Kapitel 4  
Revolutionen

»Des Jahrhunderts edelste Tat«

In den Jahrzehnten vor und nach 1800 hatten die Männer, die in den Kaffeehäusern von Leipzig und Hamburg zusammenkamen, viel zu diskutieren, denn diese Jahre markierten die Geburt der modernen Welt. Die Französische Revolution zog als Beginn von etwas Neuem mit Recht Aufmerksamkeit auf sich, aber sie war nicht das einzige umwälzende Ereignis. In einer Zeit kriegerischen Aufruhrs wurden alle großen Reiche in ihren Grundfesten erschüttert. Dieses »geopolitische Erdbeben« löste nicht nur in Europa, sondern auch in den nordamerikanischen Kolonien, der Karibik und in Lateinamerika Revolutionen aus,[1] die eine neue politische Sprache von Rechten und Verfassungen, Souveränität und Nation hervorbrachten. Sowohl die Sklaverei als auch die Leibeigenschaft wurden als Institutionen immer stärker infrage gestellt und mancherorts abgeschafft. Die politischen Unruhen erstreckten sich bis nach Bengalen, ins Tokugawa-Japan und Qing-China. Es war wahrhaftig eine »Weltkrise«.[2] Ein Grund für ihre globale Ausdehnung war die zunehmende Vernetzung zwischen verschiedenen Weltteilen. Zwischen den 1770er- und 1820er-Jahren entwickelte sich eine »archaische« oder »weiche Globalisierung«.[3] Nicht zufällig prägte der englische Philosoph Jeremy Bentham in den 1790er-Jahren den Begriff »international«.[4]

Zeitgenossen waren sich bewusst, dass sie in einer Zeit außergewöhnlichen Aufruhrs lebten. Christoph Heinrich Korn, der in Tübingen Rechtswissenschaften studiert und in den Niederlanden als Offizier gedient hatte, bevor er sich als Autor in seiner Heimat niederließ, überlegte unter dem Eindruck der Revolte der amerikanischen Siedler: »Sollten wir wohl am Anfange einer Epoche in der Geschichte stehen, welche der Nachkommenschaft auf immer merkwürdig sein wird?«[5] Er starb 1783, zu früh, um den Ausbruch der Französischen Revolution sechs Jahre später mitzuerleben. Angesichts der Ereignisse in Frankreich fragten sich dann viele, ob sie nicht Zeugen einer beispiellosen Entwicklung waren. Wilhelm von Humboldt, der sesshaftere der beiden berühmten Brüder, schrieb 1797: »Unser Zeitalter scheint uns aus einer Periode, die eben vorübergeht, in eine neue nicht wenig verschiedene überzuführen.«[6] Nach seinem Empfinden war das Tempo der Veränderung in den vorangegangenen 15 bis 20 Jahren wesentlich größer gewesen als am Anfang des 18. Jahrhunderts. Es war nicht nur eine Zeit der Revolution, sondern auch eine, die eine revolutionäre neue Zeiterfahrung mit sich brachte.[7]

Wie passten die Deutschen in dieses Bild der Transformation? Darauf wird häufig geantwortet: Sie waren Zuschauer und Kommentatoren, aber kaum mehr. In diesen Jahren erhielt Deutschland das Etikett, das »Land der Dichter und Denker« zu sein.[8] Der Dichter Friedrich Hölderlin ergänzte es durch einen zusätzlichen, negativen Beiklang: Die Deutschen seien »[t]atenarm und gedankenvoll«.[9] Etwas später stimmte Heinrich Heine in den Chor ein: Deutsche hätten bloß gedacht, während andere handelten. Der Historiker Rolf Engelsing fasste dies in der Feststellung zusammen, dass die Briten eine industrielle und die Franzosen eine politische Revolution gehabt hätten, die Deutschen hingegen nur eine Leserevolution.[10] Dies erscheint intuitiv plausibel, hält aber einer genaueren Überprüfung nicht stand. Zunächst einmal ist es fragwürdig, das geschriebene Wort derart gering zu schätzen und in Büchern festgehaltene Ideen ausgerechnet in dem Augenblick mit einem Achselzucken abzutun, als ein »Jahrhundert der Worte« heraufdämmerte, in dem Bildung, Kultur und Spezialwissen enorme Autorität genießen sollten.[11] Gut ein Jahrzehnt nachdem Wilhelm von Humboldt den Beginn eines neuen Zeitalters konstatiert hatte, schuf er mit seinen Vorschlägen für die Gründung einer neuen Universität in Berlin ein Vorbild, das weltweit nachgeahmt wurde. Soll man die Entstehung der modernen Forschungsuniversität oder des Kindergartens, die beide in dieser Übergangsepoche in Deutschland entstanden, einfach außer Acht lassen? Diese Frage kann man auch in Bezug auf andere Wissensgebiete und Praxisbereiche stellen, die ihren Ursprung in diesen Jahrzehnten in Deutschland hatten und später eine weltweite Wirkung entfalten sollten, einschließlich der modernen Geschichtswissenschaft. Ein anderes Klischee aus diesen Jahren, dasjenige der Innerlichkeit, deutet auf einen spezifisch deutschen Mangel an Weltläufigkeit hin. Sie ist in der deutschen Kultur nicht zu übersehen. Aber vielleicht sollte man sich einmal fragen, was sie zu einer der weitreichenden Entwicklungen dieser Jahre beigetragen hat: der »Erfindung des modernen Selbst«.[12] Und was ist mit der »Weltliteratur«, die zuerst von einem Deutschen so genannt und als Idee entwickelt wurde? Mit all dem waren, wie wir sehen werden, deutsche Dichter und Denker Mitschöpfer der modernen Ära, die in den Jahrzehnten um 1800 entstand.

Die Welt schrumpfte in diesen Jahren weiter. Während die Zeit sich beschleunigte, wurde der Raum kleiner. Es war noch nicht unsere heutige Welt, deren beispiellose Globalisierung wir preisen – und übertreiben. Es war noch nicht einmal die von Dampfschiff und Telegraf zusammengeführte Welt der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber die Kommunikationsnetzwerke wurden durch Reisen und Austausch enger geknüpft und die Bewegung von Menschen, Gütern und Ideen intensiviert. Während Wilhelm von Humboldt an seinem Schreibtisch über die Sprachen der Welt schrieb, war er brieflich mit Hunderten von Gelehrten, Diplomaten, Soldaten, Kaufleuten und Missionaren in aller Welt verbunden. Viele von ihnen schrieben in ihrer Muttersprache, die sie mit Humboldt teilten, denn wie in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, hatten sich bis zu den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts Deutsche überall auf der Welt entweder endgültig oder vorübergehend niedergelassen. Im Grunde bildeten sie eine Art »globales Deutschland«.

Im Heiligen Römischen Reich gab es indes immer noch Hunderte von Beispielen für das Gegenteil, ein ortsgebundenes, nach innen schauendes Deutschland – winzige Fürstentümer und Grundherrschaften, bloße Flecken auf der Landkarte, und geistliche Enklaven mit nur einigen Hundert Einwohnern sowie Kaiserstädte, die wie Dörfer wirkten. Dies konnten dumpfe, erstickende Orte sein, wie diejenigen, die ihnen entflohen waren, häufig klagten. Aber die weite Welt drang gelegentlich auch in sie vor, in Gestalt heimkehrender Soldaten, Missionare oder Neuländer. Außerdem verwandelte das Verlagssystem mit seinem Schwergewicht auf der heimischen Güterproduktion viele Regionen im Inland in Glieder der atlantischen Handelskette. In manchen Fürstentümern waren auch aufgeklärte Reformen »von oben« in Gang gesetzt worden, um die Bevölkerung produktiver zu machen, die Verwaltung zu rationalisieren und eine direktere Verbindung zwischen Herrscher und Untertanen herzustellen. Die deutschen Lande, die den Aufruhr dieser Jahre durchlebten, bildeten einen Flickenteppich, und die Erschütterungswellen lösten, wie wir sehen werden, eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen aus.

Die amerikanischen Kolonisten nannten ihr Unterfangen eine Revolution, und Deutsche nahmen sie beim Wort. Tatsächlich sprach ein Autor 1782 von der »gegenwärtigen Revolution in Amerika«, ein anderer leidenschaftlicher von der »großen Revolution«, die George Washingtons Landsleute unternähmen.[13] Dieses Interesse an den Ereignissen in Amerika reichte bis in die Zeit vor 1775 zurück und blieb während des militärischen Konflikts bestehen. Laut der Leipziger Zeitung war der »Zwist Engellands mit seinen Kolonien […] gegenwärtig unstreitig die wichtigste unter den öffentlichen Angelegenheiten. Jedermann nimmt daran Anteil, und jedermann urteilt darüber, so wie es ihn gut dünkt.« Das war im Februar 1776. Im September desselben Jahres schrieb der Pfälzer Minister Heinrich Anton von Beckers zu Westerstetten an einen bayerischen Kollegen, man spreche »überall nur noch von amerikanischen Angelegenheiten«. Offenbar achteten Deutsche aber nicht so genau auf Einzelheiten: Als die Leipziger Zeitung 1781 die wichtigsten Ereignisse in Amerika seit Beginn der Unruhen zusammenstellte, erwähnte sie weder die Unabhängigkeitserklärung noch die Konföderationsartikel.[14] Gleichwohl deuten Zeitungen, Zeitschriften und viele Privatbriefe auf ein reges Interesse an den Ereignissen in Amerika hin, zumindest bei Gebildeten, auch wenn das Verständnis der Vorgänge manchmal vage war und sie stets durch die deutsche Brille gesehen wurden.

Die öffentliche Meinung war gespalten, aber nicht zu gleichen Teilen. Man hegte weithin Sympathie mit den amerikanischen Siedlern und dem von vielen Deutschen so genannten »Freistaat«, den sie aufbauten.[15] Ausnahmen davon fand man vor allem in konservativ-ministeriellen und adligen Kreisen, die prinzipiell jede Art von Aufruhr als beunruhigend ansahen, sowie in den Teilen Deutschlands mit einer stark probritischen Einstellung. Dass man in Württemberg wenig Sympathie für die Amerikaner aufbrachte, lag an der dortigen Anglophilie, die zum Teil auf den Lokalstolz darauf zurückging, dass der 1457 geschaffene württembergische Landtag die Institution in Deutschland war, die dem Parlament in Westminster am nächsten kam. In Hannover prägte die englische Verbindung die Einstellung, weshalb unter anderem die Göttinger Professoren geteilter Meinung waren. Auch in Hamburg hatte man aufgrund der über Generationen hinweg gepflegten Verbindungen der Kaufmannselite nach London Sympathien für die Briten. Aber an all diesen Orten gab es gleichzeitig eine starke Unterstützung für die Amerikanische Revolution. Dies traf insbesondere für die aufgeklärte Gesellschaft in Hamburg zu, wo der literarische Großmeister Friedrich Gottlieb Klopstock als prominenter Advokat der amerikanischen Kolonisten auftrat. Als »erklärter Bostoner« schuf Klopstock politische Oden, in denen er die amerikanische Freiheit feierte. In der Ode »Der jetzige Krieg« jubelte Klopstock 1781: »Du bist die Morgenröte / Eines nahenden großen Tags!«[16]

Die Idee der Freiheit hallte laut in deutschen Landen wider. »Freiheit« wurde in den 1770er- und 1780er-Jahren zu einer Art Kultwort. Was viele aufgeklärte Deutsche als Kampf gegen Fürstenwillkür und die Restriktionen der Ständegesellschaft verstanden, traf umso mehr einen Nerv, als die Amerikaner gemäßigt auftraten und im Namen der Vernunft handelten. Die Figur, die diese Tugenden verkörperte, war Benjamin Franklin, der bereits vor der Revolution als Naturwissenschaftler und aufgeklärter Denker berühmt war. Er hatte Deutschland bereist und war von Höfen, Universitäten und gelehrten Gesellschaften willkommen geheißen worden. Zwischen 1775 und 1785 erhielt er an die 200 Briefe deutscher Korrespondenten, die sich fast alle hinter das amerikanische Unterfangen stellten. Die Briefe geben einen gewissen Eindruck davon, wer in deutschen Landen die Amerikanische Revolution unterstützte. Die Schreiber waren eher jung als alt, eher bürgerlich als adlig, und es gab erkennbare geografische Cluster in Preußen und Norddeutschland, Franken, dem Rheinland, der Schweiz und Wien.[17]

Deutsche waren nicht die einzigen Ausländer, die den amerikanischen Erfolg feierten. »Lasst jene, welche die wohltätige Wirkung der Freiheit auf den Menschen und seine Tätigkeit bezweifeln, nach Amerika kommen!«, schrieb der Franzose Jacques-Pierre Brissot über einen Amerikabesuch im Jahr 1788.[18] Als sein Reisebericht 1791 veröffentlicht wurde, war Frankreich zum neuen Brennpunkt der politischen Aufmerksamkeit und Brissot selbst zu einem führenden Akteur der Frühphase der Revolution geworden, bevor er zu einem ihrer Opfer wurde. Deutsche reagierten unterschiedlich auf die chaotischen Ereignisse in Frankreich, während die Revolution von gemäßigtem Konstitutionalismus über Radikalismus und Terror zur Stabilisierung unter dem Direktorium und schließlich zu Napoleons imperialer Herrschaft voranschritt. Die Reaktionen in Deutschland reichten von Nachahmungsversuchen bis zu glatter Ablehnung und führten – als eine von vielen dauerhaften Hinterlassenschaften – zu Reformen von oben, durch die der Gefahr von unten die Spitze genommen werden sollte. Ab 1792 erfolgten die Reaktionen der Deutschen vor dem Hintergrund von Kriegen, die eine ganze Generation andauern und Mitteleuropa tiefgreifend verändern sollten. Das Heilige Römische Reich verschwand nach tausendjährigem Bestehen, die Fürstentümer von 1815 waren nicht wiederzuerkennen, und das Vokabular der deutschen Politik war für immer neu geschrieben.

Der Ausbruch der Revolution in Frankreich löste unter deutschen Schriftstellern eine Welle der Begeisterung aus, von etablierten Figuren wie Christoph Martin Wieland, der 55 Jahre alt war, als die Bastille gestürmt wurde, bis zu jugendlichen Enthusiasten, die sich noch keinen Namen gemacht hatten, wie die 1773 geborenen Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder und der nur drei Jahre ältere Tübinger Theologiestudent Friedrich Hölderlin. Letzterer pflanzte zusammen mit Kommilitonen auf dem Marktplatz der Universitätsstadt einen Freiheitsbaum. Sie waren das deutsche Pendant der gleichaltrigen englischen romantischen Dichter William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge, die in ähnlichen Worten wie sie von der Revolution schwärmten. Unter den Älteren pries Klopstock, der frühere Barde der Amerikanischen Revolution, jetzt die Franzosen dafür, dass sie »[d]es Jahrhunderts edelste Tat« vollbracht hatten, und verfasste Oden wie »Sie, und nicht wir!« über die Revolution.[19] Philosophen schlossen sich den Schriftstellern in ihrem Enthusiasmus an, die etablierten Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder ebenso wie die jüngeren Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Hölderlins Zimmerkamerad in Tübingen). Die Französische Revolution, schrieb Hegel, sei ein »herrlicher Sonnenaufgang«.[20] Genau aus diesem Blickwinkel sahen aufgeklärte, kosmopolitische Deutsche die Ereignisse in Frankreich anfangs. In Lesegesellschaften und Freimaurerlogen wurden die Anfangsstadien der Revolution als »Morgendämmerung« oder »Sonnenaufgang« gefeiert, als Triumph des Lichts über die Dunkelheit, der Vernunft über die Unvernunft, der Freiheit über den Despotismus. Der Fall der Bastille machte einen besonders starken Eindruck. Die umfangreiche französische Literatur über das Ereignis mit ihrem Narrativ der Befreiung von der Tyrannei wurde eifrig übersetzt.[21] Der 16-jährige Tieck, später ein führender Vertreter der deutschen Romantik, schrieb ein Fragment gebliebenes Theaterstück über den Fall der Bastille mit dem Titel Der Gefangene.[22]

Ein undatierter Stich des Augsburgers Paul Jakob Laminit, der den Sturm auf die Bastille in Paris am 14. Juli 1789 zeigt. Dieser Sturz eines Symbols der Tyrannei war in der Anfangszeit der Französischen Revolution ein beliebtes Sujet deutscher bildender Künstler und Schriftsteller.

Dies war Bewunderung aus der Ferne. Manche erlebten die Revolution indes aus größerer Nähe. Als die Revolution ausbrach, lebten Tausende Deutsche in Frankreich, allein in Paris rund 8000.[23] Die meisten waren Handwerker und Arbeiter. Von manchen ist bekannt, dass sie an der Erstürmung der Bastille, die unweit des Eingangs zum Arbeiterviertel Saint-Antoine lag, teilgenommen haben.[24] Aber es gab auch höhergeborene Deutsche, die sich für die Revolution begeisterten. Das schillerndste Beispiel ist Johann Baptist Baron de Cloots, der sich später Anacharsis nannte. Als Sohn eines preußischen Geheimrats bei Kleve geboren, hatte er sich in Paris niedergelassen, wo er zu einem radikalen Verfechter der Aufklärung wurde. Nach 1789 schloss er sich dem Jakobinerklub an und bezeichnete sich als »Redner des Menschengeschlechts«. Ein anderes Beispiel war Peter Alexander Wille, der Sohn von Johann Georg Wille, des in Paris ansässigen Hofkupferstechers mehrerer Monarchen. Der Vater wurde durch die Revolution ruiniert und verbittert, während sein Sohn sich mit ihr identifizierte. Er zeichnete radikale Sansculotten und befehligte ein Bataillon der Nationalgarde. Seine Geschichte ähnelt derjenigen von Johann Jakob Hauer, dem künstlerisch begabten Sohn eines Schneidermeisters aus einer Kleinstadt bei Mainz, der 1769 nach Paris ging, um dort eine künstlerische Ausbildung zu erhalten, bei Jacques-Louis David lernte und als Maler in der französischen Hauptstadt blieb. Hauer wurde Sansculotte und ein Maler der Revolution. Wie Wille befehligte auch er eine Einheit der Nationalgarde, was erklärt, wieso er Charlotte Corday, die Mörderin von Jean Paul Marat, kurz vor ihrer Hinrichtung malen konnte.[25] Jede Revolution hat ihren »roten Prinzen«. In diesem Fall lieferte Deutschland gleich zwei, Friedrich III. Fürst zu Salm-Kyrburg, einen leidenschaftlichen Jakobiner, dessen elegantes Palais in Paris zu einem Treffpunkt der Linken wurde, und Prinz Karl Konstantin von Hessen-Rheinfels-Rotenburg, der im Jakobinerklub den Namen »Charles de Hesse« annahm.[26]

Dies waren natürlich Ausnahmen unter den Deutschen, die 1789 in Frankreich lebten. Andere hielten sich bedeckt oder schlossen sich der Emigration an. Manche Deutsche zogen aber auch in die umgekehrte Richtung und reisten als »Revolutionspilger« nach Paris. Sie wollten die Revolution selbst sehen, um als »Augenzeugen« der großen Ereignisse zu dienen, wie einer von ihnen, der junge Schlesier Konrad Engelbert Oelsner, es ausdrückte. Sie berichteten in Briefen über ihre Eindrücke, die später häufig in Buchform veröffentlicht wurden. Manche waren hochgeboren oder bekannte Figuren, wie Oelsners Freund und schlesischer Landsmann Gustav von Schlabrendorf. Andere Revolutionspilger waren eher Randfiguren, die ihren Platz noch suchten, wie Oelsner selbst und der Komponist Johann Friedrich Reichardt.[27] Figuren wie diese, politisch aufgeklärt, begabt, gebildet, aber – wenigstens in ihren Augen – ohne angemessene Stellung oder unterschätzt, zogen die Ereignisse in Frankreich und das Versprechen einer neuen Art der Gesellschaft an.

Bestimmte Dinge wollten alle Besucher sehen, angefangen mit der Bastille. Viele von ihnen sammelten eine Handvoll Steine auf oder brachen Mauerstücke heraus, um sie als Talisman der Freiheit mitzunehmen. Als Nächstes stand ein Besuch im Jakobinerklub auf dem Programm; manche traten ihm sogar bei. Ein überschwänglicher Besucher war Joachim Heinrich Campe, der damals in den Vierzigern stand, ein aufgeklärter Autor, Pädagoge und Verleger und, wie Schlabrendorf, Freimaurer. In seiner Jugend war er fünf Jahre Hauslehrer der Gebrüder Humboldt gewesen, und er traf im Sommer 1789 zusammen mit seinem ehemaligen Schüler Wilhelm in Paris ein. Der Begeisterte von beiden war Campe, der Ältere. Humboldt war gelangweilt; ihm scheint nur aufgefallen zu sein, wie »schmutzig« und übervölkert Paris war. Campe dagegen war hingerissen. Überwältigt von der »Ideen- und Empfindungsmasse«, hätte er »aufschreien« mögen »vor Freuden« über diese »große Weltbegebenheit«, eines der »größten politischen Schauspiele, welche die Welt in neuern Zeiten gesehen hat«. Der Gedanke, dass der Despotismus gestürzt war und der Freiheit Platz gemacht hatte, durchzieht seine im August 1789 geschriebenen und ein Jahr später veröffentlichten Briefe aus Paris. Sie sind voller hochtrabender Phrasen über das Edle und Tugendhafte der Revolution. In seinen Augen war sie ein »Schauspiel« oder »Drama«, als das sie auch in vielen anderen deutschen Berichten beschrieben wurde.[28] Dies deutet auf eine reine Beobachterrolle hin. »Ich bin ja auch nicht […] begierig, an meinem eigenen Körper Wirkungen der Revolution zu erleben«, gesteht Reichardt ein.[29]

Manche Revolutionspilger wurden mehr als nur Beobachter und erfuhren die Folgen der Revolution am eigenen Leib, ebenso wie andere deutsche Radikale, die nach Frankreich gereist waren, um sich an den Ereignissen zu beteiligen. Ein besonders starker Anziehungspunkt war die Grenzstadt Straßburg. 1791 hatte sie eine große Zahl radikaler deutscher Einwohner, die im örtlichen Jakobinerklub aktiv waren und Streitschriften verfassten oder an das deutsche Publikum gerichtete französische Pamphlete übersetzten.[30] Eine Gruppe bildeten radikale Geistliche aus Südwestdeutschland und den geistlichen Fürstentümern. Der Bekannteste unter ihnen war der frühere Franziskaner Eulogius Schneider, ein Hitzkopf – der »Marat von Straßburg« –, der an der Universität von Bonn gelehrt hatte, wo ihn der junge Beethoven gehört hatte. Andere waren ausgebildete Pädagogen, Rechtsanwälte oder Beamte, und fast alle waren jung. Einige hatten gerade erst ihr Studium beendet, wie Johann Georg Kerner, der 1791 nach Straßburg kam, wo er sich im Jakobinerklub engagierte und verkündete: »[I]ch habe mein Geburtsland verlassen, um ein Vaterland in Frankreich zu finden.«[31]

Kerner ging freiwillig nach Frankreich, andere – wie der von seinem Lehrstuhl in Bonn entfernte Schneider – flohen nach einem konservativen Gegenschlag in den 1790er-Jahren aus Deutschland. Die politische Unterdrückung setzte nicht sofort ein. Manche deutschen Fürsten standen der Französischen Revolution anfangs, in ihrer gemäßigten Phase, positiv gegenüber und sahen in ihr nicht mehr als einen Aufholprozess zu aufklärerischen Reformen, die sie bereits durchgeführt hatten. Andere schauten den Ereignissen im Westen entspannt zu, weil sie sich in der – falschen, wie sich herausstellen sollte – Sicherheit wiegten, dass die Revolution lediglich die Franzosen in Atem halten würde. Aber schon vor der Radikalisierung der Revolution erlebten deutsche Lande größere Ausbrüche sozialer Unruhe. 1789 und 1790 kam es im Westen in den an Frankreich grenzenden Regionen, im Rheinland, in der Pfalz und an der Mosel, zu städtischem Aufruhr und ländlichen Revolten. Aber auch im Osten, in Mecklenburg und Schlesien, erhoben sich Bauern gegen ihre Grundherren. Dann rebellierten 1793 Wandergesellen in Breslau und Weber im Erzgebirge. Die größte Herausforderung der bestehenden Ordnung erlebte Sachsen. Nach mehreren Missernten begannen Bauern im Frühjahr 1790 gegen Frondienste und grundherrliche Jagdprivilegien zu protestieren. Daraus entwickelte sich bis August ein Aufstand von zehntausend bewaffneten Bauern, die Akten verbrannten und Verwalter und Beamte bedrohten, weshalb Grundherren ihr Heil in der Flucht suchten. Der Kurfürst von Sachsen setzte Truppen ein, um den Aufstand niederzuschlagen, aber es dauerte bis Oktober, ehe das Land befriedet war, und dann auch nur vorübergehend, denn in den folgenden Jahren brachen neue ländliche Revolten aus. In den gesamten 1790er-Jahren kam es überall in Deutschland, von Hamburg und Rostock im Norden bis nach München und Augsburg im Süden, immer wieder zu Unruhen.[32]

Die deutschen Fürsten reagierten mit Repression. In Sachsen wurde 1791 ein »Mandat wider Tumult und Aufruhr« erlassen. Der junge Kaiser Franz II., der 1792 den Thron bestieg, befolgte nach der Aufdeckung einer sogenannten jakobinischen Verschwörung in Wien den Ratschlag verängstigter Konservativer. Dies alles waren Überreaktionen. Es trifft allerdings zu, dass radikale Propaganda über Grenzstädte wie Straßburg und Altona in deutsche Lande gelangte. Jakobinische Klubs wurden gegründet und revolutionäre Balladen und Flugblätter in weiten Kreisen verbreitet, und hinter einigen städtischen Unruhen standen Handwerksgesellen, die auf ihrer Wanderschaft französische Ideen aufgesogen hatten. Selbst in entlegenen Ecken Deutschlands, wie in dem Schwarzwaldstädtchen Nagold, sympathisierten örtliche Jakobiner mit der Revolution und erhoben, von ihr ermutigt, politische Forderungen.[33] Auch Bauern benutzten in ihrem Widerstand gegen die Feudalherren die neue Sprache ihrer Rechte.[34]

Dennoch kam Deutschland in den 1790er-Jahren nie auch nur in die Nähe einer Revolution. Die deutschen Lande standen im Unterschied zur französischen Monarchie nicht vor tief reichenden Problemen, die feudalen Bürden für die Bauern waren weniger drückend, und die Heere der Einzelstaaten standen loyal zu ihren Landesherren. Die großen Aufstände in Schlesien und Sachsen bildeten Ausnahmen. Nirgendwo in Deutschland verschmolzen öffentliche Unzufriedenheit und politische Opposition zu einer gemeinsamen Kraft, wie es in Frankreich geschehen war. Die Wiener »jakobinischen« Verschwörer waren, wie ihre bayerischen Pendants, in Wirklichkeit altmodische Reformer, freimaurerische »Illuminati«, die eine Erneuerung jener Art von aufklärerischen Reformen von oben anstrebten, für die sie dem früheren Kaiser Joseph II. Beifall gespendet hatten. Der einzige Fall einer Jakobinerherrschaft in Deutschland war die Mainzer Republik von 1792/93, nachdem der Erste Koalitionskrieg ausgebrochen war und die französische Revolutionsarmee Teile des Rheinlands besetzt hatte. Die Mainzer Republik war jedoch nur von kurzer Dauer und bei der lokalen Bevölkerung wegen der Unbeholfenheit ihrer politischen Führer zunehmend unpopulär. Sie endete im Grunde am Tag der Besetzung der Stadt durch preußische Truppen im Juli 1793. Diejenigen ihrer Führer, welche die anschließende Verfolgung überlebten, flohen nach Frankreich.[35]

Für die deutschen Neuankömmlinge und die Revolutionspilger, die sich bereits dort befanden, brachen schwierige Zeiten an, als die radikalen Jakobiner der »Bergpartei« an die Macht kamen und der Terror des Sicherheitsausschusses begann. Ausländern, einschließlich der Sympathisanten, schlug schon vor Verabschiedung des »Gesetzes über die Verdächtigen« im September 1793 Argwohn entgegen. Oelsner notierte im August 1792, dass das allgemeine Misstrauen den Aufenthalt in Paris »äußerst unangenehm« mache; niemand wage mehr, seine Meinung zu sagen, und Hinrichtungen bildeten »tägliche Unterhaltungen des Volks«. Ein anderer deutscher »Freiheitsfreund« drückte es Anfang 1793 noch drastischer aus: »Der Haß gegen Ausländer bricht immer hämischer und niederträchtiger hervor.«[36] Dies schrieb Georg Forster, der berühmte Naturforscher und Reiseschriftsteller, der die Revolution als allgemeine »Gährung im Volke« in Deutschland wie in Frankreich begrüßte und damit dieselbe Metapher verwendet hatte wie der französische Revolutionär Camille Desmoulins, der über eine »allgemeine Gährung« jubelte.[37] Forster arbeitete als Universitätsbibliothekar in Mainz, als die Franzosen die Stadt einnahmen und die Mainzer Republik gegründet wurde. Nach seiner Ansicht war es ein Moment, in dem man Stellung beziehen musste: »[D]ie Krisis naht heran und man wird Partei greifen müßen […].«[38] Zum Ärger seines gemäßigteren, liberalen Vaters und ähnlich gesinnter Kommentatoren wurde er zu einer führenden Figur der Republik. Seine Kritiker konnten nicht verstehen, dass ausgerechnet Forster, »der erleuchtete, warme Freund und Vertheidiger der Rechte des Menschen«, eine Position einnahm, in der er widerspenstigen Dörflern in der Umgebung von Mainz »drohet, und zwinget«.[39]

Forster und ein anderes Mitglied des Mainzer Jakobinerklubs, Adam Lux, entgingen der Repression nach dem Ende der Mainzer Republik, weil sie im März 1793 nach Paris gereist waren, um darum zu bitten, die Republik an Frankreich anzuschließen. Stattdessen fanden sie sich inmitten der Schreckensherrschaft wieder. Forster blieb das Schlimmste erspart, da er am Anfang des nächsten Jahrs an einer Lungenentzündung starb. Lux hatte weniger »Glück«; er wurde wegen seiner girondistischen Einstellung – ebenso wie Salm-Kyrburg – guillotiniert. Aber auch radikale Störenfriede wie Schneider und Cloots ereilte als Ultralinke dieses Schicksal, Letzteren sogar, obwohl er neben Klopstock, Campe und einem gewissen »Gille«, wie er in der Urkunde genannt wurde – tatsächlich handelte es sich um Friedrich Schiller –, einer von vier Deutschen war, denen die Nationalversammlung im August 1792 für ihre Dienste an »der Sache der Freiheit« die französische Ehrenbürgerschaft verliehen hatte.[40] Andere entgingen der Guillotine durch pures Glück – wie Schlabrendorf, der zwar verhaftet, aber nicht hingerichtet wurde – oder die Flucht in die Schweiz, wie Oelsner und Kerner.[41]

Nach dem Sturz Maximilien Robespierres und der Schaffung des Direktoriums traf eine zweite Welle deutscher Besucher in Paris ein. Wie 1789/90 teilten sie sich in zwei Gruppen auf: die bloß Neugierigen und die echten Radikalen. Wilhelm von Humboldt war ein Beispiel für Erstere. Er zog mit seiner Familie nach Paris und ließ sich im schicken Faubourg Saint-Germain nieder, wo er in großem Stil Hof hielt. Zu seinen Besuchern gehörten unter anderen der Maler Jacques-Louis David, Germaine de Staël und die Tochter des aufgeklärten Philosophen Denis Diderot. Auch deutsche Reisende schauten vorbei – wie Rahel Levin, später verheiratete Varnhagen, die in Berlin einen bedeutenden Salon führte, und der Bildhauer Friedrich Tieck, der jüngere Bruder des Schriftstellers –, ebenso wie Deutsche, die in Paris lebten, wie Schlabrendorf. Ein weiterer gelegentlicher Besucher war Oelsner, der inzwischen, wie Kerner, aus der Schweiz nach Paris zurückgekehrt war. Die radikale Fraktion der Deutschen in der französischen Hauptstadt wurde durch neue Emigranten aus allen Ecken des Heiligen Römischen Reichs vergrößert, die ihre Posten verloren hatten oder vor drohender Verhaftung geflohen waren.

Einer der aktivsten war Georg Friedrich Rebmann, der als »scharfsinnigster und klügster deutscher politischer Journalist der 1790er Jahre« gilt.[42] Er stammte aus Franken, wo es sein ehrgeiziger Vater zum Schatzmeister einer kleinen Ritterherrschaft gebracht hatte, studierte in Erlangen und Jena Rechtswissenschaft, wobei er als unbändiger, aufrührerischer Student auffiel, und schloss sein Studium 1789 ab.[43] Danach war er als Jurist in seiner Heimat tätig, der er aber bald wieder den Rücken kehrte, um als freier Schriftsteller zu leben. Zunächst machte er sich einen Namen mit in Briefform geschriebenen bissigen Beschreibungen der Professoren und des studentischen Lebens an seinen ehemaligen Universitäten. Am Anfang seiner Briefe aus Erlangen von 1792 drückte er die Überzeugung aus, »daß Freimuth nie schadet, sondern stets Vortheil bringt«.[44] Dies hätte sein Motto sein können. Es folgte eine Vielzahl von Reisebeschreibungen und politischen Satiren, wie Hans Kiekindiewelts Reisen in alle vier Welttheile und den Mond (1795), eine ebenso scharfe wie amüsante Satire auf deutsche Institutionen, die wesentlich komischer ist als das vermutliche Vorbild, Voltaires Candide. (Rebmann wandte sich häufig direkt an die Leser, und dies mit durchaus spitzen Bemerkungen, wie etwa im Epilog von Hans Kiekindiewelts Reisen, in dem er sich über alle lustig macht, die so dumm waren, eine Reise zum Mond zu erwarten, nur weil sie im Titel angekündigt wurde.) 1794 zog Rebmann nach Erfurt, wo er zusammen mit dem Buchhändler Dietrich Vollmer eine kleine Verlagsbuchhandlung betrieb. Sie gaben die politische Zeitschrift Das neue graue Ungeheuer heraus, in der Rebmann unter anderem eine Rede Robespierres gegen den Krieg verteidigte.[45] Als Jakobiner verschrien, war Rebmann, um politischer Verfolgung zu entgehen, gezwungen, ins dänische Altona und von dort nach Paris zu fliehen.

Obwohl nach 1795 wieder Deutsche nach Paris kamen, bildete die Schreckensherrschaft eine Wasserscheide. Manche Deutsche hatten versucht, sie zu rechtfertigen oder wenigstens zu erklären – mit Argumenten, welche die angestrengten Bemühungen von Revolutionären des 20. Jahrhunderts, die vor dem gleichen Dilemma standen, vorwegnahmen. Forster, zum Beispiel, betrachtete die Revolution als historisch notwendig und den Terror als Folge der Verbrechen des Despotismus, den die Revolutionäre gestürzt hatten. Die blutige Gewalt sei eine »Schande«, aber die Geschichte würde wegen der wohltuenden Wirkungen der gleichzeitig betriebenen Wirtschafts- und Religionspolitik über sie hinwegsehen. Darüber hinaus sei die Schreckensherrschaft eine Reaktion auf eine konterrevolutionäre Herausforderung. Wenn Forster die Revolution als Naturereignis beschrieb, als »Wirbelsturm«, kam er einer providenziellen Sichtweise nahe. Andere betonten ebenfalls die Verantwortung der Konterrevolution für die revolutionäre Gewalt. Oelsner und Rebmann waren weniger als Forster bereit, die historische Notwendigkeit zu beschwören, sondern griffen zu anderen vertraut klingenden Argumenten: dass der Terror eine Abirrung von der wahren Revolution darstelle und seine Verfechter machtbesessene »Demagogen« seien, die sich bloß hinter der »Maske« von Vertretern des Volkswillens versteckten. Es ist verblüffend, wie stark diejenigen, die den jakobinischen Terror verurteilten, die konspirative Sprache von dessen Urhebern übernahmen.[46]

Radikale deutsche Anhänger der Französischen Revolution mochten den Terror erklären wollen, um das, was sie als »wahre« Revolution ansahen, von dem Blutvergießen zu entlasten. Aber keiner von ihnen betrachtete die radikale Revolution, vom Terror ganz zu schweigen, als wünschenswerten Weg für Deutschland. »Wir sind nicht auf dem Punkte«, schrieb Forster schon 1791, »wo eine gewaltsame Revolution uns das geringste helfen und nutzen könnte, wenn sie auch möglich wäre, was sie doch nicht ist.«[47] Nach seiner Ansicht bestand die Gefahr, dass die Revolution, wie in Frankreich, aufgrund fehlender Reformen ausbrach. Darin waren sich die Radikalen einig. Sie argumentierten entlang zweier aufeinander zulaufender Linien: Zum einen sei Deutschland einfach noch nicht »reif« für eine Republik; zum anderen gebe es bei deutschen Fürsten eine gute, starke Tradition der Reform von oben, und es sei wichtig, sie stets auf dem neuesten Stand zu halten – oder auf diesen Pfad zurückzuführen –, damit die Konterrevolution die Reform nicht zunichtemachte und gewaltsame Aufstände wahrscheinlicher wurden.[48] Betrachtet man die politischen Ansichten der sogenannten »deutschen Jakobiner« genauer, stellt man fest, dass viele von ihnen – wie Rebmann – in Wirklichkeit eher gemäßigte oder girondistische Positionen vertraten.[49]

Deshalb findet man auch eine erstaunliche Überlappung der Ansichten vorgeblicher Jakobiner einerseits und gemäßigter Liberaler andererseits, welche die ersten Stadien der Revolution gutgeheißen hatten, sich aber nach den Massakern vom September 1792, der Hinrichtung Ludwigs XVI. Anfang 1793 und dem Beginn der Schreckensherrschaft voller Abscheu von ihr abgewandt hatten. »Sie haben unsere Ideale verraten und in den Schmutz gezogen«, klagte die romantische Schriftstellerin Caroline Schlegel, »die bösen, dummen und niederträchtigen Menschen, die nicht mehr wissen, was sie tun.«[50] Und Klopstock schrieb 1794: »Es lebt vielleicht Niemand, der so innigen Antheil an der Revoluzion genommen und der […] so viel gelitten hat, als ich.«[51] Dies klingt sehr selbstbezogen, aber Klopstock hatte Freunde an die Guillotine – die »G−−«, wie er in einem Brief schrieb, offenbar unfähig, das Wort auszuschreiben – verloren, unter ihnen La Rochefoucauld, den Widmungsträger in glücklicheren Tagen von »Sie, und nicht wir!«.[52] Er stellte jetzt eine Büste von Charlotte Corday, Marats Mörderin, in sein Arbeitszimmer, wo er weiterhin bis zu seinem Tod im Jahr 1803 politische Oden dichtete – sie bilden einen großen Teil seines Spätwerks –, aber sie waren jetzt düster und verbittert. Ihre Titel sagen alles: »Mein Irrthum«, »Die Trümmer«, »Mein Gram«, und sie sind voller Bilder von Blut und Gewalt. Die Sprache selbst ist bis an die Grenzen angespannt. So erfand Klopstock in der im Dezember 1793 entstandenen Elegie »Das Neue«, um seine Verachtung für die radikalen Pariser Klubs, die politisch aufsteigende, mit Robespierre assoziierte »Berg«-Partei, die Hinrichtung mit der Guillotine und den Raubtiercharakter der Republik auszudrücken, ein langes neues Wort: »Klubbergmunizipalgüllotinoligokra-Tierepublik«. Marats Anhängern legte er Nonsensworte, praktisch Grunzlaute, in den Mund.[53] Er war nicht der einzige Dichter, der eine nahezu unbändige Wut auf den Terror empfand. Der sanfte Lyriker Johann Wilhelm Ludwig Gleim verfasste eine Reihe von »Zeitgedichten«, in denen die Jakobiner als blutrünstige Tyrannen, Despoten, Mörder, Teufel, Tiger, Menschenfresser und Ungeheuer verdammt werden. In einem der Gedichte spricht Gleim, Francisco de Goyas berühmte Grafik gleichen Namens um einige Jahre vorwegnehmend, im übertragenen Sinn vom »Schlaf der Vernunft«.[54]

Die Enttäuschung über die Schreckensherrschaft verstärkte die deutsche Vorliebe für die gemäßigtere girondistische Version der Französischen Revolution. Die in den 1790er-Jahren in Umlauf befindlichen übersetzten Texte spiegeln dies wider. Deutsche Leser bevorzugten den Grafen Mirabeau gegenüber Robespierre. Der Terror festigte die Identifikation deutscher Intellektueller mit ihren girondistischen Opfern. Ein Zeichen dafür war die Idealisierung Charlotte Cordays, der Kult um Jean-Baptiste Louvet, einen der ersten Parlamentarier, der Robespierre attackierte, ein anderes.[55] Es gab eine Wahlverwandtschaft zwischen den meisten deutschen Sympathisanten der Französischen Revolution und den Girondisten, die sich im gemeinsamen Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung, im Respekt für das Gesetz und in der Furcht vor der »Anarchie« sowie der Begeisterung für den Humanismus bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber den Volksleidenschaften zeigte. Außerdem standen die Girondisten eher für ein föderales als ein zentralistisches politisches System. Auch dies brachte ihnen jenseits des Rheins Sympathien ein, was erneut offenbart, dass die Deutschen die Ereignisse in Frankreich – ebenso wie die amerikanischen – zwangsläufig durch ihre Brille sahen. Selbst 1789/90 waren die Ereignisse, neben der Bewunderung für Frankreich als dem Führer der »Menschheit«, vielfach in einen deutschen Kontext gestellt worden. Viele deutsche Autoren vertraten die Ansicht, dass die Revolution eine Emanzipation der menschlichen Kräfte vollendete, die mit der Reformation begonnen hatte.[56] Zudem stärkte der gewalttätige Kurs der Französischen Revolution den Stolz der Deutschen auf die eigene »Mäßigung« und eine Geschichte schrittweiser fürstlicher Reformen von oben.

Kriegsfolgen

Was die deutschen Lande tiefgreifend veränderte, war nicht die Französische Revolution, sondern eine Kriegszeit, die eine ganze Generation andauerte. 1792 brach ein Krieg zwischen Frankreich und den beiden deutschen Großmächten, Preußen und Österreich, aus. Man ist versucht, ihn als ideologischen Konflikt zwischen Revolution und Ancien Régime zu sehen, wie es viele deutsche Radikale taten. Selbst ein Gemäßigter wie Klopstock stand 1792 noch aufseiten der Franzosen und verurteilte die deutschen Mächte. Sie hatten nicht unrecht, von einem Zusammenstoß zweier Welten zu sprechen.[57] Die deutschen Fürsten, die über Nacht die Froneinnahmen ihrer Besitzungen in Elsass-Lothringen verloren, als die französische Nationalversammlung im August 1789 den Feudalismus abschaffte, waren das perfekte Symbol der alten Welt. Daneben gab es die nach Tausenden zählenden französischen Aristokraten, die nach Wien, München, Hamburg und vor allem nach Koblenz geflohen waren, das sie in ein Klein-Versailles verwandelten. Sie füllten die Taschen deutscher Handwerker und Geschäftsinhaber mit Geld, machten aber auch Schulden und erregten mit Frauengeschichten, Glücksspiel und Arroganz weithin Anstoß. Die Emigranten intrigierten ständig an deutschen Höfen, um ein militärisches Eingreifen zu erreichen, durch das der Status quo ante in Frankreich wiederhergestellt werden sollte.[58] Aber genauso wie niemand wegen der verlorenen Froneinnahmen einiger unbedeutender deutscher Fürsten in einen Krieg ziehen wollte, enttäuschten die deutschen Herrscher auch die Hoffnungen der französischen Emigranten. Der (noch) römisch-deutsche Kaiser und der Kurfürst von Köln wiesen ihre Fühlungnahmen zurück – obwohl beide Brüder der französischen Königin Marie-Antoinette waren –, und der Kurfürst von Trier forderte den Fürsten von Condé auf, das zusammengewürfelte Heer, das er in Koblenz ausbildete, aufzulösen. Auch die beiden größten deutschen Mächte waren mit anderem als den Ereignissen in Frankreich beschäftigt. Als der Krieg durch die französische Kriegserklärung vom 20. April 1792 ausbrach, spielten Ideologie, politisches Kalkül und der Zufall gleichermaßen eine Rolle.[59]

Die revolutionäre Ära brachte eine neue Art der Kriegsführung mit sich: den Volkskrieg. Johann Wolfgang von Goethe, das literarische Allzweckgenie der Deutschen, gab dieser Neuheit dramatischen Ausdruck. Beim Ausbruch der Französischen Revolution vierzig Jahre alt, hielt er sich im Gegensatz zu den meisten jüngeren deutschen Schriftstellern von den anschließenden tumultuösen Ereignissen fern. Aber er erkannte ihre Bedeutung, und zwar nicht nur für Frankreich. Er begleitete den Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach und dessen preußische Truppen auf dem Feldzug gegen die französische Revolutionsarmee. Im September 1792 sagte er nach der Kanonade von Valmy am Lagerfeuer zu den ob des Abbruchs des Gefechts verstimmten Offizieren – oder behauptete jedenfalls dreißig Jahre später, es gesagt zu haben: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.«[60] Carl von Clausewitz, der mit Vom Kriege eine der einflussreichsten Schriften über die Kriegsführung verfasste, bemerkte ähnlich pointiert, dass auf französischer Seite eine Kriegsmacht aufgetreten sei, »von der man keine Vorstellung gehabt hatte. […] Mit dieser Teilnahme des Volkes an dem Kriege trat statt eines Kabinetts und eines Heeres das ganze Volk mit seinem natürlichen Gewicht in die Waagschale.«[61] Die französischen Wehrpflichtigenheere stellten mit ihrer Schnelligkeit und Beweglichkeit die schwerfälligen »Uhrwerkarmeen« des Ancien Régime bloß. Preußen war 1795 gezwungen, um Frieden zu ersuchen. Österreich setzte den Krieg fort, musste aber eine Reihe von Niederlagen durch französische Revolutionstruppen und Napoleons Armeen hinnehmen, die 1805 zum Zwangsfrieden von Pressburg führten. Als Preußen die Feindseligkeiten wiederaufnahm, erlitt es 1806 in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt eine demütigende Niederlage, weil die preußischen Generale es fertigbrachten, ihre Armee durch ihr Beharren auf der »schiefen Schlachtordnung Friedrichs des Großen […] zugrunde zu richten, wie nie eine Armee auf dem Schlachtfeld selbst zugrunde gerichtet worden ist«. So Clausewitz, einer von 140 000 Preußen, die in französische Kriegsgefangenschaft gerieten.[62] Zwei Wochen später marschierte Napoleon in Berlin ein.

Die französischen Siege zeichneten die Karte Mitteleuropas neu und gestalteten es politisch um. Frankreich trennte Territorien ab, forderte Entschädigungen und zwang deutsche Fürsten in Bündnisse. 1802 wurde das in den 1790er-Jahren besetzte Rheinland an Frankreich angegliedert. 1806 verschwand das Heilige Römische Reich, das seit 1803 nur noch dem Namen nach existiert hatte, gänzlich. Die zahlreichen Kleinstaaten, die unter seinem Dach existiert hatten – Reichsstädte, Fürstentümer, Kirchenterritorien, insgesamt rund 1800 – wurden zu mittelgroßen Staaten wie Bayern und Württemberg zusammengefügt, die mit Frankreich Verträge schlossen. 16 von ihnen – später insgesamt dreißig – wurden zum Rheinbund zusammengefasst, der sich von Mecklenburg bis Tirol erstreckte. Zwei seiner Mitglieder waren französische Neuschöpfungen. Napoleon, der den Fürsten von Anhalt-Köthen zum Herzog, den Markgrafen von Baden zum Großherzog und den Herzog von Württemberg zum König gemacht hatte, bereitete es keine Schwierigkeiten, mit einem Federstrich zwei neue Staaten zu schaffen: das Königreich Westphalen und das Großherzogtum Berg, die, mit Mitgliedern der erweiterten Familie Napoleons als Herrscher, als Pufferstaaten gegenüber Preußen dienen sollten. Der Rheinbund war als »drittes Deutschland« gedacht, das ein Gegengewicht gegen die beiden führenden deutschen Mächte, Österreich und Preußen, bilden sollte. Beide waren in den Umbruchsjahren 1805/06 gedemütigt worden. Franz II. war gezwungen worden, als römisch-deutscher Kaiser abzudanken, und Napoleon erinnerte die Habsburger durch seine Heirat mit Franz’ ältester Tochter daran, wer Herr über Europa war. Wien wurde besetzt, und Österreich wurden seine Gebiete in Süddeutschland, Italien und den Niederlanden genommen. Preußen musste wie Österreich eine riesige Entschädigung zahlen und wurde auf ein trauriges Rumpfgebiet von vier Provinzen reduziert, wodurch sowohl sein Territorium als auch seine Bevölkerung halbiert wurden. Die deutschen Lande erlebten Napoleons gesamtes politisches Repertoire. In diesen entscheidenden Jahren wurden Territorien annektiert, alte Staaten zu französischen Satelliten gemacht, neue Staaten als französische Marionetten geschaffen und große Staaten verkleinert.

All dies verwandelte Deutschland in ein politisches und verfassungsrechtliches Laboratorium. Am offensichtlichsten war dies im Rheinland, dessen Angliederung an Frankreich den schärfsten Bruch mit der alten Ordnung in ganz Deutschland darstellte. Bisherige weltliche und geistliche Herrscher wurden gestürzt, der Feudalismus wurde beendet, der Zehnt abgeschafft, Zünfte wurden aufgelöst, Monopole gebrochen, Kirchenländereien säkularisiert und Juden emanzipiert. Es war ein Crashkurs in institutioneller Modernisierung unter französischer Ägide. Ähnliche Reformen wurden in Westphalen und Berg durchgeführt, zum Teil, um die Überlegenheit der französischen Institutionen zu demonstrieren.[63] Die in Westphalen eingeführte Verfassung war die erste in der deutschen Geschichte. Aber all dies waren Reformen von oben. »So Du auf die Volksmeinung hörst«, mahnte Napoleon seinen jüngeren Bruder Jérôme, den er zum König von Westphalen gemacht hatte, »wirst Du nichts erreichen. Wenn sich das Volk gegen sein eigenes Glück wehrt, macht es sich der Anarchie schuldig und verdient Bestrafung.«[64] Institutionelle Veränderungen und administrative Zentralisierung wurden auch noch von etwas anderem angetrieben als dem Wunsch, »moralische Fortschritte« zu erzielen. Die rationalisierende Symmetrie der französischen Reformen sollte den Abfluss des lokalen Reichtums erleichtern. Dies klang auf die eine oder andere Weise in der Hintergrundmusik der Entwicklung mit, die in dem Jahrzehnt vor 1815 in allen deutschen Staaten vonstattenging. Ob nun als Rheinbundmitglieder förmliche Verbündete wie Baden und Bayern oder besiegte und besetzte Mächte wie Österreich und Preußen, sie alle waren mit massiven finanziellen und materiellen Forderungen Frankreichs konfrontiert, was der Aufgabe, Ressourcen aus der eigenen Bevölkerung herauszuziehen, zusätzliche Dringlichkeit verlieh. Die Fürsten entwickelten und verfeinerten die kleinen Machtinstrumente, die dies ermöglichten – Landkarten, Volkszählungen, Inventarien, Verordnungen –, während sie gleichzeitig überall ähnliche institutionelle Reformen im Visier hatten.

Innerhalb des Rheinbunds standen insbesondere die tatsächlich am Rhein oder in dessen Nähe liegenden Staaten für Reformen: Baden, Württemberg, Bayern und Hessen-Darmstadt. Es war kein Zufall, dass alle vier 1820 eine Verfassung einführten. Schon geografisch waren sie für den französischen Einfluss besonders empfänglich. Außerdem hatten sie sowohl Gründe als auch Gelegenheit für tiefgreifende Reformen. Die Gelegenheit ergab sich aus der auf das Ende des Heiligen Römischen Reichs folgenden territorialen Transformation, welche diese Staaten wesentlich vergrößerte. Gründe waren die Notwendigkeit, die neuen Gebiete zu integrieren, während man gleichzeitig französische Forderungen erfüllen musste. Diese Staaten im Südwesten Deutschlands vergrößerten sich allesamt durch die Einverleibung bisher selbstständiger Reichsstädte, säkularisierter geistlicher Territorien und »mediatisierter« Ritterherrschaften. Württemberg verdoppelte auf diese Weise sein Territorium, Baden vervierfachte es.

Das Bemühen, die administrative, religiöse und rechtliche Vielfalt der neuen Gebiete zu bewältigen und dem Flickwerk eine gewisse Einheit zu geben, trieb den Reformprozess voran. Einer der führenden Badener Reformer, Sigismund von Reitzenstein, schrieb 1803, bevor er nach fünf Jahren als Gesandter in Paris nach Hause zurückkehrte, die Hauptaufgabe, vor der sein deutlich vergrößerter Staat stehe, sei es, dem »aus einer Menge heterogener Bestandteile zusammengesetzten Lande eine durchaus neue Gestalt zu geben«.[65] Das wichtigste Mittel dafür war die Stärkung der Staatssouveränität durch Zentralisierung, und deren Hauptagent war ein vergrößerter Apparat von besser ausgebildeten und besser bezahlten Beamten. Eine neu ausgerüstete Regierungsmaschinerie würde die Reichweite des Staates erweitern. Dies bedeutete, dass – wie in Frankreich – die Privilegien zwischengeschalteter korporativer Institutionen, wie der Zünfte, Kommunen und religiösen Einrichtungen, beschnitten werden mussten. Außerdem musste man die Steuererhebung effizienter gestalten, die Bildungsinstitutionen verbessern und neue Infrastrukturprojekte in Angriff nehmen. Ein Plan wie derjenige des Badener Militäringenieurs Johann Tulla für umfangreiche »Korrekturen« des Rheinverlaufs, wie der Begradigung von Kurven und der Entfernung von Inseln, wäre ohne die Vereinfachung der Landkarte Deutschlands durch Napoleon und den Ehrgeiz des Großherzogs und der Verwaltungselite von Baden, die einen neuen Fluss als Achse des Staates haben wollten, undenkbar gewesen.[66]

Das große Rheinprojekt, das 1809 in einer Denkschrift vorgeschlagen wurde, zeigt im Kleinen, was die deutsche Staatenbildung in diesen Jahren den Franzosen verdankte – und was nicht. Tulla selbst, der seine Ausbildung zum Teil in Frankreich erhalten hatte, glaubte fest an die Überlegenheit freier gegenüber feudaler Arbeit bei solchen Vorhaben. Damit stand er in der Tradition der Ideen von 1789. Außerdem war es nach der Zerschlagung des Heiligen Römischen Reichs durch die militärischen Erfolge Frankreichs leichter, mit Nachbarstaaten die für den Rheinausbau nötigen Verträge zu schließen, da man es nicht mehr mit Hunderten winziger Fürstentümer zu tun hatte, von denen jedes einzelne das Vorhaben behindern konnte. Aber das Projekt war auch, zumindest teilweise, ein heimisches Vorhaben. Von außen kommende Ideen und veränderte Umstände machten es lediglich im großen Maßstab denkbar, nachdem sich badische Beamte schon vor 1789 in kleinerem Maßstab damit beschäftigt hatten, als eine Vielzahl kleinerer Flusskorrekturen durchgeführt worden waren. Andere Reformen folgten dem gleichen Muster. Französische Ideen und militärische Dominanz verstärkten oder reanimierten die vorhandene deutsche Tradition aufgeklärter Reformen von oben. Diese Tradition eines vorsichtigen Fortschritts, des Misstrauens gegenüber Interessengruppen und der Ablehnung von allem, was nach Rückwärtsausrichtung aussah, verkörperten Figuren wie Reitzenstein und sein bayerisches Pendant, Maximilian von Montgelas, in vollkommener Weise.[67]

Baden und Bayern führten Reformen durch, weil sie größer geworden waren und neue Bevölkerungen eingliedern mussten. In Preußen resultierten die Reformen aus dem entgegengesetzten Problem: Die vernichtende Niederlage hatte den Staat zu einem Torso reduziert. Aber es gab auch andere Unterschiede. In den südwestdeutschen Staaten gingen die Reformen auf dem Gebiet von Verfassung und Recht am weitesten; was die Emanzipation der Bauern und den Status der Zünfte anging, blieb sie auf halbem Weg stecken. Preußen bildete das Spiegelbild dazu: Während der Monarch zweimal eine Verfassung versprach, aber keine einführte – sie wurde erst 1848 nach einer weiteren Revolution erlassen –, reichten die Wirtschafts- und Sozialreformen tiefer. Die Bauernemanzipation und die Abschaffung der Zunftprivilegien sowie anderer korporativer Restriktionen entfernten Hindernisse für das Eigentum und die Disponibilität von Grundbesitz und anderen Vermögenswerten. Auch die Bildungsreform war radikaler. Von der Grundschule bis zur Universität blieb nichts, wie es war. Die preußischen Reformer, nach deren Ansicht die Kräfte des Volks nutzbar gemacht werden mussten, sorgten dafür, dass die preußische Gesellschaft nach der Reformära dynamischer und mobiler war als die badische und die bayerische.

Aber die Reformen hatten auch Gemeinsamkeiten, obwohl sie sich auf unterschiedliche Ausgangspunkte zurückführen lassen. Angesichts der Auflösung der alten Territorialstruktur der deutschen Lande und ihrer Neuzusammensetzung in unvertrauter Gestalt versuchten alle deutschen Staaten neue Legitimitätsformen auszubilden. Deshalb stand die Verbesserung des Regierungsapparats im Mittelpunkt der Reformen. Tritt man einen Schritt zurück und betrachtet das große Bild, sieht man eine andere Gemeinsamkeit der Reformen: Sie waren überall – außer in Westphalen und Berg, wo sie von Frankreich aufgezwungen waren – eine Mischung aus eigenen deutschen Traditionen und ausländischen Anleihen oder angepassten Übernahmen. Die Elemente dieser Mischungen waren unterschiedlich. Als der preußische Minister Karl August von Struensee 1799 dem französischen Geschäftsträger in Berlin erklärte, die Revolution, welche die Franzosen »von unten« gemacht hätten, würde in Preußen »schrittweise von oben« vollendet, spielte er auf ein Reformmuster an, das es schon vor dem Tod Friedrichs des Großen im Jahr 1786 gegeben hatte.[68] Aufgeklärte Reformen dieser Art waren vor 1789 in deutschen Landen weithin üblich, nicht zuletzt in Österreich unter Joseph II. Sie hatten jedoch überall mit etablierten Interessen zu kämpfen und waren in Gefahr, zurückgenommen zu werden, wenn ein neuer Monarch auf den Thron kam oder Konservative am Hof die Oberhand gewannen. Sie kamen jedoch wieder in Gang, wenn die Umstände es erlaubten oder angeraten sein ließen. Deshalb waren die Reformbemühungen in Österreich verhaltener als anderswo, denn es musste in den kritischen Jahren 1803 bis 1806 weder – wie Baden und Bayern – neue Territorien integrieren, noch war es – wie Preußen – mit einer Existenzkrise konfrontiert. Die preußischen Reformer andererseits erhielten durch Letztere Rückenwind. In den späten 1790er-Jahren gab es in Berlin viele unzufriedene Möchtegern-Reformer. Manche der jüngeren verkehrten in denselben kosmopolitischen, aufgeklärten Kreisen wie Struensee.[69] Die Katastrophe von 1806 verschaffte ihnen ihre Chance, ebenso wie älteren, bekannteren Figuren wie Karl vom und zum Stein und Karl August von Hardenberg. Als Hardenberg 1807 in seiner Rigaer Denkschrift ähnliche Begriffe benutzte wie Struensee acht Jahre zuvor und eine »Revolution im guten Sinn« verlangte, drückte er nicht mehr nur eine fromme Hoffnung aus, sondern entwarf ein Reformprogramm, dessen Verwirklichung er selbst leiten sollte.[70]

Hardenberg wollte diese »gute« Revolution »durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von innen oder außen« bewirken. Es gab jedoch viele gewaltlose Impulse von außen, einige davon aus Dänemark mit seiner ungebrochenen Tradition der Reform von oben, andere aus Großbritannien. Viele führende preußische Reformer hatten im anglophilen Göttingen studiert. Dort oder in Königsberg waren sie dem Werk von Adam Smith begegnet, dem »göttlichen Smith«, wie einer von ihnen ihn nannte.[71] Smiths Ideen über den Markt und die Kräfte der Zivilgesellschaft wurden in aufgeklärten ostpreußischen Kreisen eifrig diskutiert und fanden Eingang in die preußischen Reformen. Im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik hatten auch die französischen Physiokraten Einfluss. Vor allem aber waren es französische Militärkonzepte, welche die preußischen Reformer sich zu Herzen nahmen. Die führenden Militärreformer erkannten, dass die Truppen, sollten sie napoleonischen Heeren widerstehen, anders zusammengesetzt und ausgebildet werden mussten. Das Offizierskorps wurde weniger aristokratisch, da Offiziere unehrenhaft entlassen oder in den Ruhestand geschickt wurden und professionelle Kompetenz anstelle der sozialen Herkunft zur Voraussetzung für die Offizierslaufbahn wurde. Die in den neu geschaffenen Ausbildungsstätten benutzten Handbücher hoben jetzt die Bedeutung der leichten Infanterie, der Scharmützel und der anderen Elemente, die dem französischen Erfolg zugrunde lagen, hervor. Die Reformer hielten sich zumindest so weit auf dem Laufenden, dass die Ausbildungshandbücher auch auf einen Fall eingingen, in dem die Franzosen Schwierigkeiten gehabt hatten, nämlich die Guerillaangriffe in Napoleons Krieg auf der Iberischen Halbinsel. Einem Aspekt der französischen Militärpolitik widersetzte sich Friedrich Wilhelm III. jedoch hartnäckig: der Wehrpflicht. Die Reformer strebten eine »Nation in Waffen« an, doch dies klang dem König zu revolutionär. Anfang 1813, als Preußen erneut gegen Frankreich ins Feld zog, führte er jedoch die Wehrpflicht ein. Sie ermöglichte es Preußen, im Oktober dieses Jahres 90 000 Mann in die entscheidende Völkerschlacht bei Leipzig zu schicken.

Die Zahl der in den großen Schlachten der napoleonischen Ära kämpfenden Soldaten war beispiellos: Bei Wagram waren es 300 000, bei Leipzig 550 000. So viele Gefallene und Verwundete wie in diesen Schlachten gab es in Europa bis 1914 nicht mehr. Es dauerte Monate, bis alle Toten von Leipzig beerdigt waren. Die Gesamtzahl der Kriegstoten in den Jahren 1792 bis 1815 lag bei annähernd fünf Millionen.[72] Deutsche Verluste gab es auf beiden Seiten, da viele Mitteleuropäer zum Dienst in der französischen Armee gezwungen worden waren. Die Revolutionsarmee hatte als französische Nation in Waffen begonnen, aber der ausländische Anteil an der Grande Armée erhöhte sich im Lauf der Zeit, da viele Franzosen der Einberufung auswichen oder desertierten. Der deutsche Anteil erreichte nach 1805 den größten Umfang. Zwischen 1805 und 1813 dienten rund 375 000 Deutsche in Napoleons Heer. Selbst in der Völkerschlacht kämpften 40 000 der 250 000 Deutschen auf dem Schlachtfeld auf der Seite der Franzosen. Napoleons süddeutsche Verbündete wurden gezwungen, Zehntausende Soldaten bereitzustellen. Deutsche kämpften in Spanien. Vor allem aber kämpften sie 1812 im Russlandfeldzug. Ein ganzes Drittel der 600 000 Mann der nach Russland vorrückenden Grande Armée war deutschsprachig.[73]

Die Verluste waren furchtbar. Nur einer von zehn bayerischen Soldaten kehrte heim. Von den Einberufenen aus Westphalen und Württemberg war es sogar nur einer von dreißig.[74] Ein überlebender schwäbischer Offizier, der zum Zeitpunkt des Feldzugs 27-jährige Hauptmann Karl Gottlieb Friedrich Kurz, hat seinen Memoiren eine Liste gefallener württembergischer Offiziere mit 176 Namen, von Aarhloff bis Zschok, angehängt.[75] Offiziere und andere Dienstgrade starben gleichermaßen, entweder auf dem Schlachtfeld an ihren Wunden oder bei chaotischen Zwischenfällen wie dem Rückzug über die Beresina unter feindlichem Feuer, bei dem 20 000 Mann ihr Leben ließen, von Füßen und Hufen zu Tode getreten oder in dem eisigen Fluss ertrunken.[76]

Napoleons Grande Armée bei der Überquerung der Beresina im November 1812 auf einem dramatischen Gemälde Peter von Hessens von 1844.

In weit größerer Zahl starben sie jedoch an Erschöpfung, Hunger, Ruhr und Typhus. Feldlazarette wurden zu »Todeskammern«. An einem Platz mit vier Lazaretten starben täglich 150 Mann, deren Leichen einfach in die Düna geworfen wurden.[77] Ein anderer schwäbischer Überlebender, der damals 21-jährige Leutnant Heinrich August Vossler aus Tuttlingen, hat Männer mit Erfrierungen beschrieben, die Hände, Füße, Nasen und Ohren verloren hatten und froh waren, ein Feuer zu finden: »Viele schleppten sich schon halb todt […] hin, streckten die Glieder, um recht bald zu erwärmen, in die Glut, und starben halb erfroren, halb verbrannt.« Unterdessen brachte der Hunger die Soldaten dazu, Hunde, Katzen, Aas und Leichen zu essen.[78]

Es überrascht nicht, dass eine ganze Reihe von Überlebenden ihre Erlebnisse aufschreiben wollten, immerhin hatten sie überlebt und viele erinnernswerte, dramatische Dinge erlebt. Dies ist sicherlich ein Grund für den Napoleonkult deutscher Kriegsveteranen. Ihre persönlichen Erinnerungen waren Teil einer umfassenderen aufblühenden Memoirenkultur in diesen Jahren, die von der Entstehung eines neuen Selbstgefühls zeugten. Außerdem spiegelten sie die neuen Welten wider, die sich den Hunderttausenden von Deutschen geöffnet hatten, die überall in Europa aufmarschierten und kämpften. Manche waren trotz ihrer Jugend sicherlich schon vorher außerhalb Deutschlands gewesen, als Wandergesellen »auf Walz« oder – im Fall gebildeter Offiziere – auf Studienreisen. Aber die meisten sahen, was ihnen begegnete, zum ersten Mal, und ihre Berichte ähneln häufig Reisetagebüchern. Sie sind voller Beschreibungen von Landschaften und Menschen, mitsamt Bleistiftskizzen des Kremls. Menschen werden zumeist mit den üblichen Klischees beschrieben, von den »wilden« Spaniern – die Deutschen auf beiden Seiten der Front des Kriegs auf der Iberischen Halbinsel hassten dessen Guerilla-Aspekt – über die »unreinlichen« Polen und Juden bis zu den »zurückgebliebenen« Russen und »verschlagenen« Baschkiren – die jedoch aufgebrochen werden, da auch von Freundlichkeit berichtet wird, die fast immer lebensrettend war, wenn etwa russische Bäuerinnen Verwundete aufnahmen und pflegten.[79]

In ihren Briefen nach Hause an ihre Frauen drückten die Soldaten ihr Heimweh aus und gaben aus der Ferne Ratschläge. Der bayerische Korporal Josef Layrer schüttete in Russland seiner Frau, Rosa, und ihrer kleinen Tochter in einem Brief sein Herz aus: »Vielgeliebtes, bestes und herrlichstes Weib! Beste Mutter! […] Alle Erinnerungen an Dich, besonders an mein kleines Wusserl machen Nächte und Täg qualvoll und schmerzhaft, u. villenmahlen muß ich mein bissigen Brot mit den bittersten Tränen benetzen.«[80]

Aber wie war das Leben für die Daheimgebliebenen, für die Rosinas und Wusserls, die deutsche Zivilbevölkerung, in den zwei Jahrzehnten des Krieges? Auch für sie waren diese Jahre von Gewalt und Unsicherheit geprägt. Es ist vielsagend, dass die Worte »Militarismus« und »Zivilist« (im Sinn von Nichtkombattant) beide in den 1790er-Jahren aufkamen.[81] Überall in Mitteleuropa gingen Territorien von Hand zu Hand, während Heere vorstießen und zurückwichen. Sachsen, dem Rheinland und Süddeutschland erging es am schlimmsten. Manche Orte wechselten wiederholt den Besitzer, wie die unglückliche Weinbaustadt Oppenheim am Rhein, die zwischen Franzosen und Österreichern hin- und herwechselte. Französische Revolutionstruppen lebten aus dem Land, was ihre Mobilität erklärt. Der junge Kunstsammler Sulpiz Boisserée, der 1794 den Einzug französischer Truppen in Köln miterlebte, berichtet, dass an den Bajonetten der Soldaten noch Brot und Fleisch baumelte und sie selbst in kürzlich geplünderte Decken und Teppiche gehüllt waren.[82]

Die Politik der Plünderung ging über die Taten opportunistischer Einzelner hinaus. Ein französischer General sah, als er 1794 auf das »reiche, üppige Land« an Rhein und Mosel herabschaute, eine »wahre Milchkuh für die französische Republik«. Zwei Jahre später berichtete ein anderer General, nachdem er eine von Pferden, Kühen, Getreide, Futtermitteln, Werkzeugen, Haushaltsgegenständen, Feuerholz, Kleidung und Schuhen entleerte Gegend in der Nähe inspiziert hatte, nach Paris, er sei von einer »grässlichen Wüste« umgeben.[83] Die harten französischen Beschaffungsmethoden gingen einher mit Zwangsdarlehen und der Verpflichtung von Männern aus den besetzten Gebieten zum Militärdienst und zum Bau von Befestigungen und Straßen. Zwangseinquartierungen und Geiselnahmen waren Mittel, mit denen widerspenstige Gemeinden gefügig gemacht wurden. Die Brutalität des Krieges spiegelte sich in gewissem Maß in drei Theaterstücken eines führenden deutschen Schriftstellers wider, Friedrich Schiller. Seine Wallenstein-Trilogie spielte zwar im Dreißigjährigen Krieg, war aber eindeutig auf den aktuellen Konflikt gemünzt. Die Stücke waren gegen Ende der 1790er-Jahre geschrieben worden, aber als die Schriftstellerin und Salonnière Rahel Levin sie zehn Jahre später, als der Krieg immer noch im Gang war, las, stellte sie beeindruckt fest: »wie paßt jetzt jedes Wort«.[84]

Drei hässliche Gespenster suchen jeden modernen Krieg heim: sexuelle Gewalt, epidemische Krankheiten und verzweifelte Deserteure. Sexuelle Gewalt von Soldaten an Frauen war gewissermaßen alltäglich. Männliche Beobachter sprachen, wenn überhaupt, mit euphemistischen Worten über sie – »keine Frau war sicher«, »besonders schlecht wurden Frauen behandelt« –, denn Vergewaltigung gefährdete die heimische Geschlechterordnung und unterstrich die Unfähigkeit deutscher Männer, ihre Frauen und Töchter zu beschützen. Gelegentlich wurde der Versuch unternommen, die Aufmerksamkeit von Besatzungssoldaten auf zur Unterschicht gehörende oder marginalisierte Frauen oder, wie im Fall des vorderösterreichischen Villingen, auf die Häuser unverheirateter Frauen zu lenken.[85] Die Folge war die Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten. Auch Epidemien, die bereits von Entbehrungen geschwächte Bevölkerungen trafen, wurden von Heeren verbreitet. Die Bewegung von Soldaten, Seeleuten und Flüchtlingen von einem Kriegsschauplatz zum anderen brachte in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts das Gelbfieber aus der Karibik nach Europa, insbesondere nach Spanien, aber auch nach Italien, in die Niederlande und nach Mitteleuropa.[86] Aus Russland zurückkehrende deutsche Soldaten brachten den Typhus mit, der 1813/14 nach der Völkerschlacht erneut aufflammte und an dem ein Zehntel der Bevölkerung Deutschlands erkrankte.[87] Eine weitere Plage, welche die herumziehenden Heere mitbrachten, waren Viehseuchen. Schließlich gab es die Deserteure. Die Desertionsquote war hoch: In der Grande Armée lag sie bei 10 Prozent. Deserteure taten sich zusammen und überfielen Ortschaften. Außerdem füllten sie die Reihen von Räuberbanden, die am Anfang des 19. Jahrhunderts ihre letzte große Zeit in Mitteleuropa erlebten.[88]

Auf den Kopf gestellt

Flucht und Entwurzelung waren verbreitete Kennzeichen der Revolutionsära. Loyalisten flohen aus den Vereinigten Staaten, französische Adlige gingen ins Exil, deutsche Revolutionsanhänger, die nach Paris gereist waren, flohen vor dem Terror oder trafen nach diesem auf der Flucht vor deutschen Behörden in Frankreich ein. Widerstrebende Soldaten wurden aus ihrem Zuhause gerissen, manche desertierten. Unterdessen flohen Zivilisten vor Besatzungstruppen entweder in eine Nachbarstadt oder in die Wälder. Dies sind dramatische Beispiele der Entwurzelung.

Aber diese Erfahrung war noch wesentlich weiter verbreitet, um nicht zu sagen alltäglich. Man denke nur an die Mönche und Nonnen, die aus säkularisierten religiösen Einrichtungen vertrieben wurden, oder den Lehrkörper und die Studenten katholischer Universitäten, die das gleiche Schicksal ereilte.[89] Andere katholische Institutionen wurden Opfer französischer Kulturplünderei. Mehr als 6000 Zeichnungen und fast 27 000 Drucke aus der Sammlung der Kölner Jesuiten wurden nach Paris in den Louvre oder die Nationalbibliothek gebracht.[90] Dann waren da die für den Dienst in einem der vielen winzigen Territorien des Heiligen Römischen Reichs ausgebildeten Kämmerer, Beamten und Diplomaten, die über Nacht ihre Stellung verloren hatten, weil es ihre Kleinstaaten nicht mehr gab. Es war ein für den Einzelnen grausames Beispiel dafür, wie ein Weltbild seine Welt verliert.[91] Das traf für eine Vielzahl von altehrwürdigen Institutionen im Flickenteppich des deutschen Ancien Régime zu – für Zunftmeister, die ihre Zunft, Statthalter, die ihre Funktion, Wohlfahrtsempfänger religiöser Einrichtungen, die ihre Wohltäter verloren.[92] Über die Hälfte der Mitteleuropäer wurde buchstäblich entwurzelt, da sie im Zuge der wechselnden Besitzverhältnisse in ihren Territorien und neu gezogener Grenzen zu Untertanen neuer Herrscher wurden.

Es gab Gewinner und Verlierer dieser umstürzenden Entwicklung. Zu Ersteren gehörten diejenigen, die den neuen Machthabern dienten. Georg Friedrich Rebmann, der einstige Revolutionär in Paris, nahm nach seiner Rückkehr ins jetzt zu Frankreich gehörende Rheinland seine Anwaltstätigkeit wieder auf und trat eine Stellung in einem Stadtrat an. Als wäre sein Leben in den 1790er-Jahren nicht schillernd genug gewesen, hatte er den Vorsitz im Mainzer Prozess gegen den berühmtesten Räuber der Zeit, den »Schinderhannes« Johannes Bückler, dessen Hinrichtung im Jahr 1803 rund 30 000 Zuschauer anlockte. Beamte waren normalerweise Nutznießer der Veränderung, da der Staatsaufbau höhere Gehälter und Pensionen und mehr gesellschaftliches Ansehen mit sich brachte – zumindest für jene, welche die strengeren Auswahl- und Beförderungsprozeduren überstanden. Kaufleute und Fabrikanten profitierten, wie ihre Pendants in Frankreich, von institutionellen Veränderungen, die Restriktionen ihrer geschäftlichen Aktivitäten abschafften.[93] Außerdem waren sie unter denjenigen, die ehemaliges Kircheneigentum erwarben, stark vertreten. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass frühere Klöster zu Lagerhäusern oder Kohledepots wurden. Auch der sich hinziehende, schrittweise erfolgende Prozess der Emanzipation der Juden in deutschen Landen begann in diesen Jahren.[94] Die deutsche Version des französischen Grundsatzes »carrière ouverte aux talents« (Napoleon) nutzte allen, die fähig waren, sich aus eigener Kraft hochzuarbeiten, denen aber unter dem Ancien Régime der Geburtsvorteil oder die Beziehungen für den Aufstieg gefehlt hätten. Dies betraf nicht nur Unternehmer und Gebildete. Es konnte auch für einen Handwerker gelten, der vom Zunftsystem behindert worden war, weil sein Urgroßvater Schäfer gewesen war, das heißt einen »unehrenhaften« Beruf ausgeübt hatte.[95]

Es gab also keine einheitliche »deutsche« Erfahrung der Revolutionsära und dementsprechend auch keine einheitliche Reaktion auf sie. Es hing viel davon ab, wer man war, wo man lebte und von welcher Zeit man genau spricht. In Hamburg beispielsweise löste die Französische Revolution bei Kaufleuten und Angehörigen der gebildeten Elite anfangs Begeisterung aus. Hamburger Patrizier pflanzten Freiheitsbäume und feierten den ersten Jahrestag der Erstürmung der Bastille. Aber der Abscheu gegenüber dem Terror, der ihre girondistischen Freunde das Leben kostete, und soziale Unruhe zu Hause änderten ihre Einstellung. Weitet man den Blickwinkel, sieht man, dass die Stadt während der Revolutionsära große Höhen und Tiefen durchlebte. Der Aufstand der amerikanischen Kolonien war ein Segen, denn er öffnete amerikanische Häfen für den direkten Handel mit den Hanseaten. Doch die britische Blockade französischer Häfen und Napoleons daraufhin verhängtes Embargo gegen den britischen Handel versperrten sie wieder. Die negativste direkte Erfahrung mit den französischen Ereignissen machte Hamburg nach 1806: das traumatische Erlebnis der französischen Besetzung der Stadt. Die »Franzosenzeit« war zwar nur kurz, hinterließ aber bittere Erinnerungen, die noch lange lebendig blieben.[96] Das Rheinland dagegen erlebte zwar in den 1790er-Jahren die volle Last französischer Abgabeforderungen, aber nach dem Anschluss an Frankreich wurde das Leben leichter.

Die Bilanz der Erfahrungen mit dem revolutionären Aufruhr fällt je nach Zeitspanne unterschiedlich aus. Die französische Zwangsverpflichtung von Deutschen zur Arbeit an Bauprojekten war für die Betroffenen hart, aber bessere Straßen nutzten langfristig allen. Manche deutschen Regionen erlitten durch Napoleons Handelsembargo kurzfristig einen wirtschaftlichen Schaden, aber auf lange Sicht profitierten viele aufkeimende Industrien vom Wegfall der britischen Konkurrenz. Manchmal war Not die Mutter der Erfindung: So verliehen ausbleibende Rohrzuckerimporte der heimischen Zuckerrübenverarbeitung Auftrieb. Der Abbau eines großen Teils der alten Sozialordnung, ob nun durch die Franzosen oder deutsche Reformer, brachte momentane Härten mit sich, setzte aber bisher unterdrückte soziale Kräfte frei.

Das politische Erbe der Revolutionsära war ähnlich gemischt. Die Französische Revolution schuf sowohl ein politisches Vokabular von Nation, Recht und Freiheit als auch neue politische Symbole – die Trikolore, den Freiheitsbaum. Beides spielte in der deutschen Geschichte nach 1815 eine wichtige Rolle, ebenso wie der Napoleonkult, der in Form von Flugblättern, in Gasthäusern ausgebrachten Trinksprüchen auf den früheren Kaiser und Liedern fortbestand.[97] Aber die Französische Revolution war auch für die Entstehung eines modernen Konservatismus verantwortlich, mit eigenen Bezugspunkten – dem »Historischen« und dem »Organischen« – und eigenem Vokabular – Hierarchie, Ordnung, Glaube –, zu dessen charakteristischen Registern die Nostalgie gehört.[98] Eine nicht zu erwartende, unbeabsichtigte Folge der Revolution war die Stärkung religiöser Institutionen, insbesondere der katholischen Kirche. Die radikale Revolution diskreditierte gemäßigte Kirchenreformer und stärkte Traditionalisten. Gleichzeitig machte die Säkularisierung ihres Eigentums die Kirche zu einer weniger privilegierten Institution, die mit mehr Plausibilität behaupten konnte, volksnah zu sein. Manche Abtrünnige der Revolution wurden zu politischen Advokaten der katholischen Sache, die sich umso eifriger für sie einsetzten, da sie eine jakobinische Phase durchgemacht hatten (ähnlich wie später Ex-Kommunisten die Seiten wechselten). Der Rheinländer Joseph Görres ist ein gutes Beispiel dafür.[99]

Das von Frankreich Gelernte löste sich häufig von seinem Ursprung. Dies trifft insbesondere auf den Nationalismus zu, der als deutsche Angelegenheit adaptiert wurde. Gewiss schufen spätere Nationalisten viele Mythen über den »nationalen Befreiungskrieg« von 1813 gegen Napoleon, der aus einer Reihe wesentlich konventionellerer Schlachten bestand, als sie es darstellten. Aber der Bezug auf die »Nation« vervielfachte sich in diesen Jahren. Die preußischen Reformer beriefen sich auf den nationalen Geist und das Nationalbewusstsein, und obwohl sie mit der »Nation« in der Regel nicht Deutschland, sondern Preußen meinten, waren ihre Appelle zweideutig, und die beiden Bedeutungen überlappten sich.[100] Manche jüngere deutsche Intellektuelle vertraten einen kämpferischeren, antifranzösischen Nationalismus. Das nationalistische Gefühl war durch das Verschwinden des Heiligen Römischen Reichs bedingt, wurde von zunehmendem Interesse an deutscher Sprache und Tradition befördert und durch die französische Besatzung geschärft.[101] Gelegentlich glich es einem regelrechten Wutausbruch. »Ich hasse alle Franzosen ohne Ausnahme im Namen Gottes und meines Volkes«, brach es aus dem Schriftsteller und Historiker Ernst Moritz Arndt heraus. Dennoch erklärte er, dass es undankbar und heuchlerisch wäre, nicht anzuerkennen, was die Deutschen »dieser wilden und tollen Revolution« verdankten, die »ein reiches Feuermeer des Geistes ausgegossen« habe.[102]

Eine französische Lehre wirkte lange nach: die Lehre des Terrors. Aber die Deutschen verstanden sie auf unterschiedliche Weise. Liberale, die Erben der Sympathisanten der Girondisten in den 1790er-Jahren, forderten Reformen, da ihr Ausbleiben zur Revolution führen würde. Konservative vertraten die entgegengesetzte Ansicht, dass Reformen die Ordnung untergrüben und der Gewalt den Weg ebneten. Manche wechselten von einem Lager ins andere, wie der sprunghafte Schriftsteller und spätere Diplomat Friedrich von Gentz. Als die Französische Revolution ausbrach, war er 25 Jahre alt und zunächst begeistert, doch dann folgte der bekannte Weg der Desillusionierung. 1794 übersetzte er Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France ins Deutsche und wurde zum Verfechter des britischen liberalen »Gradualismus«. Nach 1815 wurde er jedoch immer konservativer und diente als rechte Hand des österreichischen Kanzlers Klemens von Metternich. Während seiner liberalen Phase schrieb er ein Buch, in dem er die Amerikanische und die Französische Revolution miteinander verglich.[103] Mit seinem Lob der Mäßigung der einen und der Verurteilung der Gewalt der anderen befand er sich im Einklang mit dem größten Teil der öffentlichen Meinung in Deutschland um 1800.

Die Ereignisse jenseits des Atlantiks dienten, wenn auch nur im Rückblick auf die 1790er-Jahre, als Folie der deutschen Rezeption der Französischen Revolution. Die Amerikanische Revolution, hob man hervor, sei weniger blutig verlaufen und stärker praxisorientiert gewesen als die Französische – weniger »metaphysisch«, wie einer ihrer Bewundernder es ausdrückte.[104] Dies war ein ständig wiederkehrendes Thema, als nach 1815 der Umfang der Literatur über die Vereinigten Staaten zunahm, einschließlich von Aufsätzen in der Neuen Welt gewidmeten Zeitschriften wie Columbus und Atlantis. Insbesondere Liberale interessierten sich für die Vereinigten Staaten, und zwar aus denselben Gründen, aus denen sie Großbritannien als potenzielles Modell ansahen: wegen der Betonung des Konstitutionalismus, der Individualrechte, der religiösen Toleranz und der Rechtsstaatlichkeit. Aber die Vereinigten Staaten waren auch ein Beispiel für den Aufbau eines neuen Staats von Grund auf, ähnlich wie es bei den deutschen Staaten nach 1815 der Fall war. Das Hauptkennzeichen der Amerikanischen Revolution – »wir, das Volk«, die Volkssouveränität – wurde aus dem deutschen liberalen Diskurs allerdings ausgeblendet; in radikalen und demokratischen Kreisen fand es dagegen Beachtung. Die postrevolutionären deutschen Liberalen stimmten trotz ihrer Sympathie für das amerikanische Experiment mit den Konservativen weitgehend darin überein, dass deren Institutionen nicht einfach nach Deutschland »verpflanzt« werden könnten. Was für ein grobschlächtiges, kräftiges Volk in einem weiten, geschichtslosen Land passe, so ihr Argument, sei für eine alte Gesellschaft nicht unbedingt das Richtige. Dieselbe Schlussfolgerung zogen die Liberalen auch aus den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfen.[105]

Dem widersprachen die Radikalen. Diese Ereignisse von »weltgeschichtlichem Interesse« – der Begriff wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts häufig verwendet – waren in ihren Augen, dem Politischen Journal von 1815 zufolge, »Keime besserer Zukunft«. Die »große Revolution« in Südamerika werde »vielleicht früher, als Manche bedenken möchten, das Europäische Mutterland in ihre gewaltige[n] Wirbel« reißen.[106] Manche wollten das Tempo der Weltgeschichte diesem Wirbel entsprechend beschleunigen. Südamerika wurde zum Ort deutschen Radikalismus. In den Jahren nach 1815 kämpften Hunderte Deutsche in Simón Bolívars Legionen, andere im uruguayischen Unabhängigkeitskrieg sowie in zwei republikanischen Aufständen in Südbrasilien. Die Deutschen, die im zweiten dieser Aufstände, der Guerra dos Farrapos – dem Krieg der Zerlumpten –, an der Seite Giuseppe Garibaldis fochten, taten es unter der schwarz-rot-goldenen Fahne. Diese »entwurzelten« radikalen deutschen Nationalisten sind zwar weit weniger bekannt als die deutschen Parispilger von 1789/90 oder die Deutschen, die der Terror mit Abscheu erfüllte, aber ebenso ein Teil der politischen Hinterlassenschaft der Revolutionsära und ein Strang des deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts.