11
Es war wieder die blaue Stunde, und noch immer hatte sich die Hitze nicht gelegt. Als River aus dem Auto stieg, spürte er, wie seine Bauchmuskeln protestierten, und noch bevor er sich ganz aufgerichtet hatte, tastete er schon in seiner Jeans nach Louisas Schmerztabletten. Vier waren noch übrig. Er drückte sie aus der Blisterpackung und schluckte sie trocken. Die letzte blieb im Hals hängen, was ihn zum Würgen brachte und für die nächsten paar Minuten beschäftigen sollte.
Louisa schlug die Tür auf der Fahrerseite zu. »Ich glaube, wir wurden verfolgt.«
»Wirklich?«
»Ja. Immer drei Autos hinter uns. Dann ist der Wagen für eine Weile verschwunden. Aber er war da.«
River nickte, obwohl er nicht überzeugt war. Diese Art von Verfolgung klang professionell, und wenn sie es war, glaubte er nicht, dass Louisa sie bemerkt hätte. Doch ihr zu widersprechen konnte unter Umständen gefährlich sein, und seine Hoden hatten sich noch nicht vollständig erholt. »Du hättest etwas sagen sollen.«
»Vielleicht, aber ich war mir nicht ganz sicher.« Sie warf ihm einen Blick zu, der eine kaum verhohlene Herausforderung darstellte. »Aber jetzt bin ich es.«
»Okay«, sagte River. Aber falls sie tatsächlich verfolgt worden waren, war derjenige, der hinter ihnen her war, jetzt vom Radar verschwunden.
Sie befanden sich in, wie Lamb gesagt hätte, Pissweite zu Londons westwärts verlaufenden Eisenbahnlinien, die entlang eines Korridors von Flughafenparkplätzen, Gastanks, Zementwerken und Schwerlastlagern führten. Geparkt hatten sie auf einem Stück Brachland, das auf drei Seiten von langen, niedrigen Bürogebäuden umgeben war: niedrig für die Verhältnisse der Hauptstadt, sechs Stockwerke hoch und ursprünglich weiß. Sie waren kreuz und quer angeordnet, mit Zwischenräumen, groß genug, um mit einem Auto hindurchzufahren. Zwei durch einen Übergang auf der dritten Etage miteinander verbundene waren baufällig, glaslos, von oben bis unten mit verblassten Graf‌f‌iti besprüht; die stammelnden, sich wiederholenden Schreie städtischer Unzufriedenheit – Tox, Mutant, Flume . Jeder Häuserblock ruhte auf dicken runden Säulen; sie waren schwarz verkokelt, wo Obdachlose oder feiernde Jugendliche ihr Lager aufgeschlagen hatten. Der Boden war mit Flaschenglas und Abfall übersät. Toilettengerüche strömten heraus bis dort, wo sie standen, auf einem löchrigen, brüchigen Betonboden, durch dessen Ritzen aggressive Pflanzen brachen. River spürte, wie die gespeicherte Hitze des Betons durch die Sohlen seiner Schuhe drang, und der Boden zitterte, als ein Hochgeschwindigkeitszug vorbeidonnerte.
Der dritte Block schien gerade wieder zurückerobert zu werden, obwohl es fraglich war, wie weit diese Maßnahme schon fortgeschritten war. Sein Anstrich, wenn auch nicht frisch, war noch nicht ganz vom Grauschleier überzogen, und Glas schimmerte in den Fenstern, aber er strahlte eine Art Verzweif‌lung aus, als sei er in schlechte Gesellschaft geraten und wüsste, dass das nicht gut ausgehen würde. Auf der vierten Seite des Platzes, falls man ihn so nennen konnte, befand sich eine stillgelegte Fabrik – Farbe oder Vinyl, glaubte River –, die an einem Ende von einem gedrungenen, rechteckigen Turm überragt wurde, neben dem ein hoher, weißgekalkter Schornstein etwa bis zur Höhe der nahegelegenen Blöcke reichte. Vor langer Zeit war ein Anbau hinzugefügt worden; eine Schrägdachkonstruktion aus Wellblech und Kunststoff, von deren Dachrinne Stacheldraht herabhing wie eine schlechtsitzende Dornenkrone. In regelmäßigen Abständen waren Schäferhunde abgebildet, was andeuten sollte, dass Eindringlinge gefressen werden würden oder Schlimmeres. Ein gezacktes Loch in der Wand nahe am Boden deutete darauf hin, dass diese Drohung nicht ganz ernst genommen worden war.
Drei Kühlschränke und eine Matratze waren in der Nähe zu einem Haufen aufgeschichtet, neben dem sich drei Meter lange Metallzaunelemente stapelten, die mit den Endpfosten aneinandergekettet und mit einem Eisenring am Boden befestigt waren. Ein orangefarbener Container lag auf der Seite wie ein Tonka-Toy, das ein Riese achtlos fallen gelassen hatte.
Louisas Auto tickte wie der Countdown für etwas Unheilvolles.
»Ich glaube, ich habe diesen Ort schon mal in einem Film gesehen«, bemerkte River. »Einer, in dem Zombies vorkamen.«
»Westlich von Ealing«, sagte Louisa. »Hätte glatt ein Dokumentarfilm sein können.«
Rivers Handy klingelte. Es war Lamb.
»Warum ist Ihr Handy eingeschaltet?«
»Ist auf Vibration«, log River. »Wir sind gerade erst angekommen. Hier scheint alles ruhig zu sein.«
»Das war es, bis Ihr Handy geklingelt hat.«
River wartete. Lambs Atem rasselte ihm ins Ohr.
Endlich sagte Lamb: »Diese Soldaten, Donovan und …«
»Traynor.«
»Traynor. Sobald sie haben, was sie wollen, ziehen Sie sich zurück. Versuchen Sie nicht, ihnen zu folgen. Lassen Sie sie gehen.«
»Was ist mit Catherine?«
»Konzentrieren Sie sich einfach auf Ihre Aufgabe«, erwiderte Lamb. »Denken Sie daran, dass Ingrid Tearney hier die Fäden zieht. Und wenn es ihr gerade passt, wird sie sie durchschneiden.«
»Wir werden uns vor fallenden Marionetten hüten«, sagte River.
»Werden Sie nicht übermütig. Ihr seid Schreibtischdrohnen, nicht Batman und Supergirl …«
»… und das sollten wir inzwischen wissen«, beendete River seinen Satz.
Lamb legte auf.
»Was wollte er?«, fragte Louisa.
»Dass wir vorsichtig sind, ob du es glaubst oder nicht.« River steckte sein Handy ein. »Aber ihm sind die Enid-Blyton-Analogien ausgegangen.«
Ein weiterer Zug ratterte vorbei, nahm, von Paddington kommend, Tempo auf und stieß einen Pfiff aus; ein altmodisches, verlässlich verzweifeltes Geräusch. Eine Krähe, die in der Nähe eines der verlassenen Kühlschränke an etwas herumpickte, blickte auf, stieß ein mürrisches Husten aus und fuhr mit ihrer Mahlzeit fort.
»Es war definitiv ein Auto hinter uns her«, sagte Louisa. »Aber ich konnte weder Marke noch Farbe richtig erkennen.«
»Okay«, sagte River.
Bevor er noch mehr sagen musste, tauchten zwei Schatten hinter einem Pfeiler im nächstgelegenen der zerstörten Gebäude auf.
Roderick Ho fand es sehr still in Slough House, nachdem die anderen verschwunden waren. Normalerweise störte ihn das nicht. An den meisten Tagen vermied er Kontakte, so gut er konnte, außer wenn er absichtlich bei Louisa in der Küche herumlungerte. Sie hatte ihm einen Blick zugeworfen, bevor sie gegangen war – einen amüsierten Blick, der ihm verraten hatte, dass sie lieber dageblieben wäre, als sich auf diese lächerliche Mission zu begeben: als Babysitter für ein Paar Exsoldaten, während sie die X-Akten stahlen. Er hatte ihr wortlos geantwortet, mit einem leichten Anheben der Augenbrauen, das bedeutete: Wir beide, du und ich, Babe … aber sie war schon zur Tür hinaus, ehe er seinen Blick anbringen konnte. Den musste er erst noch einmal üben. Wäre er schneller gewesen, hätte sie ihn verstanden, garantiert!
Er schaltete seine Computer aus und schaute sich zum Abschied in seinem Königreich um. Jetzt, wo Longridge und Dander Geschichte waren, sollte er in ihrem Büro nachsehen, ob sie etwas Lohnendes vergessen hatten. Longridge besaß einen schicken Seidenschal, den er bei dieser Hitze wahrscheinlich nicht trug, also hatte er ihn vielleicht an einem Haken hängen lassen. Ho kam gerade bis zur Tür, als sein Plan durchkreuzt wurde.
»Wohin des Wegs?«
»Äh … nach Hause?«
Lamb legte Ho seine Pranke auf die Brust und ging einfach weiter. Ho schlurf‌te rückwärts, bis die Rückseiten seiner Oberschenkel die Kante seines Schreibtischs trafen. Dann ließ Lamb seine Hand fallen und stellte sich mit dem Rücken zu Ho ans Fenster.
Auf der Straße draußen wurde es langsam ruhiger. Der Verkehr war immer noch dicht, klang aber nach Erschöpfung: arme Schlucker von Arbeitern, die von der Schlacht heimkehrten, nicht mehr die energiegeladenen Krieger vom Morgen. Auf der anderen Straßenseite trat eine Frau aus dem zahntechnischen Labor, das einen industriellen Anstrich hatte, als ob dort großangelegte Experimente stattfänden und nicht nur Gebisse geschnitzt würden. Sie schüttelte den Kopf, als vertreibe sie eine unangenehme Erinnerung, und ging zur U-Bahn.
»High Wycombe«, sagte Lamb.
Das Bauernhaus, das Ho gefunden hatte. Das Sylvester Monteith gemietet hatte.
»Äh, ja. Ein Stück daran vorbei über die Autobahn. Mit dem Navi kein Problem.«
»Nati ist mir lieber«, sagte Lamb.
»Was?«
»Natürliche Intelligenz. Ermöglicht es mir, erniedrigende Aufgaben zu vermeiden, wenn es andere gibt, die sie für mich ausführen können.«
»Äh … Tasse Tee?«
»Wo ist Ihr Auto?«, fragte Lamb.
Marcus fuhr einen schwarzen Geländewagen mit getönten Scheiben: ein Fahrzeug, das für städtische Militäreinsätze entworfen worden war, aber normalerweise von überlasteten Müttern gefahren wurde, die zwischen Schule und Supermarkt hin und her hetzten. Shirley hatte ihm das früher schon mal unter die Nase gerieben, hielt jetzt aber wohlweislich den Mund. Marcus hatte nur aufgehört, über Lamb zu fluchen, um stattdessen auf ihr herumzuhacken.
»Bist du inzwischen nüchtern?«
»Fängst du jetzt wieder damit an?«
»Das ist kein Witz, Dander, verdammt noch mal! Du warst vorhin high. Bist du jetzt nüchtern?«
Shirley wollte schon lügen, überlegte es sich aber rechtzeitig anders. »Mein Gott noch mal, es war doch nur eine winzige Prise! Hat nicht mal den Hunger gedämpft.«
»Scheiße, Dander. Scheiße!«
»Jetzt mach mal halblang! Herrgott, es war höchstens eine halbe Stunde. Nur eine halbe Stunde lang, mehr nicht!«
»Hattest du vergessen, worüber wir uns vorher unterhalten hatten?«
»Nein, Partner . Deshalb habe ich den ganzen Nachmittag lang durchgehalten, nachdem du zu einem Vergnügungstrip abgehauen warst.«
Sie steckten im dichten Verkehr; ein liegengebliebener Wagen blockierte die Straße und verengte sie auf eine Spur. Marcus’ Laune hatte sich dadurch nicht gerade verbessert.
»Jetzt ist es also meine Schuld?«
»Hey. Ich übernehme die Verantwortung für meinen eigenen Mist. Für deinen nicht auch noch.«
Marcus fluchte erst unterdrückt, dann laut und schlug mit den Händen aufs Lenkrad. »Verdammt! Kannst du dir denn vorstellen, in was für einer Scheiße ich stecke?«
»Ich stecke in der gleichen«, erwiderte Shirley. »Die Art, bei der man keinen Job hat und das Leben beschissen ist.«
»Ich habe Familie. Das weißt du, oder? Ich habe Mäuler zu stopfen und eine Hypothek abzuzahlen. Ich darf meinen Job nicht verlieren!«
»Guter Plan, Marcus. Schade, dass du ihn nicht umgesetzt hast.«
»Riskier bloß keine dicke Lippe, Mädchen! Oder du kannst von hier aus zu Fuß gehen.«
»Nenn mich noch einmal ein Mädchen, und du kannst überhaupt nicht mehr gehen!«
Beide kochten schweigend vor sich hin, während der Geländewagen an dem liegengebliebenen Fahrzeug vorbeikroch, aus dessen Fenstern eine verzweifelte junge Frau starrte.
»Lass mich irgendwo hier oben raus«, sagte Shirley schließlich. »Mein Gott. Zu Fuß wäre ich sowieso schneller gewesen.«
»Klar, du hast es ja so unheimlich eilig, stimmt’s? Kein Job, und niemand wartet zu Hause.«
»Vielen Dank für das Update. Aber ich hatte nicht vergessen, dass mein Leben Scheiße ist.«
»Sieh es doch mal positiv. Vielleicht findest du etwas Crystal Meth zwischen den Sofapolstern. So wie andere Leute Kleingeld …«
»Wer im Glashaus sitzt, Longridge. Ich verfüttere jedenfalls nicht ein Wochengehalt an einen einarmigen Banditen.«
»Ich spiele nicht an einarmigen Banditen!«
»Und ich nehme kein Crystal Meth!«
Marcus schwenkte so abrupt in eine Parklücke, dass Shirley mit dem Kopf gegen die Kopfstütze knallte.
»Scheiße!«
»Scheiße!«
Sie saßen schweigend da. Ihre Wut testete verschiedene Formen aus. Der Verkehr kroch durch die fast sichtbare Hitze vorbei, und die Uhr auf dem Armaturenbrett experimentierte damit, die Zeit zum Stillstand zu bringen; jede Sekunde schleppte sich über unzählige Hindernisse. Marcus lenkte als Erster ein.
Er sagte: »Okay. Wir haben es beide vermasselt.«
Shirley schien eine bissige Bemerkung dazu machen zu wollen, änderte aber im letzten Moment ihre Meinung. »Kann sein.«
»Glaubst du, das Arschloch Lamb wird seine Meinung ändern?«
»Er war sauer.«
»Ich weiß.«
»Stinksauer.«
»Ich weiß«, sagte Marcus. »Und was jetzt?«
»Ich habe gehört, bei Black Arrow ist grade was frei geworden.«
»Super.«
Ihr erneutes Schweigen war nur geringfügig weniger unangenehm; Shirley zerrte an ihrem Sicherheitsgurt und ließ ihn zurück auf die Brust schnalzen, Marcus trommelte ein paar kurze, schnelle Beats auf das Lenkrad. Endlich sagte er: »Cassie weiß, dass ich heute Abend einen Einsatz habe.«
»Und?«
»Sie erwartet mich nicht zurück.«
Shirley ließ den Sicherheitsgurt wieder zurückschnalzen und sagte dann: »Wenn das ein Annäherungsversuch sein soll, werde ich dir mit einem Löffel das Gesicht schälen.«
»Herrgott, Dander! Nichts für ungut, aber ich bin entlassen worden, nicht lobotomisiert.«
»Kein Ding. Nur, dass du zu alt und kahl für mich bist.«
Er rutschte auf seinem Sitz herum. »Diese Lamb-Operation.«
»Die Grauen Bücher.«
»Die Spinner-Akten.«
»Wie auch immer.«
Shirley zog wieder an ihrem Sicherheitsgurt, aber Marcus hielt ihn auf, bevor er ihr auf die Brust klatschte.
»Hör auf damit. Okay, die Spinner-Akten, aber angenommen, das stimmt gar nicht?«
»Was soll das heißen?«
»Dieser Donovan«, sagte Marcus. »Bevor er aus der Armee geworfen wurde, war er ein Senkrechtstarter, stimmt’s?«
»Du hast gehört, was Cartwright gesagt hat«, antwortete Shirley. »Hat für das Verteidigungsministerium gearbeitet, saß in UN -Ausschüssen, bei Meetings im Park. Er war kein einfacher Soldat, das ist sonnenklar.«
»Und er hat einen Spleen mit dem Wetter.«
»Jeder hat irgendeinen Spleen mit dem Wetter, Marcus. Darum geht es auch oft in den Spinner-Akten. Überschwemmungen und Hitzewellen, was will man mehr? Ich warte schon auf die Hurrikansaison.«
Er ignorierte sie. »Alle glauben also, dass das, was er will, wertlos ist und er es sowieso nur will, weil er ein Spinner ist. Aber was, wenn er es nicht ist? Was, wenn er etwas weiß, das wir nicht wissen? Dieses ganze strenggeheime Zeug im Verteidigungsministerium, dazu muss er Zugang gehabt haben. Zugang zu einer Menge verdeckter Einsätze, bei denen Leute irgendwo eingeschleust, Rechner gehackt oder Informationen geklaut wurden. Was hat Louisa noch mal über dieses HAARP -Projekt erzählt?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Es hatte irgendetwas mit Wettermanipulation zu tun. Also angenommen, Donovan ist gar nicht so bekloppt, wie er tut? Was ist, wenn irgendetwas in den Grauen Büchern steht, was tatsächlich wichtig ist? Beweise, dass diese Wetterprojekte wirklich stattfinden?«
Shirley schüttelte den Kopf und schaute hinüber auf die die andere Straßenseite. In einer Bar gegenüber wischte ein junger Mann in abgeschnittenen Jeans und einer Lederweste die Tische ab. Shirley fragte sich, ob es wirklich nötig war oder ob das zur Clubshow gehörte.
»Da sind auch Berichte des Sonderausschusses drin«, fuhr Marcus fort. »Dokumentationen, vielleicht auch andere Arten von offiziellem Papierkram.«
»Und?«
»Donovan ist aus der Armee geflogen, erinnerst du dich? Vielleicht ist das seine Rache. Er hat vor, einen auf Assange zu machen und jemanden zu ficken.«
»Vielleicht drückst du dich mal ein bisschen vorsichtiger aus?« Shirley riss sich vom Anblick des Barmannes los. »Und außerdem, was hat das alles mit uns zu tun? Wir sind arbeitslos, weißt du noch?«
»Kann schon sein.«
»Verdammt. Dieser Lamb. Was für ein Komiker.«
»Im Ernst, Shirl. Wenn Donovan nicht der Aluhut-Spinner ist, für den wir ihn halten sollen, dann ist das hier nicht nur eine Operation zum Händchenhalten. Denn wenn er erst einmal hat, was er will, wird er keine Zeugen hinterlassen wollen.«
»Lamb wird uns nicht wieder einstellen, nur weil wir wie fleißige Bienchen aussehen.«
»Wahrscheinlich nicht. Aber was sollen wir sonst machen? Wirst du zu Hause erwartet? Denn wie gesagt, ich nicht.«
Shirley betrachtete eine Weile ihren Daumen, als ob sie überlegen würde, ihn abzubeißen. Ohne aufzublicken, murmelte sie etwas.
»Was hast du gesagt?«
»›Scheiß drauf‹, hab ich gesagt«, erwiderte Shirley, diesmal deutlicher. »Scheiß drauf. Lass uns fahren!«
Aus dem Sonnenlicht in den Schatten der verlassenen Büroruine zu treten war, als gelangte man von einem eingeschalteten in einen abgeschalteten Ofen: Die Hitze war schmutziger, erfüllt von der ganzen Gestankspalette eines heruntergekommenen Gebäudes – Fäulnis und Schimmel, Bier und Pisse, überlagert von etwas Süßem und Kränklichem, von dem River vermutete, dass es sich um ein totes Tier handeln könnte. Herumliegende Bruchstücke von Ziegelsteinen und Bleirohren ließen auf lokale Revierkämpfe schließen. Die beiden Männer warteten an einer Säule, und irgendetwas an ihrer Haltung erinnerte ihn an Marcus. Der größere der beiden, ein breitschultriger Mann mit grauem Bürstenschnitt und einer Boxernase, Ende fünfzig, trat vor, als sie sich näherten.
»Cartwright?«
Der irische Tonfall strahlte in seiner Stimme nicht die Wärme aus, die man sonst damit verband.
River nickte.
»Dann sind Sie Guy.«
Louisa schaute ihn einfach nur an.
River sagte: »Sean Donovan. Demnach sind Sie Ben Traynor.«
Der zweite Mann war aus demselben Holz geschnitzt wie Donovan, aber jünger, und was bei Donovan ergraut war, war bei Traynor größtenteils kahl. Der Rest war kurzrasiert. Er reagierte nicht auf Rivers Nennung seines Namens, sondern schien mehr an Louisa interessiert zu sein, die Schulter an Schulter mit River stehengeblieben war.
»Sie wissen, was wir wollen«, sagte Donovan.
Bevor River antworten konnte, sagte Louisa: »Wir wissen, was Sie angeblich wollen.«
»Machen wir es nicht unnötig kompliziert. Es ist ein einfacher Lieferdienst.«
Weder er noch Louisa waren bewaffnet, fiel River plötzlich ein.
Vorher war ihm dies nicht wichtig erschienen: Der Job würde und sollte nicht erfordern, dass sie bewaffnet waren. Aber angesichts der beiden Black Arrow-Agenten verlor der Würde-sollte -Aspekt des Jobs an Boden gegenüber dem Wäre-möglich -Element. Denn wenn diese beiden nicht bewaffnet wären, dachte er, hätten sie mit einer tiefverwurzelten Gewohnheit gebrochen.
Obwohl sie streng genommen ja gar keine Black-Arrow-Agenten mehr waren. Den Boss umzubringen war definitiv ein Entlassungsgrund. Lamb erinnerte die Slow Horses einmal pro Woche daran.
»Woher wussten Sie von diesem Gelände?«
Donovan betrachtete ihn ohne sichtbare Regung. »Aus demselben Grund, wie ich von Slough House wusste. Ich mache meine Hausaufgaben, Cartwright. Und was ist mit Ihnen? Oder haben Sie es sich zur Gewohnheit gemacht, nur halbe Arbeit zu leisten?«
Da eine ehrliche Antwort darauf »Ja« gelautet hätte, sagte River lieber nichts.
Louisa fragte: »Wo ist Catherine?«
»Sie wird unversehrt freigelassen, sobald die Grauen Bücher uns gehören.«
»Und wir haben Ihr Wort darauf«, sagte sie trocken.
»Unser Wort gilt.« Endlich sagte Traynor auch etwas.
»Haben Sie das auch Sylvester Monteith weisgemacht?«
»Monteith wusste, worauf er sich einließ«, entgegnete Donovan. »Er hätte die Risiken kennen müssen. Catherine ist eine Nichtkämpferin. Sie wird unverletzt freigelassen, wenn wir bekommen, was wir wollen.«
»Das würde ich Ihnen auch raten.«
»Wie sollen wir jetzt vorgehen?«, fragte River.
»Sie gehen rein und stellen sicher, dass alles so ist, wie angekündigt. Sobald Sie das überprüft haben, öffnen Sie die Türen und wir folgen.«
»Klingt einfach«, sagte Louisa.
»Soweit ich weiß, sind Sie die Crew mit Förderbedarf. Für alles, was komplizierter ist, als eine Tür zu öffnen, hätte ich mich wahrscheinlich anderswo umgesehen.«
River war es leid, dass man ihm den Versagerstatus der Slow Horses unter die Nase rieb. »Vielleicht habt ihr euch auch nur an niemand anderen rangetraut als an eine harmlose Frau. Wart es nur ihr beide, oder hattet ihr Hilfe?«
Donovans Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Ach, fühlen wir uns jetzt stark? Guter Junge. Zeit, den Türsteher anzuquatschen, meint ihr nicht?«
Es lag ihm auf der Zunge zu erwidern, dass er hoffte, sie würden später an der Stelle weitermachen können, aber dann fiel ihm auf, dass er dieses Gespräch heute schon einmal geführt hatte. Also schaute er Louisa nur an, nickte, und die beiden gingen wieder hinaus ins Sonnenlicht, in Richtung der alten Fabrikhalle.
Nick Duf‌fy beobachtete sie vom dritten Stockwerk des anderen heruntergekommenen Blocks aus. Zu Beginn der Verfolgung vom Barbican aus hatte er schon befürchtet, sie hätten ihn entdeckt, obwohl sein Auto ein anonymer silberner Schrägheckwagen war wie jeder zweite auf der Straße. In einer bestimmten Phase hatte Louisa Guy paranoide Tendenzen gezeigt: zu starkes Abbremsen vor einer gelben Ampel, Vollgas vor einer anderen. Wenn so etwas geschah, musste man einen kühlen Kopf bewahren, wie Duf‌fy wusste. Man ging davon aus, dass die üblichen Verkehrshindernisse ihre Arbeit taten und das Zielobjekt an der nächsten überfüllten Kreuzung wieder auf‌tauchen würde, solange man eine insgesamt gleichmäßige Geschwindigkeit beibehielt. Falls das schiefging, hatte man immer Rückendeckung.
Außer diesmal – da hatte er keine.
Was er aber hatte, war unter den gegebenen Umständen das Nächstbeste, nämlich dass er wusste, wo River und Louisa hinwollten, denn Dame Ingrid Tearney hatte es ihm gesagt.
»Sie leisten einem Exsträf‌ling Beihilfe zur Begehung einer Straf‌tat, die eine Verletzung der nationalen Sicherheit darstellt.«
Dies brachte sie mit ihrer üblichen unerschütterlichen Stimme hervor. Duf‌fy vermutete, dass Tearney, falls sie jemals die Nachricht von einer baldigen Atomkatastrophe bekanntgeben müsste, dies im gleichen Stil täte, obwohl sie ihn dann zweifellos »mein Lieber« nennen würde – ihre typische Art, eine bittere Pille zu versüßen.
»Und ich soll sie aufhalten?«
»Das wird nicht nötig sein.«
Sie befanden sich in Dame Ingrids Büro, das einst Aussicht auf üppiges Grün geboten hatte. Inzwischen sah man praktisch nur noch Braun: Seit dem Bewässerungsverbot verdorrte die Pflanzenwelt im gegenüberliegenden Park. Das geschah nicht zum ersten Mal, aber diesmal konnte man kaum glauben, dass sich die Lage wieder normalisieren würde. Es war, als ob ein Wendepunkt erreicht wäre und die Stadt, ja womöglich die ganze Erde, in einen irreversiblen Niedergang abgleiten würde.
Aber da weder er noch sonst irgendjemand etwas dagegen unternehmen konnte, tat Duf‌fy das Problem mit einem Achselzucken ab und hörte sich Dame Ingrids Geschichte von Sylvester Monteiths Tigerteam an und wie es sich gegen ihn gewandt und ihm den Kopf abgebissen hatte.
Nach ihrem Gespräch mit Lamb hatte Dame Ingrid ein paar eigene Nachforschungen angestellt und dabei genau den gleichen Weg verfolgt, den River eingeschlagen hatte. Ein gewisser Sean Patrick Donovan, so erklärte sie Duf‌fy, sei der Hauptverdächtige.
»Die Leiche mitten im Zentrum zu entsorgen«, sagte er. »Klingt, als wollte er damit ein Zeichen setzen.«
Zugleich bot es eine Erklärung für River Cartwrights Abwege heute Vormittag. Dass er ungeschoren davongekommen war, deutete wiederum darauf hin, dass die kommenden Ereignisse nicht offiziell dokumentiert werden würden.
Das war für ihn in Ordnung. Duf‌fy war lange genug Chef der Dogs, um zu wissen, an welchem Ende der Schwanz wackelte. Wenn Dame Ingrid wollte, dass irgendetwas unter der Brücke erledigt wurde, dann würde er unter die Brücke gehen.
»Die Akten sind nicht von Bedeutung«, fuhr Tearney fort. »Archivmaterial von ziemlich zweifelhafter Provenienz. Ich vermute, dass Mr Donovan aufgrund seiner vielfältigen Erfahrungen, entweder beim Militär oder im Gefängnis, etwas paranoid geworden ist. Es ist doch immer eine Schande, wenn eine Karriere so spektakulär endet.«
»Und Sie haben kein Problem damit, ihn einfach so davonkommen zu lassen?«
»Wenn Sie erst mal in meinem Alter sind, mein Lieber, werden Sie verstehen, dass niemand wirklich mit irgendetwas davonkommt. Aber in diesem ganz konkreten Fall bin ich zufrieden, wenn er scheinbar damit durchkommt.«
Das Wort »scheinbar« schien für einen Moment zwischen ihnen in der Luft zu hängen und verschwand dann in seinen eigenen schlüpfrigen Windungen.
»Ich möchte, dass Sie ihn zu seinem Versteck verfolgen, Mr Duf‌fy. Dass Sie ihn aufspüren. Und dafür sorgen, dass seine Paranoia ihn nicht zu noch schlimmeren Fehltritten verleitet.«
»Verstehe.«
»Das hatte ich gehofft. Sind Sie einverstanden, das Ganze ohne Unterstützung durchzuführen?«
»Ohne Rückendeckung? Ja, Dame Ingrid. Das ist kein Problem für mich.«
Ein Einsatz ohne Rückendeckung verstieß gegen jede Regel im Verhaltenskodex des MI 5, was bedeutete, dass er anschließend bei seiner Vorgesetzten einen sehr dicken Stein im Brett haben würde. Und angesichts seiner Begegnung mit Lady Di von vorhin verspürte Nick Duf‌fy das Bedürfnis nach einer schützenden Hand weiter oben.
Außerdem war er genau dafür geboren. Agenten unter Druck zu setzen, die aus der Reihe tanzten, war reine Routine. Potentielle Staatsfeinde zu erledigen, das machte den Reiz seiner Arbeit aus.
Als Cartwright und Guy durch eine Seitentür in der verlassenen Fabrik verschwanden, ließ Duf‌fy sein Fernglas sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war noch nicht dunkel, obwohl die Schatten unten auf der Brachfläche schon länger wurden. Was auch immer sich in der nächsten Zeit dort abspielen würde, er würde garantiert nichts davon verpassen.
Nick Duf‌fy bildete sich ohnehin viel darauf ein, dass ihm kaum etwas entging.
»Wo ist Ihr Auto?«, fragte Lamb.
»Warum?«
»Weil ich dachte, es müsste vielleicht gewaschen und poliert werden. Herrgott, jetzt beantworten Sie meine Frage!«
Ho deutete durch das Fenster in Richtung eines Gebäudes gegenüber. Er besaß einen Anwohnerparkausweis auf den Namen einer Anwohnerin, was diese Dreiundneunzigjährige, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen konnte, wahrscheinlich nie entdecken würde. Wenn er es sich recht überlegte, konnte sie inzwischen tot sein. Aber wie auch immer, wahrscheinlich gab es ein Gesetz, das besagte, dass der Chef einen nicht zwingen konnte, ihm sein Auto zu leihen.
Andererseits, wenn es ein solches Gesetz gab, dann galt es mit ziemlicher Sicherheit nicht für Lamb.
»Gut. Während ich warte, gehe ich noch mal aufs Scheißhaus.«
»Während Sie warten?«
»Dass Sie das Auto holen. Sind Sie wach? Denn für das Schlafen während der Arbeitszeit gibt es eine Abmahnung!«
Ein Funkeln in seinen Augen deutete darauf hin, dass Lamb auf den Geschmack gekommen war, seine Mitarbeiter rauszuschmeißen.
Ho fügte sich resigniert ins Unvermeidliche. »Sie wollen nach High Wycombe«, stellte er fest.
»Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass Ihre jährliche Beurteilung besagt, Sie wären etwas schwer von Begriff.« Lambs melancholisches Kopfschütteln wäre überzeugender gewesen, wenn er nicht für die besagte Beurteilung verantwortlich gewesen wäre.
»Und Sie wollen, dass ich Sie fahre?«
»Mitnichten. Aber es ist sonst keiner da.«
»Wenn Sie die anderen nicht entlassen –«
Ho brach angesichts von Lambs freundlichem Gesichtsausdruck mitten im Satz ab. »Nur weiter so, mein Sohn. Ich war immer stolz darauf, Kritik vertragen zu können.«
»Ich glaube einfach nicht, dass ich eine große Hilfe sein werde.«
»Ich auch nicht. Also müssen Sie uns beiden wohl das Gegenteil beweisen, nicht wahr?« Lamb pflückte eine Dose Red Bull von Hos Schreibtisch und schüttelte sie prüfend. Sie war leer. Er seufzte und ließ sie fallen. »Überlegen Sie mal. Wenn Sie entführt worden wären, würde Standish helfen?«
Entgegen seiner Gewohnheit dachte Ho ernsthaft über diese Frage nach. Standish nannte ihn Roddy, was sonst niemand tat, sie lobte ihn gelegentlich für seine Computerkenntnisse, ohne ihm gleich anschließend eine entsprechende Aufgabe zu übertragen, und einmal hatte sie ihm zum Mittagessen einen selbstgemachten Salat in einer Tupperschüssel mitgebracht, weil er »zu viel Pizza« aß, was immer das auch heißen mochte. Als sein Groll nachgelassen hatte, war Ho regelrecht gerührt; so sehr, dass er den Salat sehr diskret entsorgt hatte, damit sie es nicht merkte. Und er glaubte auch, dass sie von allen Slow Horses wohl die Einzige war, die sich freuen würde, wenn sie von ihm und Louisa erfuhr. Zwar gab es weniger Lahme Gäule als früher, aber das änderte den Prozentsatz, nicht die Fakten.
Nachdem er all dies bedacht hatte, murmelte er: »Ich schätze schon.«
»Hoffen Sie es lieber. Denn kein anderer hier würde es tun, das versichere ich Ihnen. Und jetzt holen Sie Ihr Auto. Hopp, hopp!«
Ho war auf halbem Weg die Treppe runter, als Lamb rief: »Oh, und wenn ich sage ›hopp, hopp‹, dann halten Sie mich doch hoffentlich nicht für rassistisch?«
»Nein.«
»Ihr Schlitzaugen könnt ja ziemlich empfindlich sein.«
Es würde eine lange Fahrt nach High Wycombe werden.
Die Einzelheiten über das Archiv außerhalb des Parks waren im Service-Intranet zu finden, wenn man wusste, wo man suchen musste. Agenten in guter Position bekamen Passwörter; das galt nicht für die Slow Horses, aber für Jackson Lamb. Weder Louisa noch River hatten es für angebracht gehalten, das in Slough House an die große Glocke zu hängen, als Ho den entsprechenden Code abgerufen hatte. Aus der Zusammenfassung, die sie damit öffnen konnten, hatten sie erfahren, dass sich die Anlage unterhalb des halbverfallenen Industriegebiets befand; ein unterirdischer Komplex, der in den dreißiger Jahren als Luftschutzkeller angelegt und zwei Jahrzehnte später umgebaut worden war. Damals hatte man ihn erheblich erweitert, um einhundertzwanzig Regierungsbeamten Platz zu bieten, die, möglicherweise weil sie an der Planung beteiligt waren, als notwendig für das Überleben der Zivilisation nach einem Atomkrieg erachtet wurden. Das unterirdische Netz erstreckte sich nun anderthalb Kilometer weit vom Ausgangspunkt aus nach Westen, wobei die Verbindungsgänge teilweise plötzlich steil abwärts und wieder aufwärts führten, um die U-Bahn-Linie zu umgehen – die Arbeiten wurden als Wartungsarbeiten getarnt. Hier, in diesem System von Höhlen und Kavernen, würde die wichtige Arbeit der Einkommensprüfung und Besteuerung weitergehen, selbst wenn die Außenwelt sich zitternd durch den nuklearen Winter kämpf‌te.
Das war jedenfalls der Plan gewesen, doch Ende der siebziger Jahre war die Anlage umgestaltet und in die Hände des Geheimdienstes übergeben worden. Da damals immer noch mit Armageddon gerechnet wurde, hatte man die Verwaltungsbeamten offensichtlich als entbehrlich abgewertet, aber ohne es an die große Glocke zu hängen. Natürlicher Personalabbau, großzügige Vorruhestandspakete und die notorisch verkürzte Aufmerksamkeitsspanne von Regierungsbeamten hatten aus der Existenz der Anlage einen Mythos gemacht; und sie lag tief genug und ihre Mauern waren ausreichend dick, um unentdeckt zu bleiben, während oben im Industriegebiet gearbeitet wurde. Als dieses dann dem Wirtschaftswunder zum Opfer fiel, das Großbritannien in eine Dienstleistungsindustrie verwandelte, setzte die Anlage ihre ruhige Existenz fort und war inzwischen so weit modernisiert worden, dass sie aktuelleren Bedrohungen als einem Atomkrieg gewachsen war: Seuchen, extremen Wetterereignissen und dem gerechten Zorn einer verärgerten Wählerschaft.
Es war schwer, nicht in blöden James-Bond-Kategorien zu denken.
»Meinst du, die da drin tragen silberne Overalls?«, fragte River, als sie die verlassene Fabrik betraten.
»Klar, und es sind alles Blondinen«, sagte Louisa.
»Natürlich Blondinen. Aber bestimmt auch ein paar Rothaarige.«
»Und eine geheime Eisenbahn?«
»Und ein Bedienfeld mit einem Countdown-Fenster und einem großen roten Knopf.«
Louisas Mund zuckte, und sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann, als wäre tatsächlich irgendein großer roter Knopf gedrückt worden, war der Moment vorbei, und ihre Lippen wurden schmal. »Du weißt schon, dass das hier jetzt im Prinzip ein Lager ist.«
»Ich hab’s nicht vergessen.«
»Nur minimal besetzt.«
»Ja, das habe ich auch gelesen.« River wollte gerade sagen, sie solle sich entspannen, doch dann fragte er sich, ob dieser James-Bond-Quatsch zu den Dingen gehörte, über die sie früher mit Min gelacht hatte, also ließ er es sein. »Die südwestliche Ecke. Welche ist das?«
Louisa hatte schon die Kompass-App geöffnet und zeigte mit dem Handy in die entsprechende Richtung.
»Ich hoffe auf eine gutgeölte Falltür.«
Was sie fanden, war ein Gullydeckel mit dreckverkrustetem Griff.
»Na super«, sagte River und schaute sich nach einem Stock oder etwas Ähnlichem um, um ihn sauberzukratzen.
»Vielleicht sollten wir es am Haupteingang versuchen.«
Dieser befand sich am südlichsten Ende des Komplexes und diente gleichzeitig als Zugangstunnel zum Abwassersystem der Stadt aus der viktorianischen Zeit. Als solcher war er so etwas wie eine Touristenattraktion. Um diese Uhrzeit war er bereits geschlossen, aber dennoch war es wahrscheinlicher, dort auf Leute zu stoßen als in der alten Fabrik; außerdem war es von da aus ein langer Weg zur Schaltzentrale des Komplexes, der jetzt direkt unter ihnen lag. Es sei denn, es gäbe wirklich eine geheime Bahnstrecke.
»Jetzt sind wir schon mal hier«, sagte River. Er hatte eine etwa einen Meter lange Metallschiene gefunden und benutzte sie, um den Gullydeckel zu öffnen, wobei diverse Gerüche in die ohnehin schon stinkende Luft entwichen. »Herrgott …!«
»Hast du geglaubt, hier wäre alles aus glänzendem Metall? Ist schließlich ein geheimer Eingang.«
River schob den Deckel zur Seite und spürte das Geräusch, mit dem er über den Boden schabte, bis an die Basis seiner Wirbelsäule. »Willst du zuerst?«
»Nach dir.«
Louisa zog eine Taschenlampe hervor und richtete sie in die Öffnung. Im Licht des Strahls fand River Halt und ließ sich hinab in die Dunkelheit.
Dame Ingrid unterschrieb das Protokoll der Nachmittagssitzung des Finanzausschusses, wobei jede Initiale am Ende jeder Spalte ein Kunstwerk war; ihr Stift huschte unablässig über das Papier, während sie eine Reihe von Stellungnahmen abzeichnete, die die Transkription irgendwie auf Zwergengröße geschrumpft hatte … Jedes Mitglied verließ eine Sitzung stets in der Überzeugung, dass seine oder ihre Kritik angenommen worden war und sich ein Fenster zu einer schmutzigen Ecke der verborgenen Welt öffnete, die fortan blitzblank schimmern würde. Erst im Lauf der Zeit erwies sich, dass das Fenster geschlossen und der Vorhang sicher zugezogen blieb. Und sollte Dame Ingrid jemals auf diesen Zustand aufmerksam gemacht werden, würde sie ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, dass jemand anders denken könnte, und das Protokoll vorlegen, um zu beweisen, dass nie die Absicht einer Änderung bestanden habe.
Die Fähigkeit, um die Ecke zu denken, wurde oft als Voraussetzung für die Arbeit beim Service angeführt. Vielleicht noch wichtiger war die Fähigkeit, die Ansichten anderer um 180 Grad zu verbiegen. Genau genommen stellte Peter Judd deshalb eine solche Bedrohung dar: Er wusste genauso gut wie sie, wie man eine Besprechung manipulierte. Aber Ingrid Tearney hatte das Glück, dass ihn sein Versuch, den Prozess kurzzuschließen, verwundbar gemacht hatte.
Doch noch während sie diesen Gedanken einfädelte, machte sie sich bewusst, dass Glück kein Element war, auf das sie sich normalerweise verließ.
Sie drückte die Kappe auf ihren Füller, griff nach ihrem Glas Wasser und trank nachdenklich daraus. So, wie die Dinge standen, hatte sie Oberwasser. Judds Tigerteam, das ihre mangelnde Kontrolle über den Service beweisen sollte, war zu einem Lehrstück dafür geworden, wie ministerielle Arroganz Blut auf den Straßen hinterlassen konnte: ein karrierebeendendes Fiasko, selbst für den bisher unangreifbaren PJ . Die Aufräumarbeiten waren im Gange, und Nick Duf‌fy stand bereit, Donovan zu seinem Versteck zu verfolgen, sobald die Grauen Bücher in dessen Besitz waren. Es war eine Sache, dem Exsoldaten zu erlauben, sich mit seinem Narrenschatz davonzumachen – ein weiterer Nagel zu Judds Sarg: Sehen Sie, welche Folgen Ihr verrückter Plan hat  –, aber ihn darüber hinaus ungeschoren davonkommen zu lassen, wäre eine Lizenz zur Anarchie. Duf‌fy war daher die Notlösung: Donovan würde einen Soldatentod sterben, die Akten würden in ihr unterirdisches Kabinett zurückgebracht, die Slow Horses (lächerlicher Name) könnten zu ihrer eintönigen Existenz zurückkehren, und Dame Ingrid würde zum Tagesablauf übergehen in der beruhigenden Gewissheit, dass die ministerielle Hand, die vermeintlich auf ihrer Pinne lag, in Wirklichkeit auf ihre Anweisungen reagierte. Und was die Zukunft betraf, so mussten Judds Ambitionen nicht unbedingt vereitelt werden; während ein Marionetteninnenminister ihre Position kugelsicher machte, wäre ein Premierminister in der Tasche die Garantie für die Seligsprechung. Alles in allem also ein guter Tag.
Aber trotzdem lag da noch so ein unangenehmes Flüstern in der Luft, das sie daran erinnerte, dass das Glück die Hand im Spiel gehabt hatte. Hätte Donovan sich nicht als Joker entpuppt, wäre alles nach Judds Plan verlaufen.
Ingrid Tearney merkte, dass sie ihre Füllerkappe ein ums andere Mal abzog und zurücksteckte, was bei einer weniger starken Persönlichkeit Unsicherheit offenbart hätte. Sie legte den Füller energisch auf ihren Schreibtisch. Zeit für einen Rundgang.
Über eine kleine, illegale Abkürzung durch eine Einbahnstraße hatte Marcus die Richtung gewechselt und fuhr nach Westen, wobei er seinen schwarzen Panzer durch die Straßen der Stadt manövrierte, als steuere er ein Auto in einem Videospiel, und das Schlimmste, was passieren könne, sei game over . Zweimal geriet er in den Gegenverkehr. Shirley hielt die Luft an und umklammerte den Türgriff so fest, dass man einen Schraubenschlüssel gebraucht hätte, um ihre Hand zu lösen.
Mit piepsigerer Stimme, als ihr lieb war, fragte sie: »Fahren wir nicht schon schnell genug?«
»Je eher wir dort ankommen, desto schneller werde ich langsamer.«
Shirley hoffte, dass bis dahin keine Fußgänger über den Asphalt geschmiert würden oder, schlimmer noch, sie selbst durch die Windschutzscheibe flog.
Sie schaute hinüber zu ihrem Partner. Konnte man ihn eigentlich noch als solchen bezeichnen, jetzt, wo sie entlassen worden waren? Oder war er nur irgendein Beinahe-Fremder, einer der immer zahlreicher werdenden in ihrem Leben, die sich verpissten, wenn es schwierig wurde? Aber er hatte das bis jetzt nicht getan. Vor etwa einer Stunde war die Lage offiziell schwierig geworden, und er war immer noch da und raste mit ihr mit Vollgas durch die Straßen der Stadt auf ein Ziel zu, das sich hoffentlich nicht als eine weitere Windmühle entpuppte.
Konnte er ihre Gedanken lesen?
»Früher beim Überfallkommando hatten wir so einen Spruch«, sagte er. »Wann ist eine Tür keine Tür?«
»… Wenn sie angelehnt ist?«
»Wenn es nur ein Haufen verdammter Streichhölzer ist«, antwortete Marcus. »Wir waren nicht besonders subtil.«
»Verstehe.«
»Falls etwas Schlimmes ansteht, wollen wir da sein, bevor es losgeht. Sonst sind wir von vornherein in der Defensive, und das will man weiß Gott nicht, wenn die Kacke so richtig am Dampfen ist.«
Er verfiel in den Machoduktus seiner Service-Karriere, wie Shirley bemerkte, aber sie verkniff sich in einem seltenen Anflug von Taktgefühl einen Kommentar dazu.
Eine gelbe Ampel sprang, etwa zwei Sekunden bevor sie durchrasten, auf Rot, was ein wütendes Hupkonzert auslöste.
»Deswegen müssen wir schnell sein.«
»Damit wir da sind, bevor die Kacke am Dampfen ist«, sagte Shirley.
»Genau.«
»Und vielleicht kriegen wir dann unseren Job wieder.«
»Vielleicht.«
»Und wir verhindern, dass Cartwright und Guy getoastet werden.«
»… Ja. Das auch.«
»Ich finde immer noch, dass du etwas langsamer fahren solltest«, sagte Shirley.
»Warum?«
»Weil du gerade einen Streifenwagen überholt hast«, antwortete sie, aber noch bevor sie es ausgesprochen hatte, blitzte das Blaulicht auf und die Sirene heulte, als Warnung für alle, insbesondere sie.
Roderick Ho war stolz auf sein Auto. Einige der anderen Slow Horses (er dachte da an Cartwright) besaßen nicht einmal einen fahrbaren Untersatz, geschweige denn einen Ford Ka, stahlblau mit cremefarbener Schürze und einer hammermäßigen Anlage – Ho bevorzugte Musik, die von Gesundheitswarnungen in gotischer Schrift begleitet wurde. Die Sitze waren ebenfalls cremefarben, mit korrespondierenden stahlblauen Nähten, und die Windschutzscheibe war ganz leicht getönt, was dem Fahrer eine geheimnisvolle Aura verlieh. Im Internet, wo Ho zu Roddy Hunt, dem DJ -Superstar, mutierte, nannte er den Wagen den »Chick-Magneten«; in der Realität sorgte er dafür, dass er makellos blieb, und behandelte ihn regelmäßig mit Neuwagen-Geruchsspray. Im Gegenzug weigerte er sich bisher hartnäckig, seinem Spitznamen gerecht zu werden, aber das war das Problem mit einem Gebrauchten: Der Vorbesitzer hatte sein Glück schon aufgezehrt.
Trotzdem ein tolles Gefährt. Wahrscheinlich genauso toll wie das, was er mit den Chicks machen würde, wenn sie anbeißen würden, dachte er, als er an der Bordsteinkante hielt, wo Jackson Lamb auf ihn wartete.
Er hielt einen Styroporkaffeebecher in der Hand, schüttelte den Kopf und seufzte: »Grundgütiger!«
Ho hatte das Fenster runtergelassen. »Wieso?«
»Wenn Sie fragen müssen …«, erwiderte Lamb, »Sie würden die Antwort nicht verstehen. Würden Sie sich wie ein Lakai fühlen, wenn ich hinten säße?«
»Ja.«
»Hervorragend.« Lamb quetschte sich auf den Rücksitz und verschüttete dabei nicht sehr viel Kaffee. »Warum riecht es hier drin nach Käse?«
Es wurde endlich dunkel; ein oder zwei Straßenlaternen waren angegangen, andere noch nicht. Entweder sie funktionierten nach einem anderen Zeitplan, oder sie waren kaputt. Die Heimkehrer auf den Bürgersteigen waren den Vergnügungsuchenden gewichen, die ins Barbican zu einer Veranstaltung gingen oder sich in Richtung der Bars in der Old Street treiben ließen. Roderick Ho schaute prüfend in den Rückspiegel und erwischte Lamb bei einem seiner Angelausflüge in seine beiden Taschen, nachdem er in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen sein Feuerzeug hielt.
Lamb sagte: »Nicht aufregen! Ist so eine E-Zigarette.«
»Nein, ist es nicht«, erwiderte Ho.
»Ach, nicht?« Lamb untersuchte misstrauisch das brennende Ende. »Mist. Ich bin abgezockt worden.«
Ho unterbrach seinen gemurmelten Protest, als er bemerkte, dass Lamb den Parkausweis an seiner Windschutzscheibe entdeckt hatte. »Tarnung«, sagte er.
»Tarnung«, wiederholte Lamb.
»Und eine Absicherung gegen Identitätsdiebstahl.«
Lamb lachte hustend und stieß dabei so viel Rauch aus wie ein feuchtes Lagerfeuer. »Identitätsdiebstahl? Glauben Sie mir. Ihre würde niemand geschenkt haben wollen.«
Ho verzog beleidigt das Gesicht.
Hinter ihm lehnte sich Lamb zurück und schloss die Augen. Aus seinem Mund drang ein Geräusch – der Beginn eines Schnarchens oder das Ende eines Glucksens, schwer zu sagen –, aber danach verstummte er mehr oder weniger, während Roderick Ho, geführt von seinem Navi, sie durch die Stadt und dann aus ihr hinauslenkte, in Richtung des Ortes, an dem Catherine gefangen gehalten wurde oder besser: von dem sie hofften, dass sie dort festgehalten wurde.
»Diana«, sagte Tearney.
»Ich wollte gerade gehen.«
»Natürlich, meine Liebe. Es ist ja auch nicht notwendig, dass Sie abends länger arbeiten.«
»Es ist immerhin schon nach …«
»Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie die Rechnungen für die Dokumentenumzugsfirma schon abgezeichnet haben.«
»Dokumentenumzug«, nicht einfach nur »Umzug«: Diese Leute waren schließlich Spezialisten, auch wenn sie letzten Endes auch nur Kartons von einem Ort zum anderen brachten.
Dame Ingrid folgte Diana in ihr Büro, dessen Beleuchtung sich automatisch einschaltete; ein kühles Blau, das dem Frühlingssonnenschein nahekam, aber die Nackenhaare kribbeln ließ; ein Gefühl, das Ingrid auf einen Überschuss an Elektrizität in der Luft zurückführte, als ob diese durch fehlerhaft angebrachte Steckdosen austräte. Seltsam, dass diese Haare weiterhin funktionierten und unheimliche Gefühle schürten, während alle anderen ihr bereits als Jugendliche ausgefallen waren. Eine zufriedenstellende Begründung dafür wurde nie gefunden, obwohl Dame Ingrid widerstrebend zugegeben hätte, dass dies weniger ein Versagen der medizinischen Wissenschaft als vielmehr ein Zeichen ihrer eigenen Abneigung war, unter den gegebenen Umständen damit zufrieden zu sein.
Diana Taverner führte eine Wortsuche durch, ohne sich hinzusetzen, und runzelte die Stirn, als sie sich über ihren Bildschirm beugte und ein Gewirr von Ordnernamen beobachtete, die sich über- und untereinanderschoben, wobei keiner von ihnen die gesuchten Informationen enthielt. »Es ist hier irgendwo.«
»Kein Grund zur Eile, meine Liebe.«
Sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass die beste Art, eine Untergebene nervös zu machen, war, ihr zu versichern, dass es keinen Grund zur Eile gab.
Während sie wartete, blickte Dame Ingrid durch die Glaswand des Büros auf die Kids in der Zentrale, wobei »Kids« ein Begriff unabhängig von Alter und Erfahrung war. Loyalität hatte die Kids an diesen Posten gebracht, obwohl Loyalität ein unendlich variabler Begriff war; sie begann mit dem lobenswerten Wunsch, Königin und Land zu dienen, konnte zu noch tugendhafteren Höhen aufsteigen, indem man dem Oberhaupt des Geheimdienstes Treue schwor, aber sie konnte im schlimmsten Fall auch in den unbedingten Wunsch ausarten, der unmittelbaren Vorgesetzten, in diesem Fall Diana Taverner, zu gefallen. Wenn mehr als nur Glück an der heutigen plötzlichen Schicksalswende beteiligt war, dann hatte das, was immer es war, wahrscheinlich in dieser Abteilung seinen Ursprung: Ops. Natürlich war Diana zweifelsfrei in der Lage, selbst Intrigen auszuhecken, aber falls sich herausstellen sollte, dass sie ihre Mannschaft dazu gebracht hatte, bei der schmutzigen Arbeit zu helfen, würde es eine Säuberung geben müssen – was gut war; eine ordentliche Säuberung hatte noch nie jemandem geschadet. Außer denen natürlich, die weggeputzt wurden, aber darum ging es ja auch.
Das alles war jedoch voreilig. Wenn mehr als nur Glück im Spiel gewesen war, musste sie wissen, warum und wie das Endspiel aussehen würde.
»Hier haben wir es ja.«
Diana Taverners brüsker Ton verriet, dass sie gerne gehen wollte. Also wartete Dame Ingrid noch einen Moment länger, in Gedanken versunken, bevor sie sagte: »Ah, gut. Ja. Würden Sie das für mich ausdrucken? Ich finde Monitore lästig, Sie nicht? In unserem Alter?«
Diana schluckte das, aber es schmeckte ihr nicht. Zwei Sekunden später erwachte der Drucker auf dem Regal hinter ihr rülpsend zum Leben, und sie übergab den Ausdruck Dame Ingrid.
Diese überflog die Unterlagen einen Moment lang und sagte dann: »Teuer.«
»Es war ein Problem«, sagte Diana. »Es ist gelöst worden. Jedenfalls dachte ich, die Finanzabteilung sei zufrieden? Haben Sie das heute Morgen nicht gesagt?«
»Ich habe das vielleicht zugunsten der anwesenden Herren etwas versüßt«, sagte Tearney. »Wir Frauen müssen doch zusammenhalten.«
»Natürlich.«
Dame Ingrid faltete die Rechnung, blickte durch die Glaswand wieder auf die Kids und fragte dann: »Sagt Ihnen der Name Sean Donovan etwas?«
»Sollte er das?«
»Es ist eine einfache Frage, Diana.«
»Ich kann ihn überprüfen lassen …«
»Ich meinte persönlich. Kennen Sie Sean Donovan in irgendeiner Weise persönlich?«
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, antwortete Taverner. Sie nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, der rasch durch den einer dämmernden Erkenntnis ersetzt wurde. »Hat er nicht vor ein paar Jahren in einem gemeinsamen Geheimdienstausschuss gesessen? Als Mann fürs Grobe des Verteidigungsministeriums?«
»Und seitdem hatten Sie keinen Kontakt mehr zu ihm?«
»Man kann nicht sagen, dass wir damals Kontakt hatten. Er war eben einer von den Militärs mit praktischer Erfahrung im Umgang mit Aufständen.«
»Verstehe.«
»Warum fragen Sie? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?« Sie deutete auf ihr Team. »Sollten wir irgendetwas unternehmen?«
Dame Ingrid setzte sie einem langen, abstrakten Blick aus, als grabe sie tief in ihrem Gedächtnis und Diana sei zufällig anwesend. Es war eine Technik, die dem unwilligsten Untergebenen Informationen entlocken konnte, doch in diesem Fall behielt Diana einen Ausdruck leichter Besorgnis, vermischt mit der Bereitschaft zur Hilfe, der nicht zu irgendeiner Äußerung führte. Dame Ingrid schüttelte lange den Kopf. »Nein, meine Liebe. Sein Name kam zur Sprache, das ist alles.« Sie winkte mit dem Blatt Papier. »Ich bin sicher, das ist in Ordnung. Wie Sie schon sagten, das Problem wurde gelöst. Kurzfristige Kosten, langfristiger Nutzen.«
»Gemäß dem Auf‌trag.«
»Material bis zu Virgil-Level, richtig?«
»Bis zu und einschließlich. Wie ebenfalls im Brief‌ing besprochen«, sagte Diana. »Gibt es ein Problem, Ingrid? Sie sehen beunruhigt aus.«
»Beunruhigt? Aber nein. Tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe, Diana. Genießen Sie Ihren Feierabend.«
Die Flure waren jetzt still. Sogar das Klappern ihrer eigenen Absätze klang in ihren Ohren zusammenhanglos, irgendwie leicht asynchron mit ihren Beinen.
In ihrem Büro setzte sie sich nicht an ihren Schreibtisch, sondern in den Sessel in der Ecke, neben dem ein niedriger Couchtisch stand. Dort genehmigte sie sich immer den abendlichen Gin Tonic: eine kleine Belohnung für einen erfüllten Tag. Dies war auch ihr gewohnter Platz, wenn sie sich auf ihre gelegentlichen öffentlichen Auf‌tritte vorbereitete und sich den einen oder anderen Satz zurechtlegte, der sowohl getwittert als auch belächelt werden sollte. Und dort saß sie auch, wenn sie Deckung brauchte, wenn sich ihr Schreibtisch zu exponiert anfühlte.
Dame Ingrid wusste, dass ihre Mitarbeiter allgemein der Ansicht waren, sie wüsste nicht, dass die aktuellen Sicherheitscodes auf Thunderbirds basierten, aber es passte ihr ganz gut, dass man sie in unwesentlichen Dingen unterschätzte. Sicherlich betrachtete die Mehrheit ihres Personals sie als oberste Aktenschieberin. Ebenso sicher war sie sich, dass der Auf‌trag, den Diana Taverner erhalten hatte, nicht die Auslagerung von Akten beinhaltete, die auf Stufe Virgil klassifiziert waren, da Dame Ingrid längst festgestellt hatte, dass Geheimnisse der zweiten Ebene das perfekte Versteck bildeten. Scott war der Ort, an dem das sexy Zeug versteckt war: das Mantel-und-Degen-Material, das die Kronjuwelen eines jeden Geheimdienstes darstellt. Virgil enthielt größtenteils Daten, die nur für einen engagierten Zahlenjäger mit einem Fetisch für Haushaltsfragen interessant waren: Wie viel wurde für die Aktualisierung von Sof‌tware, die Subventionierung der Kantine oder den Austausch von Teppichen ausgegeben? Wenn also Dame Ingrid irgendwelche dunklen Geheimnisse in den Service-Archiven versteckt hatte, dann war Virgil der Ort, an dem sie nisten würden.
Und jeder engagierte Ingrid-Tearney-Beobachter wusste, dass sie keineswegs nur die oberste Aktenschieberin war, sondern durchaus ihre dunklen Geheimnisse hatte.
Nach einer Weile holte sie ihr Handy aus der Tasche.
Nick Duf‌fy antwortete beim ersten Klingeln.
»Es gibt eine Planänderung«, sagte sie.