13
Catherine Standish bewunderte die leere Flasche.
Es waren unterschätzte Objekte, leere Flaschen. In den alten Zeiten hatte sie liebevolle Blicke auf die vollen verschwendet, da die leeren für sie kaum mehr als Markierungen auf einer Reise ins Vergessen waren: entweder in den dunklen, traumlosen Keller des Schlafs oder in das Labyrinth des alkoholischen Blackouts, wo die Stunden unsichtbar verrannen. Hinterher untersuchte man sich auf Hinweise darauf, wo man gewesen war und was man dort gemacht hatte, aber man konnte seine Schritte durch dieses Labyrinth nicht zurückverfolgen. Und leere Flaschen enthielten keine Botschaften. Man konnte sie drehen, wie man wollte, sie zeigten immer in dieselbe Richtung: zurück in die Dunkelheit, in die weggeworfenen Stunden.
Aber die Flasche, die sie jetzt in der Hand hielt, besaß eine besonders schöne Gestalt. Sie wusste, dass sie von irgendeinem Fließband gerollt war und kein Glasbläser je ihre vollendete Form in seinen Händen gehalten hatte; aber dennoch, wenn sie sie ansah, sie fühlte und ihre Leichtigkeit genoss, dachte sie, dass sie von all den Flaschen, die sie in ihrem Leben geleert hatte, noch nie eine mit so viel Freundlichkeit betrachtet hatte – das war das Wort, das sie gesucht hatte. Freundlichkeit. Seit Bailey mit dem Tablett aufgekreuzt war, hatte sie diese Flasche den ganzen Nachmittag über als ihre Feindin betrachtet, als etwas, das es zu besiegen galt, wie eine Schlange im Garten. Sie hatte nicht bedacht, dass sie auf derselben Seite standen; dass sie genauso sehr geleert werden wollte, wie sie sie leeren wollte. Das Verlangen liegt im Herzen von allem, was aus Glas gemacht ist, entschied sie; Glas ist Bedürfnis, dem Substanz gegeben wurde. Man bläst hinein, und es nimmt neue Formen an. Schlägt man an der falschen Stelle darauf, zerspringt es.
Nun, den geheimen Wunsch von diesem hier hatte sie erfüllt, dachte sie. Sein Inhalt war jetzt Geschichte.
Eben hatte sie geglaubt, sie hätte Gesang gehört – so etwas Ähnliches wie Gesang, eine Art Weihnachtsmelodie –, und fragte sich, ob dies die Rückkehr der Stimmen einläutete. Doch alles in allem, so entschied Catherine, war das unwahrscheinlich: Ein einziger Tag, den sie im Dachwinkel eingesperrt verbracht hatte, würde nicht ausreichen, um sie in die Tiefen zurückzuschicken, aus denen sie in jahrelanger Anstrengung herausgekrochen war. Und schließlich hatte sie den verdammten Pinot einfach in den Abfluss geschüttet. Nach einem solchen Triumph stand ihr eine Siegesparade zu, kein Rückfall.
Daher füllte sie die Flasche mit Wasser und schraubte den Deckel zu. Sie lag gut in ihrer Hand und fühlte sich einigermaßen gewichtig an. Bailey war jung und fit, aber Catherine Standish hatte schon öfter Flaschen geschwungen und wusste, dass ein unerwarteter Hieb damit, auch wenn sie klein war, einen Kampf beenden konnte, bevor er begann.
Und wenn er das nächste Mal durch diese Tür trat, guter Gastgeber hin oder her, würde sie ihm zeigen, wie sich eine Reise ins Vergessen anfühlt.
Unterwegs in Richtung Westen ließen sie zwar den Stadtverkehr hinter sich, gerieten aber in den Feierabendstau. Marcus war gezwungen, Schneckentempo zu fahren. Das nächste Verkehrshindernis lag vor ihnen. Wenn sie es erreichten, würde da nichts zu sehen sein – ein Ölfleck auf dem Asphalt, ein Ballon, der an ein Geländer gebunden war –, doch bis dahin rangierten und fluchten sie wie alle anderen auch, aber fanden zumindest Zeit, über die Bedeutung von Shirleys Entdeckung zu streiten.
Marcus sagte: »Das muss nicht unbedingt etwas bedeuten.«
»Meinst du?«
»Sie kannten sich schon lange. Sie sind Kameraden. Mit so jemandem bricht man nicht so leicht, nicht nachdem man zusammen im Krieg war.«
»Donovan hat Traynors künftige Frau auf dem Gewissen, Marcus. Das ist kaum die gleiche Liga wie, keine Ahnung, sein Auto zu Schrott zu fahren.«
»Manche Männer hängen sehr an ihren Autos. Aber so oder so, es war ein Unfall. Vielleicht hat Traynor eine versöhnliche Natur.«
»Er hat in Afghanistan gekämpft«, erwiderte Shirley. »Ich glaube nicht, dass es zu ihrer Ausbildung gehörte, die andere Wange hinzuhalten.« Sie hielt weiterhin den Blick auf ihr Smartphone gerichtet und klickte sich durch die Service-Akten über Alison Dunn. »Sie hat zusammen mit Donovan in diesem UN -Ausschuss gesessen«, fuhr sie fort.
»Darf man beim Militär überhaupt untereinander heiraten?«, fragte sich Marcus.
»Hier ist eine Stelle geschwärzt.«
»Welche Stelle?«
»Sie ist geschwärzt, Blödmann.«
»Ich habe dich schon beim ersten Mal verstanden, Dummchen. Aber welcher Teil genau ist geschwärzt?«
»Gleich nach ihrer Rückkehr nach Großbritannien, nach der UN -Sache, meine ich, hat sie eine Art Bericht eingereicht«, antwortete Shirley. »Was auch immer darin stand, wurde von oben weggestempelt.«
»Aha«, sagte Marcus.
»Aha«, äffte Shirley ihn nach. »Sehr aufschlussreich. Was bedeutet ›Aha‹ genau?«
»In diesem Zusammenhang«, sagte Marcus, »bedeutet ›Aha‹, das klingt nach politischem Kram. Und das ist genau der Kram, in den man sich tunlichst nicht einmischen sollte.«
Ohne ersichtlichen Grund begann der Verkehr wieder zu fließen.
»Wie sieht also unser neuer Plan aus?«, fragte Shirley. »Willst du umkehren und uns nach Hause fahren?«
»Nein, ich denke, wir sollten zusehen, dass wir so schnell wie möglich zu Louisa und Cartwright kommen.«
»Und warum?«, fragte Shirley und schaute von ihrem Display auf.
»Siehst du den schwarzen Van da vorne? Auf der Seite steht Black Arrow«, sagte Marcus. »Und es sieht so aus, als wollte er in dieselbe Richtung wie wir.«
»Hauen Sie ab«, sagte der Mann.
Das war alles, aber er schien es für ausreichend zu halten. Er zog sich zurück, um Lamb die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber Lamb konnte flink sein, wenn er wollte, und ein zerkratzter Lederbrogue, kampferprobt durch jahrelangen Kontakt mit Lambs Fuß, schob sich in den Türspalt, bevor das Holz den Pfosten traf.
»Nicht einmal einen Thruppence?«, fragte er. »Ist für einen guten Zweck.«
»Schwing die Hufe, alter Mann.«
»Tut mir leid. Tanzen kostet extra.« Lamb schlug gegen die Tür, sein Gegner stolperte rückwärts, und schon war Lamb drin und trat die Tür hinter sich zu. Noch mitten in der Bewegung warf er dem Mann den Styroporbecher ins Gesicht, auf seine Reflexe zählend, und wurde damit belohnt, dass der Mann den Becher auffing und dabei sein Bauch ungeschützt war. Lamb hatte keine Lust auf Nahkampf, deswegen machte er dem Ganzen schnell ein Ende. Er schwang die Faust, als läute er eine Glocke, rammte sie dem Mann unter die Rippen, und als dieser nach vorn klappte, klatschte ihm Lamb beide Handflächen gegen die Ohren, wobei er den Knall im Kopf des Mannes förmlich hören konnte. Als er sein Knie in das gesenkte Gesicht rammte, trat er, weil es immer die Möglichkeit gab, dass es sich um das falsche Haus handelte, weniger fest zu, als er es hätte tun sollen; er hielt die Hände auf den Ohren des Mannes und ließ ihn sanft zu Boden sinken. Dann wich er zurück, als Blut aus dem zerschlagenen Gesicht floss.
»Da werden Erinnerungen wach«, sagte Lamb, obwohl es fraglich war, ob der Mann ihn hören konnte.
Als er sein Opfer umdrehte, fand Lamb eine Pistole in seinem Hosenbund. Damit war die Frage beantwortet, ob dies das richtige Haus war, oder zumindest rechtfertigte es die Gewalt, die er gerade dem Hausherrn angetan hatte, falls sich herausstellte, dass es doch das falsche war. Jeder, der einem Sternsinger bewaffnet die Tür öffnet, hat das verdient, dachte Lamb fromm. Er nahm das Magazin heraus, steckte es in die Tasche und warf die Waffe durch die nächste Tür. Abgesehen von Standish war niemand hier. Sonst wäre er schon längst erschossen worden.
Er räusperte sich lautstark und blickte sich um, als suche er einen Spucknapf. Dann schluckte er stattdessen: Gute Manieren, wie er seinen Lahmen Gäulen gerne erklärte, kosteten nichts. Es gab eine Treppe auf der linken Seite und noch mehrere andere Türen außer der, durch die er gerade die Waffe geworfen hatte, aber er würde mit ziemlicher Sicherheit die verdammte Treppe hinaufsteigen müssen, also konnte er es auch gleich tun. Auf dem ersten Treppenabsatz hielt er inne, um sich eine Zigarette anzuzünden, schnüffelte aber vorher misstrauisch. Warum roch es hier nach Käse?
Egal. Mit der Zigarette im Mund stapf‌te Lamb nach oben.
»Was genau suchen Sie eigentlich?«, fragte River.
Traynor warf ihm einen sardonischen Blick zu, antwortete aber nicht.
River saß auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand, eine Position, die seinen schmerzenden Bauchmuskeln eine gewisse Erleichterung verschaffte, wenn auch nicht so sehr, dass er in absehbarer Zeit mit Zuneigung an Nick Duf‌fy denken würde. Douglas saß etwa zwei Meter entfernt und sah aus, als wolle er sich am liebsten in ein anderes Universum beamen, eines, in dem er River und Louisa nicht durch die Luke gelassen hatte. Oder aber er versuchte, nicht vor Wut in Tränen auszubrechen. Was Louisa anging, so war sie in das abgetaucht, was River als ihren inneren Rückzugsort erkannt hatte: Dorthin wanderte sie immer dann, wenn ihre Anwesenheit unvermeidlich, aber ihre volle Aufmerksamkeit nicht erforderlich war. Es war ein Ort, an dem sie viel Zeit verbracht hatte, als sie damals nach Slough House verbannt worden war; jetzt, nach Mins Tod, sah es so aus, als plante sie, wieder dorthin zurückzukehren. Als besuchte man eine Wohnung, in der man früher mal gewohnt hatte, dachte River: Sicherlich war sie schäbiger, als man sie in Erinnerung hatte, aber wenn man ein oder zwei Tage wartete, wäre es, als sei man nie weggegangen.
Über ihren Köpfen setzten die Überwachungsmonitore ihre automatische Arbeit fort; sie wechselten zwischen Aufnahmen der verlassenen Gebäude und einer Fotomontage der leeren Gänge und Räume, die sich eine Meile unter dem westlichen Rand der Hauptstadt erstreckten. Traynor warf immer wieder einen Blick darauf, vermutlich um Donovans Fortschritte zu prüfen.
River versuchte es erneut. »UFO s? Bei den meisten Leuten, die Außerirdischen begegnet sind, wundert man sich, dass sie ›UFO ‹ überhaupt buchstabieren können. Ist das Ihr Ding, Traynor? Oder nein, lassen Sie mich raten, es ist Lady Di. Sie sind einer dieser Idioten, die glauben, der Geheimdienst hätte sie auf Befehl des Lizard Dukes erledigen lassen.«
Diesmal schenkte ihm Traynor nicht mal mehr einen direkten Blick. Er starrte einfach durch River hindurch, ohne zu blinzeln, als wäre er ein summendes Insekt: nicht der Mühe wert, dass man aufstand, um es zu zerquetschen.
»Denn eines muss ich Ihnen sagen«, fuhr River fort, »von den ganzen armseligen, verrückten Theorien da draußen muss das die armseligste sein. Glauben Sie, es hätte sich im Service nicht herumgesprochen, wenn das stimmen würde?«
Traynor erwiderte: »Soweit ich gehört habe, würdest du es nicht mal erfahren, wenn der Service beschließen würde, Essig über seine Fritten zu träufeln.«
Und dann, gerade als River sich dazu beglückwünschte, ihn zu einer Reaktion provoziert zu haben, veränderte sich Traynors Gesichtsausdruck, und er widmete seine volle Aufmerksamkeit den Monitoren. Im selben Moment tauchte Louisa aus ihrer inneren Versenkung auf, erhob sich und starrte auf die Bildschirme.
»Wer zum Teufel sind die?«, fragte sie.
Nur Douglas blieb sitzen. Die anderen drei waren auf den Beinen und beobachteten die Monitore, besonders denjenigen, der einen Gang zeigte, der vorher leer gewesen war, aber jetzt von schwarzgekleideten, maskierten und mit Utility-Gürteln ausgerüsteten Gestalten wimmelte, die sich schnell in eine Richtung bewegten, von der River nur vermuten konnte, dass sie zu ihnen führte.
Nachdem sie die Hauptstraße verlassen hatten, wurden die Straßen schmaler; zunächst waren sie von Bäumen gesäumt, die irgendwann Reihenhäusern wichen, und dann, als sie sich der Eisenbahnlinie näherten, zunehmend heruntergekommenen Lagerhäusern, Lagerhallen, leeren Gewerbehöfen. Es herrschte nur noch wenig Verkehr, und Marcus blieb weit hinter dem Black-Arrow-Van zurück. Als dieser zwischen zwei dunklen Gebäuden verschwand, fuhr er geradeaus weiter, während Shirley sich auf ihrem Sitz verrenkte, um zu beobachten, wohin er fuhr. »So eine Art Industriegebiet. Dort muss das Außenarchiv sein.«
Marcus grunzte, wendete an der nächsten Ecke und parkte vor Garagentoren, auf denen EINFAHRT FREIHALTEN stand. »Bleib sitzen.«
»Wo willst du …«
»Ich brauche was aus dem Kofferraum.«
Er stieg aus und ging um das Auto herum. Shirley wollte schon hinterher, überlegte es sich dann aber anders und durchsuchte stattdessen ihre Taschen. Sie war sich plötzlich sicher, dass sie einen verborgenen Schatz bei sich trug – ein übersehenes Tütchen Koks war wohl zu optimistisch, aber sie trug seit Tagen dieselbe Jeans, und es kam öfter vor, dass sie irgendwann zufällig einen Krümel Haschisch zwischen den Falten fand, den sie auf ihren nächtlichen Streifzügen nebenbei ergattert und in der Hitze der … Hitze vergessen hatte. Aber die Suche war vergeblich. Sie griff nach ihrer Jacke und fuhr sorgfältig über die Nähte – manchmal schlüpf‌te eine Pille bis zum Futter durch. Nichts. Mist! Nicht schlimm. Es ging ihr gut. Vielleicht hatte Marcus irgendetwas im Handschuhfach – egal, was, ihretwegen auch Aspirin, aber eine schnelle Suche erbrachte nichts Nützlicheres als eine alte Rolle Polo-Pfefferminz und ein paar CD s ohne Hüllen.
Aber es ging ihr gut, und sie brauchte keine Stärkung. Das Adrenalin würde reichen. Sie brauchte dazu keinen Vortrag von Marcus; sie musste sich nicht einmal selbst ermahnen. Also schaute sie die CD s durch, um ihrer Zappeligkeit Herr zu werden, und fand ein Arcade-Fire-Bootleg von der Hyde-Park-Show letztes Jahr: viel zu cool für Marcus, also vermutlich von einem seiner Kinder, was umständliche Verhandlungen bedeutete, wenn sie sie sich ausleihen wollte. Andererseits war es eine Raubkopie: Da das Kind sich nicht um das Copyright scherte, hatte es auch kein Besitzrecht. Die Hibbeligkeit war weg, stellte sie fest, als sie die CD in ihre Jackentasche steckte – und bekam fast einen Herzinfarkt, als Marcus plötzlich am Fenster auf‌tauchte.
»He, mach so was nicht noch mal!«
»Alles okay mit dir?«
»Ja, alles klar. Herrgott noch mal.« Mit zusammengekniffenen Augen sah sie zu ihm auf. »Du willst nicht ernsthaft so rumlaufen, oder?«
Damit meinte sie eine schwarze Baseballkappe, wie Marcus sie beim Einsatzkommando getragen hatte, jetzt allerdings ohne das dünne Funkmikro. Er hatte sie tief in die Stirn gezogen, aber den Schirm hochgeklappt.
»Ich bin eben daran gewöhnt.«
»Du meinst wohl, dann glänzt deine Stirnglatze nicht so verräterisch.« Shirley warf ihre Jacke auf den Rücksitz und stieg aus.
»Zieh sie lieber an«, sagte Marcus zu ihr.
»Aber es ist heiß!«
»Du hast ein weißes T-Shirt an! Du willst doch nicht etwa im …«
»Ist ja schon gut!« Shirley schnappte sich die Jacke und zog sie an. »Nur weil du alt genug bist, um mein Vater zu sein, musst du dich nicht so aufspielen.«
»Ich bin nicht alt genug, um – ach, vergiss es. Bist du auch wirklich bereit?«
»Das ist doch nur ein Haufen Sonntagssoldaten.«
»Du solltest deine Gegner nie unterschätzen! Vor allem, wenn du nicht weißt, wie viele es sind.«
»Es ist ein großer Van«, gab Shirley zu. »Was meinst du, warum sie hier sind?«
»Das sind Donovans Leute. Das waren sie jedenfalls, bis er heute Nachmittag Monteith ermordet hat. Vielleicht stört sie das auch nicht, und sie sind hier, um ihm bei dem zu helfen, was er da vorhat. Oder …«
»Oder sie sind sauer, weil er ihren Chef umgelegt hat, und sie sind hier, um in seinen Whisky zu pissen.«
»So was in der Art. Bist du bewaffnet?«
»Nein. Du?«
»Nein«, sagte Marcus. »Na ja, bis auf eine Pistole.«
»Das fällt irgendwie unter bewaffnet.«
»Es ist keine große.«
»Hast du noch eine extra dabei?«
»Bin ich dein Kindermädchen? Nein, ich habe keine übrig. Das hier ist eine Familienkutsche, kein rollendes Arsenal. Und jetzt knöpf deine Jacke zu. Man kann dein T-Shirt sehen.«
Shirley schloss die Knöpfe, und die beiden machten sich auf den Weg und bogen um die Ecke.
Nick Duf‌fy schaute auf die Uhr, fragte sich erneut, wo zum Teufel die Black-Arrow-Crew blieb, und atmete auf, als der Van unten erschien und mit unnötig quietschenden Bremsen in der Nähe des Stapels mit den Zaunelementen hielt. Amateure: Sie sprangen hinten raus, wie sie es in Vietnam-Filmen gesehen hatten, als wären sie mit einem Hubschrauber abgesetzt worden und die Vietkong lauerten im Schilf.
Aber sie brauchten nicht gut zu sein bei dem, was sie taten. Sie mussten nur da sein, und zwar möglichst zahlreich.
Duf‌fy zählte ein Dutzend, bevor er das Fernglas auf seine Brust fallen ließ. Sie waren in vollem Cowboy- und Indianermodus und spähten hinter jeder Deckung hervor, die sie finden konnten: dem Van, dem Container, dem Zaunteilestapel. Der Wagen der Slough-House-Leute stand ebenfalls zur Verfügung: Cartwright und Guy waren so aufgeregt über ihren Undercover-Einsatz, dass sie deutlich sichtbar im Licht der allmählich aufgehenden Sterne geparkt hatten. In gewisser Weise würde er allen einen Gefallen tun, wenn er sie ausschaltete. Noch während er das dachte, war ihm klar, dass dies genau die richtige Stimmung für diese Art von Job war: Man musste überzeugt davon sein, dass das, was man tat, dem allgemeinen Wohl diente, auch dem derer, denen man es antat.
Alle, hatte Dame Ingrid gesagt. Die Slough-House-Crew auch.
Er beobachtete die schwarzgekleideten Möchtegernsoldaten bei der Arbeit. Einige holten Ausrüstung aus dem Lieferwagen – zwei Schnellmontage-Gerüsttürme mit LED -Scheinwerfern –, während andere von Schatten zu Schatten hüpf‌ten und sprangen, das Gelände sicherten und dabei aussahen, als machte ihnen das einen Riesenspaß. Daran erkannte man, dass sie das noch nie im Ernstfall getan hatten. Wäre er sentimental gewesen, hätte Duf‌fy vielleicht gedacht, dass er selbst einmal so gewesen war, aber er war es nicht, auch nie so gewesen, und daher bückte er sich einfach zu der Reisetasche zu seinen Füßen und zog eine schwarze Seidensturmhaube heraus. Schwarz wegen der Dunkelheit, Seide gegen die Hitze, die noch in der Luft hing wie in einer Bäckerei, in der die Öfen gerade erst ausgeschaltet worden waren, aber vor allem natürlich, um sein Gesicht zu verbergen. Wenn das hier vorüber war, würden die Black Arrows mit den Leichensäcken in der Hand dastehen, und da wäre es natürlich viel schöner, wenn sie keine Personenbeschreibungen hinausposaunen konnten.
Dann überprüf‌te er seine Waffen, checkte seine Munition und ging hinunter, um die Sache in die Hand zu nehmen.
Auf dem obersten Treppenabsatz fand Lamb eine Tür mit Vorhängeschloss und dachte: Okay, das könnte ein Hinweis sein. Der Schlüssel war zweifellos in Sunny Jims Tasche, und es würde keine zwei Minuten dauern, wieder nach unten zu gehen und ihn zu holen, aber es sah nicht so aus, als würde sich jemand dafür freiwillig melden, also brüllte er einfach: »Standish? Bleiben Sie von der Tür weg!« und trat ohne ein weiteres Wort zu. Beim ersten Tritt riss der Beschlag des Schlosses splitternd ein Stück aus dem Holz, beim zweiten flog die Tür nach innen auf, knallte gegen die Wand und prallte zurück. Im Sekundenbruchteil dazwischen sah er Catherine Standish, eingerahmt in einer anderen Türöffnung. Sie hielt irgendetwas in der Hand. Als er die zerbrochene Tür noch einmal aufstieß und hindurchtrat, stand sie immer noch da, aber ihre Hände waren leer.
Lamb schaute sie an, blickte sich im Raum um, sah sie noch einmal an und sagte: »Ich dachte, das sei eine Entführung, kein Wochenendausflug.«
»Das Schloss war außen an der Tür«, erwiderte sie.
»Ich habe schon Kaninchenställe gesehen, die besser gesichert waren.« Er ging an ihr vorbei und steckte den Kopf durch die Tür ins Badezimmer. »Zimmer mit Bad, Herrgott noch mal.«
»Schon, aber ich hatte Nichtraucher gebucht«, sagte sie.
»Das ist eine wirklich schlechte Angewohnheit, dieser passiv-aggressive Mist.« Aber er warf seine Zigarette trotzdem in die Toilette. Sie prallte vom Sitz ab und verschwand hinter dem Sockel des Waschbeckens, wo sie wahrscheinlich kein Feuer entfachen und das Gebäude niederbrennen würde.
Catherine fragte: »Was haben Sie mit Bailey gemacht?«
»Wenn das der Praktikant ist, dem man hier die Verantwortung übertragen hat – der macht ein Nickerchen. Auch ein Ex von Ihnen?«
»Wie lange dauert sein Nickerchen?«
»Ich habe ihn nicht umgebracht, falls Sie das meinen.« Lamb hatte das Tablett entdeckt und strebte darauf zu. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich missbillige die Entführung von Service-Angestellten. Aber Sie sind nun mal nicht besonders wichtig.«
Er überlegte kurz, dann schaute er den Apfel an, steckte den Müsliriegel ein und riss die Verpackung des Sandwichs auf.
»Wen haben Sie dabei?«
»Niemanden.«
»Sie sind allein gekommen?« Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme ungläubig klang.
»Na ja, Ho ist gefahren.« Lamb biss in das Sandwich und verzog das Gesicht. »Igitt. Wie lange liegt das schon da?«
»Was wollte Donovan?«
»Als Gegenleistung für Sie?« Lamb kaute einen Moment, schluckte und nahm dann einen weiteren Bissen. Als sein Mund voll war, fuhr er fort: »Er behauptet, er will die Idiotenchroniken.«
Catherine sah ihn mit wachsendem Staunen an. »Die Grauen Bücher?«
»Ja. Ich habe genauso reagiert. Andererseits, wenn er Sie, was wahrscheinlich ist, damals in grauer Vorzeit gevögelt hat, dann erscheint es schon plausibler.« Eine weitere Kaupause. »Dass er offensichtlich ein Vollpfosten ist, meine ich.«
»Können wir jetzt gehen?«
»Ich habe meinen Müsliriegel noch nicht gegessen.« Er hielt inne und schnupperte an dem Sandwich. »Ist da Käse drin?«
»O Gott, nicht schon wieder. Drehen Sie sich um.«
Lamb tat es, und einen Augenblick später fühlte er, wie sie etwas von seinem Hosenboden zog. Als er sich umdrehte, hielt ihm Catherine etwas vor die Augen, das wie eine plattgedrückte Scheibe Mozzarella aussah. »Schauen Sie immer zuerst auf den Stuhl, bevor Sie sich in Roddys Zimmer setzen. Was bezahlen Sie für die Reinigung?«
»Was ist eine Reinigung?«
Sie verließ das Zimmer vor ihm und hielt auf dem Treppenabsatz einen Moment lang inne, um zurückzuschauen. Lamb machte sich die Mühe nicht. Es war ein normales Zimmer, und es war nicht viel passiert. Es gab Schlimmeres als Langeweile.
Vom nächsten Absatz aus konnten sie Baileys komatösen Körper im Flur sehen. Er würde aussehen, als ob er ein Nickerchen machte, dachte Catherine, wenn die Leute gewohnheitsmäßig ihre Gesichter vor dem Schlafengehen gegen einen Amboss schlagen würden. »Er ist noch ein halbes Kind, Jackson«, sagte sie.
»Er hatte eine Waffe. Und warum nennen Sie ihn ›Bailey‹?«
»Nach David Bailey, dem Fotografen. Er hatte auch eine Kamera.«
Lamb dachte einen Moment darüber nach und ließ es dann auf sich beruhen. »Wie dem auch sei, Sie müssen ihn jetzt aufwecken. Ich will wissen, was Donovan wirklich will.«
»Weil Sie ihn nicht wirklich für einen Irren halten.«
»Doch, das ist er wahrscheinlich schon. Aber das heißt nicht, dass er keine verborgenen Motive hat.«
Catherine sagte: »Danke, dass Sie gekommen sind, um mich rauszuholen, Jackson.«
»Haben Sie etwa geglaubt, ich würde es nicht tun?«
»Doch, ich wusste, dass Sie kommen würden. Ich dachte nur, es würde mit mehr Chaos einhergehen, das ist alles.«
Und in dem Moment fuhr Roderick Ho einen Bus durch die Haustür.
»Das sind Black Arrows«, sagte Traynor.
Black Arrows, die durch den Gang schlichen wie im Film: Einer ging ein paar Meter voraus und ließ sich dann in die Hocke fallen, so dass ein anderer ihn überholen und die nächsten paar Meter sichern konnte. Die meisten trugen Schlagstöcke, einige andere Gegenstände, die wie Schusswaffen aussahen, aber zu klobig dafür waren. Taser, dachte River, und es lief ihm kalt den Rücken runter. Er hatte schon einmal Bekanntschaft mit einem gemacht.
»Ihre Leute?«, fragte Louisa, an Traynor gewandt.
»Davon träumen die.« Traynor sah Douglas an. »Wo laufen die rum? Wo ist das?«
Douglas, der immer noch auf dem Boden saß, zuckte schmollend mit den Schultern.
»Es ist doch zum Kotzen«, murmelte Traynor. Er schnappte Douglas am Kragen, zog ihn auf die Beine und zeigte auf den Bildschirm. »Das da. Wo ist das?«
Douglas brauchte einen Moment, um einen Ton herauszubringen. »Das ist der C-Korridor.«
»Tolle Info. Und wo ist der C-Korridor?«
»Auf dieser Seite von B«, erklärte Douglas.
»Wie weit sind sie vom Lagerraum entfernt?«
»Der liegt gleich hinter dem E-Korridor.«
Traynor sagte: »Okay.« Er zog seine Waffe aus dem Gürtel, prüf‌te die Ladung und hielt sie dann locker an der Seite. »Okay, Planänderung. Ich gehe in diese Richtung.« Er deutete auf den Gang, in dem Donovan verschwunden war. »Passen Sie auf, dass Sie uns nicht im Weg sind, wenn wir zurückkommen.«
»Sie haben immer noch unsere Kollegin«, erinnerte ihn Louisa.
»Sie wird in jedem Fall um neun Uhr freigelassen. Unverletzt. Halten Sie uns für Tiere?«
»Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«
Rivers Augen waren auf den Monitor gerichtet, auf dem die Black-Arrow-Crew den Komplex sicherte. »Haben Sie vor, sie zu erschießen?«
»Ich habe vor, meinen Vorgesetzten zu unterstützen.«
»Das ist eine Kasperletruppe«, erwiderte River. »Bewaffnet mit Stöcken und Steinen.«
»Ein paar von ihnen sind ehemalige Soldaten«, widersprach ihm Traynor. »Und nicht alle sind unbewaffnet. Haben Sie jemals bei einem privaten Sicherheitsdienst gearbeitet?«
»Bisher nicht«, murmelte Louisa.
»Glauben Sie mir. Solche Typen horten illegale Faustfeuerwaffen.«
»Hinter was sind Sie eigentlich wirklich her?«
Aber Traynor war schon weg: durch die Schwingtüren und im Laufschritt den Gang hinunter.
River schaute zu Douglas. »Haben Sie Waffen hier unten?«
»Soll das ein Witz sein?«
So ähnlich, dachte River. Er schaute wieder hinauf zu den Monitoren. Ob bewaffnet oder nicht, das waren viele Männer da draußen. Wahrscheinlich mehr als genug, um mit zwei Exsoldaten fertigzuwerden.
Wahrscheinlich.
Douglas hatte den Hebel zum Öffnen der oberen Luke umgelegt.
»Wenn Sie oben sind«, sagte River, »rufen Sie Ihren Chef an. Sagen Sie ihm, dass es einen Einbruch gegeben hat. Sagen Sie ihm, dass er Alarm schlagen soll!«
»Ihr«, erwiderte Douglas.
»Wie bitte?«
»Mein Chef ist eine Frau.«
»Egal. Was auch immer.« Er schaute Louisa an. »Was ist mit dir?«
»Ich bin auch eine Frau.«
»Witzig.« Aber da Louisa schon lange nicht mehr ansatzweise lustig gewesen war, schenkte River ihr trotzdem ein kurzes Lächeln, bevor er fragte: »Gehst du auch rauf?«
»Gehst du?«
»Ich bleibe noch eine Weile hier. Ich will wissen, was hier abgeht.«
»Okay. Ich auch.«
Douglas war bereits auf halber Höhe. Sie sahen zu, wie er durch die Luke verschwand, dann legte River den Hebel um, der die Luke wieder verriegelte.
Gleich darauf sah er ihn auf dem Monitor, der den kleinen Zwischenraum über ihren Köpfen zeigte.
Auf einem der anderen Bildschirme näherte sich die Black-Arrow-Crew einer Reihe von Türen, begleitet von vielen Handzeichen und deutenden Fingern.
Louisa, die sie beobachtete, fragte: »Sag mir noch mal, auf wessen Seite wir stehen.«
»Das findest du von selbst raus, sobald die Schießerei losgeht«, erwiderte River. »Es sind die, die nicht auf dich zielen.«
Gemeinsam machten sie sich durch die Schwingtüren auf den Weg den Gang entlang.
Der Raum war langgestreckt und hoch, und an dem Ende, an dem Traynor ihn betrat, schien er fast bis zur Decke mit Kisten vollgestapelt zu sein, einige davon in Beweismittel-käfigen, die alle ordentlich mit Vorhängeschlössern gesichert waren. Aber etwa auf halbem Weg wichen die Kisten Regalreihen, die nicht mehr als sechzig Zentimeter voneinander entfernt standen, wobei in der Mitte ein Gang bis zur nächsten Tür verlief. Davor war ein großer Bereich leer geblieben, aber auf beiden Seiten bedeckten hohe Metallablagefächer die Wände. Sean Donovan stand etwa in der Mitte eines Regals voller Pappordner; er zog einen nach dem anderen heraus, schlug ihn auf, sah sich das Deckblatt an und ließ sie anschließend wie ein unzufriedener Bibliotheksnutzer zu Boden fallen. Die verstreuten Akten lagen bis hinten zum Gang, und als Ben Traynor ihn erreichte, sah es so aus, als würde Donovan absichtlich Unordnung säen: Er verwandelte säuberliche Reihen sortierter Geschichte in einen Schneesturm wirrer Vorkommnisse.
Ohne damit aufzuhören, fragte er: »Probleme?«
»Wir haben Gesellschaft.«
»Wer?«
Traynor war bereits an ihm vorbei, eilte auf die Türen zum E-Korridor zu und nahm im Laufen seinen Gürtel ab. Er schlang ihn durch die Türgriffe, zog ihn fest, schloss die Schnalle und wandte sich dann den Aktenschränken zu.
Donovan tauchte auf. »Wer?«, fragte er noch einmal.
»Monteiths Mannschaft.«
Donovan dachte einen Moment lang nach, dann schüttelte er den Kopf. »Das sind Leichtgewichte, Ben.«
»Sie müssen nicht gut sein, sie müssen nur viele sein«, erwiderte Traynor. »Hilf mir mal.«
Donovan half ihm, einen Schrank auf die Seite zu kippen und ihn dann vor die Türen zu schieben.
»Das wird sie nicht lange aufhalten«, sagte Traynor.
»Vielleicht doch«, sagte Donovan. »Für manche von ihnen ist das Öffnen einer Tür schon eine Leistung.« Er war bereits auf dem Weg zurück zu dem Regal, an dem er gearbeitet hatte.
Traynor schaute durch den Teil des Sichtfensters, der vom Schrank nicht verdeckt wurde, und sagte: »Sie sind schon da. Wir sollten lieber abhauen.«
»Ich laufe nicht vor diesen Clowns davon. Nicht, bis ich habe, wofür wir gekommen sind.«
»Sean, schau dich doch mal um! Das hier ist so groß wie in einer verdammten Kirche! Du kannst die ganze Woche hier verbringen und es nicht finden.«
Der ältere Mann schüttelte den Kopf: Er war außer Sichtweite, zwischen den Regalen, aber Traynor wusste, dass er das tat. »Die Katalogsignaturen sagen uns, wo wir suchen müssen. V wie Virgil, plus die Initialen von Tearney. Dann das Datum, dann eine vierstellige Referenznummer. Es liegt zwischen sechs und acht Jahren zurück, so dass wir nur diesen Abschnitt hier durchgehen müssen. Und ich bin schon halb fertig.«
»Was, wenn das Ganze eine Falle ist?«
»Welchen Sinn hätte das, Ben? Ich war gerade aus dem Gefängnis raus und habe mich halb zu Tode gesoffen. Und Taverner ist auf mich zugekommen, weißt du noch? Es ist ja nicht so, als wäre ich auf einem Kreuzzug.«
»Ich traue ihr nicht.«
»Sie ist eine Spionin. Natürlich kann man ihr nicht trauen. Aber sie ist eine Spionin mit einem Plan, und sie will Tearney genauso fertig machen wie wir. Für Alison, Ben. Erinnerst du dich?«
»Wie könnte ich das vergessen?«
»Also, wie lange ziehen wir das hier durch?«
»Schon gut. Solange es eben dauert.«
Mit der Waffe in der Hand ging er zurück zu den Türen und beobachtete durch das Fenster einzelne Bewegungen der Securitys draußen. Sie sahen aus, als würden sie sich auf einen Angriff vorbereiten … Plötzlich fiel ihm ein, dass er das schon einmal erlebt hatte, nicht an diesem Ort, aber in der gleichen Situation: vom Feind nur zwei Atemzüge entfernt, mit nichts als einer Mauer aus Ziegelsteinen und Gips dazwischen.
Der Unterschied bestand in der Gefährlichkeit des Feindes.
Er überprüf‌te seine Waffe noch einmal, obwohl es gar nicht nötig war, begab sich in Position und wartete. Wenn sie ernsthaft versuchen sollten, die Tür zu stürmen, würde er ihnen einen Denkzettel verpassen. Aber er durf‌te nicht vergessen, dass sie nicht alle Clowns waren – ein, zwei Leute bei der Black-Arrow-Truppe waren im Einsatz gewesen: Irak, Afghanistan. Wenn sie dabei waren, würde er nur ungern auf sie schießen, aber so war das als Soldat: Man konnte sich seine Feinde nicht immer aussuchen. Außerdem marschierte Ben Traynor nicht mehr unter einer Flagge. Dem am nächsten kam nur ein Foto von Captain Alison Dunn, und bei dem Gedanken daran küsste er einen Finger und klopf‌te auf seine Brusttasche. Er konnte Donovan hören, wie er in den Ordnern blätterte – rausziehen, reinschauen, fallen lassen –, blendete diese Geräusche aber aus und konzentrierte sich auf das Geschehen hinter den verbarrikadierten Türen: wachsam, auf seinem Posten und aufs äußerste gespannt.
Als Douglas aus der stillgelegten Fabrik auf‌tauchte, blieb er für einen Moment blinzelnd stehen, wie eine Ratte, die aus einem Labyrinth befreit worden war. Ein Zug ratterte vorbei, und er erstarrte, als würde er die Gefahr abwenden, wenn er sich nicht rührte. Es schien zu funktionieren: Schon war der Zug vorbei, ein Balken von Lärm und Licht, unterwegs in die Vororte. Douglas blickte zum Himmel, an dem inzwischen Sterne erschienen waren, schüttelte missbilligend den Kopf und griff dann in die Tasche nach seinem Handy. Er sah auf das Display und scrollte auf der Suche nach einer Nummer nach unten, aber noch bevor er sie fand, wurde er von einem der Black Arrows zu Boden gerissen: ein illegaler Angriff, egal, wie man ihn betrachtete, und Douglas betrachtete ihn nur von unten. Mit dem Mund auf dem Beton konnte er nicht schreien, nicht rufen: Die Luft aus seinen Lungen war hinaus in die Dunkelheit gepresst worden. Eine Stimme blaffte ihm harsche Befehle ins Ohr, aber Douglas konnte sie nicht verstehen – nicht weil es eine fremde Sprache war, sondern eine Situation, die er nicht gewohnt war. In seinem Kopf stieg eine Erinnerung daran auf, wie er einem Ehepaar mittleren Alters zugesehen hatte, das es hier draußen im Freien getrieben hatte, über das Heck ihres Autos gebeugt. Das Wissen, dass solche Dinge geschahen, während er sie als unsichtbarer Beobachter miterlebte, hatte Douglas unantastbar gemacht. Die Dinge, die die Leute so machten, waren ein Witz, zu dem er allein die Pointe lieferte. Doch nun ging der Witz auf seine Kosten: Jemand legte ihm den Arm um den Hals und zog ihn auf die Beine. Seit dem Erste-Hilfe-Kurs im Schwimmbad 2007 hatte er nicht mehr so engen Kontakt zu einem anderen Menschen gehabt.
»Okay. Ich übernehme ihn.«
Mit ihn war Douglas gemeint; der Sprecher war ein Neuankömmling, nicht der Mann, der ihn umgerissen hatte.
Sein Atem versuchte sich den Weg zurück in seine Lungen zu bahnen; die Luft hier draußen war heiß und fühlte sich noch heißer an, als sie in ihn hineinströmte.
Offenbar hatte er sich auch übergeben.
»Können Sie laufen?«
Er nickte, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass er es nicht konnte.
Der Neuankömmling trug dunkle Kleidung, aber nicht dieselbe paramilitärische Ausrüstung wie der bösartige Mistkerl, der ihn gerade zu Fall gebracht hatte. Er hatte allerdings eine seidig glänzende schwarze Sturmhaube auf dem Kopf. »Dann kommen Sie.«
Douglas konnte gehen, irgendwie, oder zumindest nicht verhindern, dass er halb mitgeschleppt wurde, was den gleichen Effekt hatte. Er wurde zu einem schwarzen Lieferwagen gebracht, der plötzlich aus der Dunkelheit heraus Gestalt annahm: Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, und die Formen waren nur allmählich erkennbar. Tief einatmen. Und ausatmen. Der Trick dabei, so entdeckte er, war, sich nicht zu sehr anzustrengen: Atmen gehörte zu den Dingen, die man nur bewerkstelligen konnte, wenn man dabei an etwas anderes dachte. Das Problem war, dass er an nichts anderes denken konnte, als dass er zu diesem Wagen geschleppt und hinten reingeworfen wurde, wonach die Tür mit einem lauten Rumms zugeknallt wurde. Zurück blieben nur er und der Mann mit der Sturmhaube, gemeinsam in tiefer Dunkelheit, bis der Mann etwas tat, was eine kleine elektrische Lampe zum Leuchten brachte. Der Wagen war groß: ein fensterloser Personentransporter mit seitlichen Sitzbänken, wie es sich für das Militär gehörte. Douglas konnte immer noch Erbrochenes auf der Zunge schmecken und befürchtete, dass er auf dem Beton irgendwie seine Zähne angeschlagen hatte.
Das war jedoch bei weitem nicht so beängstigend, wie hier mit diesem Mann eingeschlossen zu sein.
Dieser sagte: »Geht es Ihnen jetzt besser?«
Douglas nickte. Hustete. Nickte erneut.
»Tu mir leid wegen eben.«
Douglas’ Angst verflüchtigte sich wie verdunstender Nebel.
»Die Jungs sind überreizt, und man kann es ihnen nicht verdenken. Das sind üble Typen, die Sie da in die Einrichtung gelassen haben. Wollen Sie mir sagen, warum Sie das getan haben?«
»Ich – es – ich kann nicht. Streng geheim.«
»Natürlich. Hör zu, mein Freund, darüber musst du dir jetzt wirklich keine Gedanken machen.« Der Mann zog die Sturmhaube ab und sah nun ganz normal aus. »Ich arbeite im Regent’s Park und heiße Duf‌fy. Du kannst mich Nick nennen. Es gab einen Einbruch, das wissen wir beide. Einen nicht autorisierten Einbruch in eine Service-Einrichtung. Und weißt du was? Das passiert heute nicht zum ersten Mal. Mach dir also keine Sorgen darüber, was du getan oder nicht getan hast und ob die Regeln eingehalten wurden, denn wir alle kommen uns im Moment ein bisschen dumm vor. Hauptsache ist, dass diese Sache aufgeklärt wird. Sag mir also, wie viele sind jetzt dort unten?«
»Vier«, sagte Douglas.
»Gut, das dachten wir uns. Und deine Leute, zu wievielt seid ihr?«
»Nur ich war da«, antwortete Douglas und sagte dann: »Aber müssten Sie das nicht wissen? Wenn Sie aus dem Park kommen?«
»Schon, aber wir sind heute nicht alle auf dem gleichen Stand. Du weißt ja, wie das ist. Und wie funktioniert eigentlich der Hintereingang? Ist es eine Art Luke?«
Douglas erklärte es ihm.
»Und es gibt keine Möglichkeit, sie von außen zu öffnen?«
»Nein. Sie ist absolut sicher.«
»Okay, gut. Dachte ich mir schon. Danke, Douglas.«
Douglas nickte und stellte fest, dass er wieder normal atmete, was eine Erleichterung war, obwohl es schon im selben Moment keine Rolle mehr spielte. Sein Körper machte beim Aufprall auf den Boden mehr Lärm als die Waffe. Duf‌fy war zufrieden: Er benutzte einen in der Schweiz hergestellten Schalldämpfer und war sich nicht ganz sicher gewesen, ob er hundertprozentig funktionieren würde, aber das Ergebnis war einwandfrei. Er kniete sich hin und schob Douglas’ Leiche unter die Bank. Hätte er fünf Minuten Zeit und einen Eimer Seifenwasser gehabt, hätte er vielleicht auch etwas gegen die Spritzer von Blut und Hirnmasse auf der Verkleidung tun können, aber Zeit war genau das, was er nicht hatte.
Einer weniger, dachte er. Bleiben noch vier.
Viel zu tun heute Abend.
Er streif‌te die Sturmhaube über, schaltete die Leuchte aus und trat hinaus in die nächtliche Dunkelheit.