6
Es hatte eine Zeit gegeben, in der in Louisas Herz jedes Mal tiefer Winter geherrscht hatte, wenn sie die Treppe von Slough House hinaufgestiegen war. Inzwischen trug sie ihr eigenes Wetter mit sich. Durch den Hof zu gehen und die Tür aufzustoßen, die ständig klemmte, hatte keine Auswirkungen auf sie. Sie war bereits zu einem Teil dieser Stimmung geworden, wo auch immer sie sich gerade befand.
Auf dem ersten Treppenabsatz blieb sie vor Hos Büro stehen. Ho saß an seinem Schreibtisch, vier Flachbildschirme vor sich aufgebaut, als wolle er sich bräunen lassen. Er nickte im Takt zu irgendetwas, vermutlich Musik, wie die gutgepolsterten Kopfhörer, die seinen Kopf winzig aussehen ließen, andeuteten. Ebenso gut hätten es auch die binären Rhythmen des Codes sein könnten, der die Bilder auf seine Monitoren zeichnete. Mehr als einmal hatte sie das Zimmer betreten, ohne dass er es bemerkt hatte, obwohl er seinen Arbeitsplatz so eingerichtet hatte, dass er auf die Tür blickte: Wenn er in seinem Element war, befand er sich gleichsam auf dem Mond. Denn obwohl Roderick Ho ein Arschloch war, war das nur das Offensichtlichste an ihm, nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war, dass er sich im Cyberspace auskannte. Und das war es wohl auch, was ihn am Leben hielt. Wäre er nicht gelegentlich nützlich gewesen, hätten ihn Marcus oder Shirley längst zu Brei geschlagen.
Aber heute weilte er nicht auf dem Mond, denn er beobachtete sie, als sie sein Büro betrat. Er nahm sogar seine Kopfhörer ab. Das katapultierte ihn geradezu in die Nähe von Jane Austen, was die Etikette anging: Louisa hatte erlebt, wie er als einzige Reaktion die Hand hob, als stoppe er den Verkehr, um andere zum Schweigen zu bringen, während er etwas Interessanteres tat, etwa eine Cola-Dose öffnete oder im Begriff war, auszuatmen.
Er sagte: »Hallo.«
Das war seltsam.
»Geht es dir gut?«
»Klar«, sagte er. »Warum?«
»Ach, nur so. Kannst du Catherines Handy orten?«
»Nein.«
»Ich dachte, du könntest so was. Mit GPS oder was weiß ich.«
»Nicht, wenn jemand den Akku rausgenommen hat. Was passiert ist.«
»Du hast es also schon versucht? Aus eigenem Antrieb?«
Er zuckte mit den Schultern.
Marcus stand nun hinter ihr; Shirley ebenfalls. Marcus sagte: »Dann hast du sie also nicht gefunden.«
Shirley ergänzte: »Cartwright haben wir auch nicht gefunden.«
»Kein Wunder«, bemerkte Louisa. »Du hast da was.«
Sie berührte ihre Oberlippe, und Shirley wischte sich einen Rest Eis weg. Sie warf Marcus einen finsteren Blick zu. »Du hättest ja mal was sagen können.«
»Und wo bleibt dann der Witz?«
Ho beobachtete die Szene, als spiele sie sich hinter Gittern ab. Louisa fragte ihn: »Was ist mit Rivers Handy?«
Er zuckte wieder mit den Schultern, diesmal beleidigt. »Ich bräuchte seine Nummer.«
Louisa las sie von ihrem Handy ab.
Ho fragte: »Hast du die Nummern von allen gespeichert?«
»Nein.«
Shirley stieß Marcus an.
Hos Finger begannen, über die Tastatur Salsa zu tanzen.
Louisa trat ans Fenster. Der gleiche Blick wie von ihrem aus, nur weiter unten. Sie dachte bei sich, dass sie damit nicht gerechnet hatte, als sie dem Geheimdienst beitrat. Jeden Tag die gleiche Aussicht, mit winzigen Abweichungen.
Letztes Jahr war ihr das eine Zeitlang nicht mehr so wichtig gewesen, aber dies hatte sich, wie alles andere auch, als trügerische Atempause herausgestellt. Der grausamste Trick des Lebens bestand darin, das Licht hereinzulassen, gerade so viel, dass man wusste, wo alles war, und es dann ohne Vorwarnung auszuschalten. Seitdem stieß sie gegen die Möbel. Zu Hause in ihrer Wohnung, hinter dem Kühlschrank unter Putz versteckt, befand sich ein fingernagelgroßer, ungeschliffener Diamant, ein kleiner Anteil an der Beute eines Raubs, den sie geholfen hatte zu vereiteln. Sie hatte keine Ahnung, wie viel er wert war, aber das hatte im Moment auch keinerlei Bedeutung für sie.
Min, du blöder Hund, warum musstest du sterben?
Und dann verdrängte sie diesen Gedanken, weil er zu nichts Gutem führen würde, für niemanden.
Ho war fertig mit dem Hämmern. »Cartwright ist blockiert«, sagte er.
»Was meinst du mit ›blockiert‹?«
»Sein Handy ist eingeschaltet, aber er ist irgendwo, wo das Signal verschlüsselt wird.«
»Zum Beispiel irgendwo hinter dicken Mauern?«
»Nein, zum Beispiel irgendwo, wo man ein GPS -Signal stören kann«, wandte Marcus ein.
»Verrückt«, bemerkte Shirley, die in ihrem Leben vor Slough House im Kommunikationssektor gearbeitet hatte. »Wo könnte das wohl sein?«
Der Raum, in dem er eingesperrt war, lag unter der Erde; das einzige Fenster war ein Spiegelfenster, nur von der anderen Seite einsehbar. Etwa einen Quadratmeter groß, reflektierte es die Leere des Raumes und sein eigenes seltsam ruhiges Äußeres. Das Herz in seiner Brust schlug jedoch Wirbel wie ein kleiner Trommlerjunge: rhythmisch und tonlos.
Die Minuten, die er heruntergezählt hatte, waren schon lange vorbei und die Deadline verpasst. Diese Männer haben eine miserable Impulskontrolle … Bald werden sie ihre Gürtel lockern. Er beobachtete im Spiegelbild, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Er hatte heute Morgen mehr als eine falsche Entscheidung getroffen. Zunächst hätte er auf der Brücke bleiben und den Mann runterwerfen sollen. Was auch immer mit Catherine geschehen würde, wäre sowieso passiert, aber zumindest hätte er diesem schleimigen Arsch das Grinsen aus dem Gesicht gewischt.
Und warum habe ich das nicht getan?, fragte er sich.
Er hätte sich gerne gesetzt, aber es gab nichts zum Sitzen. Der Raum war kahl, fast würfelförmig. Die Tür hatte keinen Griff, und es gab auch keine sichtbare Lichtquelle, obwohl die Decke einen gleichmäßigen bläulichen Schein ausstrahlte, der seinem Spiegelbild ein fremdartiges Aussehen verlieh. Fremdartig – dabei gehörte er hierher. Er hatte sich selbst in diese Lage gebracht; genauso gut hätte er vor einer halben Stunde Lady Di seine Handgelenke hinhalten können. Sperren Sie mich ein, hätte er sagen sollen. Ich bin hier, um zu stehlen, und ich habe keine Chance.
Es gab Regeln, und selbst ein lahmer Gaul kannte sie. Die Slow Horses hatten schließlich das gleiche Training wie alle anderen durchlaufen. Die Bedrohung eines Kollegen und konkrete physische Gefahr erforderten ein sofortiges, offizielles Vorgehen: In Rivers Fall verlief die Befehlskette durch Slough House nach oben bis auf den Schreibtisch von Jackson Lamb. Der trotz all seiner Fehler – und das waren viele – für einen Agenten in Gefahr durchs Feuer gehen würde; oder jemanden dazu bringen würde, durchs Feuer zu gehen. River hatte das unterlassen und dadurch eine Grenze überschritten, und weil er sich in den Park geblufft hatte, wurde die Sache nur umso schlimmer.
Sie nahmen dich auf, sie bildeten dich aus, sie bereiteten dich auf ein Leben vor, das du bei entsprechender Gelegenheit riskieren solltest, und dann sperrten sie dich in einem Büro mit Blick auf eine Bushaltestelle ein und zwangen dich, deine Energie, dein Engagement und deinen Wunsch zu dienen in ein Drecksloch voll endloser Schufterei zu stecken. Natürlich hatte er sich auf eine unautorisierte Mission begeben. Er war reif dafür gewesen, und wer immer ihn in den Spaß und das Spiel von heute Vormittag hineingeritten hatte, er hatte es von Anfang an vorgehabt.
Hatten diejenigen auch gewusst, dass er es vermasseln würde?
River lehnte sich gegen eine Wand, die Hände auf dem Kopf verschränkt, und fragte sich, was sein Großvater sagen würde. Der Old Bastard hatte den Service durch den Kalten Krieg gesteuert, ohne jemals konkret das Ruder zu übernehmen. Mächtig ist der, so hatte er River mehr als einmal eingeschärft, der seine Hand am Ellbogen des Verantwortlichen hat. Ohne den O.B. hätte er nach dem Fiasko von King’s Cross auf der Straße gestanden. Aber nicht einmal sein Großvater würde ihn diesmal schützen können.
Die Tür öffnete sich ohne Vorwarnung, und Nick Duf‌fy kam herein, einen Plastikstuhl in der Hand.
Duf‌fy war Leiter der internen Polizei des Secret Service, der sogenannten Dogs. Ihre Aufgabe glich eher der von Vollstreckern als der eines Exekutivorgans, und die Dogs wurden an einer ziemlich langen Leine gehalten, so dass Duf‌fy im Grunde genommen jeden beißen konnte, den er wollte, und nicht mehr als einen Klaps auf die Nase zu befürchten hatte. Die Art und Weise, wie er den Stuhl mit einem wütenden Quietschen der Beine hinknallte, zeigte, dass er in einer bissigen Stimmung war. Das grimmige Lächeln, das er River zuwarf, bestätigte dies. Außer dem Stuhl hatte er nichts mitgebracht, und als er sich rücklings daraufsetzte, sah man die Schwielen an seinen Fingerknöcheln.
Doch dass er einen Trainingsanzug trug, gab River am meisten Anlass zur Sorge.
Einen Trainingsanzug trug man, wenn es unschön werden konnte.
Der Vormittag war für Dame Ingrid bisher nicht schlechtgelaufen. Diana Taverner ein wenig zu reizen war immer eine nützliche Übung, und sie anschließend auszuhorchen hatte hübsch für Verwirrung gesorgt. Es war stets eine sinnvolle Strategie, ein Raubtier glauben zu machen, man sei verletzlicher, als man es in Wirklichkeit war. Wenn Peter Judd seinen unvermeidlichen Schachzug ausführte, um den Service seine neugewonnene Autorität spüren zu lassen, wusste Dame Ingrid zumindest, wo Taverner auf dem Schlachtfeld sein würde: direkt hinter ihr, auf der Lauer nach ihrer Schwachstelle.
Früher war es einfacher gewesen. Es gab den Service, und es gab die Feinde der Nation. Diese wechselten ab und zu ihre Identität, je nachdem, wer gewählt, abgesetzt oder ermordet worden war, aber im Großen und Ganzen waren die Grenzen klar: Man spionierte seine Feinde aus, behielt die Neutralen im Auge, und ab und zu hatte man die Chance, seine Freunde auf eine plausible, abstreitbare Art und Weise fertigzumachen. Ein bisschen wie in der Schule, aber mit weniger Regeln. Heutzutage spielte die Geopolitik jedoch neben der landesweiten Telefonüberwachung und dem Scannen des Twitter-Feeds des neuesten Whistleblowers kaum noch eine Rolle. Hätte man Ingrid Tearney gebeten, die größten Bedrohungen für die Sicherheit der Nation aufzulisten, hätte sie zuerst Minister und Kollegen aufgezählt. Genau herauszufinden, was Ansar al-Islam im Schilde führte, schien kaum mehr als eine Routineübung zu sein.
Aber man arbeitete mit dem, was man hatte, und Dame Ingrids Maxime war es, sich nach den augenblicklichen Gegebenheiten zu richten: Wenn das Große Spiel auf den Status der neuesten App reduziert worden war, dann sollte es so sein. Solange es ein Podium für den Sieger gab, wusste sie, wo sie stehen wollte.
Auf ihrem Schreibtisch wartete die übliche Ansammlung von Dokumenten zur Unterzeichnung: das Protokoll der Sitzung vom Vormittag; verschiedene Berichte aus verschiedenen Abteilungen. Obendrauf lag ein Memo mit der Bitte, beim Sicherheitsdienst anzurufen. Es musste während ihrer Abwesenheit hier gelandet sein. Security bedeutete interne Angelegenheiten; was immer also gerade passiert war, es war wahrscheinlich keine Bedrohung für die Nation. Sie rief trotzdem unten an, wurde mit dem Zwinger – dem unvermeidlichen internen Namen für die Büros der Dogs – verbunden und erhielt eine zweiundzwanzig Sekunden lange Zusammenfassung über das Eindringen eines externen Agenten in den Park.
»Und wo ist er jetzt?«
»Unten. Mr Duf‌fy unterhält sich mit ihm.«
Die meisten bedauerten es, sich mit Mr Duf‌fy unterhalten zu müssen.
»Hatte – wie hieß er noch gleich – einen plausiblen Grund?«
»Cartwright. River Cartwright.«
»Gibt es einen plausiblen Grund für Cartwrights Anwesenheit?«
»Er gehört zum Slough House, Ma’am.«
»Das ist der Kontext, aber nicht unbedingt ein Grund. Okay, soll Mr Duf‌fy sich darum kümmern. Er soll mich anrufen, wenn er fertig ist.«
Cartwright, dachte sie. Der Enkel, wenn sie sich nicht irrte.
Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich unwichtig.
Kaum hatte sie ihren Stift zur Hand genommen, klingelte das Telefon erneut.
Nick Duf‌fy sagte: »Jeden Morgen wache ich auf und denke: Wer wird mir heute das Karma versauen? Denn irgendeinen gibt es immer. In einem Job wie meinem hat man selten Gelegenheit, sich zurückzulehnen, Zeitung zu lesen und in Ruhe zu warten, bis die Geschäfte aufmachen.«
Für einen Augenblick glaubte River, Duf‌fy würde das mit dem Zurücklehnen imitieren, doch der wusste genau, was er tat. Er kippte den Stuhl nur leicht an und ließ ihn dann mit einem Rumms wieder aufkommen. River zuckte nicht mit der Wimper. Das war bloß Pantomime. Bis jetzt hatte Duf‌fy nichts gesagt, was er nicht schon hundertmal abgespult hätte.
»Nein, denn es gibt immer jemanden, der mit der Titte in der Wringmaschine hängengeblieben ist, und ich bin dann der Depp, der sie wieder freikriegen muss. Dienstausweis in der Kneipe vergessen? Nick soll das klären. Unvorsichtige Äußerungen gegenüber einem Paparazzo? Mal sehen, ob Nick die Spuren nicht beseitigen kann. In der Botschaftsdisco das falsche Frischfleisch gevögelt? Keine Sorge, Nick wird ihren Bodyguard einschüchtern. Du weißt schon, so was in der Art. Wir bei den Dogs haben einen Ausdruck dafür. Wir nennen es den ›richtig blöden Scheiß‹.«
In der Hoffnung, die Sache abzukürzen, fragte River: »Bin ich verhaftet?«
»Normalerweise bin ich also nur ein besseres Au-pair, das dafür sorgt, dass alles hübsch aufgeräumt wird – keine bleibenden Schäden, keine bösen Überraschungen in der Boulevardpresse. Aber was haben wir heute? Ah, etwas Besonderes. Da spaziert jemand einfach so in den Park, quasi unter meinen Augen, und glaubt, er könne den richtig blöden Scheiß auf ein ganz neues Level bringen.«
»Denn wenn ich verhaftet wäre, hätte ich das Recht auf einen Anruf, stimmt’s?«
»Zugegeben, ein Agent im aktiven Dienst, aber einer mit einer geringeren Sicherheitsfreigabe als die Hausmeister hier. Weil unsere Hausmeister regelmäßig mit üblem Mist konfrontiert werden.« Er wechselte abrupt die Position, und River wusste, dass er jetzt eine andere Gangart einlegen würde. »Sie dagegen, Mr Cartwright, kommen aus Slough House, aus Barbican, und die geheimste Information, in die Sie eingeweiht sind, ist die, ob der Bus Nummer 56 pünktlich fährt oder nicht. Und diese Information dürfen Sie nur mit schriftlicher Genehmigung eines Vorgesetzten weitergeben. Und das wäre so ziemlich jeder, oder? Korrigieren Sie mich, wenn ich falschliege.«
River sagte: »Also habe ich nicht das Recht auf einen Anruf.«
»Natürlich nicht! Sie haben Glück, wenn Sie das Recht auf eine Augenbinde kriegen!«
»Es wäre aber sinnvoll, wenn ich mein Handy wiederbekommen könnte. Da ist etwas drauf, das Sie sich ansehen sollten.«
»Was ich sollte und was Sie glauben, dass ich sollte, sind zwei verschiedene Paar Schuhe, Cartwright. Mal sehen, ob ich die Reihenfolge der Ereignisse richtig verstanden habe. Sie spazieren ohne Genehmigung in den Park. Sie zerren Ms Taverner aus einer Sitzung und tischen ihr irgendwelchen Mist über Mr Webb auf, einen Kollegen, der zwar arbeitsunfähig ist, aber im Gegensatz zu Ihnen immer noch ein gestandener Beamter.«
»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er nicht mehr gestanden.«
Duf‌fy schwieg einen Moment lang. »Sie haben zu viel Zeit mit Jackson Lamb verbracht. Das war weder lustig noch hilfreich.«
»Ich hatte einen guten Grund herzukommen.«
»Davon gehe ich aus. Aber das ist mir scheißegal. Sie wurden in einem Bereich mit beschränktem Zugang aufgegriffen, und laut Molly Doran hatten Sie vor, sich Einsicht in eine Geheimakte zu verschaffen. Wissen Sie, welche Strafe auf Verstöße gegen das Staatsgeheimnisgesetz steht?«
»Ich habe nicht gegen das Gesetz verstoßen!«
»Sie hatten es aber vor. Wissen Sie, welche Strafe darauf steht? Man wird Sie nicht den Müll im Park aufspießen lassen, Cartwright. Das wird keine einstweilige Verfügung wegen antisozialen Verhaltens. Sie sind Mitglied des Geheimdienstes, ein Versager zwar, aber Sie tragen einen Dienstausweis und werden in den Büchern geführt. Das macht das, was Sie getan haben, nicht zu einem Bagatelldelikt, sondern zu Hochverrat. Was hatten Sie mit der Akte vor? An wen wollten Sie sie verkaufen?«
Lamb hatte seine Schuhe ausgezogen, und sein Büro roch nach Socken, was der viertschlimmste Geruch darin war, an den sich Louisa erinnern konnte. Sie holte tief Luft, trat über die Schwelle und erzählte ihm, was Ho ihr gerade gesagt hatte.
»Er ist wieder im Park?« Lamb überlegte einen Moment lang. »Das würde seinen Großvater stolz machen, wenn er noch am Leben wäre.«
»Aber er lebt doch noch, oder?«
»Schon, aber wenn er rauskriegt, dass Junior verhaftet wurde, bringt es ihn wahrscheinlich um«, argumentierte Lamb.
»Wie kommen Sie darauf, dass er verhaftet wurde?«
»Wenn sein Handy blockiert ist, bedeutet das, dass er unten ist. Und wenn er unten ist, dann nicht, weil heute im Kerker Tag der offenen Tür ist.«
Louisa erinnerte sich an Gerüchte, die sie über Verhöre im Keller des Parks gehört hatte, und fragte sich, was zum Teufel River getan hatte, um dort zu landen. Und dann auch noch so fix. Es war erst ein paar Stunden her, seit sie in der Küche gestanden und Kaffee gekocht hatten. Er hatte sie gefragt, wo Catherine war. Und Catherine war immer noch nicht wieder aufgetaucht.
Sie sagte: »Das ist kein Zufall.«
»Was, dass er und Standish beide verschwunden sind? Das bezweif‌le ich.«
»Und was sollen wir jetzt machen?«
»Ich mache, was ich immer mache. Und Sie machen das, was Sie gestern auch gemacht haben.« Mit einer für so einen dicken Mann überraschenden Geschicklichkeit legte Lamb seinen rechten Fuß auf sein linkes Knie und begann, ihn grob zu massieren. »Das Volkszählungsprojekt, stimmt’s?«
»Wir machen also alle einfach ganz normal weiter.«
»Als wären Sie normal, genau. Es geht doch nichts über Ehrgeiz.« Er nahm einen Bleistift von seinem Schreibtisch und kratzte sich damit zwischen den Zehen. »Sind Sie immer noch hier?«
»Was soll aus River werden?«
»Wenn sie ihn bis auf die Knochen abgenagt haben, werden sie ihn wohl zurückschicken. Sonst bringt er da nur alles durcheinander.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Was soll die Frage? Welchen Teil davon fanden Sie lustig?«
»Zwei Ihrer Agenten sind weg, und Sie sitzen nur da und bohren Löcher in Ihre Socken?«
»Von euch ist keiner ein richtiger Agent, Guy. Ihr seid nur ein Haufen Versager, die Glück hatten.«
»Das nennen Sie Glück?«
Lamb verzog die Lippen. »Ich habe nicht gesagt, was für eine Art von Glück.«
Er warf den Bleistift auf den Schreibtisch, wo er weiterrollte, bis er auf der anderen Seite herunterfiel.
Louisa sagte: »Wir sind keine aktiven Agenten, das stimmt. Aber wir sind Ihre Agenten. Das wissen Sie ganz genau.«
»Übertreiben Sie mal nicht. Wir sind hier in Slough House, nicht bei ›Spooks‹.«
»Was Sie nicht sagen. Es reicht ja nicht mal für die ›Muppet Show‹.« Sie ging einen Schritt in den Raum hinein. »Aber Sie scheinen zu glauben, dass Catherine etwas zugestoßen ist, sonst hätten Sie mich nicht zu ihrer Wohnung geschickt. Und wohin auch immer River unterwegs war, es muss etwas damit zu tun haben. Und das bedeutet für mich, dass ich nicht mit dem Volkszählungsprojekt weitermachen werde. Und zwar so lange, bis Sie mir sagen, was Sie unternehmen wollen!«
Es war dunkel in Lambs Zimmer, wie üblich; er hatte die Jalousien geschlossen und seine funzelige Schreibtischlampe eingeschaltet. Sie stand auf einem Stapel längst veralteter Telefonbücher, und die Schatten, die sie warf, fielen größtenteils auf den Boden, wo sie wie Spinnen umherkrochen. Die Decke war schräg, und die Dielenbretter knarrten, und das, was er an den Wänden aufgehängt hatte – eine Korkpinnwand, an der Rabattcoupons brüchig-gelb verstaubten wie die Leichen aufgespießter Motten, sowie ein schmierig-glänzender Druck von einer Brücke über einen fremdländisch anmutenden Fluss, der mit ziemlicher Sicherheit aus einem Wohltätigkeitsladen stammte –, unterstrich die gruselige Atmosphäre. Doch auf Gemütlichkeit legte er so gar keinen Wert, und der Blick, den er jetzt auf Louisa richtete, betonte diese Tatsache.
»Ich glaube, Sie vergessen, wer hier der Chef ist.«
»Nein. Ich erinnere Sie nur daran, dass Sie es sind.«
Sie erwartete eine seiner Anzüglichkeiten, ein verächtliches Schnauben oder sogar einen Furz – es hatte in der Vergangenheit Hinweise dafür gegeben, dass er diese nach Belieben ausstoßen konnte, es sei denn, er hatte einfach ungewöhnlich viel Glück mit seinem Timing. Doch stattdessen stellte Lamb seinen Fuß schwer auf den Boden und lehnte sich in seinem Stuhl so weit zurück, dass dieser hörbar protestierte. Anstelle seines üblichen Repertoires von Grimassen war sein Gesicht jetzt ausdruckslos, fast glatt, eine passive Maske, hinter der sie förmlich seine Gedanken arbeiten sah.
Endlich sagte er: »Ich muss mal telefonieren«, und es klang ungefähr so begeistert, als wolle er einen Kahn schleppen oder etwas Schweres heben.
Louisa nickte und blieb, wo sie war.
»Es ist ein Telefonat, kein Fick. Ich brauche niemanden, der mich beobachtet, um sicherzugehen, dass ich alles richtig mache.«
Das war kein Bild, das Louisa in ihrem Kopf haben wollte. Sie ließ ihn allein, schloss aber beim Hinausgehen nicht die Tür.
»Was hatten Sie mit der Akte vor?«, fragte Duf‌fy. »Und an wen wollten Sie sie verkaufen?«
»Ich wollte sie nicht verkaufen.«
»Nur als kleine Bettlektüre behalten, nicht wahr?« Duf‌fy stand auf und versetzte dabei dem Stuhl einen Stoß, so dass er umfiel. »Um sich einen runterzuholen, während Sie die kleinen Geheimnisse des Premierministers durchstöbern.«
»Hat er wirklich Geheimnisse, bei denen man sich einen runterholen kann?«
Duf‌fy blieb vor der Spiegelscheibe stehen und tat so, als sei es ein Spiegel. Er fuhr sich mit einer Hand durch sein kurzes Haar, vielleicht auf der Suche nach kahlen Stellen. Oder er gab der Person auf der anderen Seite geheime Handzeichen.
Er sagte: »Wirklich komisch daran ist, dass Sie das komisch finden.«
»Ich finde es nicht komisch.«
»Denn über diesen Witz werden Sie sich noch lange freuen müssen. In ein paar Jahren werden Sie darüber kaum noch müde kichern können.« Er ging einen Schritt auf River zu, der an der Wand lehnte, und baute sich dicht vor ihm auf. River roch den Weichspüler, den er für seinen Trainingsanzug verwendet hatte. Duf‌fy hatte ihn frisch angezogen.
Er sagte: »Sie haben Catherine Standish.«
»Standish.«
»Man hat mir ein Foto von ihr geschickt. Von ihrem Handy auf meines. Es wurde entweder heute Morgen oder gestern Abend aufgenommen. Sie wollen die Akte.«
»Standish«, wiederholte Duf‌fy. »Die ist auch so ein ausrangiertes Exemplar, stimmt’s?«
»Kann ich dabei sein, wenn Sie das zu Lamb sagen?«
»Ohne ausdrückliche Erlaubnis gehen Sie nirgendwohin, Cartwright. Ihre ganze Zukunft besteht aus einem einzigen langen Ja-Sir-nein-Sir.«
Das klang furchterregend plausibel. Und River hatte Angst, weil Duf‌fy gut in seinem Job war, aber er hatte irgendwie mehr Angst davor, sich das anmerken zu lassen.
Sich nichts anmerken zu lassen war alles, was ihm im Moment noch blieb.
»Sie haben Catherine Standish, und jemand muss nach ihr suchen! Das Foto ist auf meinem Handy. Wer auch immer hinter dem Spiegel ist, muss es sich sofort ansehen!«
»Hier geht es nicht um Ihre Amateurpornosammlung, Cartwright. Es geht um Ihren Versuch, die Sicherheitsakte des Premierministers zu stehlen. Haben Sie wirklich geglaubt, Sie kämen damit durch?«
»Der Typ, mit dem ich gesprochen habe, war Anfang fünfzig und etwa eins-achtzig groß. Grauer Anzug, gelbe Krawatte, schwarze Schuhe. Dunkles Haar, an den Schläfen leicht ergraut. Engländer, weiß, Upper-Class-Redeweise …«
Duf‌fy schlug mit der linken Hand gegen die Wand, einen Zentimeter neben Rivers Ohr. »Und er ist Ihr Käufer, stimmt’s? Er ist der Mann, der Sie angewiesen hat, in den Park einzubrechen.«
»Ich bin nicht eingebrochen.«
»Sie waren nicht eingeladen, verdammt noch mal! Wo soll das gewesen sein?«
»Drüben beim Barbican.«
»Und dieser feine Pinkel, der ist einfach ins Slough House reinmarschiert?«
»Nein, ich habe doch schon gesagt, dass er …«
Duf‌fy schlug mit der anderen Hand gegen die Wand und lehnte sich nach vorne, so dass seine Stirn fast die von River berührte. »Wollen Sie wissen, warum ich Schwierigkeiten habe, dieses Märchen zu glauben, Cartwright?«
»Überprüfen Sie mein Handy!«
»Wenn irgendetwas davon auch nur im Entferntesten stimmen würde, wissen Sie, wo Sie dann jetzt wären? An Ihrem Schreibtisch, um Ihre Arbeit zu erledigen. Nachdem Sie all diese … ungewöhnlichen Ereignisse Ihrem Chef gemeldet hätten, der sie entsprechend den Vorschriften weitergeleitet hätte. Hätten Sie nämlich irgendetwas anderes gemacht, Cartwright, hätten Sie wissentlich das Leben Ihrer Kollegin in Gefahr gebracht, so einer wie Sie … Wie nennt man Sie gleich da drüben?«
River konnte Duf‌fys Atem riechen. Er konnte die Hitze des Schweißes auf seiner Stirn spüren.
»Ich höre nichts!«
»Sie wissen genau, wie man uns nennt.«
Und dann krümmte er sich vor Schmerz, diesem vertrauten, schrecklichen Schmerz, den Männer früh kennenlernen und niemals vergessen. In ein, zwei Minuten würde es noch schlimmer werden. Aber im Augenblick wischte Duf‌fys Knie an seinen Hoden alle Gedanken an seine Zukunft aus.
Duf‌fy trat zurück, und River fiel zu Boden.
Diana Taverner meldete sich beim dritten Klingeln mit einem knappen: »Was willst du?«
»Aber nicht doch«, erwiderte Lamb. »Die Freude ist ganz meinerseits.«
Er hatte sie auf dem Handy angerufen, obwohl er genau wusste, dass sie an ihrem Schreibtisch saß – einerseits wegen ihres ausgeprägten Pflichtbewusstseins, andererseits wegen ihrer unterschwelligen Angst, jemand könne ihr Büro für sich beanspruchen, wenn sie es zu lange alleinließe.
»Ich wollte dich auch schon anrufen«, sagte sie. »Die Finanzabteilung hat deine letzte Spesenabrechnung moniert. Wie kommt es, dass du so hohe Reisekosten ansetzt, wenn du dein Zimmer kaum verlässt?«
»Wie kommt es, dass die Finanzabteilung ihre Anfragen an dich richtet?«
»Weil die hochherrschaftliche Dame verfügt hat, dass jeglicher Mist auf meinen Schreibtisch zu landen hat.« Es folgte eine Pause, gerade lange genug, um sich eine Zigarette anzuzünden, wenn das im Park nicht ein Vergehen gewesen wäre, für das man erschossen wurde. »Sie will betonen, wie unentbehrlich ich bin, das heißt, sie glaubt, einen Weg gefunden zu haben, auf mich zu verzichten.«
Da er nicht im Park war und weil in Slough House niemand ohne seine Erlaubnis erschossen wurde, zündete sich Lamb eine Zigarette an. »Dafür klingst du ziemlich entspannt.«
»Sie muss früher aufstehen, als sie denkt«, erwiderte Taverner, was sich von jedem anderen kryptisch angehört hätte, in ihrem Fall aber ziemlich klar war. »Also. Diese Spesenabrechnungen.«
»Bedränge mich nicht, Diana. Ich habe Geiseln, schon vergessen?«
»Das sind nicht deine Geiseln, Jackson. Das sind deine Mitarbeiter.«
»Ganz wie du meinst«, sagte Lamb. »Aber es sind nicht mehr so viele, wie ich mal hatte. Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du einen davon eingesperrt hast.«
»Du meinst River Cartwright.«
»Ja, aber mach mich nicht dafür verantwortlich. Ich glaube, seine Mutter war ein Hippie.«
»Hat wohl eine Menge Dope geraucht, als er noch in ihrem Bauch war, was? Das würde sein dämliches Verhalten heute erklären. Und ich dachte, er wäre einer deiner intelligenteren Jungs.«
»Verstand wie eine Rasierklinge«, stimmte Lamb zu. »Die Wegwerfsorte. Wie dem auch sei: Wenn ihr mit ihm fertig seid, schick ihn bitte wieder zurück, ja? Ich habe mir drei verschiedene Methoden ausgedacht, ihm das Leben zur Hölle zu machen, und es juckt mich, sie in die Praxis umzusetzen.«
Es juckte ihn tatsächlich, und da sein Bleistift außer Reichweite war, griff er nach einem Plastiklineal und sägte die Lücken zwischen den Zehen seines rechten Fußes tiefer, was umso leichter ging, als der Stoff seiner Socke nachgegeben hatte.
»Ja klar.« Taverner gab ihr kehliges Glucksen von sich, das bekanntlich die Herren im Aufsichtskomitee aufhorchen ließ. »Aber vielleicht solltest du deine neuesten … Tricks an einem anderen ausprobieren, Jackson.«
»›Tricks‹?«
»Es geht hier nicht um eine deiner gewohnten Unverschämtheiten, Lamb. Cartwright hat versucht, eine Geheimakte auf Scott-Level zu stehlen oder zu fotografieren, und wenn der Inhalt dieser speziellen Akte durchsickern würde, könnte das sowohl für den Service als auch für die Regierung ernsthaft peinlich werden. Wir werden Cartwright daher nicht mit einem Klaps auf die Hand zu dir zurückschicken. Wie auch immer, es liegt nicht in meinem Ermessen. Er ist bei den Dogs. Und wenn sie mit ihm fertig sind, werden sie ihn der Metropolitan Police übergeben.«
Lamb nahm einen langen Zug an seiner Zigarette, so laut, dass Taverner wusste, was er tat. Er sagte: »Scott-Niveau? Spielt ihr immer noch den ›Thunderbirds‹-Film nach da drüben?«
»Ja, aber mach mich nicht dafür verantwortlich. Tearney hält sie für Astronauten.« Ihr Glucksen schwebte erneut in Lambs Zimmer und vermischte sich mit der Qualmwolke, die er gerade ausgeatmet hatte. »Und wenn du glaubst, ich merke nicht, wann du bluffst, hast du dich geirrt. Du hast keine Ahnung, was dein Mann im Sinn hatte, oder?«
»Tja, ich habe dieses Jahr Geburtstag. Vielleicht hat er nach einem besonderen Geschenk gesucht.«
»Ich lasse dir deine Spesenabrechnung per E-Mail zukommen. Vielleicht solltest du den ein oder anderen Posten noch einmal überdenken.«
»Diana?«
Diesmal war es mehr als nur ein Glucksen. Sie lachte geradeheraus. »Willst du jetzt etwa ein Plädoyer halten?«
Lamb sagte: »Cartwright ist nicht mein einziger Agent auf Abwegen. Wenn da irgendetwas im Busch ist, von dem ich wissen sollte, dann lässt du mir das am besten auch per E-Mail zukommen. Das würde es mir ersparen, rüberzukommen und dich persönlich fragen zu müssen.«
Er legte auf und versetzte seinem Fuß einen letzten heftigen Kratzer mit dem Lineal, dass es mit einem Knall, so laut wie ein Schuss, in der Mitte zerbrach.
Da dies Slough House und Lamb Lamb war, kam niemand, um nachzusehen, ob es womöglich tatsächlich einer gewesen war.
Als er wieder sehen konnte, erkannte er zunächst nur den Fußboden. Er spuckte, und dann konnte er den Boden und etwas Speichel ausmachen. Anschließend verschwamm alles, dann wurde seine Sicht wieder klar.
Jetzt weißt du also, sagte eine Stimme in seinem Hinterkopf, wie es ist, wenn ein Experte dir in die Eier tritt.
Erstaunlich, wie selbst die grundlegendsten Fähigkeiten in den Händen eines Künstlers zu einem kleinen Meisterwerk werden können.
»Ich warte«, sagte eine andere Stimme. Die war nicht in seinem Kopf, sondern äußerst real.
River kauerte sich in eine Position zusammen, in der der Schmerz zwar nicht abklang, aber den Gedanken zuließ, dass er das möglicherweise eines Tages tun könnte. Er holte tief Luft, etwas besorgt, dass dabei etwas Wichtiges reißen könnte, suchte nach seiner Stimme und fand sie etwas weiter entfernt als sonst. »Slow. Horses. Nennt man uns. Die lahmen. Gäule.« Sogar in seinen eigenen Ohren klang er wie ein neunzigjähriger Flüchtling. »Und wissen Sie. Wie man. Sie nennt?«
»Jeder weiß, wie man uns nennt«, erwiderte Duf‌fy. »Die Dogs.«
»Nein. Die Dogs. Nennt man. Dogs. Sie nennt man. Dämliches Arschloch.«
»Tja, und trotzdem bist du derjenige, der am Boden liegt.«
»Versuch das. Bloß nie. Außerhalb deines. Zwingers«, ächzte River. »Dann werden wir ja sehen, wer am Ende. Am Boden liegt.«
Es fiel ihm wieder leichter, wie früher: die Worte aus seinem Mund kommen zu lassen. Er schaute auf und sah, dass Duf‌fy geradewegs seinen Blick erwiderte.
»Können wir gerne mal ausprobieren«, sagte er. »Aber nicht so bald. Sie werden noch eine Weile beschäftigt sein.«
»Standish«, brachte River hervor. »Sie haben Catherine Standish!«
»Soso. Aber damit haben wir nichts zu tun. Und Sie werden eine Heidenarbeit haben, irgendjemanden davon zu überzeugen, dass sie die Überprüfungsakte des Premierministers wert ist.« Duf‌fy fuhr mit dem linken Zeigefinger über die Knöchel seiner rechten Hand. »Jetzt stehen Sie auf und lassen Sie es uns noch einmal versuchen.«
Wacklig rappelte sich River hoch.
Duf‌fy fragte: »An wen wollten Sie sie verkaufen?«
River wiederholte: »Sie haben Catherine Standish. Sehen Sie auf meinem Handy nach, Sie Idiot!«
Diesmal schlug Duf‌fy ihm in den Bauch.
»Es tut mir leid«, sagte der Soldat.
Er sah nicht so aus, als meinte er das ernst.
»Aber wir haben keine Milch mehr.«
Er stellte die Tasse Tee, die er mitgebracht hatte, auf den Nachttisch.
»Zimmerservice?«, fragte Catherine.
»Na ja, wir können Ihnen ja nicht erlauben, nach Belieben in die Küche zu spazieren. Aus Sicherheitsgründen.«
»Das ist die seltsamste Entführung, von der ich je gehört habe«, sagte sie ihm. »Nicht dass ich eine Expertin wäre – aber jetzt mal ehrlich: Macht ihr das zum ersten Mal?«
Der Soldat schürzte die Lippen, als würde er darüber nachdenken. »Wir haben Gefangene gemacht. Aber die Umstände waren anders.«
»Sie werden mich also nicht töten.«
»Wir sind keine Tiere.«
»Kann ich das schriftlich haben?« Sie hatte auf ein Grinsen gehofft, und als sie keines bekam, fragte sie: »Wo ist Donovan?«
»Unten.«
Das stimmte nicht. Er war vorhin mit dem Van weggefahren. Aber es konnte nicht schaden, so zu tun, als ob sie ihm glaubte.
Sie sagte: »Ich könnte etwas Frisches zum Anziehen gebrauchen.«
»Ich habe gesagt, wir sind keine Tiere. Ich habe nicht gesagt, wir sind Marks and Spencer.«
Er wandte sich zum Gehen, und Catherine suchte nach einem Haken, um ihn zurückzuhalten. Sie fand einen, als er gerade die Tür schloss.
»Spricht er viel über sie?«
»Über wen?«
»Über das tote Mädchen.«
Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Sie war kein Mädchen. Sie war Captain beim Militär.«
»Entschuldigung. Aber trotzdem ist sie tot, oder? Spricht er überhaupt von ihr? Ich würde das ganz bestimmt tun.«
Catherine hörte selbst, dass ihre Stimme lauter geworden war. Eigentlich hatte sie ihren Tonfall immer gut unter Kontrolle, aber sie wollte unbedingt, dass er blieb, dass er weiterredete, ihr etwas darüber verriet, warum sie hier war und was anderswo geschah.
»Wenn ich betrunken den Unfallwagen gefahren hätte, meine ich«, schloss sie.
Er schüttelte den Kopf, irgendwie traurig, schien es ihr, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab.
Nach einer Weile griff Catherine nach dem Tee.
Nick Duf‌fy spritzte sich Wasser ins Gesicht und blickte anschließend starr in den Badezimmerspiegel, entdeckte aber nichts Ungewöhnliches. Die Arbeit eines Morgens. Wobei sie nicht immer so aussah – wie denn auch, sie lebten schließlich nicht in einem Polizeistaat.
Nachdem er sich mit einem Papierhandtuch abgetrocknet hatte, sah er durch die Spiegelscheibe nach Cartwright. Er hätte erwartet, dass sich der Junge – na ja, Junge stimmte nicht mehr ganz, aber für Duf‌fy war er einer – auf den Stuhl gesetzt hätte, den Duf‌fy extra deswegen stehen gelassen hatte, damit er ihn ihm beim nächsten Durchgang wieder wegnehmen konnte. Cartwright war jedoch stehen geblieben. Er lehnte an der Wand, und obwohl er nicht gerade glücklich aussah – blass wie ein Fisch mit Bauchschmerzen –, so hatte er sich, wie Duf‌fy bemerkte, doch nicht aus dem Blickfeld des Spiegels entfernt. Tatsächlich zeigte er in diesem Moment den gestreckten Mittelfinger in Richtung der Scheibe, als wüsste er, dass Duf‌fy zuschaute.
Konnte ein Zufallstreffer sein.
Er trat zurück und nahm das Telefon von der Wandhalterung. Eine dreistellige Durchwahl verband ihn mit Diana Taverner.
»Er bleibt bei seiner Geschichte.«
»Wie war die noch gleich?«
Duf‌fy ging alles noch mal durch: das Foto von Standish, die kurze Anweisung. Der Mann auf der Brücke, der einen Anzug getragen und affektiert gesprochen hatte.
»Es klang, als ob er Cartwright auf die Nerven gegangen wäre.«
»Sie glauben ihm also?«, fragte Taverner.
Duf‌fy schaute seine freie Hand an. Nichts deutete darauf hin, dass er an diesem Morgen seine Faust zu etwas Gröberem eingesetzt hatte, als einen heißen Kaffee zu tragen.
»Ich glaube, er hätte seine Geschichte geändert, wenn sie nicht wahr wäre«, sagte er.
Er war an Lady Dis Schweigen gewöhnt, was im Allgemeinen bedeutete, dass sie Informationen sammelte und Pro und Contra abwog. Diesmal fühlte es sich jedoch anders an, als wüsste sie bereits, was zu tun sei.
Im Vernehmungszimmer zeigte Cartwright ihm wieder den Mittelfinger. Duf‌fy vermutete, dass er gar nicht mehr anders konnte. Eine Trotzreaktion, denn ungeachtet dessen, was in den letzten zwanzig Minuten passiert war, hatte er immer noch nicht begriffen, in welche Scheiße er sich da verdammt tief reingeritten hatte.
Taverner sagte: »Haben Sie jemanden losgeschickt, um nach diesem Mann zu suchen? Dem auf der Brücke?«
»Vor zwei Stunden hat ein Mann in London auf einer Brücke gestanden«, sagte Duf‌fy. »Wir könnten die Stadt abriegeln, wenn Sie möchten.«
»Reden Sie noch einmal so mit mir«, sagte Taverner, ohne ihren Tonfall zu ändern, »und Sie würden liebend gerne mit Cartwright tauschen. Was ist mit der Frau – Standish?«
»Das Foto ist auf seinem Handy. Wie er gesagt hat.«
»Und woher kam es?«
»Von ihrem Handy.«
»Ja, richtig … Irgendeine Spur?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Wie schwer haben Sie ihn verletzt?«
»Man merkt ihm kaum etwas an.«
»Nach Ihren oder allgemeinen Maßstäben?«
»Er mag ein Slow Horse sein, aber er ist kein Zivilist. Er wird’s überleben.«
»Das ist auch gut so. Lamb kann … gereizt reagieren, wenn seiner Mannschaft Schaden zugefügt wird.«
»Ich dachte, er verachtet seine Mannschaft.«
»Das heißt aber nicht, dass er es leiden kann, wenn andere Leute sich mit ihnen anlegen. Okay, lassen Sie Cartwright für den Augenblick schwitzen. Früher oder später werden wir von oben hören.«
»Von oben?«
»Ja, allerdings. Dame Ingrid wurde ins Innenministerium gerufen. Und Sie wissen, wie fröhlich sie das stimmt.«
Cartwright zeigte ihm schon wieder den Stinkefinger. Er konnte natürlich nicht wissen, dass Duf‌fy dort stand, aber es ging ihm trotzdem langsam auf die Nerven.
Er sagte: »Hören Sie. Dieser Witz über die Stadt absperren. Ich …«
»Sie haben gerade eben jemanden vermöbelt. Das hat Sie übermütig gemacht. Sie fühlten sich unverwundbar.«
»Ich schätze …«
»Glauben Sie mir. Das sind Sie nicht.«
Taverner legte auf.
Duf‌fy hängte das Telefon wieder ein und blieb noch eine Weile hinter dem Spiegel stehen. Ab und zu wiederholte River Cartwright die Fingergeste, aber für Duf‌fy sah sie jedes Mal etwas weniger überzeugend aus. Wofür wurden alte Klepper gleich wieder verwendet? – Ach ja: Hundefutter und Klebstoff. Er würde mal nach nebenan gehen und Cartwright daran erinnern. In der Zwischenzeit hatte er sich eine Tasse Kaffee verdient.
Er verließ den Raum leise, damit der Junge ihn nicht hören konnte. Der Gedanke daran, wie er dort stand und immer wieder einem leeren Zimmer den Mittelfinger zeigte, reichte nicht ganz aus, um die Erinnerung an Lady Dis Abschiedsschuss auszulöschen, war aber dennoch ein kleiner Trost.