsche) zu ihren Einwohnern zählte, war auch ein Hort des Kolonialismus, wofür zu einem nicht geringen Teil Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach verantwortlich war, der Carl Peters großzügig finanziell unterstützte, eine enge persönliche Beziehung zu Adolf Lüderitz unterhielt und Gerhard Rohlfs ein Grundstück für den Bau eines Hauses in der Stadt zur Verfügung stellte. Die Weimarische Zeitung veröffentlichte umfangreiches Material über Afrika, und der Ortsverein der Kolonialgesellschaft war ausgesprochen rührig. Außerdem nahm das in der Stadt stationierte Regiment an der Niederschlagung des Boxeraufstands und des Aufstands der Herero teil.[168] Die große, weite Welt gelangte durch viele Kanäle in die Provinz. Straßennamen und Gedenkplaketten erinnerten täglich an die Kolonien, ebenso wie die bunten Reklamen und die »Kolonialwarenläden«, welche die beworbenen Produkte verkauften. Illustrierte brachten Kolonialgeschichten, und koloniale Abenteuergeschichten oder »Farmersfrau«-Memoiren im Stil Frieda von Bülows wurden in Billigausgaben angeboten.[169] Hinzu kamen die Bücher, Spiele und Spielzeuge für Kinder und Jugendliche. So wie Modelleisenbahnkästen das große Fortschrittssymbol des 19. Jahrhunderts popularisierten, holten Brettspiele wie Die Kolonisten und Miniaturmodelle afrikanischer Dörfer die ferne koloniale Welt in die Nähe. Sie erlaubten Kindern, »Reich zu spielen«.[170]
Diese Einflüsse waren allgegenwärtig.[171] Aber ermunterten sie die Menschen tatsächlich dazu, sich mit dem deutschen Kolonialreich zu identifizieren? Manche taten es offensichtlich, wie ein Regiment, das in den Kolonien eingesetzt worden war, Straßennamen, die deutsche »Kolonialhelden« ehrten, Landkarten des deutschen Kolonialreichs, in Südwestafrika spielende Literatur. Aber die vorgeführten »exotischen« Elemente hatten häufig wenig mit den deutschen Überseebesitzungen zu tun. Das afrikanische Dorf in Oldenburg firmierte als »Somali-Dorf«; seine vermeintliche Authentizität betraf einen Teil von Afrika, um den sich Großbritannien und Italien stritten. Das war kein Zufall. Die Herero, die in der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 auftraten, waren die letzten Afrikaner aus deutschen Kolonien, die an Völkerschauen teilnahmen. Missionare in Deutsch-Südwestafrika hatten damals gegen diese Zurschaustellungen protestiert,[172] und vier Jahre später schloss sich die deutsche Regierung ihnen an. Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingfürst und der Kolonialrat – ein Beratergremium des Kolonialamts – verboten es, Eingeborene aus deutschen Kolonien für Zurschaustellungen nach Europa zu holen. Als Grund gaben sie an, dass diese profitorientierten Unternehmungen keinerlei Bildungswert besäßen und sich nachteilig auf die Gesundheit der Betroffenen sowie die Kolonialbeziehungen auswirkten.[173]
Die häufig ethnisch falsch zugeordneten Teilnehmer an späteren Völkerschauen kamen aus aller Welt. Es waren Nubier, Burmesen, Zulus, nordamerikanische »wilde Indianer« und »Eskimos«. Auch Reklamen, Brettspiele und Populärliteratur umfassten Menschen unterschiedlichster Herkunft, nicht nur solche aus deutschen Kolonien. Die rassistische Einstellung, die von diesen abstoßenden Zurschaustellungen und grotesken Karikaturen gestärkt wurde, gehörte in den Rahmen einer weiteren europäischen Vorstellungswelt.
Zeitgenössischen Beobachtern war klar, dass die Welt kleiner wurde. Ihnen war auch bewusst, dass der ökonomische Austausch diese Entwicklung vorantrieb und einen »Welthorizont« schuf, wie der Theologe Ernst Troeltsch ihn nannte.[174] Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm eine wahrhaft globale Wirtschaft Gestalt an, angetrieben von einer außerordentlichen Vermehrung der Handelsverbindungen und zusammengehalten vom raschen Wachstum der Schifffahrt, von neuen Unterseekabeln und der erhöhten Aktivität von Kaufleuten und Bankiers internationalen Zuschnitts. Aufgrund der Fähigkeit eines dynamischen kapitalistischen Systems, neue Ressourcen und Märkte zu erschließen, blieb fast kein Gebiet auf der Erde davon unberührt. Deshalb werden die Jahre vor 1914 heute allgemein als Zeitalter der ersten Globalisierung betrachtet, dessen Verbindungen und Vernetzung bis zum späten 20. Jahrhundert unübertroffen waren.[175]
Deutschen Beobachtern fiel dieser Trend besonders früh auf. Der Ökonom Adolph Wagner erkannte bereits 1876, dass sich »der Verkehr, unter den ihn begünstigenden Einflüssen, in der Gegenwart mehr als in irgend einer früheren Periode der Weltgeschichte dahin [neigt], die Volkswirthschaften zu einem die ganze Erde umspannenden weltwirtschaftlichen Organismus zu vereinigen«.[176] Der Begriff »Weltwirtschaft« wurde seit den 1880er-Jahren weithin gebraucht, Jahrzehnte, bevor er im Englischen gebräuchlich wurde.[177] Ein Grund dafür war, dass die politische Ökonomie seit der Zeit von Friedrich List in Deutschland für gewöhnlich aus nationaler Perspektive gesehen wurde. Deshalb betrachteten deutsche Ökonomen die Globalisierung als lediglich letztes Stadium einer Entwicklung vom Heimischen über das Urbane und das Nationale zum Globalen. Darüber hinaus wurde Deutschlands aktiver werdende Rolle im Welthandel zu einem innenpolitischen Streitgegenstand. Die Deutschen waren weithin stolz auf die ökonomische Stärke des neuen Nationalstaats, insbesondere als er – wenigstens auf manchen Gebieten – Großbritannien, das gleichermaßen Vorbild und Rivale war, zu überholen begann. Aber die zunehmende weltwirtschaftliche Bedeutung Deutschlands beruhte darauf, dass es, in zeitgenössischen Begriffen ausgedrückt, den Übergang von einem »Agrar-« zu einem »Industriestaat« vollzogen hatte, und dieser Wandel stieß bei konservativen Intellektuellen ebenso wie bei Landbewohnern und Kleinstädtern, die sich abgehängt fühlten und die Globalisierung nicht als Chance, sondern als Bedrohung ansahen, auf Ablehnung. Sie bildeten in den 1890er-Jahren zwar nur eine Minderheit, aber diese Minderheit war groß genug, um bei politischen Debatten im Zusammenhang mit der deutschen Rolle in der Weltwirtschaft, etwa über Handelsverträge, Zölle oder scheinbar harmlose Fragen wie veterinärmedizinische Grenzkontrollen, regelmäßig Konflikte zwischen Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft aufflammen zu lassen.
Dass Deutschland ein führender wirtschaftlicher Mitspieler auf der Weltbühne geworden war, steht außer Frage. Einige Zahlen verdeutlichen, wie eng die deutsche Wirtschaft mit dem globalen Warenverkehr verflochten war. Der Wert der deutschen Einfuhren stieg zwischen 1880 und 1913 von 2,8 auf 10,8 Milliarden Mark und derjenige der Ausfuhren von 2,9 auf 10,1 Milliarden. Sowohl bei den Ein- als auch bei den Ausfuhren zeigte die Wachstumskurve im letzten Vorkriegsjahrzehnt besonders steil nach oben. Deutschland war die dynamischste kapitalistische Nation der Welt, der in Bezug auf das Wachstum des Außenhandels nur die Vereinigten Staaten gleichkamen. Obwohl es mehr Lebensmittel aus Übersee einführte, um seine wachsende städtische Bevölkerung zu ernähren, verdoppelte sich der Anteil der Exporte am Bruttonationaleinkommen nahezu. 1880 war der deutsche Anteil am globalen Export von Fertigwaren etwas kleiner als der französische und halb so groß wie der britische. 1913 war er schon doppelt so groß wie der französische und holte rasch zum britischen auf.[178]
Die Stahlindustrie zeigte dies auf dramatische Weise. 1880 produzierte Großbritannien doppelt so viel Stahl wie Deutschland; 1913 war es umgekehrt.[179] Das Beispiel des Stahls ist allerdings potenziell irreführend. Es trifft zu, dass der Ausstoß der deutschen Schwermetallbranche, ähnlich wie die mit ihr zusammenhängende Kohleförderung, in diesem Zeitraum drastisch anstieg. Aber das wirkliche Geheimnis des deutschen Exporterfolgs waren höherentwickelte Güter. Einige von ihnen waren Erzeugnisse von Maschinenbaufirmen, wie die rund um die Welt vermarkteten Waffen der Krupp-Werke in Essen, die Turbinen der Firma J. M. Voith in Hildesheim, die unter anderem an den Niagarafällen installiert wurden, und die von Robert Bosch in Stuttgart patentierten Zündkerzen; die Firma Bosch verdiente 1913 90 Prozent ihrer Einnahmen mit Exporten. Andere weltweit erfolgreiche deutsche Unternehmen waren in hochmodernen Branchen tätig, die im späten 19. Jahrhundert entstanden: Siemens in der Elektrotechnik, Carl Zeiss Jena in der Präzisionsoptik sowie Bayer und BASF in der Chemie. In Deutschland wurden erstmals Amphetamine synthetisiert (1887), und die Arznei, die wir als Aspirin kennen, wurde von Bayer synthetisiert und vermarktet (1897 – 1899). 1914 war die deutsche Industrie in Europa führend bei Chemikalien und Arzneimitteln; in der Elektrotechnik war sie Weltmarktführer. Deutschland stand bei Produkten der sogenannten zweiten industriellen Revolution an der Spitze.
Dies waren die mit »Made in Germany« gekennzeichneten Güter. Ironischerweise hatte das Etikett seinen Ursprung im britischen Handelsmarkengesetz von 1887, durch das britische Verbraucher geschützt werden sollten, indem sie in die Lage versetzt wurden, »billige, wertlose« deutsche Produkte zu identifizieren. Hinter diesem Versuch, Importwaren zu stigmatisieren, stand die Furcht vor deutscher Konkurrenz, doch die Verbindung von deutschen Produkten mit schlechter Qualität war damals nicht völlig aus der Luft gegriffen. Erst später wurde die Kennzeichnung »Made in Germany« zu einem Gütesiegel, und die britischen Sorgen wandelten sich. Zwischen 1880 und 1900 reichten die sechs größten deutschen Unternehmen fast tausend Patente in Großbritannien ein, während die sechs größten britischen Unternehmen weniger als hundert anmeldeten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts kennzeichneten manche britischen Firmen ihre Produkte mit »Made in Germany«, um sie als qualitativ hochwertig auszuweisen.[180]
In den Jahrzehnten, in denen Deutschland zu einer wirtschaftlichen Großmacht aufstieg, war der Wert der Einfuhren von Lebensmitteln und Rohstoffen in den meisten Jahren etwas größer als der Wert der Ausfuhren. Diese negative Handelsbilanz war einer der Trends, die Konservativen, die bereits über die Entwicklung Deutschlands zu einem urbanen Industrieland beunruhigt waren, gegen den Strich ging. Die Handelslücke wurde wie auch in Großbritannien, dem industriellen Vorreiter, mit »unsichtbaren Einnahmen« geschlossen. Dazu gehörten rückgeführte Gewinne deutscher Unternehmen, die im Ausland Fabriken errichtet hatten, entweder um Zölle zu sparen oder um von niedrigeren Arbeitskosten zu profitieren. Außerdem gab es Einnahmen aus Dienstleistungen wie dem deutschen Beitrag zu internationalen Bauprojekten – dem Gotthard-Eisenbahntunnel, der Bagdadbahn und anderen –, denn in diesen Jahren wuchs das weltweite Ansehen deutscher Ingenieure und Architekten. In den späten 1880er-Jahren arbeitete der Architekt Hermann Muthesius, bevor er in Deutschland als Anhänger der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung und Mitbegründer des Deutschen Werkbunds bekannt wurde, als Bauleiter in der japanischen Niederlassung der deutschen Firma, die von der Meiji-Regierung den Auftrag erhalten hatte, einen Plan für die Neugestaltung Tokios als moderner Stadt zu entwerfen.
Auch deutsches Kapital wurde in zunehmendem Maß im Ausland angelegt. 1914 war Deutschland aufgrund von Direktinvestitionen deutscher Unternehmen und des Erwerbs von Schuldverschreibungen anderer Staaten der weltweit drittgrößte Kreditgeber. Gleichwohl exportierte es immer noch weit weniger Kapital als Großbritannien und Frankreich; seine Überseeinvestitionen machten gerade einmal ein Drittel der britischen aus.[181] Auch für die City of London, also die verwickelte Welt der Versicherungen und Rückversicherungen, war Deutschland keine Gefahr. Aber auf einem anderen Gebiet, auf dem Großbritannien lange führend gewesen war, holte es rasch auf: demjenigen der Handelsschifffahrt. 1880 hatte Deutschland noch weniger Tonnage besessen als Spanien; dreißig Jahre später war die deutsche Dampfschifftonnage dreimal so groß wie die französische und viermal so groß wie die amerikanische. Nur die britische Handelsmarine war größer. Es war eine erstaunliche Entwicklung, zu der staatliche Zuschüsse für die Werften in Hamburg und Bremen sowie ein schwindelerregendes Investitionstempo bei neuen Hafenanlagen beigetragen hatten. 1914 wurde der Wert des über den Hamburger Hafen abgewickelten Handels nur noch von den Häfen von New York und Antwerpen übertroffen. Deutsche Reedereien wie die Hamburg-Amerika-Linie und der Norddeutsche Lloyd waren, unterstützt von einem Netz von Agenten und Kohlestationen, weltweit tätig.
Die erste deutsche Dampfschifflinie nach Afrika wurde in den 1880er-Jahren in Betrieb genommen. Der Aufstieg Deutschlands zu einer globalen Wirtschaftsmacht fand gleichzeitig mit dem Erwerb von Kolonien statt. War dies ein Zufall? Wie wichtig waren die Kolonien für Deutschlands rasanten Wachstumssprung? Immerhin war eines der Hauptargumente für den Erwerb von Kolonien wirtschaftlicher Art. Kaufmännische Abenteurer wie Adolf Lüderitz, die Deutschland häufig in koloniale Verstrickungen stürzten, sowie eher pragmatische Organisationen wie die Handelskammer, Banken und Industrieverbände bezeigten allesamt großes Interesse an dem, was Kolonien zu bieten hatten. Die Mitgliederliste des Deutschen Kolonialvereins liest sich wie ein Who’s Who der damaligen Wirtschaft: Krupp, Stumm, Siemens, Kirdorf. Einzelne Unternehmen profitierten sicherlich von den Kolonien. Diese boten einen Markt für Investitionsgüter wie Eisenbahngleise, elektrische Ausrüstungen und Dynamit für den Bergbau. Die Kupferminen in Südwestafrika waren für die Betreiber lukrative Anlagen und die Diamantenförderung – nach der Entdeckung der Edelsteinvorkommen im Jahr 1908 – umso mehr.[182] Auch den Unternehmen, die mit Rohstoffen wie Palmöl, Erdnüssen, Kakao, Gummi oder Elfenbein aus Kamerun handelten, boten die Kolonien einträgliche Geschäftsgelegenheiten, die insbesondere hanseatische Kaufleute ergriffen. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein Drittel des Handels mit Westafrika über Hamburg abgewickelt.[183] Deutsch-Ostafrika war in einer Zeit, als der globale Nachschub ungewiss war, ein wertvoller Lieferant von Baumwolle für die heimische Textilindustrie. Es war, mit den Worten eines deutschen Ökonomen, ein Weg, um die »wirkliche Herrschaft Amerikas über die europäische Baumwollindustrie« zu brechen.[184] Letztlich jedoch brauchten die meisten Kolonien, auch wenn einzelne Unternehmen dort Gewinne machten, Zuschüsse, und ihr Gesamtbeitrag zur Wirtschaft der Metropole war vernachlässigbar. Nur 2 Prozent der deutschen Kapitalinvestitionen gingen in die Kolonien, die nur 1 Prozent zum deutschen Export und 0,5 Prozent zum Import beitrugen.[185] Was den Handel betraf, war Afrika, wie Adolph Wagner feststellte, »unbedeutend«.[186]
Er hatte nicht ganz recht. Wirklich unbedeutend waren die kolonialen Grenzen. Wirtschaftlich war Deutschland in Afrika am erfolgreichsten, wo es nicht herrschte: in Ägypten, im Kongo und vor allem in Südafrika, wo die Deutsche Bank eine große Niederlassung hatte und deutsche Unternehmen das Dynamitmonopol besaßen und die Wasserversorgung sicherstellten; zudem wurden Stahl, Maschinen, Chemieprodukte und Haushaltswaren dorthin exportiert. In Tsingtau war es genau umgekehrt; dort investierte Deutschland massiv in die Infrastruktur, aber die meisten Importe kamen aus Japan, und der deutsche Anteil am Handelsaufkommen des Hafens betrug gerade einmal 8 Prozent.[187] Insgesamt kam Deutschland gut weg. Es machte gute Geschäfte in den Kolonialreichen anderer Mächte und Weltgegenden, wo es keinen formalen politischen Einfluss besaß. Südamerika ist das beste Beispiel dafür: Dort hatten vor allem Großbritannien und die USA politischen Einfluss; gleichwohl wurde Lateinamerika zu einem wichtigen Markt für deutsche Hersteller, einem bedeutenden Herkunftsgebiet von Lebensmitteln und einem Platz, wo bis 1914 3,8 Milliarden Mark investiert wurden.
Deutschland wurde zwar zu einer globalen Wirtschaftsmacht, aber den bei Weitem größten Teil seines Handels betrieb es mit europäischen Ländern. 1913 waren die acht größten Handelspartner, am Wert der deutschen Exporte gemessen, Großbritannien, Österreich, die Vereinigten Staaten (als einziges nichteuropäisches Land), Russland, Frankreich, die Niederlande, Belgien und die Schweiz.[188] Aber die wirtschaftliche Bedeutung Europas ging über diese Kernländer hinaus. Deutsche Exporte gingen in den Norden auf die skandinavischen Märkte und nach Süden auf den italienischen Markt. Der Vorrang Europas wurde auch deutlich, als Industrielle während eines Streits über die Karolinen davor warnten, Spanien vor den Kopf zu stoßen, denn Deutschland habe im Handel mit dem Land weit mehr zu verlieren, als es im Pazifik jemals gewinnen könne.[189] In den frühen 1890er-Jahren schloss Leo von Caprivi, Bismarcks Nachfolger als Reichskanzler, eine Reihe von Handelsverträgen mit anderen europäischen Staaten. Vier von ihnen, diejenigen mit Österreich-Ungarn, Russland, Serbien und Rumänien, waren Anzeichen für eine Ausweitung des deutschen Handels nach Osten und Südosten. Das zaristische Russland, das sich in den Jahrzehnten vor 1914 in raschem Tempo industrialisierte, lieh sich von Frankreich Geld, mit dem es deutsche Waren kaufte. Unterdessen bewegten sich Deutschlands ökonomische Tentakel durch Mitteleuropa und erreichten die untere Donau entlang den Balkan und das Osmanische Reich, wohin für Lebensmittel und (in den letzten Vorkriegsjahren) Erdöl im Austausch Eisenbahnschienen und Fertigerzeugnisse geliefert wurden. 1913 waren die Exporte nach Rumänien dreimal so groß wie diejenigen in alle deutschen Kolonien zusammengenommen.[190]
Wirtschaftliche Macht brachte globales Ansehen. Die Großmächte und diejenigen, die in ihre Reihen aufsteigen wollten, verglichen sich selbst fast obsessiv ständig miteinander. Das grob pseudodarwinistische Gerede vom »Überleben des Tüchtigsten« zog sich durch die zeitgenössischen Debatten über ökonomische Entwicklungen, wobei man unterstellte, dass der Wettbewerb ein Nullsummenspiel sei.[191] Gleichzeitig hing man noch an einer älteren liberalen Wirtschaftsordnung, für die beispielsweise der führende Nationalökonom Lujo Brentano (ein Neffe von Clemens Brentano), für den Großbritannien das Vorbild war, weiterhin leidenschaftlich eintrat.[192] Ein anderer liberaler Ökonom, Heinrich Dietzel, sprach vom Freihandel pathetisch wie von einem menschlichen Körper, wenn er erklärte, »daß die Sehnen des Verkehrs zerschneiden nichts Anderes heißt, als in das eigene Fleisch schneiden«.[193] Aber als Dietzel dies sagte, im Jahr 1900, war es sehr viel wahrscheinlicher als zwanzig Jahre zuvor, dass seine Auffassung als überholtes Manchestertum, wie man englischen Freihandel abschätzig etikettierte, abgetan werden würde. In den Augen konservativer Ökonomen war der Freihandel gefährlich, denn er machte Deutschland für die Unwägbarkeiten einer Weltwirtschaftsordnung anfällig, die manipulative Spekulationen wie den Versuch eines Chicagoer Geschäftsmannes namens Joseph Leiter zuließ, der sich 1897/98 anschickte, den globalen Weizenmarkt unter seine Kontrolle zu bringen. Vor allem aber bedrohte er angeblich die nationale Sicherheit und Deutschlands Fähigkeit, im Kriegsfall seine Bevölkerung zu ernähren, weil er es von Lebensmittelimporten abhängig mache.[194] Das Kapital war »vaterlandslos«, um Wagners unheilverkündende Charakterisierung zu zitieren.[195]
Sowohl das zunehmende Interesse am Imperialismus als auch die Forderung nach Schutzzöllen, um Deutschland vom Weltmarkt abzuschotten, waren Reaktionen auf die wirtschaftliche Globalisierung. Sie waren Anzeichen für das, was der Politologe Karl Polanyi vor einem Dreivierteljahrhundert als »neuen, sozusagen abgekapselten Typus der Nation« bezeichnet hat.[196] Globalisierungsfeindschaft war ein globales Phänomen. Der McKinley-(Zoll-)Tarif in den Vereinigten Staaten (1890), der Mendelejew-Tarif in Russland (1891) und der Méline-Tarif in Frankreich (1892) beruhten allesamt auf dem gleichen Gedankengang. Protektionismus war in diesen Jahren eher die Regel als die Ausnahme. Deshalb wäre es, obwohl ein deutscher Historiker von Deutschlands »Zollisolation« gesprochen hat, zutreffender, von einer Freihandelsisolation Großbritanniens zu sprechen.[197] Aber Deutschland illustriert auch in dieser Hinsicht den Abkapselungsreflex der Ära, der bedeutete, dass es zwar unweigerlich Teil einer sich globalisierenden Welt war, sich aber gegen diese Entwicklung wappnete. Die Ökonomen haben darüber ebenso gestritten wie die Parteien und die gut organisierten wirtschaftlichen Interessengruppen. Handels- und Zollfragen bildeten zusammen mit der Frage nach Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft den roten Faden in den politischen Debatten des Kaiserreichs.
Bismarck hatte 1879 als Reaktion auf die sechs Jahre zuvor ausgebrochene Große Depression Schutzzölle eingeführt, wobei allerdings, wie stets bei ihm, auch politisches Kalkül im Spiel war.[198] Andere Länder vergalten es ihrerseits mit Zöllen, was sich nachteilig auf den deutschen Export auswirkte. Die von Caprivi Anfang der 1890er-Jahre geschlossenen Handelsverträge mit anderen europäischen Ländern riefen starken politischen Widerstand hervor und führten schließlich zu seinem Sturz. Ein Jahrzehnt später, 1902, erhöhte Reichskanzler Bülow die Zölle. Cui bono – wem nutzte dies? Darauf wird für gewöhnlich geantwortet: der Schwerindustrie und der Landwirtschaft. Die Zölle hätten die »Hochzeit zwischen Eisen und Roggen« besiegelt, das Bündnis von Industriekapitänen wie Krupp mit den Junkern gegen Finanzwelt, Exportindustrie und Verbraucher. Dieser Gedanke enthält eine erfreuliche Symmetrie, denn er stellt zwei Schurken der deutschen Geschichte gleichzeitig an den Pranger. Ganz falsch ist er indes nicht. Diese Gruppen waren die Hauptnutznießer der 1879 eingeführten Schutzzölle. Die Zölle von 1902 gewährten der Landwirtschaft dann einen noch besseren Schutz, während die Schwerindustrie vom stahlhungrigen neuen Flottenbauprogramm profitierte. Aber in dieser Ehe, wenn es denn eine war, gab es ständig Streit. Wie in einer schlechten Ehe fanden die Partner den jeweils anderen unvernünftig. Die Schwerindustrie teilte mit liberaleren, exportorientierten Branchen die Ansicht, dass die Zollforderungen der Landwirtschaft zu weit gingen. Deren Vertreter andererseits taten alles, um den Übergang Deutschlands zu einer in die Weltmärkte eingebundenen Industriewirtschaft zu verlangsamen und, wenn möglich, umzukehren.[199]
Agrarier forderten am lautesten Schutz, denn die Landwirtschaft war von den Auswirkungen der sich globalisierenden Wirtschaft am härtesten betroffen. Die Preise von Primärgütern stürzten in den 1870er-Jahren ab, da die Frachtpreise sanken und aus Russland und den Weiten der amerikanischen Prärie billiges Getreide sowie aus Argentinien billiges Fleisch kamen – ein Geschäft, das durch die Kühltechnik revolutioniert wurde. Auch von der Industrialisierung drohte Produzenten von Primärgütern Gefahr; so erwuchs der Milchwirtschaft ein Konkurrent in Gestalt der Margarineproduktion der Chemieindustrie. Dies wäre auch geschehen, wenn Deutschland nicht in die Weltmärkte eingebunden gewesen wäre, war aber dennoch eines von vielen Symbolen, wie billigem Überseegetreide, für die in fernen Machtzentralen getroffenen Entscheidungen über Leben und Tod. Die Margarinefabriken am Niederrhein nahmen in der agrarischen Dämonologie einen ähnlich prominenten Platz ein wie die Mühlen am Oberrhein, die amerikanischen Weizen verarbeiteten. Im frühen 20. Jahrhundert war immer noch über ein Drittel der deutschen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft beschäftigt, die in den Vorkriegsjahrzehnten erhebliche Produktivitätszuwächse verzeichnete. Dies verhinderte jedoch nicht, dass Primärgüterproduzenten das Gefühl hatten, sie würden nicht geachtet und ausgebeutet.
In den frühen 1890er-Jahren kam es zu einer großen ländlichen Revolte. Vorausgegangen war ein weiterer Preisrückgang, der mit einer Lebensmittelknappheit, einem Ausbruch der Maul- und Klauenseuche und – als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte – Caprivis Handelsverträgen zusammenfiel. Der Bayerische Bauernbund und der von dem Volkskundler und Politiker Otto Böckel gegründete Mitteldeutsche Bauernverein schleuderten populistische Anklagen gegen städtische Konsumenten und alle, die als »internationalistisch« angesehen wurden: liberale Politiker, Finanziers, »jüdische« Spekulanten. Für die etablierten Eliten beunruhigender war, dass diese populistischen Bewegungen auch sie attackierten: »Gegen Junker und Juden«, lautete Böckels Schlachtruf. Der »hessische Bauernkönig«, wie er genannt wurde, forderte außerdem eine progressive Einkommensteuer. Der preußische politische Einzelgänger Hermann Ahlwardt nahm 1892 mit den gleichen populistischen und antisemitischen Parolen den Konservativen einen Reichstagssitz ab. Im Wahlkampf von 1893 attackierte der Bayerische Bauernbund Adel, Geistlichkeit und andere Eliten mit dem Wahlmotto: »Wir wollen zur Vertretung der Bauernsache keine Adeligen, keine Geistlichen, keine Doktoren und keine Professoren, sondern nur Bauern.«[200]
Die Eliten waren beunruhigt, reagierten aber rasch. Katholische Bauernvereine hielten ihre Mitglieder im Wirkbereich von Kirche und katholischer Zentrumspartei. Um die ländliche Wählerschaft zu beschwichtigen, waren deren Führer bereit, auf lokaler Ebene ein erhebliches Maß an antisemitischer Hetze zu dulden. Die Deutschkonservative Partei ging noch weiter, denn sie war sich, wie ein führendes Mitglied es ausdrückte, im Klaren darüber, dass die »Judenfrage […] nicht zu vermeiden« war, »wollte man nicht den demagogischen Antisemiten den vollen Wind der Bewegung überlassen, mit dem sie einfach an uns vorbeigesegelt wären«.[201] Die »demagogischen Antisemiten« waren Männer wie Ahlwardt, aber auch die Konservativen wurden zu vollendeten Demagogen. So richteten sie den von ihnen gegründeten Bund der Landwirthe, der 1914 immerhin 330 000 Mitglieder zählte – überwiegend Bauern und Handwerker –, politisch auf deren vermeintliche »kosmopolitische« Feinde aus. Im Zuge dessen ordnete sich die Partei praktisch den agrarischen Interessen der sie jetzt beherrschenden Junker unter. Gleichzeitig ergingen sich die Deutschkonservativen und die Zentrumspartei in einer Propaganda, die Bauern und Handwerker als hart arbeitenden Kern einer gesunden Gesellschaft darstellte, als jene robusten Kräfte, die Deutschland im Kriegsfall ernähren und verteidigen würden.
Eine Mitgliedskarte des Bundes der Landwirthe mit dem idealisierten Bild einer gemeinsamen Landfront und dem Motto »Einigkeit macht stark«. Die Karte wurde 1893 an einen Bauern namens A. Haupt in Berlstedt in Thüringen ausgegeben.
Schutzzölle halfen indes nicht nur preußischen Junkern und anderen Großgrundbesitzern, sondern nutzten auch kleinen und mittelgroßen bäuerlichen Betrieben.[202] Sie profitierten auch von anderen gesetzlichen Regelungen; so wurde zur Unterstützung der Milchbauern bestimmt, dass Margarine eine unangenehme Farbe haben musste, um sie von Butter unterscheiden zu können. Das Gesetz, das absurderweise als Maßnahme zum Schutz der Verbraucher präsentiert wurde, wurde mit den Stimmen der rechten Mitte und der äußersten Rechten verabschiedet.[203] Andere Forderungen, insbesondere solche, die der Grundrichtung der Wirtschaftspolitik zuwiderliefen, wurden jedoch nicht erfüllt. Zurückgewiesen wurde die Forderung nach einem Bimetallstandard der Währung, der Lieblingslösung agrarischer Populisten auch anderswo, denn dies hätte die Abkehr vom Goldstandard bedeutet. Staatliche Getreideimporte zu einem Festpreis wurden ebenso abgelehnt wie eine Änderung der Tarife für den Massenpostversand – die geltenden Tarife bevorteilten nach Ansicht der Agrarier die Industrie –, die Abschaffung der speziellen Arbeiterzüge – die angeblich das Wachstum des Industrieproletariats förderten – und die Aufgabe des geplanten Baus des Mittellandkanals, eines Symbols der den Agrariern verhassten industriellen Entwicklung. Aber diese Forderungen wurden nicht nur abgewiesen. Jenseits der Dramen agrarischer Angriffe auf Windmühlen wurden im Gesetzgebungs- und Verwaltungsalltag von konservativen Mehrheiten und Verwaltungen zahllose Gesetze und Verordnungen verabschiedet, über Patente, das Kreditwesen, das Gesellschaftsrecht, Warenbeschreibungen, das Konkursrecht, das Rechnungswesen und Hunderte andere Dinge, allesamt Maßnahmen, die den Aufstieg Deutschlands zu einer hoch entwickelten Industrie- und Handelsmacht, die vom Handel mit der übrigen Welt abhing, förderten. Dies wurde auch von einer Reihe neuer Handelsverträge bestätigt, die 1906 in Kraft traten.
Selbst die 1902 beschlossenen Zolltarife waren niedriger als von den Agrariern gefordert. Aber sie hielten die Preise auf einem höheren Niveau, als sie ohne Zölle erreicht hätten, und belasteten daher die Verbraucher. Die Zölle bewirkten eine größere Selbstversorgung und infolgedessen eine Einkommensumverteilung von den Städten aufs Land. Denn dies waren die zwei Seiten niedriger Weltmarktpreise für Rohstoffe: Während sie scharfen Widerstand vonseiten der Agrarier auslösten, sicherten sie andererseits eine billige Kalorienversorgung, die deutschen Städten ein fantastisches Wachstumstempo ermöglichte, da die Menschen, die jetzt nicht mehr auf dem Land, sondern in Fabriken arbeiteten, ernährt werden konnten. Zugleich stieg, trotz weiterhin niedriger Löhne, der Lebensstandard der Arbeiter. Schutzzölle, selbst mäßige, gefährdeten diese Verbesserungen. Es überrascht deshalb nicht, dass die SPD, die am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Abstand größte sozialistische beziehungsweise Arbeiterpartei der Welt, »billiges Getreide« in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs vor der Reichstagswahl von 1903 stellte, die unmittelbar auf die umstrittene Einführung neuer Schutzzölle folgte.[204] Mit ihrem Angriff auf den »Wucher- und Hungertarif« reihte sich die SPD in eine weltweite Front ein, denn nach der protektionistischen Wende der 1890er-Jahre war von Wien bis Santiago eine verbraucherfreundliche Gegenbewegung entstanden.[205]
Zum Schutz der deutschen Landwirtschaft wurden unter anderem tiermedizinische Maßnahmen eingeführt, um die Einfuhr billigen ausländischen Fleisches zu verhindern. In den 1880er-Jahren tobte ein regelrechter »Schweinefleischkrieg«. Die New-York Tribune erklärte großartig, »Bismarcks Krieg gegen das amerikanische Schwein« sei der größte deutsche Konflikt seit der Zeit Friedrichs des Großen.[206] Auch gegen die Einfuhr von anderen Lebendtieren und Fleisch wurden Maßnahmen ergriffen. Das »Gesetz, betreffend die Schlachtvieh- und Fleischbeschau« von 1900 schloss amerikanische Produkte praktisch aus. Der politische Frontverlauf war der übliche: Konservative und Zentrumspartei stimmten dafür, Sozialdemokraten und Liberale dagegen. Veterinärmedizinische Bedenken dienten hier fraglos als protektionistische Waffe. Aber sie waren nicht ganz unberechtigt. Es gab durchaus Anlass, vor Trichinose bei Schweinen, vor Tuberkulose und der sogenannten Lungenseuche bei Rindern sowie der Maul-und-Klauenseuche bei allen Tierarten zu warnen. Diese Sorge wurde international geteilt, und sie war in einer Ära, in der Tiere und Fleisch in beispielloser Menge über Grenzen transportiert wurden, umso größer.[207]
Tierseuchen waren nur ein Aspekt eines größeren Problems, das eng mit den globalen wirtschaftlichen Veränderungen verknüpft war. Man könnte es das Problem blinder Passagiere nennen. Die Erreger von Trichinose und Rindertuberkulose kamen unaufgefordert mit ihren Wirten. Auch der Weinschädling Reblaus und der Kartoffelkäfer waren blinde Passagiere, die in einem Land, das am Anfang des 20. Jahrhunderts 40 Millionen Tonnen Kartoffeln im Jahr produzierte, verständlicherweise Befürchtungen weckten.[208] Adolf Wermuth, damals im Reichsamt des Innern unter anderem für die Abwehr von Bedrohungen der deutschen Landwirtschaft zuständig, verfasste Jahre später einen leicht ironisch gefärbten Bericht über den »Vernichtungskrieg« gegen diese und andere schädliche Insekten. Humor war damals allerdings ein rares Gut.[209] Das Problem invasiver Arten war sowohl auf dem Wasser als auch an Land zu spüren. Die Zebramuschel und andere Weichtiere gelangten in internationale Wasserwege wie den Rhein, wo sie sich in bereits geschädigten Ökosystemen festsetzten. Dies tat auch die im Amazonasbecken heimische Wasserhyazinthe, die sich anderswo als zähe invasive Art niederließ und seit dem 19. Jahrhundert deutsche Flüsse eroberte. Dieses Problem verschärfte sich weiter, als um 1880 herum der Ballasttank allgemein in Gebrauch kam und das »ökologische Roulette« aquatische Invasionen beschleunigte.[210]
Im späten 19. Jahrhundert begann man als verstörendes Vorzeichen dessen, was kommen sollte, die Sprache der zoologischen Gefahren und invasiven Arten auf Menschen anzuwenden. Während des »Kulturkampfs« der 1870er-Jahre verglich ein nationalistischer deutscher Autor die Jesuiten und »andere Reichsfeinde« mit Rebläusen und Kartoffelkäfern.[211] Solche Sprache, welche die Unterscheidung zwischen dem Menschen und nichtmenschlichen Arten aufhob, diente einem Zweck: Katholiken wurden als Vorspiel zur Verfolgung entmenschlicht, so wie Juden von Anhängern des pseudowissenschaftlichen Antisemitismus, der gegen Ende der 1870er-Jahre aufkam, als »Bazillen« oder »Schädlinge« bezeichnet wurden.[212] Eine Generation später wies eine deutsche Zeitung den Vorschlag, billige chinesische Arbeiter nach Deutschland zu holen, mit dem Hinweis zurück, die Vereinigten Staaten, Australien und Südafrika hätten allesamt die »gelbe Pest« zu fürchten gelernt.[213] Am häufigsten wandten Deutsche den Vergleich von Menschengruppen mit der Gefahr einer biologischen »Invasion« oder »Infektion« am Ende des 19. Jahrhunderts wohl auf ausländische Saisonarbeiter an.
In der Vergangenheit hatten Nationalisten die Massenemigration als Gefahr für das Deutschtum beklagt. Doch um 1890 herum verwandelte sich Deutschland von einem Exporteur zu einem Importeur von Arbeitskräften, mit der Folge, dass Nationalisten jetzt über die angeblich von den Ausländern ausgehende Gefahr klagten. 1914 hielten sich rund 1,2 Millionen ausländische Arbeiter in Deutschland auf, überwiegend Polen, aber auch Italiener und Niederländer.[214] Ursache des Anstiegs der saisonalen Migration war der Arbeitskräftemangel – insbesondere auf den Gütern in den preußischen Ostprovinzen, deren deutsche Bewohner sich besser bezahlte Anstellungen in den Städten suchten. Im habsburgischen Galizien rekrutierte ein Netzwerk aus Agenten, Vermittlern und Dorfbürgermeistern polnische Arbeiter für Deutschland. Andere kamen aus den zu Russland gehörenden polnischen Gebieten. Die großen Landwirtschaftsbetriebe im Süden beschäftigten Arbeitskräfte aus Italien. Im katholischen Oberschwaben verbreitete sich im späten 19. Jahrhundert eine spezielle Form der Saisonarbeit, die Kinderarbeit der sogenannten Schwabenkinder, die aus Österreich und der Schweiz kamen und auf alljährlich im Frühjahr abgehaltenen Märkten als Knechte und Kuhhirten versteigert wurden.[215] Auch in Fabriken und insbesondere für »Schmutzarbeit« wie Straßenkehren und Bauarbeiten wurden ausländische Arbeiter beschäftigt. Ohne sie hätten die riesigen Staudämme, die in den frühen 1900er-Jahren errichtet wurden, nicht gebaut werden können. Bei diesen Bauprojekten waren bis zu tausend Männer gleichzeitig tätig. Unter den Arbeiterheeren, die Ausschachtungen gruben, in Steinbrüchen arbeiteten, sprengten oder dampfgetriebene Winden bedienten, waren Bosnier, Kroaten, Polen und Tschechen. Italiener waren als erfahrene Maurer wie als Tagelöhner überall anzutreffen. Auf den größten Baustellen wurden temporäre Barackensiedlungen errichtet, die größer waren als die Dörfer, die in den neuen Stauseen untergehen würden. Fremdenfeindliche Gefühle regten sich jedoch dort am stärksten, wo ausländische Arbeiter nicht von der einheimischen Bevölkerung getrennt waren.[216]
Die Furcht vor »Invasionen« nichtdeutscher Menschen wurde durch ultranationalistische Organisationen wie den Alldeutschen Verband und den Deutschen Ostmarkenverein geschürt. Chauvinistische Gefühle hatten viele Quellen, einschließlich stillschweigender Botschaften deutscher Regierungen. Beispielsweise durchquerten zwischen 1880 und 1914 zwei Millionen russische Juden Deutschland, um zu den Häfen zu gelangen, in denen sie sich nach Amerika einschiffen wollten. Sie besaßen eine offizielle Genehmigung – die Konservativen waren im Reichstag mit einem Antrag gescheitert, ihnen die Einreise zu verbieten –, unterlagen aber einer strengen Transitkontrolle, um zu verhindern, dass sie in Deutschland blieben, was nur sehr wenige von ihnen taten.[217] Praktisch waren sie von einem Cordon sanitaire eingeschlossen. Ähnlich erging es polnischen Saisonarbeitern, die aufgrund akuten Arbeitskräftemangels einreisen durften, obwohl Bismarck 1884/85 Polen aus den preußischen Ostgebieten ausgewiesen hatte. Allerdings durften sie ihre Familien nicht mitbringen und mussten während der »Wartezeit« im Winter das Land verlassen. Ihr Kommen und Gehen wurde überwacht, und sie waren verpflichtet, sich polizeilich anzumelden. In Desinfektionsstationen an der Grenze, die bis zu 10 000 Menschen am Tag abfertigen konnten, wurden Hygieneprüfungen durchgeführt, und die Arbeiter mussten Ausweise bei sich tragen, in denen neben ihrem Namen auch derjenige ihres Arbeitgebers verzeichnet war. Diese Prozeduren und ihre Implikationen waren auf ihre Weise ebenso vielsagend wie die offen rassistischen Äußerungen von Mitgliedern des Ostmarkenvereins oder die kruden Bemerkungen über eine »slawische Flut«, die in den Vorkriegsjahren in literarischen und historischen Schriften üblich wurden.[218]
Die Wanderungsbewegungen riefen Feindseligkeit hervor. Die Juden, die auf ihrem Weg nach Amerika Deutschland durchquerten, die Polen, die – wenn auch nur von Frühjahr bis Herbst – in Deutschland blieben, und die chinesischen Matrosen auf deutschen Schiffen, die in Hamburg ein »Chinesenviertel« entstehen ließen – auch wenn nur einige Hundert Menschen in ihm wohnten: Dies alles erregte Abneigung, die manchmal von unerwarteter Seite geäußert wurde. Berüchtigt sind die abschätzigen Worte, mit denen der bekannte liberale Akademiker Max Weber 1895 in seiner Antrittsvorlesung in Freiburg polnischen Arbeitern kulturelle und zivilisatorische »Rückständigkeit« bescheinigte.[219] Weber wollte die Heuchelei der Junker entlarven, die einerseits erklärten, die Landwirtschaft brauche besonderen Schutz, weil sie den nationalen Interessen diene, und andererseits die Anwerbung billiger polnischer Arbeiter verlangten.[220] Seine Sprache war hart, aber Weber war und blieb ein scharfer Kritiker des »zoologischen Nationalismus«, wie er ihn nannte. Mitglieder des Seemannsverbands protestierten mit Unterstützung der Sozialdemokraten dagegen, dass deutsche Reeder chinesische Mannschaften anheuerten. Die SPD hatte dafür gute gewerkschaftliche Gründe: Sie führte an, dass es den Reedern nur um Kosteneinsparung gehe und die Sicherheit ihnen egal sei, zogen aber auch einen üblen Vergleich zwischen »gelber Gefahr« und – von den Reedern gegründeten – »gelben« Gewerkschaften.[221] Insgesamt spielten die Gewerkschaften und die SPD jedoch eine weithin unterschätzte Rolle bei der Immunisierung deutscher Arbeiter gegen Rassismus; zumindest machten sie den offenen Ausdruck rassistischer Ansichten in der Gewerkschaftsbewegung inakzeptabel.
Auf der politischen Rechten sah die Sache anders aus. Unter Bauern und Handwerkern war die Ablehnung der grenzüberschreitenden Wanderung von Nichtdeutschen weit verbreitet. Wie die Ablehnung des Freihandels war sie ein Teil des Rückschlags gegen die Weltwirtschaft in all ihren Formen. Populistische Demagogen bedienten sich dieser Ressentiments, und etablierte konservative Politiker griffen bereitwillig deren Parolen auf. Viele Angehörige der wachsenden Angestelltenschicht erwiesen sich als empfänglich für die Warnungen vor einer von rassisch definierten Außenseitern angeblich ausgehenden Gefahr. Materielle Sicherheit und Bildung machten nicht automatisch immun gegen rassistische Einstellungen. Die Kolonialvereine und nationalistische Organisationen wie der Alldeutsche Verband hatten eine starke bürgerliche Mitgliedschaft. Ein Viertel der Vorsitzenden der Ortsvereine des Alldeutschen Verbands besaßen einen Doktorgrad. Am Anfang des 20. Jahrhunderts begegnet man hier, wie in anderen Teilen der deutschen Gesellschaft auch, einem lautstarken, rassistisch gefärbten Hypernationalismus, der als Reaktion auf eine sich globalisierende Welt immer aggressiver auftrat.