5
Neununddreißig Minuten … Wenn River in Regent’s Park war, überkam ihn immer so ein hohles Gefühl; ungefähr so, als beträte er nach der Scheidung das ehemals gemeinsame Haus. Aber was hieß schon »immer«? Es hatte eine Zeit gegeben, in der das vielleicht das richtige Wort gewesen wäre, zu Beginn seiner Karriere, als es noch eine »Karriere« gab; bevor er zur Persona non grata geworden war, so der lateinische Ausdruck für »Slow Horse«. Seitdem war er wie oft im Hauptquartier gewesen? Zwei Mal? Bei einer dieser Gelegenheiten hatte ihn Spider Webb herbeizitiert. Spider hatte ihm unter die Nase gerieben, wie es um seine Position stand, und River klargemacht, dass er genauso gut in Sibirien versauern könnte. Wobei es gut möglich war, dass Spider nun selbst quasi in Sibirien weilte: all diese endlosen weißen Räume, ohne Leben. War das so, wenn man im Koma lag? River hoffte, es nie herauszufinden.
Am Empfang zeigte er seinen Dienstausweis und behauptete, er hätte einen Termin mit Diana Taverner. Er setzte alles auf eine Karte in der Hoffnung, sie würde sich auf das Spiel einlassen, wenn auch nur, um herauszufinden, wieso er die Dreistigkeit besaß, in der Zentrale aufzukreuzen – er traute ihr zu, dass sie ihn nur empfangen würde, um ihn verprügeln zu lassen.
Während die Frau vom Sicherheitsdienst Taverner anpiepte, sah er sich um.
Achtunddreißig Minuten.
Was River immer ins Auge fiel, war die doppelte Natur des Gebäudes. Die schnörkelige Oxbridge-Fassade war eine Verneigung vor den besten Traditionen des Geheimdienstes – seine Geschichte der zivilisierten Rücksichtslosigkeit –, die modernen Strukturen hingegen lagen unter dem Straßenniveau versenkt, sicher vor radiologischen Waffen und neugierigen Blicken. In einem der oberen Flure hing ein Porträt seines Großvaters. So hoch oben war er noch nie gewesen. Dafür musste man eine Art Mandarin sein.
Die Sicherheitsfrau hatte etwas zu ihm gesagt.
»… Ja?«
»Ms Taverner erwartet Sie auf der Treppe.«
Aus praktischen Erwägungen, wohl für den Fall, dass sie ihn runterwerfen lassen wollte.
Die Frau reichte ihm einen laminierten Ausweis an einem Schlüsselband, BESUCHER
, und zeigte ihm die Richtung.
Sie hatten sich auf ein italienisches Café in der Nähe von Smithfield geeinigt, saßen in der oberen Etage und aßen Eis aus Metallbechern: Marcus Erdbeere und Pistazie, Shirley Pfirsich und Stracciatella. Löffel, die an den Bechern kratzten, bildeten die einzige Kommunikation zwischen ihnen, bis beide fast fertig waren. Dann deutete Shirley mit einem Nicken auf Marcus’ Becher und zog mit einem hörbaren Ploppen den Löffel aus dem Mund.
»Blöde Kombination. Erdbeere und Pistazie, das geht ja gar nicht.«
»Mir schmeckt’s.«
»Dann stimmt was mit deinem Geschmackssinn nicht. Zu Erdbeere gehört Schokolade oder Vanille. Pistazie ist nicht mal eine richtige Sorte. Die wurde erst 1997 erfunden.«
»Du bist abserviert worden, oder?«
»Was soll das heißen, ›abserviert‹? Was ist das überhaupt für eine Frage? Wir reden hier über Eis.«
»Okay.«
»Außerdem liegst du völlig falsch.«
»Okay.«
»Und selbst wenn ich abserviert worden wäre, würde es dich nichts angehen.«
»Okay.«
»Und überhaupt, woher willst du das wissen?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Marcus. »Vielleicht, weil du so wahnsinnig gut drauf bist?«
»Du kannst mich mal!«
»Was ist passiert, hat sie eine andere?«
»Du kannst mich mal! Wieso gehst du davon aus, dass ich lesbisch bin?«
»Willst du behaupten, du bist es nicht?«
»Ich frage nur, woher du das wissen willst? Trage ich etwa mein Privatleben in die Arbeit?«
»Shirley, mit dir in einem Büro ist es in letzter Zeit, als hätte ich meine persönliche Gewitterwolke über dem Kopf, also ja, unterm Strich bringst du dein Privatleben mit zur Arbeit. Was mich dazu berechtigt, mehr zu erfahren. Also, hat sie eine andere kennengelernt?«
»Schon wieder sagst du ›sie‹!«
Marcus legte seinen Löffel auf eine Serviette und
leckte sich Erdbeereisreste von der Oberlippe ab. »Ist doch ganz einfach«, sagte er. »Dazu braucht man nicht Sherlock Holmes zu sein.«
»Was soll das jetzt schon wieder heißen?«
»Du machst immer nur vage Andeutungen, dass es ›jemanden‹ gibt, dass du dich mit ›jemandem‹ triffst. Nie sagst du, ob es ein Er oder eine Sie ist. Daher gehe ich davon aus, dass es eine Frau ist.«
»Vielleicht mache ich das mit Absicht, um dich zu verwirren«, giftete Shirley.
»Könnte sein, glaube ich aber nicht. Also, was ist passiert? Hat sie eine andere?«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Na schön. Aber dann hör bitte auf, das gekränkte Opfer zu spielen. Abgemacht?«
»Du bist wirklich ein knallhartes Arschloch, weißt du das?«
»Das hat früher zu meinem Job gehört.«
»Tja, jetzt nicht mehr«, entgegnete Shirley. »Jetzt bist du ein Sesselfurzer, wie wir alle anderen auch. Gewöhn dich dran.«
»Das hat man mir schon vor Monaten geraten«, meinte Marcus und nahm den Löffel wieder in die Hand. »Aber trotzdem musste ich jemanden erschießen, stimmt’s?«
»Ich bezweifle, dass du noch mal das Glück haben wirst.«
»Okay, aber angenommen doch«, erwiderte Marcus, »weißt du, was ich dann gar nicht gebrauchen kann? Eine Partnerin, die hinter mir rumflucht und heult. Das stresst nur beim Zielen.«
Shirley griff ebenfalls nach ihrem Löffel, aber ihr Becher war schon fast leer. Als er sie dabei beobachtete, wie sie mit dem Löffel gegen das Metall klopfte und dabei einen hohen Ton erzeugte, der im ganzen Raum widerhallte, staunte Marcus wieder einmal darüber, wie intensiv ihre Konzentration sein konnte. Mit ihrem fast militärischen Kurzhaarschnitt und ihren breiten Schultern hätte man sie bei oberflächlicher Betrachtung für maskulin halten können, doch ihr Teint und ihre tiefbraunen Augen hatten nichts im Entferntesten Männliches an sich. Dennoch. Wie sie jetzt über den Resten ihres Eisbechers kauerte, verschwand sie beinahe in ihrer Androgynität. Wie dem auch sei: Ihr rechter Haken war buchstäblich umwerfend.
Sie schaute zu ihm auf. »Sind wir das denn? Partner?«
»Solange es keine bessere Alternative gibt«, sagte er.
»In dem Fall nehme ich noch ein Eis, Partner. Diesmal Toffee und Pfefferminz.«
»Echt jetzt?«
Sie starrte ihn an, ohne zu blinzeln.
Marcus ging ihr das Eis holen.
»Cartwright.«
Taverner befand sich, wie angekündigt, auf der Treppe, die zu den repräsentativen Elementen des Gebäudes zählte, breit genug, um hinunterzutanzen, und auf diesem Absatz mit einem schmalen, mindestens zwei Meter hohen Fenster versehen. Staubiges Sonnenlicht fiel schräg auf Lady Dianas Haar und verlieh ihren Locken einen Kastanienton, der River kurzzeitig ablenkte. Sein Verstand war wie leergefegt. Wie sollte er sie ansprechen? »Ma’am«, brachte sein Mund
hervor. Der Anblick ihrer Armbanduhr, als sie darauf schaute, erinnerte ihn: sechsunddreißig Minuten.
Sie sagte: »Sie dürfen sich hier nicht aufhalten, das wissen Sie doch!«
»Ja, aber …«
»Und wie sehen Sie überhaupt aus?«
»Es ist heiß draußen«, verteidigte er sich. »Ma’am.«
Allerdings war es hier drinnen kühler; Klimaanlage und Marmorböden.
»… Und?«
Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, River und Diana Taverner. Nicht die Art von Vergangenheit, die die Leute normalerweise meinten, wenn sie so etwas sagten, aber nicht weit davon entfernt: Verrat, doppeltes Spiel und Messer im Rücken – mehr Ehe als Liebesaffäre. Und das meiste davon auf Distanz; von Angesicht zu Angesicht hatten sie sich nicht oft gegenübergestanden. Hier und jetzt, auf diesem Treppenabsatz, sein Hemd klatschnass im Rücken, erinnerte sich River daran, wie sehr ihn ihre Gegenwart ablenken konnte. Es lag nicht nur an ihrer äußerlichen Attraktivität, sondern auch an der Art und Weise, wie sie sichtlich jede Situation, in der sie sich befand, abwog und den Moment nutzte, um den maximalen Vorteil für sich herauszuholen.
Er sagte: »Es geht um James. James Webb.«
»Ah.«
»Ich habe ihn mehrmals … besucht.«
Spider war einst Taverners Schützling gewesen, obwohl er das, was er zweifellos als seine Loyalität bezeichnet hätte, ziemlich gleichmäßig zwischen ihr und Dame Ingrid
aufgeteilt hatte. Zu dem Zeitpunkt, als er von einem russischen Gangster angeschossen wurde, war schwer zu sagen, auf wessen Seite er stand, obwohl es auf lange Sicht wahrscheinlich keine Rolle spielte, da er seitdem weitgehend auf sich allein gestellt war.
Sie sagte: »Sie waren immer noch befreundet? Das war mir gar nicht klar.«
»Wir waren zusammen in der Ausbildung.«
»Danach habe ich nicht gefragt.«
River sagte: »Am Ende waren wir nicht mehr so gut befreundet, das stimmt, aber wir haben uns mal nahegestanden. Und er hat sonst niemanden. Keine Verwandten, meine ich.«
Er hatte keine Ahnung, ob Spider Familie hatte oder nicht, aber er musste improvisieren. Und er verließ sich darauf, dass Taverner über Spiders Familiensituation ebenfalls nicht informiert war.
»Das wusste ich nicht«, sagte sie. »Also … wie ist sein momentaner Zustand? Irgendwelche Veränderungen?«
»Nicht wirklich.«
Nur für einen Augenblick sah er etwas in ihren Augen, was ehrlicher Besorgnis glich. Und dann rief er sich innerlich zur Ordnung – warum auch nicht? Sie hatte mit ihm zusammengearbeitet. Und er, River, nutzte den Zustand seines ehemaligen Freundes aus, um sich wieder an den Ort zu bluffen, von dem Spider ihn verbannt hatte. Es kam ihm in den Sinn, dass Spider womöglich die komische Seite daran erkannt hätte. Dass dieser kleine Akt des Verrats mehr Tribut als Rache war.
Gedanken für später.
Fünfunddreißig Minuten.
Er sagte: »Im Grunde gar keine. Und niemand rechnet damit, dass sich das ändert.«
Taverner wandte den Blick ab und sagte ausweichend: »Ich habe die Berichte verfolgt.«
»Dann wissen Sie ja Bescheid. Es ist ein vegetativer Zustand, es gibt fast keine Hirnaktivität. Ein Flackern hier und da, aber … Und seine Organe arbeiten nicht von allein. Koppelt man die Maschinen ab, stirbt er so schnell, wie ein Herz aufhört zu schlagen.«
»Sie wollen damit offenbar etwas sagen.«
»Ja. Wir haben uns einmal darüber unterhalten. Auf einem dieser Ausdauerparcours, oben in den Black Mountains.«
Sie nickte kurz.
»Ich mache es kurz«, sagte River.
»Gute Idee.«
»Er hat damals zu mir gesagt: Wenn er jemals an Maschinen hängt, wenn er nur noch dadurch am Leben erhalten wird, würde er wollen, dass sie abgeschaltet werden.«
»Dann finden wir diese Information sicher in seiner Personalakte.«
»Ich bezweifle, dass er jemals dazu gekommen ist, eine Patientenverfügung zu machen. Wie alt war er damals, vierundzwanzig? Er hat nicht mit so etwas gerechnet. Aber er hat sich Gedanken darüber gemacht.«
»Hätte er sich etwas mehr Gedanken gemacht, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass man nie mit so etwas rechnen kann.« Vierunddreißig Minuten. »Was genau wollen Sie von mir?«
»Ich wollte nur mit jemandem darüber sprechen. Wie lange muss er da liegen, bevor eine Entscheidung getroffen wird?«
»Sie reden davon, ihn sterben zu lassen«, stellte sie fest.
»Ich weiß nicht, welche Alternative es gäbe.«
Dabei schoss ihm jedoch ein Lamb-hafter Gedanke durch den Kopf: Sie könnten ihn recykeln. Ihn als Temposchwelle benutzen
.
Taverner fuhr fort: »Hören Sie, ich habe dafür jetzt keine Zeit. Sind Sie sicher, dass er keine Verwandten hat? Hatte er nicht irgendwelche Cousins und Cousinen?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Wie dem auch sei – es ist ja wohl kaum eine Entscheidung, die wir im Stehen auf einer Treppe treffen können.« Sie fixierte ihn mit einem strengen Blick, der dann jedoch weicher wurde. »Aber ich werde mich darum kümmern. Sie haben recht. Wenn niemand sonst eine Entscheidung treffen kann, muss der Park es tun. Obwohl ich gedacht hätte, dass das medizinische Personal …«
»Sie schrecken wohl vor der Verantwortung zurück.«
»Da sind sie nicht die Einzigen.« Sie schaute erneut auf die Uhr. »War das alles?«
»… Ja.«
»Sie wollen mir also nicht erklären, warum Sie wieder in die Zentrale gehören? Warum Slough House eine Verschwendung Ihres Talents ist?«
»Nicht jetzt.«
»Gut.« Sie schwieg einen Augenblick lang. »Sie werden von uns hören. Wegen Webb, meine ich. James. Wie immer die Entscheidung ausfallen wird.«
»Danke.«
»Aber machen Sie das nicht noch einmal, hier einfach unangekündigt aufzutauchen. Sonst landen Sie unten.«
Diesmal blieb ihr Gesicht hart wie Stahl.
Zweiunddreißig Minuten.
»Und jetzt husch, weg mit Ihnen!«
»Danke.«
River ging die Treppe hinunter und war sich sicher, dass sie jeden seiner Schritte beobachtete. Doch als er unten ankam und wieder nach oben schaute, war sie weg.
Einunddreißig Minuten.
Jetzt kam der knifflige Teil.
Der Mann von der Brücke befand sich inzwischen woanders; im gepflegten kleinen Postman’s Park, in dem Angestellte aus der Umgebung gerne ihr Mittagessen einnahmen, hauptsächlich wegen der überdachten Gedenkstätte für Alltagshelden. Die Tafeln an den Wänden waren denjenigen gewidmet, die ihr Leben bei dem manchmal vergeblichen Versuch, andere zu retten, geopfert hatten. Sie erinnerten an Menschen wie Leigh Pitt, der »einen ertrinkenden Jungen aus dem Kanal rettete … sich aber leider selbst nicht retten konnte«, und Mary Rogers, die »sich opferte, indem sie ihren Rettungsring anderen gab und freiwillig mit dem sinkenden Schiff unterging«. Thomas Griffin wurde bei einer Kesselexplosion in einer Battersea-Zuckerfabrik tödlich verbrüht, als er umkehrte, um seinen Kumpel zu suchen, wohingegen George Elliott und Robert Underhill »nacheinander in einen Brunnen stiegen, um Kameraden zu retten, und dabei durch Gas vergiftet wurden«. Sylvester
Monteith – »Sly« für Bekannte oder vielleicht weil er einfach ein Schlitzohr war – trank Eistee aus einem Styroporbecher und fragte sich, warum Selbstaufopferung etwas so Ehrenhaftes sein sollte. Jeder Ära ihre Helden, nahm er an. Er war in den achtziger Jahren zum Mann geworden, und seine Reaktion in jeder dieser Notsituationen wäre ein pragmatischer Rückzug gewesen. Hinterher wäre er einer der Ersten gewesen, die die Unzulänglichkeit der entsprechenden Ausrüstung beklagt und sich nach der Möglichkeit erkundigt hätten, stark verbesserte Ersatzgeräte zu einem Preis zu liefern, der aus der Sicht aller künftigen Bergleute, Zuckerfabrikarbeiter, Schiffsführer und tollkühnen Passanten nur als angemessen betrachtet werden konnte. Alle wären sicherer, einige würden reicher werden, und die Welt würde sich weiterdrehen. So ging das nun mal.
Um sicherzustellen, dass sich die Welt tatsächlich noch drehte, schaute Monteith auf die Uhr. Es war etwa zwanzig Minuten her, dass er River Cartwright auf eine Mission geschickt hatte, die ein ebensolcher Akt der Selbstaufopferung war wie die an den Wänden des Postman’s-Park-Denkmals. Das gehörte zu den Wahrheiten, die verschwiegen wurden, wenn man sich für den Service bewarb, dachte Monteith. Dass es einen großen Unterschied zwischen denen gab, die die Kanone zündeten, und denen, die sich davorwarfen. Das Auslösen der Kanone war der Weg zu einem langen, glücklichen Leben. Die Kanone, die er für Cartwright gezündet hatte, würde sich wahrscheinlich nicht als tödlich erweisen, aber sie würde das Exil in Slough House wie einen verlängerten Urlaub erscheinen lassen.
Selbst schnelle Pferde enden beim Abdecker. Dass die
lahmen Gäule zuerst dort ankommen, gehörte zu den kleinen Ironien des Lebens.
Er trank seinen Tee aus und griff nach seinem Handy.
Sean Donovan meldete sich beim ersten Klingeln. Es hörte sich an, als säße er im Auto.
»Bist du unterwegs?«
»Ja«, sagte Donovan.
Monteith hielt inne, um eine passierende Joggerin zu bewundern: Ihr Haar war feucht, ihr T-Shirt eng, ihr Kopf wippte im Rhythmus der Musik, die durch ihre Kopfhörer pulsierte.
»Wie geht es unserem Gast?«
»Was denkst du denn? Sie ist unversehrt, etwas nervös und stinksauer.«
»Na ja, lange wird sie es nicht mehr ertragen müssen«, sagte Monteith. »Es kann nicht schaden, ihr in der Zwischenzeit ein bisschen Angst einzuflößen.«
Donovan schwieg einen Moment lang und sagte dann: »Willst du das wirklich?«
»Ja, allerdings.« Die Joggerin war verschwunden, aber das Gefühl, das sie in ihm erweckt hatte, blieb bestehen: der Wunsch, eine Frau schreien zu hören. Dass Monteith selbst nicht dabei sein würde, war weniger wichtig, als dass er es verursacht hätte.
Er fragte: »Wann bist du ungefähr da?«
»In dreißig Minuten.«
»Komm nicht zu spät«, mahnte Monteith und beendete den Anruf.
Er nahm seinen leeren Becher, ließ ihn in einen Mülleimer fallen und hielt inne, um noch einmal auf die Tafeln
an den Wänden des Unterstandes zu schauen: Geschichtsfragmente, von denen jedes ein Ende hervorhob, denn für die Anfänge und Mittelteile würde sich niemand interessieren. Er schüttelte den Kopf. Dann verließ er den kleinen Park und rief ein Taxi.
River lief die Treppe wieder hinauf. Die Frau am Empfang rief ihm nach.
Er drehte sich um. »Ich habe vergessen, dass ich Ms Taverners Unterschrift brauche!« Er mimte ein Gekritzel in der Luft. »Dauert nur eine Minute.«
»Kommen Sie runter! Ich piepe sie noch mal an.«
»Sie ist doch gleich da oben!« Er deutete auf den nächsten Treppenabsatz und wedelte dann mit seinem laminierten Besucherausweis. »Eine Minute.« Er erreichte den Treppenabsatz und war damit außer Sichtweite des Empfangs.
Dreißig Minuten.
Vielleicht ein bisschen mehr, vielleicht ein bisschen weniger.
Um ehrlich zu sein, stand Catherine Standish nicht mehr im Vordergrund seines Interesses. Die Operation war die Operation. Dies war feindliches Gebiet, und die Tatsache, dass es zugleich das Hauptquartier war, verlieh der Sache einen zusätzlichen Reiz.
Er trat durch eine Schwingtür. River verließ sich auf seine Erinnerung, einen unvollkommenen Plan in seinem Kopf, aber hier mussten irgendwo Aufzüge sein. Er nahm den Ausweis und steckte ihn ein. Ja, hier waren sie, in einer glücklicherweise menschenleeren Lobby. Was er getan
hätte, wenn Lady Di ihn hier erwartet hätte, war eine Frage für ein anderes Leben.
Er drückte auf den Knopf und fischte dabei sein Handy heraus. Die Rezeption von Regent’s Park stand noch immer auf seiner Kontaktliste: seit Jahren unbenutzt, aber immer noch gespeichert, weil …
Weil man diese Nummern nicht aufgeben wollte, für den Fall, dass man sein altes Leben zurückbekam.
Beim zweiten Klingeln meldete sich jemand.
»Security.«
»Mögliche Bedrohung«, sagte er mit leiser Stimme.
»Wer ist da?«
»Ein Pärchen sitzt in einem Auto vor dem Gebäude, zwanzig Meter die Straße runter. Sie streiten sich wie ein Liebespaar, aber der Mann ist bewaffnet. Ich wiederhole: Der Mann ist bewaffnet! Rate zu sofortiger Reaktion!«
»Könnte ich Ihre …«
»Sofortige Reaktion«, wiederholte River und beendete den Aufruf.
Damit könnten alle für eine Weile beschäftigt sein.
Der Aufzug kam an, und er betrat ihn.
Sean Donovan fuhr von Westen her nach London hinein. Die Klimaanlage des Lieferwagens war unzuverlässig, so dass er bis zu Monteiths Anruf mit geöffneten Fenstern gefahren war und der Luftzug von links und rechts das Innere des Wagens ein wenig abgekühlt hatte. Doch jetzt schloss er sie, um Traynor anzurufen, der sich auf seine übliche Weise meldete:
»Ja.«
Er fragte Traynor nicht, ob alles in Ordnung sei. Benjamin Traynor hatte mit ihm an üblen Orten gedient; er hatte mit ihm hinter Mauern gehockt, die über ihren Köpfen zu Staub zerschossen wurden. Wenn Traynor nicht mit einer Frau mittleren Alters auf einem Dachboden fertig wurde, sollten sie beide ihre Zukunft überdenken. Insbesondere die nächsten vierundzwanzig Stunden.
Er sagte: »Ich bin in der Stadt. Alles läuft nach Plan.«
»Ich bin bald weg. Schon mit dem … Chef gesprochen?«
»Ja. Er möchte, dass du der Lady einen gehörigen Schrecken einjagst.«
»Ich soll ihr einen Schrecken einjagen.«
»In seinen Worten: ›Es kann nicht schaden, ihr ein bisschen Angst einzuflößen.‹«
»Er ist der Chef«, sagte Traynor.
»Wo ist der Junge?«
Der Junge, den Catherine aus irgendeinem Grund »Bailey« getauft hatte.
»Draußen. Nur für alle Fälle.«
»Er gibt sich ganz schön viel Mühe, was?«
»Es kann nicht schaden, wachsam zu bleiben«, erwiderte Traynor. All die gefährlichen Orte, die pulverisierten Wände, und er kümmerte sich trotzdem um die Neulinge. Allerdings hatte er nicht fünf Jahre damit verbracht, die Ziegelsteine in einer Reihe kleiner Räume zu zählen. »Der Junge ist in Ordnung.«
»Genau wie seine Schwester«, fügte Donovan hinzu.
»Richtig. Genau wie seine Schwester.«
Donovan beendete den Anruf und fuhr die Fenster wieder herunter. Der Geruch nach Benzin und verbranntem
Gummi wehte in die Fahrerkabine, aber alles, was nicht nach Gefängnis schmeckte, roch nach Freiheit. Er sah auf seine Uhr. Zwanzig Minuten bis zum Treffen mit Monteith: ein Parkplatz an der Euston Road. Er würde frühzeitig da sein.
Vieles konnte schiefgehen, aber das schon mal nicht.
Einige Aufzüge fuhren weiter hinunter, als River lieb war. Dieser hier nicht – es war ein Standardpersonallift –, aber es gab andere, für die eine besondere Autorisierung erforderlich war. Sie verschwanden tief in Londons Eingeweiden und verschafften Zugang zu gesicherten Krisenmanagementeinrichtungen und sogar zu einem geheimen unterirdischen Transportsystem; ein Gerücht, das River mit Skepsis betrachtet hatte, bis er erfuhr, dass es offiziell dementiert wurde. Dass es andere Bereiche gab, in denen dementierbare Verhöre stattfanden, hatte er als gegeben angenommen. Das waren die Fundamente, auf denen die Sicherheit gebaut war.
Er jedoch war unterwegs zu der Ebene, auf der sich die Aktenräume befanden.
Als er noch in Regent’s Park arbeitete, hatte er nur selten Gelegenheit gehabt, diese Räume zu besuchen, aber er wusste aus Gesprächen mit seinem Großvater, dem O.B., dass sie schon lange an den Grenzen ihrer Kapazität kratzten, da sie Hunderte von Metern, ja sogar Kilometern an Informationen in Papierform enthielten: Berichte und Aufzeichnungen, Personalakten, Abschriften und Protokolle unterschiedlicher Geheimhaltungsstufen. River hatte Überraschung geheuchelt, dass Unterlagen in Papierform die
tragende Säule der Geheimdienstarchive blieben, aber nur, um dem O.B. die Möglichkeit zu bieten, eines seiner Steckenpferde zu reiten.
»Oh«, erwiderte der Old Bastard, so der liebevolle Spitzname von Rivers Großvater, »man musste die Archivierung gründlich überdenken, sobald man erkannte, dass Computer wie Banktresore sind. Schön und sicher, absolut sicher, bis zu dem Moment, da jemand die Türen wegsprengt und sich mit der Beute davonmacht.«
Bei ihren letzten Gesprächen darüber war es später Abend gewesen: Regen prasselte in Böen gegen die Fensterscheiben, und Brandy plätscherte mit fast ebensolcher Regelmäßigkeit in ihre Gläser.
»Weil Computer miteinander kommunizieren, River – dafür sind sie da. Deine Generation kann kein Ei mehr kochen, ohne online zu gehen, man verlässt sich bei allem auf Rechner, aber man neigt dazu, ihre Hauptfunktion zu übersehen. Die darin besteht, Informationen zu speichern, aber nur, um sie zu verbreiten.«
Was River natürlich vollkommen klar war. Er wusste, dass die Königinnen der Datenbank aus diesem Grund mit durch Air Gap getrennten Systemen arbeiteten, deren USB
-Ports verklebt waren, damit man keine USB
-Sticks hineinstecken konnte. Die Königinnen mussten von einer Reihe von Computern zur anderen wechseln, um online zu gehen – Internet und Internot hatten sie das scherzhaft getauft. Die Angst vor digitaler Wilderei hatte die vor nuklearer Bedrohung als größtem Schrecken abgelöst. Der Geheimdienst machte selbst gern lange Finger, aber er hasste es, bestohlen zu werden.
Gib einem geborenen Dieb wie Roderick Ho fünf Minuten mit einer Internetverbindung, dachte River, und er liefert dir mühelos das Ergebnis der Sicherheitsüberprüfung des Premierministers, falls es irgendwo im System zu finden ist.
Und genau deshalb wurde das Überprüfungsergebnis des Premierministers nicht online gespeichert, sondern im Personalarchiv des Park aufbewahrt, auf der Ebene, auf die River jetzt zusteuerte.
Es war definitiv ein Doppeldeckerbus. Einer von den altmodischen, mit einer Plattform, auf die man beim Anfahren aufspringen konnte, wenn es einem nichts ausmachte, vom Schaffner angebrüllt zu werden. Er war nach oben hin offen, das Oberdeck mit Segeltuchplanen geschützt, und stand mit der Vorderseite zum Haus geparkt, so dass Catherine die Anzeigetafel über der Windschutzscheibe sehen konnte, auf der »Hop on!« stand. Andere Fahrzeuge waren nirgends zu sehen. Mit den Nebengebäuden hatte sie allerdings recht gehabt; es gab drei kleinere, einfache Nutzgebäude, schmucklos, ohne Fenster, mit schrägen Dächern. Garagen oder Lagerräume. Nichts sah so aus, als würde es derzeit genutzt. Als wären ihre Entführer über dieses leerstehende Anwesen gestolpert und hätten es für ihre Zwecke ausgewählt. Nur dass es nicht zu Sean Donovans Weltbild passte, einfach über irgendetwas zu stolpern. Jede Mission, an der er teilnahm, wurde doppelt geplant; jedes Detail wurde auf das Unerwartete, auf lockere Verbindungen hin überprüft.
Plötzlich flammte ein bitterer Gedanke in ihr auf. Eine lockere Verbindung
– mehr war ich damals für ihn nicht.
Und was bin ich jetzt?
Sie war seit Stunden wach, hatte kaum geschlafen. Zu viele wirre Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, und diese eine Frage war die bedrückendste von allen: Was bin ich jetzt?
Eine Gestalt aus Donovans Vergangenheit, die in seine Gegenwart versetzt worden war – warum? Sie bildete sich nicht ein, dass es daran liegen könnte, dass sie ihm etwas bedeutete; es musste um ihren Job gehen. Aber was machte sie denn schon? Ihre Aufgabe hatte nur ganz am Rande etwas mit Geheimdienstarbeit zu tun. Sie kanalisierte Jackson Lambs Papierflut; sie strickte sterbenslangweilige Buchhalterergebnisse der Slow Horses zu so etwas wie Berichten zusammen und schickte sie mit der Post in den Regent’s Park, nur damit sie dort offiziell ignoriert wurden. Falls irgendetwas, das sie in letzter Zeit in Slough House getan hatten, diese Art von Aufregung rechtfertigte, war es ihr entgangen. Vor Stunden, als sie auf dem schmalen Bett gelegen und über all das nachgedacht hatte, hatte sie gehört, wie sich die Haustür schloss, und war rechtzeitig ans Fenster getreten, um Donovan in den Lieferwagen steigen zu sehen, in dem man sie hierhergebracht hatte. Er war den Weg hinuntergefahren, auf die Straße abgebogen und verschwunden.
Was immer hier vor sich ging, jetzt war es nicht mehr aufzuhalten.
Das Licht in diesem Flur, drei Stockwerke unterhalb der Stelle, an der er mit Diana Taverner gesprochen hatte, schien bläulich, als ahme es die Dämmerung draußen unter freiem Himmel nach. Er war ein wenig desorientiert, als er aus
dem Aufzug trat: nicht nur das Licht, sondern auch die nackten weißen Wände und der geflieste weiße Boden trugen dazu bei. Unterhalb der Oberfläche war alles anders. Von Holzvertäfelungen und Marmoroberflächen war hier nichts mehr zu sehen.
Hinter ihm schloss sich die Fahrstuhltür, und die Maschinerie murmelte leise.
Achtundzwanzig Minuten.
Bislang war kein Alarm ausgelöst worden. River hatte seinen Ausweis im Aufzug liegen lassen, falls er gechipt war und der Sicherheitsdienst ihn dadurch hätte verfolgen können. Er hoffte, dass die beiden bewaffneten Terroristen am Ende der Straße für Ablenkung gesorgt hatten, aber es würde nicht lange dauern, sie zu erschießen und den Betrieb wiederaufzunehmen. Und er hatte nur achtundzwanzig oder siebenundzwanzig Minuten Zeit, um die Akte zu holen, die der Mann im Anzug haben wollte, damit seine Schläger ihre mangelnde Impulskontrolle nicht an Catherine ausließen.
»Ich soll in den Park einbrechen? Im Ernst?«
»Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«
Ja, irgendwie sah er tatsächlich ein wenig so aus. Es lag an dem hochmütigen Grinsen, der höhnischen Oberschichtsfratze.
»Wir machen’s ganz einfach. Sie brauchen sie nicht mal zu stehlen. Fotos reichen auch.«
»Aber man kann da nicht einfach so reinspazieren«, hatte River überflüssigerweise entgegnet.
»Sonst hätten wir wohl kaum Ihre Kollegin mitnehmen müssen.«
Durch eine offene Tür am Ende des Korridors erschien eine Gestalt.
Sie war ziemlich rundlich, trug das Haar wirr auf dem Kopf aufgetürmt, und ihr Gesicht war eine Maske aus dickem weißem Puder; ein kindischer Versuch, sich als Clown zu schminken, war Rivers erster Gedanke. Aber an ihren Augen, die so stahlgrau waren wie ihr Haar, war nichts Kindisches, und ihr Rollstuhl hatte nichts von einem Spielzeug. Er war kirschrot, mit dicken Rädern, und schien fähig zu sein, jegliche Art von Hindernis zu überwinden oder zu durchdringen: eine geschlossene Tür, einen feindlichen Graben, River Cartwright.
Das war also Molly Doran, von der er schon viel gehört hatte, teilweise Gutes.
Sie rollte auf ihn zu, den Kopf zur Seite geneigt. Ein schwaches Ping aus dem geschlossenen Schacht hinter ihm kam von dem Aufzug, der in einem anderen Stockwerk hielt, aber es hätte genauso gut von dieser Frau stammen können: Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie sich in einer Reihe von Piep- und Quieklauten geäußert hätte – nicht wegen des Rollstuhls (sagte er sich), sondern wegen dieses puppenhaften Gesichts mit dem Porzellanüberzug.
Doch als sie dann sprach, klang ihre Stimme nach einer nüchternen, sachlichen Vormittagsmoderatorin der BBC
.
»Sie sind einer von Jacksons Welpen, stimmt’s?«
»Äh … Ja. Das stimmt.«
»Was will er diesmal?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie rückwärts durch die Tür, aus der sie erschienen war. River folgte ihr und gelangte in einen langgestreckten Raum, der einem
Bibliotheksarchiv ähnelte, oder jedenfalls dem, was er sich darunter vorstellte: Reihe um Reihe auf Schienen stehende Regale, die bei Nichtbenutzung zusammengeschoben werden konnten und mit Pappordnern und -mappen gefüllt waren. Irgendwo dazwischen befand sich die Akte, die er stehlen sollte. Nein, viel einfacher: Er brauchte den Inhalt ja nur zu fotografieren.
Molly Doran rollte geschmeidig in eine Aussparung, die für ihren Rollstuhl vorgesehen war. Unterhalb der Knie fehlten ihr die Beine. River hatte schon viele Geschichten über sie gehört, aber noch nie hatte jemand glaubhaft erklären können, wie sie sie verloren hatte. Man war sich lediglich darüber einig, dass sie einmal Beine gehabt hatte.
Sie sagte: »Vielleicht haben Sie meine Frage nicht verstanden. Was will er diesmal?«
»Eine Akte«, sagte River.
»Eine Akte. Dann haben Sie also das Antragsformular.«
»Tja – Sie kennen doch Jackson.«
»Ja, früher habe ich ihn sehr gut gekannt.«
Molly Doran hatte etwas von einem Vogel, wenn auch nicht in dem Sinne, wie der Vergleich üblicherweise gebraucht wurde. Sie glich eher einem Pinguin; einem kleinen, dicken, hockenden Vogel mit zur Seite geneigtem Kopf und schnabelartiger Nase, wenn sie aufblickte. »Wie war noch gleich Ihr Name?«
»Cartwright.«
»Sie sehen ihm ähnlich. Ihrem Großvater …«
Er spürte förmlich, wie er schwerer wurde, als nähme die vergehende Zeit an Gewicht zu und drückte ihn mit den Konsequenzen ihres Vergehens zu Boden.
»Hauptsächlich die Augenpartie. Vor allem die Augenform. Wie geht es ihm?«
»Er ist noch rüstig.«
»Rüstig. Was für ein altmodisches Wort! Frauen sind quirlig, alte Leute rüstig. Es sei denn natürlich, sie sind es nicht. Was ist das für eine Akte, hinter der Jackson her ist?«
River begann, die Nummer aufzusagen, die ihm der Mann auf der Brücke genannt hatte, aber sie unterbrach ihn.
Ich meinte: »Worum geht es, mein Lieber? Welches Interesse hat unser Mr Lamb daran?«
»Ich weiß es nicht.«
»Er lässt Sie im Dunkeln tappen, oder?«
»Sie kennen doch Jackson«, wiederholte er.
»Besser als Sie, nehme ich an.« Sie musterte ihn anerkennend. »Wie sind Sie reingekommen?«
»Reingekommen?«
»Oben. Oder ist heute Tag der offenen Tür?«
»Ich habe einen Termin vereinbart.«
»Nicht mit mir. Wo ist Ihr Besucherausweis?«
»Ich hatte einen Termin mit Lady Di.«
»Oh, wie bedeutend wir sind. Seit wann lässt sie sich dazu herab, mit Exilanten zu parlieren? Oder öffnet der Name Ihres Großvaters Türen?«
»Ich habe mich nie darauf verlassen«, entgegnete River.
»Natürlich nicht. Sonst wären Sie kein Slow Horse.«
River hatte keine Lust, sich auf diese Diskussion einzulassen. Die Sekunden verrannen. Es kam ihm in den Sinn, sein Handy zu zücken und dieser Frau das Bild von Catherine zu zeigen. Er brauchte sie nur um Hilfe zu bitten.
Und gleich darauf würde der Sicherheitsdienst die Türen eintreten.
Sie fragte unvermittelt: »Wie geht es ihm?«
Ohne nachzufragen, wusste er, dass sie das Thema gewechselt hatte.
»Lamb? Wie immer«, antwortete er.
Sie lachte. Es klang nicht besonders fröhlich. »Das bezweifle ich«, erwiderte sie.
»Glauben Sie mir«, sagte River. »Er hat sich nicht zum Guten verändert.«
Zwanzig Minuten, wenn überhaupt. Und er musste die Akte nicht nur in die Hände bekommen und ihren Inhalt fotografieren, sondern auch eine Möglichkeit finden, die Fotos zu übertragen, was bedeutete, dass er das Gebäude verlassen musste. Falls er innerhalb dieser Mauern versuchen würde, einen Anhang zu versenden, würden sofort die Alarmglocken schrillen.
Das Pärchen im Auto musste inzwischen überprüft worden sein, und man hatte sicher bemerkt, dass er nicht wieder aufgetaucht war. Zwar hatte man wohl nicht gerade die ganze Bude abgeriegelt – er war nur ein Slow Horse; gut möglich, dass er sich verlaufen hatte –, aber sie würden bald Leute nach ihm schicken. Er musste sich beeilen! Doch Molly Doran ließ sich nicht in ihrem Redefluss beirren.
»Jackson Lamb hat so lange unter der Brücke gehaust, dass er inzwischen selbst ein halber Troll ist. Sie hätten ihn mal vor zwanzig Jahren sehen sollen!«
»Sicher«, erwiderte River. »Ich wette, er war ein Herzensbrecher.«
Sie lachte. »Er war nie ein Bild von einem Mann, das
nicht. Aber er hatte das gewisse Etwas. Sie sind zu jung und hübsch, um das zu verstehen. Jedenfalls konnte man als junge Frau schon sein Herz an ihn verlieren. Oder andere Körperteile.«
»Wegen dieser Akte …«
»Für die Sie kein Formular haben.«
»Selbst als er noch jung war und die Mädchen ihr Herz an ihn verloren«, fuhr River, »haben Sie da je erlebt, dass er ein Formular ausgefüllt hätte?«
»Sehr clever. Das gefällt mir.« Ohne Vorwarnung rollte Molly nach vorne, so dass ihr Stuhl wieder im Gang stand. »Das haben Sie sicher von Ihrem Großvater.«
»Die Sache ist die«, sagte River. Er neigte sich nach vorn und flüsterte ihr ins Ohr. »Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Da ich aber ohnehin einen Termin mit Lady Di hatte und wusste, dass Jackson diese Akte braucht …«
»… dachten Sie, Sie könnten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«
»Genau.«
»Scheint, als hätten Sie auch etwas von ihm übernommen, nicht nur von Ihrem Großvater«, stellte Molly fest. »Jackson hat nie Umwege gemacht. Nicht, wenn er mit dem Kopf durch die Wand konnte.«
»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er sich nicht geändert hat.«
»Was war das noch gleich für eine Akte?«
River wiederholte die Nummer. Zahlen konnte er sich schon immer gut merken, und genauso gut hatte er sich den
Mann auf der Brücke eingeprägt. Er hoffte, dass sie sich wiedersehen würden.
»Komisch«, bemerkte Molly Doran.
»Wieso?«
»Slough House ist doch nur für abgeschlossene Fälle und sinnlose Recherchen zuständig, oder? Nichts Lebendiges, nichts Ansteckendes. So hieß es bisher immer.«
»Ja, wir jonglieren viel mit Zahlen«, gab River zu. »Und jagen Phantome. Würde etwas Interessantes auftauchen, würden wir es wahrscheinlich dem Park übergeben.«
»Wahrscheinlich?«
»Ist bis jetzt noch nicht vorgekommen.«
Fünfzehn Minuten. Oder vierzehn. Oder zwölf. Er hatte Molly Dorans Gesicht beobachtet, als er ihr die Nummer nannte, aber sie hatte nicht durch die geringste Augenbewegung angedeutet, in welcher Richtung sich die Akte befinden könnte. Und ohne irgendeinen Hinweis konnte er stundenlang hier herumwandern, ohne sich ihr auch nur zu nähern. Eine Molly Doran hatte unter Garantie kein System, das auf einfachen Zahlenkombinationen beruhte.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie. »Denn diese Akte ist auf jeden Fall brandaktuell. Da es ja schließlich um den Premierminister geht und so weiter.«
Ihr Tonfall hatte sich nicht verändert.
Jemand ging den Flur entlang; Absätze klapperten laut wie Highheels auf Kopfsteinpflaster. Als sie innehielten, fühlte River, wie sein Herz das Gleiche tat. Ein Summen und Murmeln, und dann öffnete sich die Fahrstuhltür. Die Absätze klapperten hinein, und das Summen und Murmeln wiederholte sich in umgekehrter Richtung.
Während dieser ganzen Zeit nahmen Molly Dorans Augen ihn auseinander wie einen Legobausatz.
»Kann ich Ihnen die Wahrheit sagen?«, fragte er.
»Keine Ahnung, ob Sie das können«, erwiderte Molly. »Aber ich bin gespannt.«
»Jackson ist in einer seiner … Spiellaunen.«
»Die hat er manchmal«, stimmte sie zu.
»Genau.«
»Ungefähr so oft, wie ich joggen gehe.«
»Es geht um eine Wette.«
»Klingt schon plausibler.«
»Er hat mit mir gewettet, dass ich nicht rausfinden würde, welchen Spitznamen der Premierminister auf der Schule hatte.«
»Und Wikipedia hilft nicht?«
»Merkwürdig, oder? Ich nehme an, er hat ihn löschen lassen.«
»Ein kurzer Blick würde Ihnen also genügen.«
»Genau.«
»Und vielleicht sollte ich mich währenddessen umdrehen. Wenden in drei Zügen.«
»Wenn Sie meinen.«
»Na ja, wenn ich nicht hinsehe, habe ich nichts damit zu tun, stimmt’s? Und ich werde nicht zu Ihrer Komplizin, wenn Sie Staatsgeheimnisse verletzen. Fünf Jahre Knast in Holloway wären wirklich nicht meine Sache. Das Gefängnisessen soll schlecht für die Verdauung sein, habe ich gelesen.«
River brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie Gesellschaft hatten. Als seine Arme von hinten
gepackt wurden und die Plastikhandschellen einrasteten, war er sich hauptsächlich Molly Dorans Blick bewusst, mit dem sie ihn teils mitleidig, teils neugierig musterte, als hätte er etwas für sie Unvorstellbares getan. Und das bei einer Frau, die Jackson Lamb näher kennt, dachte er. Ich muss wirklich in Schwierigkeiten sein.
Sie sagte kein Wort mehr, während man ihn mäßig höflich aus dem Raum führte.
Als Catherine hörte, wie sich jemand am Vorhängeschloss zu schaffen machte, setzte sie sich auf und schwang die Beine über den Bettrand. Typische Reaktion von Gefangenen, wenn an der Kette gerasselt wird, dachte sie.
Sie hatte geglaubt, es wäre wieder Bailey – der junge Mann, der sie fotografiert hatte –, aber es war der Soldat, der vor dem U-Bahn-Eingang gestanden und sie zum Umkehren bewogen hatte. Wie auch Sean Donovan betrat er das Zimmer in der Art eines Berufssoldaten: Er sondierte die Lage mit einem einzigen Blick. Nichts hätte sich ändern können, seit er zum letzten Mal hier drin war, aber das war für ihn kein Grund, ein Risiko einzugehen. Anschließend fixierte er Catherine.
Sie wartete.
»Es tut mir leid«, begann er.
Doch sein Anblick strafte seine Worte Lügen.