15
Ein sauberes Schlachtfeld ist ein gutes Schlachtfeld, dachte Nick Duf‌fy. Er war sich nicht sicher, ob dieses Bonmot in den Texten über die Kriegskunst auf‌tauchte, die die Stadtnerds in der U-Bahn lasen, aber es passte zu seiner Stimmung. Aus seiner jetzigen Perspektive hatten sich die Zaunteile, der Container, die Bauschutthaufen in Orientierungspunkte verwandelt: Bereiche, die Deckung boten für das, was noch kommen sollte und was im Idealfall nicht länger als eine Minute dauern würde. Die Scheinwerfer standen bereit, um das Areal vor der leeren Fabrik in eine Bühne zu verwandeln, und sobald dies geschehen war, würde jeder, der die Bretter betrat, seine Schauspielerkarriere beenden. Sie nannten es Sterben, wenn es auf der Bühne stattfand. Sie nannten es auch so, wenn es anderswo passierte.
Tief im Schatten des Gebäudes, das den Eisenbahnschienen am nächsten lag, lehnte er an einem Pfeiler, und obwohl er nicht genau wusste, was in dem Komplex unter seinen Füßen vor sich ging, beunruhigte ihn das nicht; er hatte das Gefühl, dass alles nach Plan lief. In diesem Zustand war er, seitdem er den rothaarigen Jungen erschossen hatte. Man hätte meinen können, es würde seine Stimmung in die entgegengesetzte Richtung katapultieren, dass er sich jetzt ausgehöhlt fühlen würde, Schmetterlinge im Bauch und solche Scheiße, aber so funktionierte es nicht. Es funktionierte so, dass er sicher war, dass alles gutgehen würde, denn die Alternative, nun, da er den Jungen getötet hatte, war undenkbar. Und mit Undenkbarem gab sich Nick Duf‌fy nicht ab.
Einer der Black Arrows näherte sich, ohne auch nur zu versuchen, unauf‌fällig zu sein. Mit zittriger Stimme meldete er: »Wir haben einen Gefangenen.«
Für eine Sekunde glaubte Duf‌fy, er hätte etwas verpasst. »Sie sind hochgekommen?«
»Nein. Er wurde an der Peripherie dabei ertappt, wie er uns beobachtet hat.«
Peripherie, dachte Duf‌fy. Diese Spielzeugsoldaten liebten ihre Fachausdrücke!
»Ein großer Kerl, schwarz. Das Problem ist, es war noch jemand bei ihm.«
Duf‌fy ging im Geiste das Personal von Slough House durch. Ein großer Schwarzer – das musste Marcus Longridge sein; bei der zweiten Person konnte es sich nur um Shirley Dander oder Roderick Ho handeln. Er würde auf Dander wetten. Ho war ein Schreibtischtäter.
»Und die andere Person ist entkommen.«
»Scheiße! Ist jemand hinter ihr her?«
»Sie ist in Block eins, soweit wir wissen.«
Der Black Arrow deutete hinter ihn, falls Duf‌fy vergessen haben sollte, welcher Block welcher war.
»Das andere Problem ist …«
Noch ein Problem? Duf‌fy fragte: »Was?«
»Sie haben ihn in den Van gebracht. Wo wir den ersten Gefangenen auch hingebracht haben.«
»Gut.«
»Nur … der erste Gefangene …«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist tot.«
»Und?«
»Mein Gott, ich meine …« Vom Spielzeugsoldaten zum Kindersoldaten: Duf‌fy wusste, dass seine Unterlippe jeden Moment anfangen würde zu zittern. »Niemand hat gesagt, dass es Tote geben würde.«
Duf‌fy nickte. Der Black Arrow konnte sein Gesicht nicht sehen, was wahrscheinlich auch besser so war, denn seine Mimik würde ihn nicht beruhigen. Duf‌fy neigte sich zu ihm, und nur um jeden Zweifel auszuräumen, legte er dem Mann dabei die behandschuhte Rechte um den Hals. »Was haben Sie denn gedacht, was wir hier machen? Sie mit einem Sender versehen und in die Freiheit entlassen?« Seine Stimme war um eine Oktave tiefer geworden, ein Effekt, der sich seiner Erfahrung nach sehr gut dazu eignete, die harte Realität zu erklären.
»Aber es ist einfach …«
»Es ist gar nichts. In den letzten sechs Monaten wurde eure beschissene kleine Firma von jemandem geführt, der sich inzwischen als Staatsfeind herausgestellt hat. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, wie wir damit umgehen. Wir können eine nette, ordentliche Diskussion führen, gefolgt von einer umfassenden Untersuchung, nach der keiner von Ihnen jemals wieder einen Job kriegt. Ganz zu schweigen davon, dass Sie den MI 5 so weit im Arsch haben werden, dass Sie den Rest Ihres Lebens jedes Mal pfeifen, wenn der Wind weht. Oder wir können es auf meine Art machen, die schnell und diskret ist und keine Sauerei hinterlässt. Wenn Sie nicht Manns genug dafür sind, sagen Sie es. Aber machen Sie sich das erst mal klar. Wenn Sie nicht Teil der Lösung sind, sind Sie Teil des Problems. Verstanden?«
Der Black Arrow nickte.
»Ich habe Sie nicht verstanden, mein Sohn.«
»… Ja.«
»Willkommen an Bord. Haben Sie diesem neuen Gefangenen Handschellen angelegt?«
»Ja.«
»Gut. Ich kümmere mich gleich um ihn. Gehen Sie jetzt auf Ihre Position. Sobald jemand aus der Fabrik kommt, Scheinwerfer an und liquidieren! Verstanden?«
Diesmal wartete er die Antwort gar nicht erst ab. Er ließ den Arrow im Gestank des sterbenden Gebäudes zurück und ging zum Van.
Roddy Ho fand, dass sein Einsatz viel zu wenig gewürdigt wurde. Lassen Sie sich etwas einfallen, hatte Lamb gesagt. Tu was!, hatte Marcus gesagt. Und einen Bus durch eine Haustür zu fahren war doch auf jeden Fall »etwas«. Dass es sich als unnötig herausgestellt hatte, war ein typischer Fall von »Hinterher ist man schlauer«, den man ihm ja wohl nicht anlasten konnte.
Vor seinem geistigen Auge hatte es sich ganz anders entwickelt. Er hatte sich aus der Fahrerkabine abgerollt und den Angreifer, der Lamb mit seiner Pistole bedrohte, entwaffnet. Dann hatte er den Typen, geschmeidig wie immer, mit zwei gekonnten Moves zu Boden gezwungen.
Später, mit Louisa: »Wirklich, das hat Lamb gesagt? Ich habe nur reagiert, Babe.«
»Mein Gott, Roddy, wenn dich jemand einen Helden nennt, dann akzeptier es einfach, ja? Ist das übrigens seine Pistole da in deiner Hose?«
»Verdammt noch mal! Sind Sie von dem Knall taub geworden oder was?«
Es war Lamb, der Roddy Ho wieder in die Realität zurückholte. »Dunn. Alison Dunn. So hieß die Frau, die Donovan auf dem Gewissen hat.«
Ho sagte: »Ja. Nein. Ich weiß es nicht mehr …«
»Herr, gib mir Kraft! Wenn ich Ihren Verstand bräuchte, würden wir ganz schön in der Scheiße stecken. Aber gottlob brauche ich nur Ihre Tippkünste. Überprüfen Sie sie. Ist der Typ mit ihr verwandt?«
Ho gelang es nicht auf Anhieb, sein Handy zu zücken, und sein ganzes Leben zog an ihm vorbei. Das meiste davon erinnerte an Szenen aus Grand Thef‌t Auto . Dann schaffte er es – blödes neues Holster – und gab sein Passwort für das Service-Intranet ein. Tippkünste, Tippkünste! Lamb hatte nicht die geringste Ahnung, wie viel mehr dazu gehörte als einfache Tippkünste!
Alison Dunn, verstorben. Soldatin. Ho scrollte auf der Suche nach ihren Verwandten weiter.
»Wissen Sie«, sagte Lamb, als er sich das Chaos ansah, das der Bus im Flur angerichtet hatte, »als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, dachte ich, Sie würden nur Platz wegnehmen.«
Sosehr er auch beschäftigt war, konnte Ho ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er erkannte eine günstige Gelegenheit, wenn sich eine bot. »Und wann haben Sie Ihre Meinung geändert?«
»Wann habe ich was?«
Catherine kam aus dem Zimmer, in das sie Dunn gelegt hatten. »Wenn du schon mal am Handy bist, kannst du direkt einen Krankenwagen rufen.«
»Vergessen Sie es«, erwiderte Lamb. »Wir fesseln ihn mit Handschellen an einen Heizkörper und lassen ihn von den Dogs abholen. Wir haben schon genug Chaos, auch ohne einen Ausflug in die Ambulanz.«
»Er ist ein Zivilist«, erwiderte Catherine. »Nicht unser Zuständigkeitsbereich.«
Ho schaute von seinem Handy auf. Standish starrte Lamb derart drohend an, dass er nicht mit ihm hätte tauschen wollen. Babe, sagte er zu Louisa, diese Lady kann ganz schön sauer werden, das kannst du mir glauben! Die verbliebene Verwandtschaft von Alison Dunn bestand aus ihrer Mutter und einem Bruder, Craig. Es gab auch einen Verlobten, Benjamin Traynor.
Traynor …
»Es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten«, sagte Ho zu Lamb.
Shirley fand eine Treppe, deren Brandschutztür nur noch an einem Scharnier hing und die bis zum nächsten Stockwerk führte. Es roch nach Pisse und Gras: Es dauerte nicht lange, bis sich die Natur ein verlassenes Gebäude zurückeroberte. Selbst hier: zwar nicht ganz im Herzen der Stadt, aber in so einer Art Wurmfortsatz. Oder Blase. Oben wäre sie fast gestolpert, fing sich aber, betrat den ersten Stock und lief so geräuschlos wie möglich einen Gang hinunter, von dem aus man durch die glaslosen Fenster den vermüllten Vorplatz überblicken konnte. Es war inzwischen stockfinster, ein einziger dunkler Schatten, aber Shirley konnte Umrisse erkennen. Sie sah den Black-Arrow-Van, in den sie Marcus wahrscheinlich gebracht hatten. Das hoffte sie jedenfalls. Den Gedanken an die Alternative – dass sie keine Gefangenen machten – ertrug sie nicht.
Denn abgesehen von allem anderen war ihr jetzt mindestens einer von ihnen auf den Fersen.
Am Ende des Gangs bog sie scharf rechts um die Ecke: weitere Fenster, jetzt mit Blick auf die Bahngleise hinter einer mit Stacheldraht bewehrten Betonmauer. Ein Bagger war an der Wand geparkt, seine Schaufel auf halber Höhe angewinkelt wie eine Trittleiter. Die Dinger waren immer entweder gelb oder rot. Dieser war gelb.
Eine offene Tür. Sie wirbelte hinein, ließ sich in die Hocke fallen. Sie wartete. Private Sicherheitsdienste versuchten immer, sich die Klügsten und Besten herauszupicken: Sie forderten Fitness, Technik und genügend Grips, um nicht in der Dunkelheit einem unbekannten Zielobjekt hinterherzurennen, ohne das Gelände zu erkunden. Meist bekamen sie jedoch stattdessen schwerfällige Möchtegernsöldner, die sich für Jason Statham hielten, wenn sie einen Goth auf einem Kneipenparkplatz vermöbelten. Der, der hinter Shirley her war, schnaufte an ihr vorbei wie Thomas, die Lokomotive. Die Ausrüstung an seinem Utility-Gürtel klatschte ihm in einem hinderlichen Kontrapunkt auf die Oberschenkel, gefolgt von einem kurzen Solo, als Shirley ihn auf Hüfthöhe rammte und durch das unverglaste Fenster warf. Er fiel nicht tief – sie waren nur im ersten Stock –, schlug aber auf dem Boden wie ein Sack Schraubenschlüssel auf. Shirley versuchte, sich daran zu erinnern, wie viele Arrows Marcus angeblich gesehen hatte, aber vergebens. Jedenfalls war es jetzt einer weniger.
Als sie weitere Schritte auf der Treppe hörte, schlüpf‌te sie wieder in Deckung und bemerkte dabei ein seltsames Gefühl in ihrem Gesicht; eine ungewohnte Muskelanspannung. Prüfend betastete sie es – tatsächlich! Sie schien zu grinsen.
Es geht doch nichts über ein natürliches High, dachte sie und wartete im Schatten darauf, dass der nächste Black Arrow um die Ecke bog.
River war nicht tot.
Auch wenn River tot ist, tun wir so, als wäre er es nicht!
Also: River war nicht tot.
Solche und ähnliche Gedanken durchfuhren Louisa, als sie von Angesicht zu Sturmhaube mit dem Arrow stand, der ihn gerade zu Fall gebracht hatte. Manchmal kann man erkennen, wenn ein Mann hinter einer Maske grinst. Sie wischte ihm das Grinsen aus dem Gesicht, indem sie einen Schlag in den Bauch antäuschte – wobei die Finte gar nicht nötig war, er hätte ohnehin nicht parieren können, stellte sie später fest – und ihm stattdessen mit der Handkante auf die Kehle hieb, weil das bisher schon so gut funktioniert hatte. Während er mit rudernden Armen rückwärtsstolperte, trat sie über River hinweg und machte zwei lange Schritte den Gang hinunter, in Richtung der aufgesprengten Tür.
Hechtsprung und abroooollllen …
Sie konnte förmlich hören, wie ihr der Befehl zugebrüllt wurde, wieder und wieder, an einem der vielen langen Tage in der Hölle, ein Befehl von einer Ausbilderin, die wie eine Sexpuppe aussah: eins paarundfünfzig groß, lockiges blondes Haar, rubinrote Lippen, die stets leicht geöffnet waren … Aber wie sie brüllen konnte! Hechtsprung und abrollen! Wer nicht ihren Vorstellungen entsprechend sprang und sich abrollte, verbrachte die nächsten fünfzehn Minuten mit Kniebeugen. Und wie jede gute Sexpuppe war sie nie wirklich zufrieden; sie wollte immer mehr.
Doch bei ihr lernte man, wie man sprang und sich abrollte, und man vergaß es so schnell nicht mehr.
Also sprang Louisa und rollte sich ab, und als sie wieder stand, hielt sie die Waffe in der Hand, die Traynor im Fallen verloren hatte. Zuerst erschoss sie den Mann, der River niedergeschlagen hatte, dann die beiden, die Traynor festhielten. Die Übrigen hatten sich bis dahin zerstreut, zurück durch die Türöffnung oder hinter die umgekippten Regale.
Zweimal wurde auf sie geschossen, aber sie war bereits weg und zog Rivers Leiche in Deckung.
»Scheiße, was war das?«, stotterte er sabbernd.
Also nicht tot.
»Das«, sagte sie, »war ein Taser.«
»Nicht schon wieder …«
»Gut geschossen«, sagte jemand, und beinahe hätte sie ihm recht gegeben und auch ihn erschossen.
Es war Donovan.
»Wo ist Ben?«
Louisa deutete mit der Waffe in seine Richtung. Traynor war immer noch dort, wo man ihn gefesselt und fallen gelassen hatte: etwa zehn Meter entfernt, leblos in sich zusammengesunken. Von den beiden Männern neben ihm zuckte einer, der andere nicht.
»Lebt er?«
»Ich denke schon«, sagte sie.
»Wie viele?«
»Ziemlich viele, soweit wir auf dem Monitor gesehen haben. Zwölf? Fünfzehn? Drei sind ausgeschaltet.«
River murmelte irgendetwas, Fucking Taser, glaubte Louisa zu verstehen.
Donovan war ebenfalls bewaffnet. »Ich habe mit diesen Typen gearbeitet«, sagte er. »Ein paar von denen hören nicht auf zu rennen, bis sie am Meer sind, für andere ist heute schon Weihnachten.«
Ein weiterer Schuss wurde abgefeuert, und die Kugel schlug in eine Holzkiste ein, von der stachelige Splitter wegflogen. Louisa richtete sich kurz auf, feuerte zweimal in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war, und ließ sich dann wieder in die Deckung zurückfallen.
Donovan deutete auf River, als hätte sie sich gar nicht bewegt. »Alles okay mit ihm?«
»Er wurde schon mal getasert«, sagte Louisa. »Ich glaube, es gefällt ihm irgendwie.«
»Sie haben den Mann erschossen, der es getan hat.«
Louisa antwortete nicht.
»Eine gute Soldatin, in meinen Augen«, sagte Donovan.
»Wir stehen nicht auf derselben Seite.«
»Kann sein«, sagte er. »Aber ich hätte lieber Sie zur Feindin als diese Clowns zum Freund.«
Einer der Clowns nahm daran Anstoß und gab einen weiteren Schuss in ihre Richtung ab. Louisa zuckte zusammen, aber die Kugel ging weit daneben.
River richtete sich halb auf und würgte. »O Gott!«
»Kopf runter!«, zischte Louisa. Dann wies sie mit einem Nicken auf Donovans Brust, wo er den Manila-Umschlag unters Hemd gesteckt hatte.
»Was auch immer Sie da haben, irgendjemand will verhindern, dass Sie es behalten.«
»Stimmt«, sagte er. »Und wer auch immer das ist, hat nicht die Kavallerie geschickt, ist Ihnen das aufgefallen? Stattdessen nur einen Haufen Söldner. Vielleicht sollte Ihnen das zu denken geben.«
»Wenn wir hier rauskommen, muss ich es Ihnen abnehmen.«
»Auf die Diskussion freue ich mich jetzt schon. Bis dahin geben Sie mir Feuerschutz. Ich gehe Ben holen.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er los.
Die Versuchung war groß, den ganzen Abend im Pub zu verbringen. Wenn sie nach Hause ging, würde es vorbei sein: Donovan und Traynor würden die Beweise haben, um Ingrid Tearney abzusägen, oder sie wären selbst in den unterirdischen Anlagen von Hayes begraben. Im letzteren Fall würde sich Diana gegen Tearneys Zorn wappnen müssen. Gar nicht so schlecht, dachte sie, dass sie keinen Sinn für Humor hatte. Anderenfalls könnte es passieren, dass sich Diana im Exil in Slough House wiederfand …
Ein Messer im Rücken wäre angenehmer. Nein, das sollte keine Metapher sein.
Das Merkwürdige war, dass das Ereignis, das all dies in Gang gesetzt hatte, eigentlich dem MI 5 hätten nutzen sollen. Es war, kurz nachdem Dame Ingrid zur Leiterin des MI 5 ernannt worden war, ein Posten, nach dem sich Diana Taverner gesehnt hatte, von dem sie jedoch wusste, dass sie noch nicht bereit dazu war. Damals schien die Zeit auf ihrer Seite zu sein, und Ärger zu vermeiden war ein gesunder und vernünftiger Kurs. Als daher ein Bericht auf dem Schreibtisch des Innenministers gelandet war, der drohte, gewaltigen Staub aufzuwirbeln, hatte Diana gehandelt.
Der damalige Minister war der Traum eines jeden hochrangigen Spions gewesen: rückgratlos und unentschlossen, voller Angst vor schlechter Presse und peinlich darauf bedacht, nie mit sinkenden Wählerzahlen in Verbindung gebracht zu werden. Damals, bevor Ingrid Tearney ihr Programm zur Entmachtung der Abteilungsleitungen umsetzte, hatte Diana wöchentliche Meetings mit ihm: Er sei immer gern auf der Höhe der Zeit, behauptete er und unterstrich seine Wortwahl, indem er ihr auf die Brust starrte. An diesem Tag jedoch war er von dem Bericht, den er erhalten hatte, derart erschüttert, dass er kaum mehr als einen wehmütigen Blick auf ihren Busen warf. Das, hatte er zu ihr gesagt. Lassen Sie das verschwinden, bitte! Was Diana als Freibrief aufgefasst hatte.
Es war die Art von Operation, die in jeder Hinsicht unter der Hand abgewickelt wurde: ohne Papierspur, ohne Mitwisser; lediglich eine Schmiergeldzahlung an ein oder zwei Einsatzkommandos kurz vor der Pensionierung, die sich noch ein finanzielles Polster aufbauen wollten, bevor sie die Spionagelaufbahn in Richtung Zivilleben verließen. Die Zielperson war beim Militär, also war es am geschicktesten, sie bei einem Unfall sterben zu lassen; eine Kombination aus K.-o.-Tropfen im Getränk und einer manipulierten Lenkung hatte ihren Zweck erfüllt. Dabei hatten sie nicht mal Dunns Getränk präpariert – ein bisschen Querdenken war schon im Spiel. Und so wurde also Sean Donovan allgemein für den Tod von Alison Dunn verantwortlich gemacht, aber als Soldat war ihm das Konzept des Kollateralschadens natürlich vertraut. Seine Proteste waren nicht erhört worden – man konnte nicht leugnen, dass er ein Alkoholproblem hatte –, und er verschwand im militärischen Justizsystem. Von seiner einst vielversprechenden Karriere blieben nur ein Paar Bremsspuren im Dunkeln.
Diana verließ den Pub, ohne den aalglatten Mann in ihrem Kielwasser zu bemerken. Draußen hatte es sich kaum abgekühlt, obwohl die Sonne inzwischen untergegangen war. Die Bürgersteige klebten vor Hitze, und die Luft bildete heiße Inseln. Es bedurf‌te wenig Phantasie, um zu glauben, dass irgendetwas mit dem Wetter nicht stimmte. Ein praktisches Detail bei der Ausarbeitung der Legende dieser neuen Operation.
Denn in den Jahren seit der Beseitigung von Alison Dunn war Dianas eigene Karriere ins Stocken geraten; nicht so spektakulär wie die von Donovan, aber ebenso unleugbar. Ihre Rolle war die einer weiteren Drohne des mittleren Managements geworden, während Tearneys Kreuzzug zur Umstrukturierung des Geheimdienstes in eine fade Behörde für die nationale Sicherheit mit ihr selbst als CEO unerbittlich weitergegangen war. Budgetsitzungen. Markenbildung des Unternehmens. Der allmähliche Entzug von Kompetenzen in den einzelnen Abteilungen, bis eine vertikalere Struktur erreicht war; eine, in der die traditionellen Wege zur Macht – langjährige Mitarbeit, Qualifikationen, die Bereitschaft, über die blutenden Leichenberge zu kriechen – zunichtegemacht worden waren. Kein Wunder, dass sich Diana Gedanken über alternative Methoden des Aufstiegs machte. Sie war immer stolz auf die Eleganz ihrer Pläne gewesen. Und wenn man nach einem ehemaligen Agenten suchte, wer wäre besser geeignet gewesen als einer, der einen Groll hegte und zahlreiche nützliche Fähigkeiten besaß?
Es war nicht schwer gewesen, Donovan davon zu überzeugen, dass er Opfer einer Verschwörung geworden war, und kaum schwerer, ihm einzureden, diese Verschwörung sei von Ingrid Tearney angezettelt worden. Diana hatte ihm die Gelegenheit zur Rache gegeben, und er hatte seinen alten Kameraden, Alison Dunns Verlobten, mit ins Boot geholt.
An der Ecke, neben einer Reihe von Fahrrädern, zündete sie sich eine Zigarette an und checkte ihr Handy. Nichts. Und dann, bevor sie ihre Meinung ändern konnte, wählte sie Peter Judds Nummer. Als sie Judd den Floh mit dem Tigerteam ins Ohr gesetzt hatte, hatte sie ihm nichts von dem eigentlichen Plan erzählt, und heute Nachmittag hatte er ihr ganz klar zu verstehen gegeben, dass er sie verdächtigte, ihm etwas vorzuenthalten … Es wäre gefährlich, PJ zum Freund zu haben, aber manchmal hatte man kaum eine andere Wahl. Liebende waren die einzigen wahren Feinde. Alle anderen wechselten ständig.
Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »Diana.«
»PJ . Ich muss Ihnen ein kleines Geständnis machen.«
»Sie meinen, Sie waren vorhin nicht ganz ehrlich zu mir?« Sein Ton war flach wie eine Straße. »Ich bin schockiert, Diana. Schockiert bis ins Mark.«
»Ich kenne Ihre Tiger. Operativ, meine ich.« Keine Namen am Telefon. »Aber was sie heute Morgen getan haben, war nicht Teil ihrer Mission.«
Gefühle spielten in Peter Judds Welt keine große Rolle, jedenfalls nicht, solange keine Kameras liefen. »Einen Scone kann man nicht genießen, ohne ein wenig Marmelade zu verstreichen«, sagte er. »Aber, Diana, es wäre doch viel angenehmer, wenn wir das irgendwo unter vier Augen besprechen. Warum erlauben Sie Seb nicht, Ihnen ein Taxi zu rufen?«
»Wer ist Seb?«, fragte sie in die tote Leitung in ihrem Handy und erschrak, als ein sehr glatt wirkender Mann mit dunklem Haar, das er aus der hohen Stirn gekämmt trug, an ihrer Seite auf‌tauchte.
»Taxi, Ms Taverner? Sie haben Glück heute Abend. Da kommt schon eines«, und er hob den Arm, um es anzuhalten, die andere Hand ganz leicht auf ihrem Ellbogen.
Shirley machte die schmerzliche Erfahrung, dass man nicht zweimal hintereinander Schwein haben konnte.
Ihr zweiter Gegner war ein härterer Brocken.
Sie warf sich mit dem gleichen Tackle auf ihn, mit dem sie vor zwei Minuten ein so hervorragendes Ergebnis erzielt hatte, und stellte sich bereits vor, wie sich unten die erledigten Arrows auf‌türmten, nachdem sie den ganzen Zug einen nach dem anderen ausgeschaltet hatte. Doch anstatt durch das Fenster zu kippen, warf sich dieser zu Boden und verschaffte sich einen Vorteil, indem er sie mit sich riss. Sie schlug hart auf und spürte ein scharfes, metallisches Knacken. Einen Moment lang lagen sie fast in Löffelstellung, und sie konnte seinen Körpergeruch riechen, stechend in der abendlichen Hitze. Der Totschläger, den er in der Hand hielt, sah aus wie etwas, das unter der Ladentheke verkauft wurde: kurz, dick, hässlich. Aber er konnte nicht damit ausholen, solange sie miteinander rangen, und als er versuchte, ihr einen Arm um den Hals zu legen, biss sie ihm ins Handgelenk. Er heulte auf wie ein Hund, und sie wand sich mit einem Stoß aus seinem Griff, nur um auf die Handflächen zu fallen, als er sie am Fuß packte. Shirley ließ ihr Bein erst schlaff werden und trat dann heftig zu, wobei sie ihn irgendwo erwischte, im Gesicht, wie sie hoffte, aber dazu fühlte es sich nicht weich genug an. Ihr Fuß kam frei. Sie krabbelte etwa zwei Meter weiter, sprang auf und drehte sich zu ihm um, ihre Handflächen rauh wie Putz vor Dreck und Glas. Sie wischte sie an ihrer Hose ab und ließ den Mann vor ihr dabei nicht aus den Augen.
Er war größer als sie, aber das waren die meisten Männer. Schlimmer war, dass er den Totschläger zum Fenster rausgeworfen und stattdessen ein bösartig gezacktes Messer gezogen hatte.
Er grinste, und seine Zähne leuchteten unnatürlich weiß vor dem Hintergrund seiner schwarzen Sturmhaube. »Ich zieh dir bei lebendigem Leib die Haut ab, Süße!«
Spar dir den Atem, ermahnte sich Shirley.
»Ich durchlöchere dich!«
Shirley wich durch den Gang zurück; ihre Füße knirschten auf dem Boden.
»Du wirst quieken wie ein Ferkel.«
Er stürzte sich auf sie, und sie parierte, indem sie das Messer mit dem Unterarm abwehrte. Dann schlug sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Das hätte eigentlich reichen müssen, aber sie geriet ein wenig aus dem Gleichgewicht und erwischte ihn nicht mit voller Kraft. Er bäumte sich auf und taumelte rückwärts, und sie zog sich ebenfalls zurück.
»Na, tanzen wir ein bisschen Quickstepp?«
Der hat ganz schön viele Filme gesehen, dachte Shirley. Gut so. Je mehr sie redeten, desto weniger Luft hatten sie.
»Lass mal sehen, was du draufhast, Liebling.«
Was ich habe, sind Probleme mit Affektkontrolle. Sagt man mir nach.
»Wir können es uns leicht- oder schwermachen.«
Scheiß drauf. Dann eben auf die harte Tour!
Sie zielte mit einem Punch auf sein Brustbein, hoch und schnell, aber nicht schnell genug. Er wich zurück, packte ihren Arm, wirbelte sie herum, drückte sie mit dem Rücken gegen seine Brust und presste ihr die Spitze seines Messers unters Kinn.
»So, jetzt habe ich dich genau da, wo ich dich haben will, Schätzchen.«
»Schön«, sagte Shirley, »ich dich auch.« Sie hob ruckartig ihren freien linken Arm über die Schulter und stieß ihm den abgesplitterten Rand einer halben CD ins Auge. Als er aufschrie und sie losließ, drehte sie sich um und landete einen Tritt an der Stelle, auf die ihr Punch gezielt hatte. Er taumelte rückwärts, bis er mit den Oberschenkeln die Fensterkante erreichte, und fiel, immer noch schreiend.
Shirley machte ein Kreuzschraffurzeichen mit den Fingern. Hashtag Reinfall, Schwachkopf.
Das Messer hatte er mitgenommen, aber als sie ihre Jackentasche tätschelte, spürte sie die andere Hälfte der Arcade-Fire-CD , die bei ihrem letzten Sturz zerbrochen war. Konnte sich noch als nützlich erweisen.
Unter ihr auf dem Gelände huschte ein Schatten auf den Black Arrow-Van zu.
Shirley rannte zurück zum Treppenhaus.
Donovan feuerte drei Mal auf dem Weg zu Traynor durch die Öffnung, wo die Tür gewesen war. Als er seinen Freund erreichte, ging er auf die Knie und durchschnitt die Kabelbinder, mit denen seine Füße gefesselt waren. Louisa stand auf, feuerte zweimal und noch mehr Splitter sprangen aus dem bereits demolierten Türrahmen.
Vor drei Minuten habe ich einen Mann getötet, dachte sie. Vielleicht sogar zwei Männer. Möglicherweise drei.
Der Gedanke fühlte sich nicht wie ihr eigener an, sondern wie der einer Beobachterin, die nicht unmittelbar am Geschehen beteiligt und daher imstande war, es von außen zu beurteilen.
In der Türöffnung wurde kurz eine Gestalt sichtbar und feuerte einen Schuss auf Donovan ab, der jedoch weit danebenging.
Donovan schnitt gerade Traynors Handfesseln durch.
River sagte: »Er wird es nicht schaffen.«
»Danke für die Info.« Louisa war wieder aufgestanden und schoss zweimal, wobei sie dachte: Zwei, drei, zwei, zwei, zwei . Das Magazin enthielt fünfzehn Schuss. Falls Traynor mehr als die beiden Kugeln abgefeuert hatte, die sie mitbekommen hatte, würde ihr sehr bald die Munition ausgehen.
»Gerne.«
Und schon war River wieder weg – das wurde langsam zur Gewohnheit bei ihm. Er war aus der Deckung gesprungen und rannte dorthin, wo Donovan sich mit Traynor abmühte. Die Gestalt in der Türöffnung tauchte wieder auf, schoss einmal und brachte sich erneut in Sicherheit, als Louisa das Feuer erwiderte. River rief Donovans Namen, und dieser bückte sich, schob ihm über den Boden seine Waffe zu und zog Traynor auf die Beine. River hob die Waffe auf und schlidderte hinter den umgestürzten Aktenschrank, genau in dem Moment, als die Gestalt hinter der demolierten Wand wieder auf‌tauchte und drei Schüsse auf die beiden Soldaten abgab. Donovan und Traynor brachen zusammen. River stand auf, zielte und feuerte genau in dem Moment, als Louisa, irgendwo hinter ihm, das Gleiche tat. Der Black Arrow mit der Waffe zuckte zusammen und fiel rückwärts um, als wären seine Fäden durchtrennt worden.
Es roch jetzt nach Kordit und Blut. Archivstaub lag in der Luft.
Ein Schlagstock knallte gegen den Schrank direkt neben Rivers Kopf, aber er war geschleudert worden, nicht geschwungen. Ein Arrow verschwand hinter einem Kistenstapel. River überlegte, ob er schießen sollte, tat es aber nicht; wäre der Typ bewaffnet gewesen, hätte er längst auf ihn gefeuert.
Louisa kam zu ihm. »Mindestens einer von denen läuft hier drin rum«, flüsterte sie. »Keine Ahnung, wie viele dahinten noch sind.«
Sie meinte den Gang hinter der gesprengten Tür.
River sagte: »Sie sind leichte Beute, wenn das der einzige Weg ist, wie sie hier reinkommen.«
»Wir haben nicht viel Munition.«
»Das wissen die aber nicht.«
Er hob einen Ordner vom Boden auf und schleuderte ihn durch die Türöffnung. Sauberer Wurf: Der Ordner segelte unbehelligt hindurch.
»Gut gezielt«, sagte Louisa. »Und was sollte das jetzt?«
»Vielleicht haben die auch nicht viel Munition. Gib mir Feuerschutz.«
Sie stand auf und richtete ihre Waffe auf die Tür, die Arme auf die Oberseite des Schranks gestützt, aber niemand ließ sich blicken. River kroch in einer Art Krebsgang zu Donovan und Traynor, die übereinander auf dem Boden lagen. Als er Donovan hochzog, war dessen Gesicht blutverschmiert.
Doch das Blut stammte von Benjamin Traynor, dessen Hinterkopf fehlte.
Donovan war auch getroffen worden, aber es war eine Heldenwunde – Helden werden in die Schulter geschossen. Seine Augen blickten jedoch glasig, und River hatte Probleme, ihn aufzurichten. Er schleif‌te ihn halb hinüber in die Deckung des umgestürzten Schranks und ließ ihn dort keuchend sinken.
»Entweder sammeln sie sich, oder sie wissen nicht, was sie tun sollen.«
»Oder sie sind weg«, erwiderte Louisa. Sie knöpf‌te Donovans Hemd auf; um seine Wunde zu untersuchen, nahm River an.
Donovan wachte auf und packte sie mit der Hand des unverletzten Arms am Handgelenk. »Nicht.«
Louisa legte ihre Waffe beiseite und löste seine Hand. »Ihr Freund ist tot«, sagte sie. »Und eine unbekannte Anzahl von Feinden hält uns unter Beschuss. Ich denke, wir können eindeutig sagen, dass Ihre Operation im Arsch ist.«
»Ben ist tot?«
»Ja. Es tut mir leid.«
Er schloss wieder die Augen. Louisa öffnete einen weiteren Knopf und zog die Mappe hervor, die er bei sich trug. Ein gewöhnlicher Pappordner, dessen obere Ecke mit seinem Blut oder dem seines Freundes befleckt war.
Sie reichte ihn River. »Wir sollten gut darauf aufpassen.«
»Also nicht wieder ins Regal stellen«, sagte River, steckte die Mappe unter sein Hemd und den unblutigen Rand in den Bund seiner Jeans.
»Nein. Es könnte sich lohnen, mal reinzuschauen. Rauskriegen, wie sie uns nach dem Leben trachten.« Sie zog Donovans Hemd beiseite und sah sich seine Wunde an. »Sieht nicht allzu schlimm aus«, sagte sie ihm.
»Gut zu wissen«, antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen. »Und wie sieht die andere aus?«
O-oh.
Auch am Oberschenkel war er getroffen worden. Diesmal nicht nur eine Heldenwunde – der Knochen war durch seine Hose sichtbar.
River spähte um den Rand des Schrankes herum. »Hier tut sich was!«
»Oh, gut.«
»Wir brauchen vielleicht bald einen Plan.«
»Nimm’s mir nicht übel«, sagte Louisa, »aber ich wünschte, Marcus wäre hier.«
»Keine Ursache«, sagte River. »Habe gerade dasselbe über Shirley gedacht.«
Etwas Hartes, Rundes flog durch die Türöffnung und prallte am Schrank ab.
Dann verwandelte sich alles in weißes Licht.
Die Hände von Marcus Longridge waren hinter seinem Rücken mit Kabelbindern gefesselt, die heutzutage so beliebt sind, seine Fußknöchel ebenso. Er lag seitlich auf dem Rücksitz des Black-Arrow-Vans und hatte erstens bereits festgestellt, dass er nicht allein war, und zweitens, dass es sich um einen ehemaligen Leidensgenossen handelte. Ein Kopfschuss war ein deutliches Zeichen. Kein Zweifel, dass hinter sein Leben ebenfalls ein solcher Punkt in der Stirn gesetzt werden sollte.
Merkwürdig war jedoch, dass er seine verdammte Baseballmütze noch immer auf dem Kopf hatte.
Nick Duf‌fy streif‌te seine Sturmhaube nicht ab, weil das gegen die Regeln verstoßen hätte, und die hielten einen schließlich am Leben, aber er wusste, dass Longridge ihn erkannt hatte. Duf‌fy hatte ihn sogar vor seiner Degradierung einmal angesprochen, ob er nicht zu den Dogs wechseln wolle: Männer mit Marcus’ Fähigkeiten könnten sie immer gebrauchen. Die Leute, die sie hin und wieder festnehmen sollten, wollten oft nicht festgenommen werden und waren in Methoden des Widerstandes gegen solche Festnahmen bestens ausgebildet. Daher war es von Vorteil, Leute an seiner Seite zu haben, die noch besser darin geschult waren, Köpfe von der Wand abprallen zu lassen. Daher das Angebot.
Longridge hatte geantwortet: »Riecht mein Arsch für Sie nach Speck?«, was Duf‌fy in seinem späteren Bericht dezent umschrieben, aber auch ohne Google-Translator verstanden hatte.
»Klebt das Ding mit Klettverschluss an deinem Kopf?«, fragte Duf‌fy jetzt.
Longridge hatte einige heftige Schläge eingesteckt und war ein paar hundert Meter über unebenen Boden geschleift worden. Der Ärmel seines Sweatshirts war abgerissen und seine rechte Wange blutig aufgeschürft. Er hätte seine Kappe längst verloren haben müssen. Duf‌fy beugte sich hinunter und riss sie ihm vom Kopf. Sie war nicht mit Klettverschluss angeklebt, sondern mit Paketband, dem dicken, braunen. Teilweise war damit die Kappe an Longridges Kopf befestigt und teilweise seine Waffe darin gesichert: ein kleiner Revolver, der wie ein Spielzeug aussah und für den sich Longridge, ehrlich gesagt, hätte schämen müssen.
»Du hast deine Waffe in der Mütze?«
»Da haben Sie nicht nachgesehen, oder?«, fragte Marcus zurück.
»Nein, stimmt. Aber sie wird dir jetzt nicht mehr helfen.«
»Fick dich, Mann. Wenn du es tun willst, tu es!«
»Okay.«
»Arschloch!«
»Danke«, sagte Nick Duf‌fy, »das macht es mir leichter.«