14
Der Pub lag in der Nähe der Great Portland Street, und sie erinnerte sich daran, dass sie schon einmal hier gewesen war, nach der Beerdigung eines Agenten, Dieter Hess. Es gab die üblichen frommen Sprüche, obwohl er wie die meisten Doppelagenten gewesen war: Man konnte ihm nur so weit über den Weg trauen, wie man eine Zehn-Pfund-Note werfen konnte – wo sie hinfiel, wartete er. Aber das war eben die Natur der Dinge. Ein Spion warf Schatten wie ein Affenbaum; er konnte einem vor Verwirrung Kopfschmerzen bereiten, allein indem er das Wetter von gestern beschrieb.
Diana Taverner trank Johnny Walker Black Label wegen des besonderen Anlasses und versuchte einzuschätzen, wie besonders der Anlass wohl war. Dass Dame Ingrid den Groschen fallen gehört hatte, war unbestritten. Ob sie das Fallen rechtzeitig gehört hatte, um den Groschen aufzufangen, war eine andere Frage. Wenn ja, würde ihre Karriere die Woche nicht überstehen. Es war eine Sache, Intrigen zu schmieden und in der Ecke zu lauern: Darum ging’s im Büroleben ja gerade. Aber tatsächlich etwas in Bewegung zu setzen war eine Kriegserklärung, und der einzige Krieg, den man gegen einen Feind wie Dame Ingrid gewinnen konnte, war ein Krieg, der vorbei war, bevor der Startschuss fiel.
Aber diese Gelegenheit war einfach zu günstig gewesen, als dass man sie hätte verstreichen lassen können.
Sie nippte an ihrem Whiskey und versuchte das plötzliche Verlangen nach einer Zigarette zu ignorieren, das der Alkohol unweigerlich auslöste.
Irgendwo unter der Oberfläche Londons suchte Sean Donovan in diesem Moment nach Beweisen, die Ingrid Tearney nicht nur aus ihrer Machtposition verdrängen, sondern auch zu einem Prozess und einer Inhaftierung führen könnten. Dass sich die Beweise in den Archiven befanden, war sehr wahrscheinlich: Diana Taverner wusste, wie Dame Ingrids Verstand tickte. Ingrid wusste, wie man in Komitees agierte, besaß Vorstandsintelligenz, ja dachte alles in allem wie eine Beamtin. Was, wie sie hätte erkennen müssen, ein gewisses Risiko darstellte angesichts dessen, dass sie von Beamten umgeben war. Dokumente in einem Tsunami von Dokumenten zu vergraben musste ihr wie ein Kinderspiel erschienen sein, denn Akten gab es immer und in jedem Fall. Das war das rettende Element und der endgültige Untergang eines jeden Beamten. Es gab immer Budgets auszugleichen und Dritte zu beruhigen; es gab Flugpläne und Anforderungsformulare; es gab Verzichtserklärungen, Verträge, Garantien – alles, was außerhalb der Gerichtsbarkeit stattfand, brauchte man in Papierform, um seinen Arsch abzusichern; für alles, was innerhalb dessen geschah, musste man den Überstundenzettel unterschreiben. Und alle Unterlagen mussten in dreifacher Ausführung paraphiert, kopiert und zu den Akten gelegt werden; sie mussten für den Tag aufbewahrt werden, an dem man für Handlungen zur Rechenschaft gezogen wurde, an die man sich nicht mehr erinnern konnte. Der Service lief, wie jedes Unternehmen, über Papierkram. Papierkram, nicht das Uhrwerk, hielt die Räder am Laufen. Und dies geschah, weil noch niemand einen überzeugenden Weg gefunden hatte, dies zu unterbinden, jedenfalls keinen, mit dem sich Beamte überzeugen ließen, die berüchtigt für ihre festgefahrenen Gewohnheiten waren und die die grandiose Flexibilität eines Nashorns in einem schmalen Gang aufwiesen.
Die Beweise waren also vorhanden, irgendwo unter den Informationen, die kürzlich an einen sicheren Ort außerhalb des Parks geschafft worden waren, und obwohl Diana selbst in den letzten Jahren jederzeit bereit gewesen wäre, danach zu forsten, hätte sie sich damit dem Risiko ausgesetzt, das Donovan nun in ihrem Namen auf sich nahm. Außerdem hätten durchgesickerte Beweise zu Schönfärberei oder – anders ausgedrückt – der Untersuchung eines Sonderausschusses geführt, und die unvermeidliche Prüfung hätte sich auf die undichte Stelle konzentriert, nicht auf das, was durchgesickert war. Mehrere Whistleblower der jüngsten Vergangenheit waren Lehrbeispiele für diesen Effekt: Sie mochten zwar Ikonen der Internetgeneration sein, aber für Diana Taverner war es nicht vorstellbar, ihre Zukunft versteckt in einer Botschaft zu fristen oder sich in einer fremden Hauptstadt eine neue Existenz aufzubauen. Nein, wenn die Beweise durch die Machenschaften eines anderen auf‌tauchten, würde ihr das erlauben, schreckerfüllt mit anzusehen, wie die Korruption ihrer Vorgesetzten aufgedeckt wurde, einem sprachlosen Minister ihre Unterstützung anzubieten, bescheiden eine Stellvertreterrolle zu akzeptieren, bis sich der Staub gelegt hatte … Wenn sie es mit Ingrid Tearney aufnehmen wollte, ging das nur hintenherum. Was bedeutete, dass sie jemanden wie Sean Donovan einsetzen musste, dem sie vertrauen konnte, weil er kein Spion, sondern ein Soldat war und eine andere Vorstellung von Loyalität besaß: eine, die die Rache an einem Geheimdienst beinhaltete, der ihm Schaden zugefügt hatte.
Wenn er natürlich entdeckte, dass Taverner selbst dafür verantwortlich gewesen war, könnte sie das in eine unangenehme Lage bringen.
Sie leerte ihren Drink, analysierte ihre unmittelbaren Möglichkeiten und entschied, dass sie keine hatte. Die einzige Möglichkeit, die ihr offenstand, war, noch einen weiteren Drink zu bestellen.
Es dauerte nicht lange, bis sie bedient wurde, denn der Barkeeper war männlich. Wenn das eines Tages vorbei war – Diana wusste nicht, was sie tun würde, wenn das eines Tages vorbei war. Es war, als würde sie dem Tod ins Auge blicken. Während er einschenkte, sah sie sich in der Bar um, bemerkte ihr Bild im nahen Spiegel und entdeckte mit Schrecken etwas, das wie eine graue Strähne in ihrem kastanienbraunen Haar aussah … Doch Gott sei Dank war es nur eine Lichtspiegelung, aber es unterstrich ihre gegenwärtige Situation: Die Zeit tickte unbarmherzig weiter, und man musste die Gelegenheiten ergreifen, wenn sie sich boten. Lieber mit einem großen Knall untergehen, als schüchtern zu verglühen.
In diese Überlegungen vertieft, schenkte sie einer Gestalt in der Ecke nicht so viel Aufmerksamkeit, wie sie es hätte tun sollen; ein glatter Typ – aalglatt sogar – mit dunklem, aus der Stirn gekämmtem Haar und braunen Augen. Er hatte eine Zeitung vor sich ausgebreitet und schien darin zu lesen, aber die meiste Zeit beobachtete er Diana Taverner.
»Ich habe doch gesagt, dass ich ein Auto kurzschließen kann.«
»Von Bussen war aber nicht die Rede«, erwiderte Lamb.
Ho hatte Brennholz aus der Veranda gemacht und an der Stelle, wo die Eingangstür gewesen war, ein großes Loch gestanzt, was angesichts der Geschwindigkeit, mit der er gefahren war, sehr für die Haltbarkeit eines guten alten Londoner Busses sprach und wenig für diejenigen, die das Haus gebaut hatten. Der Flur war mit Mauerstücken, Glasscherben und Holzsplittern übersät. Ein Teil des Türrahmens lag auf Baileys Rücken. Wäre der Bus noch weiter eingedrungen, hätte er ihn wie einen Käfer plattgemacht.
»Ich dachte, Sie wären vielleicht in Schwierigkeiten.«
»Und einen Bus zu Schrott zu fahren hätte mir unglaublich geholfen.«
»Er hat sein Bestes getan«, widersprach ihm Catherine. »Danke, Roddy. Das war ein guter Plan. Jetzt geh und hol Wasser, ja?«
»Ich habe keinen Durst.«
»Es ist auch nicht für dich. Die Küche ist irgendwo da hinten.«
»Versuchen Sie, sie nicht zu zerlegen!«, rief ihm Lamb hinterher.
Ho machte sich schmollend auf den Weg, und genau in dem Moment löste sich ein tellergroßer Brocken Gips von der Decke und fiel ihm auf den Kopf.
Lamb reckte sein Kinn zum Himmel. »Du hast was bei mir gut.«
Catherine beugte sich über Bailey und bürstete Trümmerstücke von ihm weg. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Wenn Sie einen Bus durch eine Mauer gefahren hätten, würden wir das ewig zu hören kriegen. Was machen eigentlich die anderen?«
»Cartwright und Guy helfen Ihrem Freund Donovan.«
»Helfen?«
»Offenbar befinden sich die Grauen Bücher in einem externen Archiv, in der Nähe von Hayes. Donovan brauchte die Hilfe des Service, um reinzukommen.« Lamb grub in seiner Tasche, während er sprach, und als er die Hand wieder herauszog, hielt er den ausgepackten Müsliriegel darin. Er biss eine Hälfte ab und sagte dann: »Entweder das, oder er hatte keine Lust, alleine nach Hayes zu fahren.«
»Was ist mit Marcus und Shirley?«
»Ich habe ihnen einen kleinen Anreiz geboten.«
»Was soll das heißen?«
Lamb stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. »Bin ich denn der Einzige weit und breit, der weiß, wie er seine Männer zu führen hat?« Er stopf‌te sich den Rest des Müsliriegels in den Mund und fuhr fort: »Und wenn ich ›Männer‹ sage, meine ich definitiv auch Dander.«
»Sie hat schwere Knochen, das ist alles. Wie genau haben Sie …«
»Ich habe sie gefeuert.«
Catherine dachte einen Moment darüber nach. Marcus und Shirley neigten sogar noch mehr als River dazu, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, während sie darauf warteten, dass etwas – irgendetwas – geschah. »Das könnte funktionieren«, gab sie zu.
»Ja, und das Gute daran ist, wenn es nicht funktioniert, sind sie schon gefeuert.«
»Aber andererseits hätten Sie ihnen auch einfach Anweisungen erteilen können.«
»Diese beiden haben aber verdammt noch mal nie gelernt, Anweisungen zu befolgen.«
Ho kehrte mit einem Glas Wasser aus der Küche zurück. Er schaute Lamb an, dann Catherine, dann wieder Lamb.
»Es ist ein Glas Wasser«, sagte Lamb. »Raten Sie mal.«
Ho gab das Wasser Catherine.
»Danke«, sagte sie.
Sie hatte sich hingekniet und den Kopf des noch immer bewusstlosen Bailey auf ihren Schoß gelegt. Sie öffnete ihm mit einer Hand den Mund und goss Wasser aus dem Glas hinein.
»Wollen Sie ihn ertränken?«, fragte Lamb. »Kommt mir ein bisschen grausam vor.«
»Ich habe ihm nicht derart das Gesicht zerschlagen.«
»Ich glaube, mir steckt einer seiner Zähne im Knie.«
»Er ist noch ein halbes Kind.«
»Dann sollte er nicht mit Erwachsenen spielen.« Lamb bückte sich und durchsuchte Baileys Taschen. Er fand ein Portemonnaie, lehnte sich zurück und ging es durch: etwas Kleingeld, zwei Zehn-Pfund-Scheine, eine Kreditkarte und ein Führerschein.
Die Scheine verschwanden in Lambs fleischiger Faust.
»Was machen Sie denn da?«
»Benzingeld«, erklärte Lamb. Er warf einen Blick auf den Führerschein. »Soso. Craig Dunn.«
»Er wacht auf«, sagte Ho.
Die Augen des jungen Mannes bewegten sich unter den Lidern. Catherine tätschelte ihm mit der flachen Hand sanft die Wange.
»Ist das wirklich Erste Hilfe?«, fragte Lamb skeptisch. »Sieht aus, als würden Sie einen Welpen knuddeln.«
»Warum machen Sie sich nicht nützlich und rufen einen Krankenwagen?«
»Ich habe mich schon nützlich gemacht«, entgegnete Lamb. Er schaute Ho an. »Was ist jetzt schon wieder?«
»Ich habe das Benzin bezahlt.«
»Reichen Sie eine Spesenabrechnung ein«, sagte Lamb. »Louisa kann Ihnen zeigen, wie das geht.«
Craig Dunn stöhnte und schlug die Augen auf.
Auf den ersten Blick schien das Brachgelände menschenleer zu sein. Der Black-Arrow-Van war in der Nähe eines Autos geparkt, das wie das von Louisa aussah, und es lagen ein umgekippter Container, Haufen mit Bauschutt und aufgestapelte Zaunelemente herum, aber die Truppe, die sie hatten hineinfahren sehen, war spurlos verschwunden.
»Wo sind sie hin?«
»Such nicht nach Leuten. Achte auf Bewegung!«
Es war wie eines dieser Wimmelbilder für Kinder: Man starrt auf das Bild eines Baumes, bis man die Eichhörnchen erkennen kann.
Sie hielten sich ebenfalls in Deckung, mehr Baum als Eichhörnchen, und sprachen im Flüsterton. Shirley mit zugeknöpf‌ter Jacke, Marcus mit der Mütze tief in die Stirn gezogen. Sie kauerten vor dem Eingang zu dem schiefen Rechteck, das von den Gebäuden umschlossen wurde. Eine Schranke, die den Eintritt versperren sollte, war aufgestellt worden, und ein hölzernes Wachhäuschen, in dem einst ein Parkplatzwächter gehockt hatte, war bis auf heftigen Pissegestank leer. Hinter dem am weitesten entfernten Gebäude funkelten Lichtsignale für vorbeifahrende Züge, aber der Himmel über ihren Köpfen war einem nachdenklichen, tiefen Blau gewichen, und nichts erhellte den Vordergrund.
Dann huschte etwas zwischen den Pfeilern im Erdgeschoss des am weitesten entfernten Gebäudes umher, und Shirley stellte fest, dass sie zwei Black Arrows entdeckt hatte.
»Ich sehe zwei.«
»Ich sieben«, sagte Marcus.
»Angeber.«
»Sie sind nicht besonders gut«, sagte er. »Bei dieser Art von Gelände, bei so viel Deckung, wäre ich unsichtbar.«
»Ich kann dich sehen«, murmelte Shirley. Dann: »Was haben die denn da? Sind das Scheinwerfer?«
Sie sahen zwei mehrere Meter hohe Gerüsttürme, an denen oben Suchscheinwerfer angebracht waren: Einer stand neben dem Black-Arrow-Van, der andere ein paar Meter entfernt. Noch waren die Scheinwerfer, die an überdimensionale Schreibtischlampen erinnerten, nicht eingeschaltet, aber beide waren auf ein Loch in der Fabrikmauer gerichtet. Die Gestelle sahen aus, als könnte man sie mit einem Besenstiel umwerfen.
»Ja, das ist genau … o mein Gott!«
»Das ist ein Schlachtplatz«, sagte Shirley.
»Sieht ganz so aus.«
»Sie werden River und die anderen aus der Einrichtung jagen. Sie kommen hoch, die Scheinwerfer gehen an und – bämm, bämm, bämm!«
»Pst!«
Hinten aus dem Van stieg eine Gestalt aus. Eine Sturmhaube verdeckte ihr Gesicht, obwohl sie ohnehin so weit weg war, dass man nichts hätte erkennen können. Nach einem kurzen Blick über das Gelände eilte die Gestalt im Laufschritt auf den Block zu ihrer Rechten zu.
»Acht«, sagte Marcus.
»Willst du sie bloß zählen, oder hast du einen Plan?«
»In solchen Situationen frage ich mich immer: ›Was würde Nelson Mandela tun?‹«
»… Im Ernst?«
»Der Typ hat siebenundzwanzig Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis überlebt«, sagte Marcus. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gut auf sich aufpassen kann.«
»An so was denkt man aber normalerweise nicht als Erstes, wenn – ach, vergiss es. Und, was würde Nelson tun?«
»Er würde diese Türme demolieren, bevor die Scheinwerfer angehen. Bist du dabei?«
Shirley war dabei und hätte es auch gesagt, aber hinter Marcus erschien eine Gestalt, die einen Knüppel schwang. Der Schreck in ihren Augen gab Marcus eine winzige Chance zu reagieren, und er wich gerade so weit aus, dass der Knüppel ihn statt seitlich am Kopf am Hals erwischte. Er prallte mit dem ganzen Körper von der Wand ab und stürzte laut hörbar zu Boden. Shirley konnte gerade noch erkennen, dass seine Baseballmütze nicht verrutschte, hätte es beinahe geschafft, nach vorne zu treten und seinem Angreifer einen Kinnhaken zu verpassen, doch dann schlug sie hart aufs Gesicht, als ihr von einem zweiten Mann die Beine weggerissen wurden. Einrollen!, dachte sie und bekam den Mund voller Kies, als der Tritt kam, der ihr den Kopf abreißen sollte.
Während sie den Gang entlanglief, bemerkte Louisa ihren Herzschlag … Es war schon eine Weile her, dass sie sich ihres Herzschlags bewusst gewesen war. Zwei Schritte vor ihr stürzte River durch die nächsten Schwingtüren, ohne merklich langsamer zu werden; sie prallten von den Wänden ab und schwangen auf sie zu, so dass sie sie mit den Unterarmen abwehren musste. Jeder ihrer ehemaligen Ausbilder von früher hätte sieben verschiedene Arten von Anfällen erlitten, wenn er das mit angesehen hätte: Sie verhielten sich eher wie Schulkinder bei einem Wettrennen als wie Agenten bei einem Einsatz. Falls man sie als Agenten bezeichnen konnte und falls das ein Einsatz war.
Es fühlte sich eher wie ein gruseliges Chaos an, aber das war nichts Ungewöhnliches. Letztes Jahr hatten Min und sie in einen Einsatz reingeschnuppert: kaum mehr als eine Übung im Babysitten, aber sie hatten sich dadurch lebendiger gefühlt als je zuvor, seit sie aus dem Park geflogen waren. Wie sich herausstellte, spielten sie jedoch das Spiel eines anderen: Min starb, und alles, was sie seitdem hatte, waren die tägliche Arbeit um der Arbeit willen und die One-night-Stands mit fremden Männern; so vielen fremden Männern, dass sie fast vergaß, dass es noch andere gab.
Und jetzt das.
Weitere Türen. Sie hatte den Überblick verloren, in welchem Gang sie sich befanden, F oder E, aber das spielte keine Rolle, denn jetzt waren sie in dem Raum, den sie auf dem Monitor gesehen hatten, mit seinen Reihen neu zusammengesetzter Regale und Kisten, die in etwas eingeschlossen waren, das wie Käfige aussah, als ob die Informationen darin wild und gefährlich wären und hinter Gittern gehalten werden müssten. Wahrscheinlich traf dies auf vieles darin auch zu. Am hinteren Ende des Raumes war durch den Gang zwischen den Reihen Ben Traynor zu erkennen, der vor den Türen Posten bezogen hatte: Er hatte eine Barrikade errichtet, stand auf einem umgekippten Schrank und hielt durch einen Teil der Scheibe in der Tür Ausschau. Seine Waffe hing locker an der Seite herunter, aber als sie ankamen, wirbelte er herum und zielte auf sie.
River und Louisa sprangen in entgegengesetzte Richtungen und suchten Schutz hinter vergitterten Kisten.
Traynor ließ die Waffe sinken. »Was macht ihr denn hier, verdammt noch mal?«
River kam heraus, die Hände auf Schulterhöhe angehoben. »Ich wollte gerade dasselbe fragen. Wo ist Donovan?«
Das Geräusch einer Dokumentenkiste, die auf den Boden fiel, verriet seinen Standort.
Traynor sagte: »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, Sie sollen abhauen!«
»Und ich dachte, Sie wären hinter den Grauen Büchern her.«
Louisa gesellte sich zu River, während er die Hände sinken ließ. »Haben sie vor, hier reinzukommen?«, fragte sie.
Traynor zögerte. Dann sagte er: »Sie sind jetzt in einem Raum ein paar Meter den Flur runter. Ich nehme an, dass sie ihren nächsten Schritt planen.«
Vermutlich um hier alle wegzufegen, dachte Louisa. Das oder die Kapitulation, was nicht sehr wahrscheinlich war. »Haben sie Waffen?«
»Vielleicht einer oder zwei. Bis jetzt haben sie noch nicht geschossen.«
Ein weiterer Dokumentenkarton knallte auf den Boden.
»Wenn er sie alle einzeln durchsieht, sind wir wohl noch eine Weile hier«, bemerkte River.
»Wir wissen, was wir tun.«
»Die brauchen gar keine Waffen. Die können einfach darauf warten, dass die Scharniere an den Türen durchrosten.«
Louisa ging den Gang entlang in Richtung Traynor und blieb stehen, als sie die Reihe erreichte, in der Donovan stand. Die Szene hatte etwas seltsam Inkongruentes: Rocky als Bibliothekar. Donovan hielt einen Dokumentenkarton in den Händen. Noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte er ihn fallen lassen und griff nach dem nächsten.
Sie sagte: »Ich bin auf Ihre Online-Theorien gestoßen.«
»BigSeanD«, sagte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
»BigSeanD hat eine Obsession was das Wetter angeht«, fuhr sie fort. »Er glaubt offenbar, dass sie es als Waffe einsetzen wollen.«
»Hmhm.«
»Wobei nicht allzu deutlich wird, wer sie sind.«
»Sie sind sicherlich dieselben, die den Leuten Chips in die Köpfe implantieren, um sie aufspüren zu können, falls sie von Außerirdischen entführt werden.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Sie lassen sich ziemlich gruseligen Scheiß einfallen, so viel ist klar.«
Er hatte das Ende der Reihe von Dokumentenkartons erreicht; als Nächstes kamen Pappordner von unterschiedlicher Dicke an die Reihe. Einige waren mit Bändern verschnürt, andere mit Büroklammern verschlossen, und auf den Einband waren rote Katalognummern gestempelt. Donovan überprüf‌te jede einzelne, bevor er das Band aufzog und die Klammer wegriss. Ein kurzer Blick auf das oberste Blatt schien ihm zu genügen, und die Ordner gesellten sich zu dem Durcheinander auf dem Boden.
»Sie müssen zugeben«, sagte er im Plauderton, »dass es gar nicht so weit hergeholt klingt. Selbst wenn das Wetter bisher noch nicht manipuliert wird, können Sie Ihren Kopf darauf verwetten, dass jemand gerade daran arbeitet.«
»Aber das interessiert Sie überhaupt nicht, oder? Sie haben nur eine Legende aufgebaut, um sich Zugang zu diesem Archiv zu verschaffen.«
»Was haben Sie denn, passe ich nicht in Ihr Bild eines Aluhutträgers? Wie hat man sie Ihnen denn beschrieben?«
»Ich schätze mal, es gibt sie in verschiedenen Ausführungen«, sagte River. Er stand im Gang, wo er sowohl Donovan als auch Traynor im Blick hatte. »Aber was immer Sie wirklich wollen, wir können nicht zulassen, dass Sie es sich nehmen.«
»Ach, wirklich?«
»Sie rücken vor«, sagte Traynor.
»Wie viele?«, fragte River.
»Sechs. Oder mehr. Ich kann von hier aus nicht alles sehen.«
Donovan wirkte ungerührt. Er sagte: »Sie sollten jetzt besser gehen. Ein paar von denen haben echte Waffen. Und wissen sogar, wie sie damit zielen müssen.«
River sagte: »Sie haben Catherine Standish entführt. Sie haben mir das Foto von ihr geschickt.«
»Ja, ich habe sie entführt«, sagte Donovan. Er riss einen weiteren Ordner aus dem Regal.
Ein Blick, ein leises Achselzucken. Die Mappe fiel zu Boden.
»Sie kennen sie von früher«, sagte Louisa. »Damals, als sie noch im Park war.«
Donovan öffnete den nächsten Ordner. Er schaute sich die Titelseite an, schien den Ordner schon fallen lassen zu wollen, und schaute dann noch einmal genauer hin.
»Aber was mich interessiert«, fuhr Louisa fort, »woher wussten Sie von Slough House?«
Glas zersplitterte, und sie drehte sich um. Durch die Lücke in den Regalen, die Donovans Suchaktion hinterlassen hatte, sah sie, wie Traynor die Waffe zu dem Fenster hob, das er gerade zerbrochen hatte: Zwei Schüsse hallten im Gang wider. Als unmittelbare Reaktion darauf ertönte ein noch lauterer Knall, und ein greller Blitz erhellte den Raum und hinterließ eine dunkle Unschärfe. Traynor wurde vom Schrank weggeschleudert, der mit einem lauten Schaben über den Boden ratschte. Die Türen wölbten sich nach innen, die linke wurde von der Explosion aus der Wand gerissen, und die Regalreihen stürzten wie Dominosteine um, als die, die der Explosion am nächsten waren, auf ihre Nachbarn kippten. Donovan ließ sich zu Boden fallen, packte Louisa am Arm und riss sie mit sich, und die umstürzenden Regale spuckten Akten und Ordner auf ihre Köpfe. Was ein Gang gewesen war, war nun ein Tunnel, und das Krachen über ihren Köpfen setzte sich fort, bis das letzte Regal auf die erste Kistenreihe gestürzt war. River war verschwunden. Zwei Sekunden lang war Louisa völlig verwirrt, ihre Ohren klingelten, und sie war geblendet, und dann setzte ein Überlebensinstinkt ein: Auf Händen und Knien kroch sie durch Trümmer zum ehemaligen Mittelgang, wo sie Gestalten erkennen konnte, die durch das klaffende Loch in der Wand drangen, dort, wo die Türen gewesen waren. Sie rappelte sich auf und wurde plötzlich von einem Fremden gepackt, dessen Züge von schwarzer Wolle verdeckt waren. Als sie ihm einen Handkantenschlag auf die Kehle versetzte, wich er zwei Schritte zurück, rang komisch nach Luft, und ein anderer Mann in identischer Kleidung nahm seinen Platz ein. Diesmal wurde Louisa zu Boden geschleudert, und jemand schwang so etwas Ähnliches wie einen Totschläger nach ihr. Er hätte sie erwischt, wenn der Mann nicht vorher von einem Dokumentenkarton im Gesicht getroffen worden wäre. Er taumelte zur Seite und fiel, als River ihm einen Faustschlag gegen den Kopf verpasste.
Louisa kam auf die Beine. Ein leichter Nebel lag in der Luft, Rauch, aber vor allem Staub. Einige Mitglieder der Black-Arrow-Crew schienen nicht zu wissen, was sie jetzt tun sollten, nachdem sie durchgebrochen waren; ein paar unternehmungslustigere hockten auf Ben Traynor, hatten ihn auf den Bauch gedreht und ihm die Handgelenke gefesselt. Sean Donovan tauchte hinter ihr auf, und sie sah, wie er nach der Mappe griff, die er angesehen hatte, als die Türen geborsten waren. Er steckte sie in sein Hemd, bevor er aufstand.
River rief ihr zu: »Alles okay bei dir?«
Sie glaubte jedenfalls, dass er das rief. Ihre Ohren klingelten noch immer.
Er rief: »Los, wir hauen ab«, und dann erstarrte er, und das Licht in seinen Augen erlosch.
So, wie er auf dem Boden aufschlug, war sie sich sicher, dass er tot war.
Shirley rollte zur Seite. Der Tritt, der ihr den Kopf hätte abreißen sollen, hatte nur ihr Ohr gestreift. In derselben Bewegung hakte sie ihren Fuß um das Bein ihres Angreifers und brachte ihn zu Fall. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der erste Mann Marcus mit dem Knüppel auf den Bauch schlug, aber sie waren ein paar Meter entfernt – in einer anderen Zeitzone –, und sie musste sich um ihren eigenen Gegner kümmern. Sie stürzte sich auf ihn und drückte mit den Händen auf seine Ellbogen. Er war wesentlich schwerer als sie und trug volle Kampfausrüstung, sie nur Jeans, T-Shirt und Jacke, aber auch wenn ihr ein gutsortierter Utility-Gürtel und ein Schlagstock fehlten, so hatte sie zumindest einen harten Kopf, und als sie ihm damit auf die Nase schlug, hörte sie das befriedigende Knirschen von Knochen auf Knochen. Der Feigling schrie, und sein Stock rollte klappernd über den Beton. Shirley schlug ihn zweimal, sehr hart auf genau dieselbe Stelle, an der sie ihn gerade mit dem Kopf erwischt hatte. Sie hätte noch ein drittes Mal zugeschlagen, musste sich aber zur Seite werfen, um dem Knüppel des ersten Mannes auszuweichen, der so dicht an ihrem Gesicht vorbeipfiff, dass sie ihn schmecken konnte. Sie drehte sich zweimal und sprang dann in Startposition wie eine Läuferin, die auf den Startschuss wartet. Er stand ihr gegenüber und schlug mit dem Knüppel in die offene Handfläche, einmal, zweimal, wie eine Einladung. Der zweite Mann keuchte heftig und spuckte Blut; Marcus lag auf dem Bauch und sah nicht so aus, als würde er sich so bald wieder bewegen. Und es kamen noch mehr Leute in ihre Richtung: Sie hörte das Knirschen der Ausrüstung, den schweren Schritt aufgeheizter Männer. Ein weiteres Klatschen mit dem Knüppel – na los, komm schon!
Mit ihm würde sie fertigwerden. Fünf Sekunden entfesselte Shirley, und er würde den Rest der Nacht damit verbringen, sich den Stock aus dem Arsch zu ziehen.
Aber es waren mehr als nur dieser eine, mit denen sie sich würde herumschlagen müssen. Bevor die Geräusche näher kamen, täuschte sie links an, duckte sich nach rechts, drehte sich auf dem Absatz um und rannte los.
Tut mir leid, Marcus.
Die Schatten verschluckten sie, und sie verschwand in der Dunkelheit.
Sie sah nicht, wie Marcus aufgehoben und zum schwarzen Van getragen wurde.
Dame Ingrid saß im Schein ihrer Stehlampe, und für einen Beobachter hätte sie angesichts des Heiligenscheins ihrer blonden Perücke vielleicht heiter, ja sogar fast biblisch ausgesehen. Wäre derselbe Beobachter jedoch näher gekommen und hätte den Weichzeichner ignoriert, hätte er festgestellt, dass jegliche Ruhe in Dame Ingrids Augen von der Art war, wie sie Felsen eigen ist, bestehend aus einer erhabenen Gleichgültigkeit gegenüber den Kräften, die sie hervorgebracht hatten, und der hartnäckigen Absicht, zu überdauern, komme, was da wolle.
Es gab keinen Beobachter, aber Ingrid Tearney rieb sich trotzdem die Wange, als ob sie durch den Atem eines Fremden gestört worden wäre, und betastete dann ihre Perücke, um zu überprüfen, ob sie verrutscht war. Nach den heutigen Ereignissen wäre sie nicht überrascht gewesen, Strähnen davon über ihre Schultern fallen zu sehen, wie ihr echtes Haar es getan hätte, wenn sie es nicht schon längst verloren hätte. Der heutige Tag war voller Überraschungen gewesen, ein Tag des Zerschlagens und der plötzlichen Wendungen. Peter Judds Verschwörung kam nicht unerwartet: P.J. war eine bekannte Größe – ein Clown in der Öffentlichkeit, privat ein Velociraptor –, und Dame Ingrid hatte seit seiner Beförderung ins Innenministerium ihre Lenden für einen Angriff gegürtet. Diana Taverners Machenschaften waren auch nicht untypisch, aber was Dame Ingrid erschreckte, war, dass Taverners Plan offensichtlich schon seit Jahren vor sich hin gärte.
Eine halbe Stunde Recherche hatte das bewiesen.
Sean Donovan war ein Name, der Dame Ingrid sofort hätte aufhorchen lassen, wenn sie sich jemals um das andere Ende der Einsätze gekümmert hätte. Donovan hatte als Offizier beim Militär eine steile Karriere hingelegt, und ihm waren Lorbeeren bestimmt gewesen; unter anderem hatte man ihn zur UNO entsandt, wo er als Berater für die Ausschaltung von Widerstandsbewegungen oder Aufstandsbekämpfung tätig war, je nachdem, von welcher Warte aus man es betrachtete. Zur Seite gestanden hatte ihm eine gewisse Captain Alison Dunn, die mit Donovans Untergebenem, Leutnant Benjamin Traynor, verlobt gewesen war. Alles sehr kuschelig, und man brauchte nicht viel Phantasie, um unzählige Möglichkeiten heraufzubeschwören, wie die Dinge hätten schief‌laufen können, aber was tatsächlich geschah, war keine romantische Verstrickung, sondern politische Indiskretion. In einer Bar im Stadtzentrum wurde Alison Dunn von dem Juniordelegierten einer der ehemaligen Sowjetrepubliken angesprochen. Dunn war vernünftig genug gewesen, um in seiner Gegenwart nüchtern zu bleiben; der Juniordelegierte war entweder frei von solcher Weisheit oder gab vor, betrunkener zu sein, als er war, um seine lose Zunge zu entschuldigen. Möglicherweise – man konnte es nicht ausschließen – waren seine Motive auch ehrenhaft gewesen. In jedem Fall waren die Informationen, die er an Dunn weitergab, so alarmierend gewesen, dass sie bei ihrer Rückkehr nach Hause einen Bericht an das Innenministerium mit dem Vermerk AN DEN HERRN MINISTER PERSÖNLICH vorlegte.
Das hatte sich als kapitaler Fehler erwiesen.
Dame Ingrid schürzte die Lippen, was sie, ohne dass sie es wusste, wie einen enttäuschten Fisch aussehen ließ. Zweifellos hatte Diana bei der Rekrutierung von Donovan und Traynor behauptet, Ingrid selbst sei für den Tod von Alison Dunn und Donovans anschließende Verhaftung verantwortlich gewesen; zweifellos hatte sie ihnen auch genaue Anweisungen erteilt, wie sie an Unterlagen auf Virgil-Niveau kämen, die die Geschichte, die Alison Dunn in New York gehört hatte, bestätigen würden. Informationen, die mehr als ausreichend wären, um Ingrid Tearneys Karriere zu beenden.
Die Grauen Bücher also … Sie hätte diesen Vorwand sofort durchschauen müssen. Das hätte sie auch, wenn sie nicht als Geschenk verpackt gewesen wären: Wenn Peter Judds Tigerteam aus zwei realitätsfernen Verschwörungstheoretikern bestand, dann stellten sie keine wirkliche Bedrohung dar; ein Ergebnis, das so willkommen war, dass Ingrid es, ohne es zu hinterfragen, hingenommen hatte. Sie seufzte … Sie war zu schnell bereit gewesen, an andere zu glauben. Es war eine inhärente Schwäche, ihr einziger großer Charakterfehler, und könnte ihr zum Verhängnis werden, wenn ihr Versuch in letzter Minute, das ganze Rudel auszuschalten, erfolglos bleiben sollte.
Die Dunkelheit drang weiter in das Zimmer vor und ließ ihre erleuchtete Ecke heller erscheinen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Und während sie das tat, konnte sie eine heimliche Bewunderung für die Hartnäckigkeit, mit der Diana Taverner ihre Ziele verfolgt hatte, nicht ganz unterdrücken.
Nicht zuletzt für den, wie Dame Ingrid fand, geradezu wagemutigen Aspekt, dass sie all dies ohne Papierkram zuwege gebracht hatte.