3
Es musste einst ein Kinderzimmer gewesen sein, das sich ruhig oben unter das Dach schmiegte, denn unter dem schlichten Weiß der Decke erkannte Catherine noch schattenhaft ein Muster von Sternen und Mondsicheln, dazu bestimmt, ein Baby in einer Wiege zu verzaubern. Doch das musste lange her sein in Anbetracht der Gipsstaubwehen, die sich wie Zuckerguss an der Sockelleiste angehäuft hatten. Auch der Fußboden war nicht für Kinderfüße geeignet; er bot keinen Schutz außer einem dünnen Teppich vor dem schmalen Bett. Die Tür war von außen mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert, das selbst der wildeste Racker nicht hätte knacken können. Nein, das war kein Kinderzimmer mehr. Allerdings auch kein sehr sicheres Gefängnis.
Sie waren mindestens eine Stunde lang unterwegs gewesen; zuerst langsam, durch die niemals leeren Straßen Londons, dann schneller, nachdem sie die Hauptstadt hinter sich gelassen hatten. Catherine vermutete, dass sie sogar etwas über eine Stunde gefahren waren, doch man hatte ihr die Armbanduhr abgenommen, und sie hatte nicht die Geistesgegenwart besessen, die Sekunden mitzuzählen. Außerdem war sie ohnmächtig geworden, als man sie in den Wagen geworfen hatte. Zum Teil wegen Sean Donovans
Umklammerung, bei der er ihr den Hals – die Schlagader? – zugehalten hatte. Dazu kamen noch der Schreck und die Hitze und, verrückterweise, ein flüchtiger Moment der Erleichterung, weil sie wusste, dass das Schlimmste geschehen war und sie sich nicht mehr davor zu fürchten brauchte. Ihr war schwindelig und dann schwarz vor Augen geworden. Daher hatte sie unterwegs weder Kurven gezählt noch auf akustische Orientierungssignale geachtet. Wenn Kirchenglocken geläutet hätten, wären sie ungehört ertönt. Falls der Van an einem Wasserfall vorbeigefahren wäre, hätte sie es nicht bemerkt.
Es waren noch zwei andere Männer dabei, von denen einer fuhr, dazu Sean selbst, der sie von der Straße aufgelesen hatte wie einen Sack Recyclingmüll, und ein dritter, der Soldat, den sie an der U-Bahn hatte herumlungern sehen. Dass er ihr aufgefallen war, so wurde ihr jetzt klar, lag nicht daran, dass er sich falsch verhalten hatte: Es war Teil des Plans gewesen, dass sie ihn bemerkte und sich abwandte. Denn was hätte ihnen der Van in der U-Bahn genutzt?
Nach ihrer Ankunft hatte sie, wie alle Gefangenen, zunächst das Fenster überprüft. Es befand sich in einer Dachgaube und hatte kleine Butzenscheiben. Verschlossen war es mit einem einfachen Riegel, und es war groß genug, dass sie leicht hindurchgepasst hätte. Außen vor dem Rahmen waren allerdings Eisenstangen eingelassen, und ein kurzes Rütteln hatte ihr klargemacht, dass sie sich keinen Millimeter bewegen würden. Nicht dass sie körperlich in der Lage gewesen wäre, an der Außenfassade eines Hauses hinunterzuklettern. Es war nicht das sicherste Gefängnis, aber das musste es auch nicht sein – sie war eine Frau mittleren
Alters, die nie im Außeneinsatz gewesen war; eine trockene Trinkerin, persönliche Assistentin eines Chefs, der auf dem besten Weg zum Alkoholiker war. Warum hatten die es ausgerechnet auf sie abgesehen? Und wer, Sean Donovan eingeschlossen, waren die überhaupt?
Sie konnte sich zwar nicht hindurchquetschen, aber öffnen konnte sie das Fenster zumindest, und ein leiser Hauch wehte herein – eine Brise konnte man es nicht nennen. In der Ferne brummte Verkehr, aber die Straße war von hier aus nicht zu sehen. Catherine hatte das Gefühl gehabt, dass sie eine Autobahn entlanggefahren waren, aber auch das war kein konkreter Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Etwa eine Stunde vom Zentrum Londons entfernt, irgendwo an einer Autobahn … Es musste ein freistehendes Haus auf dem Land sein, abgelegen in Anbetracht der Dunkelheit ringsum.
Im Van hatte man ihr die Augen verbunden, sie geknebelt und ihr die Hände gefesselt, aber das alles keineswegs grob – es hätte auch ein Sexspiel gewesen sein können, der Auftakt zu einer Party. Mehr war während der ganzen Fahrt nicht passiert. Sie hatte überlegt, wild um sich zu schlagen und zu treten, aber was hätte das genutzt? Es war besser, ihre Kräfte für das aufzusparen, was ihr bevorstand.
Nachdem sie die Autobahn verlassen hatten, war der Untergrund schnell uneben geworden: Abfahrt, Landstraße – sie hörte Büsche an der Karosserie des Lieferwagens kratzen. Dann knirschte Kies, und sie schaukelten durch Schlaglöcher und über Bodenwellen. Der Van hatte abrupt angehalten, ohne vorher in eine Garage oder Ähnliches rangiert zu werden. Man hatte ihre Fesseln gelöst, aber die
Augenbinde nicht, und jemand half ihr beim Aussteigen, ein starker Arm – nicht Donovans – um ihre Taille, bis ihre Füße den Boden berührten. Dann war sie draußen in der Landluft, die weicher, grüner und aromatischer war als die in der Stadt, aber gleich ging es hinein in ein Haus mit Holzböden, auf denen ihre Spangenpumps klapperten und ein schwaches Echo erzeugten.
»Vorsicht, Treppe.«
Wieder nicht Donovan.
Es kam eine Treppe, dann kamen noch zwei weitere; insgesamt drei Stockwerke. Und schließlich war sie hier, in diesem ehemaligen Kinderzimmer, und die Augenbinde wurde ihr abgenommen.
»Ihr Quartier.«
Es war der andere Soldat, der vor der U-Bahn gestanden hatte: aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Donovan. Bevor sie Zeit für eine genauere Analyse hatte, war er weg. Sie hörte, wie er das Vorhängeschloss anbrachte und dann nach unten ging.
Hier war sie also. Sie hatten ihr die Tasche abgenommen: Geld, Taschentücher, Lippenstift, E-Reader, Reisepass, andere Utensilien; ihr Handy natürlich auch. Und ihre Uhr. Sie hatten sie aber nicht durchsucht, was leicht ihr Verderben hätte werden können, wenn sie die Gewohnheit gehabt hätte, eine versteckte Waffe zu tragen, oder die Mittel, um eine zu improvisieren. Und noch immer hatte sie keine Ahnung, was sie wollten … Jetzt drang ein ganz schwacher Luftzug durch das geöffnete Fenster. In der Ferne waren Hügel zu sehen, eine sternenlose Masse, die den Himmel blockierte. Ein paar Lichter glommen weiter weg, wohl
von anderen Häusern; dazu ein helleres, konzentrierteres Leuchten, wahrscheinlich von einer Tankstelle, die die nahegelegene Autobahn versorgte. Alles deutlich sichtbar. Fast ein Amateureinsatz, wenn Sean Donovan nicht beteiligt gewesen wäre. Niemand konnte ihn als Amateur bezeichnen.
Als sie sich in der unmittelbaren Umgebung umblickte, konnte sie andere Gebäude ausmachen, im Licht, das durch die Fenster im Erdgeschoss fiel, schemenhaft erkennbar. Sie sahen aus wie Nebengebäude – Scheunen? –, was sie als weiteres Indiz deutete, dass dies ein Bauernhaus war. Und noch etwas anderes erkannte sie in der Dunkelheit, ein Fahrzeug in der Größe und Form eines Londoner Busses, eines der alten Routemaster, die entweder außer Betrieb waren oder kurz davor standen, wiedereingeführt zu werden, je nachdem, wie die Verkehrspolitik an einem bestimmten Morgen aussah. Eine weitere Zutat in diesem bizarren Mix. Was war hier los?
Sie bezweifelte, dass es etwas Persönliches war. Donovan würde kaum eine Crew zusammenstellen, um eine Exfreundin zu entführen. Oder besser: nicht mal Freundin; eine alte Bettgeschichte. Es musste einen anderen Grund geben. Er wusste, dass sie nicht mehr im Park arbeitete, weil er das gesagt hatte in der Aldersgate Street. Was wusste er über Slough House? Dachte er, es sei wichtig? Wenn ja, dann stand ihm eine herbe Enttäuschung bevor.
Es gab eine zweite Tür auf der anderen Seite des Zimmers, und Catherine probierte sie aus, in der Erwartung, sie sei verschlossen, aber sie ließ sich problemlos öffnen. Ein Badezimmer: Toilette, Waschbecken, Badewanne. Es hing
kein Schrank an der Wand, doch Schraubenspuren und ein etwas helleres Rechteck auf dem Magnolienweiß deuteten darauf hin, dass es einmal einen gegeben hatte: Tja, dachte sie. Gib einer Frau einen Spiegel, und sie kann sich ein Messer daraus machen. Vermutlich hatten ihre Kidnapper ähnlich über das Gefahrenpotential von Shampoo, Zahnpastatuben, Haarspraydosen et cetera gedacht, denn der einzige Toilettenartikel, abgesehen von einer Rolle Klopapier, war ein noch eingepacktes Stück Seife in Hotelgröße. Steckte man eine Haarnadel hinein, erhielt man eine Einwegstichwaffe, aber erstens hatte Catherine keine Haarnadel, und zweitens ging sie davon aus, dass selbst ein Pfadfinder sie ihr problemlos hätte abnehmen können.
Im Bad gab es ebenfalls ein Fenster, ein Oberlicht, aber auch dieses war vergittert und ohnehin unerreichbar.
Sie kehrte ins Zimmer zurück. Es kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht versuchen sollte, ein wenig Schlaf zu kriegen, da sie sonst wenig tun konnte, außer hin und her zu laufen und ihre Ängste zu kultivieren, aber sie entschied sich dagegen. Schlafen hieß, sich verletzlich zu machen. Momentan war sie wenigstens Herrin über ihre Sinne, wenn auch sonst über wenig. Sie beschloss, sich hinzusetzen und abzuwarten. Früher oder später würde sie mehr erfahren. In der Zwischenzeit würde sie weiterhin sie selbst sein: nüchtern, ungebeugt und so strukturiert, wie es die Situation erlaubte.
Es dauerte vielleicht eine halbe Stunde, bis jemand kam. Catherine hatte das Licht ausgeschaltet, um sich mit dem Blick durch das Fenster vertraut zu machen, aber im
Dunkeln kamen ihr auch keine großen Erleuchtungen. Als sie Sean Donovan zum ersten Mal traf, so erinnerte sie sich, war er als Verbindungsmann tätig gewesen; er hatte an einem Meeting mit Charles Partner, ihrem früheren Vorgesetzten und damaligen Chef des Sicherheitsdienstes, sowie verschiedenen anderen hohen Tieren teilgenommen, einige von Down the Corridor,
wie Westminster im internen Jargon genannt wurde; andere von Over the River,
wo angeblich der Auslandsgeheimdienst untergebracht war. Er hatte ihr als Einziger der Anwesenden in die Augen geschaut, als sie morgens die Unterlagen austeilte. Und so hatte eines zum anderen geführt, wie es eben meistens so lief, damals.
Als sie jetzt hörte, wie sich jemand am Vorhängeschloss zu schaffen machte, nahm sie an, dass er es sein würde, aber der Mann, der eintrat, war ein Fremder; weder Donovan noch der andere Soldat, sondern ein dritter Mann: jünger, stämmig. Er trug ein ehemals weißes, kurzärmeliges Hemd, und über seine Arme schlängelten sich Tattoos, die auch aus dem Kragen hervorschauten und den Hinterkopf emporkrochen. Er hielt etwas in seiner Hand, genau genommen zwei Dinge. Das eine waren die Handschellen, die sie im Wagen hatte tragen müssen, und das andere war ein Handy – es sah aus wie Catherines eigenes.
»Legen Sie die an.« Er ließ die Handschellen baumeln.
»Warum bin ich hier?«
»Lady, legen Sie einfach die Handschellen an. Und das hier.«
Er zog den Knebel aus seiner Gesäßtasche.
»Ist das mein Handy?«
»Ja.«
Er verschliff die Vokale ein wenig, stellte sie fest: nordenglisch. Sie war zwar keine Expertin für Dialekte, glaubte aber, dass er eher aus dem Nordwesten als dem Nordosten stammte. Ferner fiel ihr auf, dass sie selbst als Reaktion darauf akzentuierter sprach und mehr nach BBC
klang. Ob Lamb inzwischen auf sie abgefärbt hatte? Das sähe ihm ähnlich.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Ernsthaft?«
»Einen Versuch war’s wert.«
Er sagte: »Lassen Sie uns einfach die Handschellen anlegen, okay?«
Catherine erwiderte: »Nun ja, da es wohl dazugehört …«
Sie hielt ihm ihre Handgelenke hin; dann beugte er sich über sie, um ihr den Knebel um den Mund zu binden. Dabei stieg ihr sein Körpergeruch in die Nase – Schweiß, nur unzulänglich von seinem Deodorant überdeckt, das fast noch krasser roch. Als er fertig war, trat er zurück und richtete ihr iPhone auf sie. Sie blieb still sitzen, während er sie fotografierte, das Ergebnis begutachtete und zufrieden nickte. Guter Gott, für wen hielt der sich?
Vielleicht las er etwas davon in dem leeren Blick, den sie ihm zuwarf, denn während er ihren Knebel löste, sagte er: »Ich wollte es mir nur mal ansehen.«
»Danke, David Bailey.«
»Häh?«
»Ach, nichts.« Doch für sie war er jetzt Bailey, und das gefiel ihr. Informationen, selbst die, die man sich selbst ausdachte, gaben einem das Gefühl, weniger ausgeliefert zu sein.
Er nahm ihr die Handschellen ab und ging, wobei er das Vorhängeschloss wieder verriegelte. Sie fragte sich, wie spät es war, entschied sich für nach Mitternacht und überlegte, ob sie vorhatten, ihr etwas zu essen zu geben. Sie war nicht hungrig, aber wenn sie sie versorgen wollten, musste ihr irgendjemand etwas bringen, und vielleicht würde sie aus demjenigen mehr herausbekommen … Während sie darüber nachdachte, dass sie keinen Hunger hatte, bekam sie stattdessen Durst; sie kehrte zurück ins Badezimmer und trank Wasser aus der hohlen Hand. Wo wäre sie jetzt normalerweise? Zu Hause, wahrscheinlich schlafend im Bett. Sie schlief nicht immer gut. In manchen Nächten hörte sie bis spätabends Musik, aber leise. Der Alkohol hatte früher selbst die härtesten Tage weichgespült. Heute war sie auf andere Annehmlichkeiten angewiesen, und die Tage wurden nie mehr richtig glatt.
Sie musste geschlafen oder zumindest gedöst haben, denn das Geräusch der sich öffnenden Tür erschreckte sie und brachte sie mit wild klopfendem Herzen wieder zu sich. Sie setzte sich so schnell auf, dass ihr der Kopf schwirrte.
Diesmal war es Donovan.
Zunächst sagte er nichts, sondern sah sich nur im Zimmer um, als hätte sie eine Kaution hinterlegt und er suche nach Gründen, sie ihr nicht zurückzugeben. Während er das tat, prüfte sie ihn auf Anzeichen von Schuldgefühlen. Er hat welche, dachte sie. Was auch immer hier vor sich ging, er fühlte sich zumindest wegen dieser Sache hier mies.
Als er sie endlich ansah, waren seine Augen immer noch gewittrig blau.
Sie sagte: »Bailey hat nicht viel verraten.«
»Bailey?«
»Insiderwitz.«
»Freut mich, dass du Freunde findest. Ich dachte, du hättest das aufgegeben.«
»Ach, geht es hier etwa darum? Hast du mich all die Jahre leidenschaftlich vermisst, Sean?«
»Denkst du das etwa?«
»Ich weiß noch nicht, was ich denken soll. Was ist bloß mit dir passiert?«
Er lachte oder so ähnlich, er stieß einen Laut aus, der vage amüsiert klang. »Wir sind beide ganz schön runtergekommen, stimmt’s?«
»Ach, mir geht’s eigentlich ganz gut. Aber du – du siehst ziemlich mitgenommen aus.«
Er blickte an sich herunter.
»Nicht deine Kleidung, Sean. Du selbst. Du bist nicht der Mann, den ich früher gekannt habe. Es ist, als hättest du ein schleichendes Gift genommen.«
»Ein schleichendes Gift.«
Sie antwortete mit ihrem charakteristischen Schulterzucken, mit den Handflächen nach oben, um zu zeigen, dass sie nichts zu verbergen hatte.
»Ganz die Dame, was? Jetzt, wo du vom Alkohol weg bist.«
Seine Bewegungen wirkten lockerer als vorher, als wären seine Gelenke geölt worden. Schon allein daran hätte sie erkannt, dass er getrunken hatte, selbst wenn sie es nicht gerochen hätte. Sie stellte ihn sich im Erdgeschoss vor, das sie nicht gesehen hatte. Ein gemütliches, etwas schäbiges
Zimmer, das auf den Hof mit den Nebengebäuden und dem Doppeldeckerbus blickte, falls es tatsächlich einer war. Ein Büfett, eine Hausbar: noch aus den Fünfzigern. Er hatte sich aus einer geschliffenen Glaskaraffe eingeschenkt und den Drink in einem Zug geleert, dann hatte er sich einen zweiten gegönnt, um ihn mit mehr Ruhe zu genießen. Merkt keiner, hatte er sich dabei gedacht, denn das dachten alle. Genau wie Raucher, die den Mief an ihrer Kleidung nicht riechen konnten, glaubten Trinker grundsätzlich, der Alkohol verändere sie nicht.
Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Trinkergedanken bewirkten das manchmal bei ihr.
Sie löste die Fäuste und strich über ihren Rock, als wären dort Krümel. Ihre Bewegungen hatten etwas sehr Präzises, und das schien ihn zu reizen.
»Zugeknöpft bis obenhin. Man sieht dir gar nicht mehr an, was wir in den alten Zeiten alles getrieben haben.«
»Ich bin Alkoholikerin, Sean«, erwiderte sie ruhig. »Ich hatte viele Zeiten und habe vieles getan, was ich heute nicht mehr tun würde.«
»Weil du dir jetzt zu gut dafür bist.«
»Es geht nicht darum, ob ich gut bin oder nicht.«
»Aber du warst gut. Auf dem Rücken oder auf den Knien, du warst immer gut.«
Er wartete darauf, dass sie etwas entgegnete, aber sie sagte nichts. Sie sah ihn nur unbeirrt an, blieb einfach die, die sie jetzt war, statt diejenige, die sie damals gewesen war, und gab ihm zu verstehen, dass sie keine Scham oder Selbstverachtung empfand. Nur die Entschlossenheit, nie wieder diese Person von früher sein zu wollen.
Erst als er den Blick abwandte, sprach sie.
»Was willst du, Sean? Wenn ihr mit einem Lösegeld rechnet, werdet ihr bitter enttäuscht werden, aber wie dem auch sei, was bringt dich zu mir nach oben? Ein Plausch über das Wetter?«
Das schien ihn aus irgendeinem Grund zu amüsieren. Doch dann antwortete er: »Ich bin hier, um herauszufinden, wem du vertraust.«
»Ich bin nicht in der Stimmung für dieses Gespräch.«
»Das ist keine Unterhaltung. Es ist nur eine Frage. Welchem deiner Kollegen würdest du dein Leben anvertrauen?«
»Mein Leben«, wiederholte sie tonlos.
Er reagierte nicht.
Sie sagte: »Ich habe dir vertraut. Zählt das auch?«
»Jemand aus Slough House«, entgegnete er. »Ich brauche einen Namen. Longridge? Cartwright? Guy?«
Es ging also nicht um sie. Es ging um Slough House.
Genau genommen wahrscheinlich um Jackson Lamb.
»Catherine?«
Sie nannte ihm einen Namen.
Er ging und schloss die Tür hinter sich ab. Noch lange danach blieb sie in der gleichen Position sitzen: aufrecht, die Hände auf den Knien gefaltet. Wie eine verrückte Gouvernante eben und nicht nur das: eine verrückte Gouvernante, die auf einem Dachboden eingesperrt war. Das würde Shirley Dander zum Lachen bringen, falls sie die Anspielung auf Jane Eyre
kapierte.
Doch nach einer Weile legte sich Catherine auf das Bett, und wiederum eine Weile später schlief sie ein.
Wie viele Meilen entfernt und in welcher Richtung auch immer, Slough House kochte in der morgendlichen Hitze. Alle waren um neun Uhr im Büro, alle außer Catherine und Lamb, und die ungewöhnliche Abwesenheit Catherines wirkte wie ein schriller Missklang – jedenfalls für River, und als er am Wasserkocher stand und sich eine Tasse Instantkaffee aufgoss, fragte er Louisa, die gerade eine Kanne echten Kaffee brühte, ob sie wisse, wo ihre Kollegin sei.
Sie antwortete nicht.
»Louisa?«
»Was ist?«
»Hast du Catherine gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Warum machte er sich überhaupt die Mühe? Seit Mins Tod war sie eine wandelnde Zeitbombe: nicht besonders gesprächig, aber wenn man genau aufpasste, konnte man das Ticken hören.
River nahm seine Tasse mit in sein Büro und dachte daran, dass ihm ein weiterer Tag bevorstand, an dem er alte Passanträge studieren würde. Sie waren gescannt und in eine Datenbank eingespeist worden, die dermaßen in allen Fugen ächzte und krachte, dass man, wäre sie ein Schiff, die Ratten in Scharen hätte flüchten sehen. Er nahm einen Kugelschreiber und klopfte damit gegen seine Vorderzähne. Achteinhalb Stunden lang, abzüglich dessen, was er als Mittagspause rausschlagen konnte. Fünfmal so viel in einer Woche, achtundvierzig Wochen in einem Arbeitsjahr … Wenn er richtig reinhaute, würde er diese Aufgabe vor seinem vierzigsten Geburtstag erledigen. Dann könnte er beides auf einmal feiern.
Oder er könnte sich einfach mit einem Locher zu Tode prügeln.
Er nahm einen zur Hand, drückte ihn rhythmisch zusammen wie einen Anti-Stress-Ball und ging zum Fenster, dessen goldener Schriftzug W.W. HENDERSON
, ANWALT UND NOTAR
den Passanten auf der Straße eine plausible Antwort auf die Frage vorgaukelte, welche armen Irren hier drin schuften mochten. Der Locher in seiner Hand knackte. Er hörte, wie sich die Tür unten öffnete und schloss, dachte: Catherine,
und dann: nein. Sie schwebte die Treppe hinauf wie ein Geist. Lamb konnte das auch, wenn ihm danach war, doch heute Morgen machte er sich so penetrant bemerkbar wie üblich: Mit der Anmut eines Nilpferdes, das eine Schubkarre lenkt, stampfte er durchs Treppenhaus. Er polterte an Rivers Büro vorbei, dann weiter in sein eigenes ein Stockwerk darüber, und dies war nur der Aufmarsch zu einer One-Man-Band-Performance: die furzende, fluchende, möbelklappernde Ouvertüre des Tages. River kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, wo der Stapel von Passanträgen gewachsen war, während er ihm den Rücken zugedreht hatte. Er würde nicht von allein verschwinden, und ehe er ihn nicht abgearbeitet hatte, konnte er auch nicht weg. Er hatte gerade erst das oberste Blatt vom Stapel gepflückt, als ihm auffiel, dass die erwartete Überkopfsinfonie nicht eingesetzt hatte und dass die stattdessen folgende Stille derjenigen glich, bevor ein Baum umstürzte … Er stand auf. Als das Stampfen begann, war er schon halb aus der Tür.
Lamb beäugte seine Mannschaft – manche sagten »Team«, er zog »Lakaien« vor – mit einem arglistigen Auge; das
andere hatte er gegen den Rauch seiner Zigarette zugekniffen. Die Jalousien waren wie üblich heruntergelassen, aber das Sonnenlicht hatte einen kleinen Einfallswinkel gefunden und malte augenblicklich Streifen an die Wand und über die Köpfe und Schultern besagter Lakaien, die sich wie Verdächtige in einem altmodischen Film zusammendrängten.
Mit der gleichen Hand, in der er die Zigarette hielt, schwenkte Lamb ein Plunderteilchen und winkte nun damit vage in ihre Richtung. »Wissen Sie, wenn ich Sie alle so auf einem Haufen sehe, fällt mir wieder ein, warum ich jeden Morgen zur Arbeit komme.«
Goldene Krümel und blaugrauer Rauch flogen in entgegengesetzte Richtungen.
»Weil ich nämlich zu Hause eine Kakerlakenplage habe.«
»Tja, warum wohl?«, murmelte River.
»Es ist unhöflich, zu flüstern. Wenn ich eines nicht ausstehen kann, dann sind es schlechte Manieren.« Lamb biss von seinem Gebäck ab und fuhr mit vollem Mund fort: »Mein Gott, man kommt sich ja vor wie in einem Zombiefilm! Jetzt reißen Sie sich mal zusammen. Wo ist Standish?«
»Habe sie noch nicht gesehen«, antwortete Ho.
»Ich habe nicht gefragt, ob Sie sie gesehen haben. Ich habe gefragt, wo sie ist. Sie ist normalerweise vor mir hier.«
»Aber nicht immer.«
»Danke. Wenn ich das nächste Mal vergesse, was ›normalerweise‹ bedeutet, weiß ich, wen ich fragen muss.«
»Vielleicht auf der Toilette?«, schlug Shirley vor.
»Dann muss das der längste Schiss der Welt sein«, murmelte Lamb. »Und ich spreche als Experte.«
»Keiner von uns zweifelt daran.«
»Vielleicht hat sie einen häuslichen Notfall«, riet Marcus.
»Was für einen? Dass ihre Bücher nicht mehr in alphabetischer Reihenfolge stehen?«
River erwiderte: »Es wäre immerhin möglich, dass sie ein Leben hat, von dem Sie nichts wissen.«
»Ach, so wie Sie vielleicht? Wie geht’s Ihrem alten Kumpel Spider?«
Er meinte damit Spider Webb, der laut offiziellem Bericht in Ausübung seines Dienstes verletzt
worden war – »eher in Ausübung seiner Dämlichkeit« (Lamb) – und immer noch an lebenserhaltenden Apparaten hing. Es war unwahrscheinlich, dass er jemals wieder vollständig genesen, ja dass er je wieder das Bewusstsein zurückerlangen würde. River hatte ihn einige Male besucht, aber woher Jackson Lamb das wusste, gehörte zu den Faktoren, die Lamb zu dem machten, was er war: Niemand konnte sich erklären, wie er es schaffte, aber man wünschte sich, er würde es nicht tun.
Da River wusste, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde, sagte er: »Er ist an etwa sieben verschiedene Maschinen angeschlossen. Man rechnet nicht damit, dass er bald wieder aufwacht.«
»Haben sie mal versucht, ihn aus- und wieder einzuschalten?«
»Ich werde nachfragen.«
Lamb zeigte gelbliche Zähne und fragte: »Hat denn jemand mal auf dem Klo nachgesehen?«
»Ja. Da ist sie nicht.«
Louisa meinte: »Bestimmt hat sie einen Arzttermin. Oder so was.«
»Gestern schien es ihr noch gutzugehen.«
»Manchmal müssen die Leute eben zum Arzt. Dazu muss es ihnen nicht sichtlich schlechtgehen.«
»Wir sind hier beim Geheimdienst«, erwiderte Lamb. »Nicht bei ›Dr. Sommer‹. Und außerdem hätte sie auf jeden Fall Bescheid sagen müssen.«
»Es könnte auf dem Kalender stehen«, mutmaßte Ho.
»Es gibt einen Kalender?«
»An ihrer Wand.«
Lamb starrte ihn an.
»Darin wird eingetragen, wenn jemand abwesend ist.«
»Das hatte ich mir schon gedacht, Superhirn. Aber ich frage mich, warum Sie noch hier herumstehen? Los, los, sehen Sie nach!«
Ho ging.
»Warum solche Sorgen?«, fragte River. »Vielleicht gibt es Probleme bei der Bahn. Passiert ständig.«
»Na klar, sie kommt ja auch ständig zu spät. Wann war noch gleich das letzte Mal?«
Aber Lamb schaute nicht sie an, als er das sagte. Stattdessen war sein Blick auf sein Handy geheftet, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
Sie hat versucht, ihn zu kontaktieren, dachte River. Und er hat ihren Anruf ignoriert.
Mein Gott. Fühlt er sich etwa schuldig
?
Lamb löschte seine Zigarettenkippe in der halbvollen Teetasse von gestern aus.
»Außerdem«, sagte er, »sieht es ihr nicht ähnlich, einfach zu verschwinden.«
»Ist ›Verschwinden‹ nicht übertrieben?«, fragte Shirley.
»Meinen Sie? Wie würden Sie es denn nennen?«
»›Nicht zur Arbeit kommen‹?«
»Und was würde passieren, wenn wir das alle täten? Wie wäre es, wenn ich plötzlich einfach nicht zur Arbeit käme
?«
Shirley schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders.
»Es wäre wie Hamlet
ohne den Prinzen«, meinte River.
»Genau«, sagte Lamb. »Oder wie Warten auf Godot
ohne Godot.«
Niemand reagierte.
Ho war zurück.
»Und?«, fragte Lamb.
»Es ist nichts eingetragen.«
»Und dafür haben Sie fünf Minuten gebraucht? Ein Idiot wäre in der Hälfte der Zeit zurück gewesen.«
»Aber das lag nur daran, dass …«
Alle warteten.
Ho gab auf.
»Schreiben Sie es auf eine Postkarte«, sagte Lamb. »Es eilt nicht.«
Er sah sich mit finsterem Blick im Zimmer um.
»Noch mehr solche glänzenden Ideen?«
Das Handy in Rivers Tasche vibrierte, und er schickte ein Dankgebet nach oben, weil es auf stumm geschaltet war.
»Vielleicht hat sie irgendjemandem eine Nachricht auf den Schreibtisch gelegt«, sagte er.
»Wann denn?«
»Vielleicht war sie zuerst hier und musste dann schnell weg. Ich gehe mal nachsehen.«
Er schlüpfte aus dem Zimmer.
»Hat jemand einen Zettel auf seinem Schreibtisch bemerkt?«, fragte Lamb die Übrigen.
»Das hätten wir möglicherweise erwähnt«, erwiderte Marcus.
Lambs Lippen kräuselten sich. »Danke, Action Man. Gut zu wissen, dass Sie noch in Form sind.«
Louisa fragte: »Können wir jetzt weiterarbeiten?«
»Wie eifrig Sie sind. Haben wir etwa unsere Vorliebe für die Bürokratie entdeckt?«
»Unsere Arbeit ist sinnlos und langweilig. Aber wenigstens können wir sie in Ruhe erledigen.«
»Du meine Güte. Allmählich glaube ich, dass wir mal eines dieser Teambildungs-Seminare besuchen sollten. Aber vielleicht sollten wir lieber damit warten, bis unsere Glucke wieder im Stall ist. – Was war das?«
Keiner von ihnen hatte etwas gehört.
»Es war die Hintertür. Standish!
«
Er brüllte so laut und unerwartet, dass Shirley tatsächlich fühlte, wie sich ihre Blase entspannte, nur ein kleines bisschen. Aber es kam keine Antwort von unten, und keine Catherine Standish erschien.
»Wo ist Cartwright hin?«, fragte Lamb misstrauisch.
»Aufs Klo?«, riet Shirley.
»Das ist wohl Ihre Antwort auf alles heute Morgen. Haben Sie uns etwas zu sagen?«
»Ich schau mal nach.«
»Sie bleiben verdammt noch mal hier! Wenn noch ein Mitarbeiter verschwindet, kriege ich meine Kaution nicht zurück!« Er brüllte erneut, diesmal nach River, aber auch der erschien nicht.
In der darauf folgenden Stille glaubte Louisa, das Klirren der Fensterscheiben zu hören.
»Grundgütiger!«, seufzte Lamb schließlich. »Ich sehe Sie zwar am liebsten von hinten, aber wir sollten schon eine funktionierende Abteilung bilden.«
Marcus schnaubte, aber es hätte auch Heuschnupfen gewesen sein können.
»Okay«, sagte Lamb. »Jetzt reicht’s. Sie« – er deutete auf Louisa – »gehen jetzt los und suchen Standish. Und wenn sie mit dem Gesicht nach unten in einer Kotzlache liegt, will ich Fotos. Und Sie beide«, damit meinte er Marcus und Shirley, »finden heraus, wo Cartwright ist, und bringen ihn zurück.«
»Mit Gewalt?«
»Erschießen Sie ihn, wenn Sie müssen. Ich unterschreibe alles.«
Blieb noch Roderick Ho.
»Ich gehe mit Louisa«, sagte er.
»Nein, das werden Sie nicht. Sie kann es alleine vermasseln. Mit Ihrer Hilfe dauert es nur länger.«
Die anderen waren schon auf dem Weg nach unten, doch Ho wartete noch an der Tür und blickte sich um.
»Was ist?«
Ho sagte: »Es hat länger gedauert, weil ein Idiot nicht so genau nachgesehen hätte wie ich.«
»Na schön, da haben Sie sich eine Briefmarke gespart. Geht es Ihnen jetzt besser?«
Ho nickte.
»Gut«, sagte Lamb. »Und jetzt verpiss dich.«
Die eingehende Nachricht war von Catherines Handy gekommen, und River hatte sie geöffnet, während er die Treppe hinunterging und sich dabei zu seiner geglückten Flucht gratulierte. Er erwartete eine kurze Erklärung für ihre Abwesenheit: verspätete U-Bahn, plötzliche Krankheit, Invasion von Außerirdischen. Was er stattdessen las, war eine noch kürzere Ansage:
Fußgängerbrücke. Sofort
.
Was absolut nicht nach der Catherine Standish klang, die er kannte.
Ein Anhang war dabei. Er hielt auf dem Treppenabsatz inne, während das Foto sich quälend langsam öffnete, und anschließend brauchte er noch eine halbe Sekunde, bis er begriff, was er da sah: eine Frau, in Handschellen, geknebelt, wie eine Anmache für eine Amateurpornoseite, nur dass sie voll bekleidet war, und, o Gott, es war Catherine!
Warum zum Teufel sollte irgendjemand Catherine entführen?
Fußgängerbrücke.
Sofort.
Es gab nur eine Fußgängerbrücke, die in Frage kam; etwa zehn Meter entfernt überspannte sie die Straße zwischen der U-Bahn-Station und dem Barbican-Centre. Doch bevor er reagierte, sollte er eigentlich Alarm schlagen: Egal, ob Slow Horse oder nicht, Catherine war eine Agentin des Sicherheitsdienstes, und Regent’s Park setzte alle Hebel in Bewegung, wenn einer von ihnen in Gefahr war. Was Lamb betraf, so würde er River zum Trocknen an die Leine hängen, wenn er noch einen Schritt machte, ohne ihn zu informieren. Das musste man bedenken, also bedachte River es,
während er das Telefon wegsteckte und den Rest der Treppe immer drei Stufen auf einmal hinuntersprang.
Draußen herrschte jetzt schon eine Affenhitze, die sich in dem schimmeligen Hinterhof staute. River eilte durch die Gasse hinaus auf die Straße, und tatsächlich stand ein Mann auf der Brücke, der auf den Verkehr hinunterblickte, als würde ihn all diese Aktivität amüsieren. Er war zu weit entfernt, als dass River sein Gesicht hätte erkennen können – oder das war sein Eindruck, als er die Straße entlang durch den Eingang zur U-Bahn, die Treppe hinauf und auf die Brücke lief.
Mit einer Hand auf dem Geländer wartete der Mann auf ihn, und River hatte recht gehabt: Er sah irgendwie amüsiert aus. Er war um die fünfzig, mager, gekleidet in einen Anzug in der Farbe von Morgennebel; durch sein dunkles Haar zogen sich Silberfäden. Sein gelber Binder sah aus wie eine Clubkrawatte, und sein überlegenes Grinsen war ihm wahrscheinlich auf halbem Weg durch Eton oder sonstwo eingebimst worden. Und er trug Ringe an beiden kleinen Fingern, was eines von Rivers schlimmsten Vorurteilen bestätigte.
Als River näher kam, löste er die Hand vom Geländer und streckte sie aus, als erwarte er einen Händedruck.
Stattdessen packte River ihn am Revers. »Wo ist Catherine?«
»Ihr passiert nichts.«
»Das habe ich nicht gefragt!« River zerrte ihn näher zu sich heran. »Sprechen Sie langsam und deutlich!«
»Ihr. Passiert. Nichts.«, kam die Antwort, sarkastisch und spitz.
River schüttelte ihn wie einen nassen Sack. »Auf dem Foto trug sie Handschellen. Und einen Knebel!«
»Um Sie aus der Reserve zu locken. Sie sind hier, stimmt’s?«
»Auf einer Brücke über einer stark befahrenen Straße, stimmt. Wollen Sie über das Geländer fallen?«
Das brachte ihm ein noch breiteres Grinsen ein. »Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie nicht wissen, wie das hier läuft, oder? Miss Standish geht es gut, und das wird auch so bleiben, vorausgesetzt, ich rufe innerhalb der nächsten dreißig Sekunden an. Ich denke, Sie sollten sich lieber zurückhalten, nicht wahr?«
Über die Schulter des grauen Anzugs hinweg sah River, dass ein Pärchen auf der Straße unter ihnen stehengeblieben war und der Mann zu ihnen heraufzeigte.
Er lockerte seinen Griff.
»Schon besser. Wesentlich zivilisierter.«
»Übertreiben Sie’s nicht.«
Der Mann zog ein Handy aus der Tasche und wechselte ein paar kurze Worte mit jemandem. Anschließend steckte er das Handy wieder weg und sagte: »Sie sind also River Cartwright. Ungewöhnlicher Name.«
»Cartwright heißt Kutschenbauer.«
»Miss Standish hat gesagt, sie würde Ihnen vertrauen. Sie würde Ihnen sogar ihr Leben anvertrauen.«
»Wo ist sie?«
Ein gespielt bedauerndes Kopfschütteln. »Wir sollten lieber darüber reden, wie Sie sie zurückbekommen, nicht wahr?«
Der genießt das viel zu sehr, dachte River. Als wäre ihm
das, was er will, weniger wichtig als die Methode, es zu bekommen.
»Was wollen Sie?«
»Informationen.«
»Worüber?«
»Müssen Sie nicht wissen. Sie müssen sie nur beschaffen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Soll ich wirklich ins Detail gehen? Na schön …«
Er hielt inne, und River wusste, ohne sich umzudrehen, dass jemand hinter ihm stand. Es war das Paar, das gerade noch auf sie gezeigt hatte. Sie gingen vorbei und versuchten, nicht neugierig zu erscheinen; vielleicht Leute mit Gemeinsinn, die sichergehen wollten, dass kein gewalttätiger Überfall im Gange war; vielleicht Einheimische, die hofften, dass einer stattfand. Als sie die Barbican-Seite erreichten, schauten sie zurück, aber nur einmal, und dann waren sie verschwunden.
»Die Männer, die sie festhalten, haben eine miserable Impulskontrolle.«
»Impulskontrolle«, wiederholte River.
»Eine miserable Impulskontrolle, um genau zu sein. Ich würde sagen, achtzig Minuten, bevor der kritische Punkt erreicht ist. Wenn Sie eine Zahl hören wollen.«
River streckte die Hand aus und glättete das Revers des Mannes, das seine beiden Fäuste zerknittert hatten. »Vielleicht sollten Sie sich später daran erinnern«, sagte er, »dass Sie das alles irgendwann mal lustig fanden.«
»Ich kann es kaum erwarten. In der Zwischenzeit müssen Sie jedoch etwas erledigen. Und es sind jetzt« – er schaute auf die Uhr – »nur noch neunundsiebzig Minuten,
bevor die Männer, die ich erwähnte, anfangen, ihre Gürtel zu lockern. Wollen Sie noch mehr davon verschwenden, indem Sie mich bedrohen?«
»Was wollen Sie?«, fragte River.
Der Mann sagte es ihm.
Zwei Minuten nachdem River die Brücke im Laufschritt verlassen hatte, tauchten Marcus Longridge und Shirley Dander aus der Gasse in der Aldersgate Street auf. Marcus sah in die eine Richtung und Shirley in die andere. Fußgänger, frisch aus dem Untergrund entlassen, strömten an der Ampel über die Straße, und weitere scharten sich um den Eingang des Sportstudios an der Ecke. Busse fuhren in beide Richtungen, und ein Radfahrer schoss heran, der, seiner Missachtung anderer Fahrzeuge nach zu urteilen, einen Organspendeausweis hatte und ihn schnellstmöglich einsetzen wollte; eine Frau in Signalkleidung schob eine Straßenkehrmaschine in ihre Richtung, und ein Mann in einem grauen Anzug beobachtete all dies von der Fußgängerbrücke zum Barbican aus. Von River Cartwright jedoch keine Spur.
»Siehst du ihn irgendwo?«, fragte Marcus.
»Nö«, antwortete Shirley. »Du?«
»Auch nicht.« Er wartete einen Augenblick, gab River eine letzte Chance, sich zu zeigen, und fragte dann: »Lust auf ein Eis?«
»Gute Idee«, sagte Shirley.
Sie machten sich auf den Weg in Richtung Smithfield, wo es unwahrscheinlich war, dass sie gesehen wurden.
Der Mann auf der Brücke war von der Bildfläche verschwunden.