In der Nacht zum 18. Juni 1992 ging in der Gegend von Frankfurt ein ungewöhnlich starker Regen nieder; der Oststurm entwurzelte Dutzende Baumriesen; in einem Waldstück nahe Stiegliz spülten die Fluten eine Grabmulde frei und trommelten auf das Bündel in der Grube, das mit lindgrünem Plastik umwickelt und mit Lederriemen verzurrt war.
Gegen drei Uhr früh ließ der Regen nach, nicht so der Oststurm. Zu dieser Stunde war der Himmel über der Oder ein Wirrwarr fliehender Wolken, durch deren Bäuche die Mondsichel schnitt. Der Sturm zerknickte Baumgerippe, wühlte in den Fluten des Grenzstroms und heulte um die Wette mit Grauwolf und Mähnenwolf, die in den nahezu unwegsamen Wäldern seit Jahrhunderten ansässig sind.
Stiegliz ist ein schläfriger Bauernflecken, dessen zwölf oder vierzehn windschiefe Häuschen, zwischen Wiesen und Trauerweiden um den Dorfweiher aufgereiht, sich auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Lebus in eine Ufermulde schmiegen. Als die Morgensonne über der Oder, die allerlei Treibgut mit sich schwemmte, und über dem verwüsteten Waldstück aufging, war die Grabmulde zu einem Tümpel verwandelt, auf dem Zweige, vorjähriges Laub und lindgrüne Plastikfetzen schwammen. Zwischen Aststücken und Baumwurzeln lagen die Lederriemen auf dem erodierenden Boden, der sich in sanftem Gefälle zum Ufer der Oder senkt.
Obwohl auf der deutschen Stromseite gelegen, trägt Stiegliz nebenher auch einen polnischen Namen, Tiblice. Dieser Name, den die allherbstlich von jenseits der Oder anreisenden Erntearbeiter in Umlauf gebracht haben, ist den Stieglizern aufs äußerste verhaßt, und wer gedankenlos von Tiblice statt von Stiegliz redet, muß mit scharfer Zurechtweisung und fanatischen Darlegungen rechnen: Seit jeher sei Stiegliz ein rein deutscher Flecken, und gerade heute sei Stiegliz unverzichtbarer Teil eines Bollwerks ... und so weiter und so fort.
An jenem Morgen des 18. Juni waren die Stieglizer noch frühzeitiger als gewöhnlich auf den Beinen. Sie alle hatten sich an der Anlegestelle versammelt, wo ihre Boote vertäut lagen, und palaverten über die Verwüstungen der Nacht. Als der Junge gegen sechs Uhr dreißig bei weiterhin scharfem Ostwind nahe der Bootslände ans Ufer getrieben wurde, bemerkte zunächst niemand, daß dies, anders als die entwurzelten Bäume, losgerissenen Hüttenwände oder Rumpfstücke zertrümmerter Fischerboote, die unablässig vorüberjagten, ein menschliches Treibgut war. Dabei war der Junge um diese Stunde noch immer am Leben.
Er lag bäuchlings auf einer Bohle, die er mit beiden Armen umklammert hielt. Erst als eine seitlich anbrandende Welle ihn für einen Augenblick anhob, dann mitsamt seinem Brett zurück ins Schilf sacken ließ, wurden die Stieglizer Bauern aufmerksam und liefen die etwa zwanzig Schritte bis zu der Stelle, wo der Schwerverletzte lag.
Der Junge war schwarzhaarig, von gedrungener, kräftiger Gestalt, etwa sechzehn Jahre alt und vollkommen nackt. Sein Körper war mit Brandwunden und entzündeten Insektenbissen, mit Messerschnitten und entwürdigenden Tätowierungen übersät. Mit der rechten Hand umklammerte er den Stumpf eines Astes, der unter der Bohle hervorragte.
„Der ist von drüben.“ Der alte Karl Cramsen deutete mit dem Stock auf die andere Oderseite. „Hat versucht, bei diesem Sturm den Strom zu überqueren – saudummer Polack!“
„Aber siehst du denn nicht“, widersprach der fettleibige, nahezu glatzköpfige Knut Lauber, immerhin der Bürgermeister von Stiegliz, „wie sie ihn zugerichtet haben?“
„Bandenkriege!“ knurrte Cramsen.
„Dreht ihn mal um. Vorsicht!“ befahl Lauber.
Während weiterhin der Ostwind durchs Schilf pfiff und den Männern trübe Gischt in die Gesichter blies, bückten sich zwei der jüngeren Stieglizer Bauern, packten den Jungen bei den Schultern und drehten ihn um.
Da er noch immer die Bohle umklammert hielt, lag er nun rücklings unter dem schlammigen Brett wie unter einem Sargdeckel, den er mit beiden Händen, dabei den Aststumpf mit der Rechten festhaltend, an seine Brust, auf sein Gesicht zu pressen schien. Sie entwanden ihm den Aststumpf und bogen seine Arme auseinander. Was unter der Bohle zum Vorschein kam, war so entsetzlich, daß alle Umstehenden zurückprallten, als ob vor ihnen die Erde ihr schlammiges Maul geöffnet hätte.
Windgepeitscht und gurgelnd strömte die Oder vorüber, und noch immer führte sie Tierkadaver, Bootsriemen, Baumgerippe mit sich und sogar einen klobigen Holztisch, zwischen dessen himmelwärts gereckten Beinen ein verdutzt blickendes Wolfsjunges saß.
Das Gesicht des Jungen war offenbar verbrüht oder mit Säure übergossen worden. Es war eine blutrote, rohfleischerne Scheibe, mit lidlosen Augen, die so stark verdreht waren, daß man nur das Weiße der Augäpfel sah.
„Der ist hin“, murmelte Cramsen.
Im gleichen Moment bewegte der Junge seine Augen. Sein Mund öffnete sich mit krampfhaftem Zittern, doch kein Laut drang hervor. In der zahnlosen Mundhöhle zuckte der Stumpf seiner Zunge, die (wie sich später herausstellte) mit einer Zange abgekniffen worden war.
Als sich der Junge erhob, wichen die Stieglizer Bauern zurück wie vor einer teuflischen Erscheinung. Wenigstens eine halbe Minute verharrte er auf Knien und Händen; dann stemmte er sich hoch und stand schwankend, schlammbedeckt neben seiner Bohle, einer bereits verwesenden Leiche ähnlicher als gleich welcher lebendigen Kreatur.
Er streckte die Arme vor und machte mehrere Schritte auf die Stieglizer Bauern zu, die im gleichen Takt rückwärts liefen, gegen die Bootslände, wortlos, dabei mit großen Augen auf den Auferstandenen starrend. Nach genau fünf Schritten brach der Junge, in dessen Brust der nur teilweise lesbare Schriftzug Un...e...ch eingeritzt war, zusammen und blieb rücklings im Uferschlamm liegen.
Bekanntermaßen verfügt Stiegliz, in dessen ausgedehnten Schilfflächen alljährlich Enten, Schwäne und sogar Reiher nisten, weder über Arzt noch Hebamme und nicht einmal über eine Pastorei. Daher rannte der schwergewichtige Lauber, der als erster die Besinnung wiederfand, gegen sechs Uhr fünfzig zu seinem Häuschen und verständigte die Polizeidienststelle von Lebus.
Als siebzig Minuten später der Notarzt eintraf, war der junge Pole unwiderruflich tot. Auf Anordnung der Polizei wurde er abermals als Leiche abtransportiert, diesmal im amtlichen Zinksarg.
Am Vormittag des folgenden Tages, als längst wieder frühsommerlich milde Witterung herrschte, stoppte der Polizei-Lada auf dem grasüberwucherten Schotterplatz vor dem Tor von Schloß Stiegliz, einem ruinenhaften Anwesen in teilweise klassizistischem Stil, das sich oberhalb von Dorf Stiegliz vor einem zauberhaften, vollständig verwilderten Park erhob.
Lauber hatte es sich nicht nehmen lassen, Kriminalkommissar Zirfas zum Verhör zu begleiten. Dieser drahtige Polizeibeamte, ein elegant wirkender Endfünfziger in grauem Zivilanzug, war schon seit Jugendtagen mit dem gleichaltrigen Knut Lauber befreundet. Im Jahr 1990 hatten sie, wie mancher andere, zwischenzeitlich Schwierigkeiten bekommen, doch nach kurzzeitiger Abwesenheit waren sie mit untadeligen Personalakten an ihre alten, geringfügig umbenannten Posten zurückgekehrt. Auch der fuchsbärtige, fünfzehn Jahre jüngere Wachtmeister Worzak, der den grün-weiß umlackierten Lada Kombi steuerte, gehörte seit langem zu Zirfas’ Truppe, deren Parole nun „Neues Denken alter Schule“ lautete.
Auf einen Wink von Zirfas stieg Worzak aus und rüttelte an der in Kinnhöhe angebrachten Klinke. Das Tor, wenigstens vier Meter hoch und mit schorfigem Eisen beschlagen, war fest verschlossen. Worzak packte den eisernen, an einem rostigen Ring kopfüber aufgehängten Schlegel und ließ ihn gegen das Tor dröhnen.
Mit seiner schnörkellosen, obwohl stockfleckigen Hofmauer, in die schwarz vergitterte Fensterscharten eingelassen waren, machte Schloß Stiegliz einen abweisenden, nahezu wehrhaften Eindruck. Hinter der Hofmauer ragte das Hauptgebäude auf, flankiert von den Treppentürmen, die das eigentliche Schloß mit den Seitenflügeln verbanden. Das Schieferdach zwischen den Türmen sah schadhaft aus und wirkte eigentümlich verrutscht. Seit Jahrzehnten bröckelte der Putz von den Fassaden des Schlosses, das einst ein herrschaftlicher Landsitz gewesen und in den fünfziger Jahren von seinen damaligen Besitzern verlassen worden war.
„Keiner zu Hause“, sagte Zirfas, indem er sich auf dem quietschenden Plastikbezug des Beifahrersitzes umwandte. „Was jetzt?“
„Das hier ist mein Dorf, Hans.“ Lauber, der bereits wieder heftig schwitzte, zog eine griesgrämige Grimasse. „Ich kann dir von jedem einzelnen Stieglizer sagen, wann er sich mit wem trifft, um welche Stunde er zur Arbeit geht, wann er zurückkommt, sein Freizeitverhalten – –“
„Weiß ich doch, Knut. Hundertfach bewiesene Solidarität. Wo ist das Problem?“
„Dieser Prohn“, sagte Lauber, gegen das Schloßtor deutend, vor dem Worzak wie eine Schildwache stand, „ist für mich ein Rätsel. Er hat seine Kindheit auf Schloß Stiegliz verbracht – vor mehr als vierzig Jahren. Sein Vater war dieser Gutsherr, den wir damals enteignet haben, wie es heute heißt. Den Prohns gehörte all das hier“, er breitete die Arme aus, „das Schloß, die Wälder, die Felder – das ganze Dorf. 1953 ging die Familie in den Westen, und jetzt – jetzt ist dieser Sohn wieder da. Und prozessiert. Gegen mich, das heißt: gegen die Kommune. Er will alles zurückhaben.“
„Und seine Chancen?“
„Mal so, mal so. Ein verrückter Kerl, Hans. Letzte Woche hat er mir einen Vergleich angeboten: Er will auf die Hälfte verzichten – die Wälder, die Felder –, wenn er nur das Schloß mitsamt dieser vergammelten Bibliothek kriegt und die Orangerie und den Park. Ein sentimentaler Narr, wie er selber sagt, außerdem Künstler, was immer das heißen soll.“
„Also gut“, sagte Zirfas. Er machte Worzak ein Zeichen. „Und wo finden wir jetzt diesen verrückten Kerl? Der muß doch auch schon über Fünfzig sein, oder?“
„Dreiundfünfzig“, bestätigte Lauber, während Worzak, der seinen Rübezahlbart zur neuen Uniform kürzer gestutzt trug, hinter das Steuer zurückkehrte. „Wir haben ein gentlemen agreement getroffen – –“
„Ein was?“ rief Zirfas, da Worzak, der in diesem Moment startete, gewohnheitsmäßig den Motor aufheulen ließ.
„Ein gentlemen agreement“, wiederholte Lauber mit nahezu russisch klingender Aussprache, „hätte nicht gedacht, daß Prohn sich dran hält. Ich habe ihm – vorläufig – genehmigt, daß er in der Orangerie wohnen darf, bis das Gericht entschieden hat, wem dieser alte Kasten gehört.“
„Und wenn du gewinnst?“
„Ich mach’ ein Hotel draus“, sagte Lauber mit schwärmerischem Augenaufschlag. „Immer die Mauer entlang, Worzak, wir fahren nach hinten zum Parktor, das ist in Sichtweite der Orangerie.“
Im Schrittempo folgten sie einem schmalen Waldweg, der nach dem nächtlichen Unwetter schlammbedeckt und mit abgerissenen Ästen übersät war. Mehrfach mußte Worzak stoppen und größere Aststücke zur Seite wuchten, was ihm Spaß zu machen schien. Ehe er den Ast packte, spuckte er jedesmal in die Hände.
Nach etwa hundertfünfzig Metern knickte die Mauer rechtwinklig nach links ab, und der Waldweg verbreiterte sich zu einer ehemals pompösen Allee. Obwohl sie in Zeitlupe dahinkrochen, rüttelten die Stoßdämpfer in knöcheltiefen Schlaglöchern, aus denen Wildblumen, Disteln und Hafer sprossen.
„Hier ist es“, sagte Lauber.
Worzak stoppte vor dem Parktor, das aus verrosteten schmiedeeisernen Stangen bestand, die sich oben speerartig zuspitzten. Hinter dem Gitter dehnte sich ein weitläufiger Park, mit sanft gewellten, wenigstens kniehohen Wiesen und uralten Buchen, überwiegend Rotbuchen, die gruppenweise beisammen standen. Während links im Hintergrund, auf einem überwucherten Hügel, die verrottete Rückfront von Schloß Stiegliz zu sehen war, erstreckte sich rechterhand der langgezogene, in der Mitte von einer türkisfarbenen Kuppel gekrönte Flachbau der Orangerie.
„Wohnt im Glashaus?“ Zirfas schubste Worzaks Hand vom Steuerrad und drückte auf die Hupe.
Auf dieses Zeichen hin tauchten hinter dem Torgitter gleich drei Gestalten auf. Von der Schloßseite her, in großer Entfernung und von Zirfas unbemerkt, schlenderte eine rothaarige junge Frau in wallendem schwarzem Kleid durch die Wildwiese auf die Orangerie zu. Während hinter der Glasfront das blasse Gesicht einer erschrocken wirkenden weiteren Frau sichtbar wurde, grüßte der „Künstler und sentimentale Narr“ lächelnd von einem Söller in Höhe der Kuppel herab, wozu er ausrief:
„Einen Augenblick, Herr Bürgermeister, ich komme sofort!“
Sein Blick haftete noch am Parktor, wo der Polizeiwagen mit laufendem Motor stand. Unter ihm glitzerte der halbmondförmige Vulkansteinplatz, den sein Vater vor fast fünfzig Jahren mit „nordischem Magma“ hatte aufpflastern lassen. Timo erinnerte sich genau an jenen für immer unvergeßlichen Abend wenig nach der feierlichen Einweihung des Magmaplatzes: Damals war er fünf Jahre alt, eben groß genug, um die Arme auf die Brüstung des Söllers zu stützen, und hinter sich fühlte er seine Mutter, die sich wie schützend oder schutzsuchend gegen ihn drängte, während unten im nächtlichen Park, angestrahlt von einem halben Tausend brennender Fackeln, das unerhörte Schauspiel begann: ein Konzert mit Flöten, Streichinstrumenten und einem ebenso vielstimmigen Knabenchor. Musik nur, aber von einer tonalen Gewalt, wie Timo sie seither niemals mehr gespürt hatte – nicht eigentlich schön, doch überwältigend noch in der Erinnerung, so daß jede Faser seines kindlichen Körpers zu vibrieren, selbst zur Saite zu werden schien. Vor ihnen, über ihnen wie eine dunkel ragende Wand, wie eine zerfurchte steinerne Maske, herabstarrend aus achtzig erleuchteten Fensterhöhlen, das riesenhafte Schloß, das Timo, während er sich bereits abwandte, für einen Moment mit den Augen seiner Frau Lisa zu sehen glaubte: eine schwarzgraue Ruine, modernd, und die schadhaften Kuppeln der Treppentürme wie ausgerenkte Schulterkugeln; das ganze grandios zerfallende Gebäude wie ein zerstörter Leib, über dem total verwilderten Park hingeworfen und schmerzhaft verkrümmt ... Unsinn, dachte er.
Über die metallene Wendeltreppe, durch den Urwald aus Kletterpflanzen, die sich an Stahlsäulen in die Orangeriekuppel rankten, lief er nach unten, und die Sohlen seiner Schlangenlederstiefel klapperten auf den Stufen wie damals, und die ganze Treppenspirale zitterte noch immer, während Timo bereits über den zersprungenen Steinboden zur Glastür ging, deren Flügel weit geöffnet waren.
Schräges Sonnenlicht, verfärbt durch das wuchernde Grün und das teilweise blutfarbene Baumlaub, ergoß sich durch die Glaswände und das Türloch in die Orangerie. Auf halbem Weg blieb er stehen. Die Orangerie war ein Chaos aus Pflanzen und Gärtnereigerümpel und notdürftig in Nischen geschobenen Möbeln – dem mit Papieren, Büchern, Kladden überhäuften Schreibtisch an der Schmalwand rechts von ihm und linkerhand dem breiten Bett, vor dem immer noch Lisa stand, über Koffer gebeugt, in die sie Wäsche, Kleider, gerahmte Bilder warf.
„Du bekommst Besuch?“ Sie schaute ihn nicht einmal an.
„Lauber – du kennst ihn ja.“ Bleib bei mir, Lisa, wollte er flehen, fahr nicht zurück; aber jetzt erschallte draußen am Parktor die Hupe des Polizeiwagens: ein quäkender Mißton, der Lisa zusammenzucken ließ. Ihre schmalen Schultern, ihre blasse Haut, dachte er, bleich und kontrastlos unter dem fahlblonden Haar und dem mattweißen, ärmellosen Kleid. „Warte wenigstens, bitte, bis Lauber und diese Polizisten ...“
Da wandte sie sich langsam um zu ihm, und ihr Blick war ohne Zorn, müde und doch entschlossen wie ihre Worte: „Ich habe es versucht, Timo, du weißt es, aber ich kann hier nicht leben. Was zu sagen war, haben wir gesagt –“ (gebrüllt, geschrien, geweint, ergänzte er in Gedanken) „– und jetzt ist es genug: Ich fahre.“
Vorbei an der zerfurchten schwarzen Ledercouch, die seit unvordenklichen Zeiten vor der Wendeltreppe in der Orangerie stand, ging er auf Lisa zu, die sich bereits wieder über ihre Koffer beugte. Wie gestern abend schon hatte er das Gefühl, als ob etwas in ihm zerreißen, ihn auseinanderreißen wollte, und er spürte, wenn der Bruch wirklich unvermeidlich würde – daß er eher mit Lisa brechen würde als mit Stiegliz, mit dieser verwunschenen Welt, die er nie wirklich verlassen, die ihn seit jeher begleitet hatte, vierzig Jahre lang, wo auch immer er sich scheinbar aufhielt, die ihn seit jeher umschloß wie ein von Flüsterstimmen, von Gerüchen und Bildern erfüllter Turm.
Er stand jetzt dicht hinter Lisa. Als er seine Hand auf ihre linke Schulter legte, fühlte er, daß sie weinte. In der Nacht, dachte er, hatten sie miteinander geschlafen, als ob gar nichts wäre; sie hatten sich geliebt wie ein durchschnittlich vertrautes Paar. Mit dem Körper lügen, dachte er, aber was bedeuten diese Wörter: Lüge, Körper, Paar. Tatsache jedenfalls war, daß Lisa noch an diesem Vormittag zurückfahren würde, in das andere, das westliche Frankfurt, wo er sich immer fremd, heimatlos, wie zufällig ausgesetzt gefühlt hatte, trotz seines kleinen Fotoateliers, das während all dieser Jahre leidlich florierte (Timotheus Prohn – Atelier für adelnde Werbe-Ästhetik), und trotz ihres Reihenhäuschens am östlichen Stadtrand, das sich nur durch die aufgeschraubte Hausnummer von den Nachbarhäusern unterschied.
Abermals der Hupton. Seine Hand rutschte von Lisas Schulter; er stopfte die Fäuste in seine Jeanstaschen, wandte sich um und trottete nach draußen. Damals, vor drei Jahren, hatte er sich geschworen, er würde alles, sofort alles opfern, wenn er nur dieses Schloß, wenn er nur Stiegliz, seine Kindheitswelt, zurückbekam. Aber er hatte niemals daran gedacht – bis gestern abend nicht –, daß zu diesen Opfern möglicherweise auch Lisa zählen würde, seine Frau, die er vor zehn Jahren geheiratet hatte, an einem stürmischen Herbsttag in jenem anderen, westlichen Frankfurt, das in seiner Erinnerung schon zu verblassen, sich aufzulösen begann.
„Prohn? Herr Timo Prohn?“ Zirfas musterte ihn mit einem langen Blick aus wasserblauen Augen, die infolge vieljährigen Verdachtschöpfens verdüstert schienen.
„Timotheus.“ Er überreichte dem zackig wirkenden Polizisten seinen Ausweis, den er stets in der Geldbörse mit sich trug, und Zirfas vertiefte sich in die Plastikkarte.
Mittlerweile standen sie auf dem halbmondförmigen Vulkansteinplatz, direkt vor der Glastür zur Orangerie. Der Bürgermeister hatte ein weißes Taschentuch gezückt, mit dem er sich mehrfach über die Glatze fuhr, während der fuchsbärtige Worzak in der Haltung eines Wachsoldaten nahe dem Parktor neben seinem Wagen verharrte.
„Dreiundfünfzig?“ wiederholte Zirfas, wobei er seinen Blick zwischen Prohn und dem Plastikbild schweifen ließ. „Sie sehen erheblich jünger aus, Herr Prohn.“
„Ja und nein“, sagte Timo mit einem Lächeln, das keineswegs Zirfas galt. „Ich wurde im Jahr 1939 geboren, das läßt sich nicht leugnen, und trotzdem bin ich jung. Alles eine Frage der Willensstärke und der Richtung, in die man seinen Willen lenkt. Und was mich betrifft – ich bin reinweg vernarrt in die Jugend, in all das hier ...“ Wahllos deutete er auf einige Bäume, die Rückfront des Schlosses, die in der Sonne blinkende Fassade der Orangerie. „Ende eines langen Winters“, sagte er, „alles ist wieder aufgetaut, und das Spiel beginnt wieder genau dort, wo es vor vierzig Jahren abgebrochen wurde. Und deshalb bin ich zurückgekommen in das Schloß meiner Kindheit, wie Ihnen der Herr Bürgermeister zweifellos längst erklärt hat.“
Hinter der Glasfront, mit Wiesen-, Schloß-, Himmelsspiegelungen vermischt, war schemenhaft, halb verdeckt durch die Äste und das dunkle, nahezu schwarzgrüne Laub der gewaltigen Kletterpflanzen, die schmale Gestalt Lisas zu erkennen, die noch immer Kleidungsstücke zusammensuchte und in weitere Koffer warf. Gerade mal drei Wochen hatte sie es hier mit ihm ausgehalten, dachte Timo; dabei hatten sie vorher von einem dauerhaften Umzug gesprochen, von einem Abbrechen aller Westbrücken, aller Gegenwartsbrücken geträumt. Aber das war nur sein Traum, mußte er jetzt erkennen, sein kostbarer, unvergänglicher, Wirklichkeit werdender Wunschtraum, dagegen für Lisa ein unheilvoller Wahn. „Da gibt es eine Grenze, dahinter ein Land der Schatten“, hatte sie erst gestern wieder gesagt, mit weiter Gebärde Schloß und Park umfassend. „Dort ist alles wie bei uns, wie in der vertrauten Welt, und doch anders, verzaubert, auf grauenvolle Weise verwandelt: die Nachtseite ...“ Einer dieser rätselhaften Sätze des romantischen Dichters Novalis; ein Zitat, das Timo im Zusammenhang mit Schloß Stiegliz keineswegs angemessen fand.
„Weshalb sind Sie eigentlich gekommen?“ Abrupt wandte er sich wieder Zirfas zu. „Wollen Sie mich jetzt mit Polizeigewalt aus meinem eigenen Schloß werfen lassen, Herr Lauber?“
„Apropos Jugend“, sagte Zirfas, während der Bürgermeister unbehaglich grimassierte, „in einem Waldstück drüben am Fluß, das Sie vor Gericht als Ihr Eigentum reklamieren – – Sie wissen, wovon die Rede ist?“
„Will ich gar nicht mehr haben.“ Müde fühlte er sich, nervös, dabei noch immer, wie seit anderthalb Jahren, getragen von dieser Euphorie der Rückkehr, des Anknüpfens und Neubeginns. „Genauer gesagt“, erläuterte er, „ich bin sofort bereit, auf dieses Waldstück zu verzichten, wenn der Herr Lauber mir im Gegenzug – –“
„Darum geht es jetzt nicht.“ Zirfas’ Stimme klang kalt und verhörerprobt. „In dem besagten Wäldchen wurde in der Nacht zum 18. Juni ein junger Pole bei lebendigem Leib begraben. Was sagen Sie dazu?“
„Das sind Greuelgeschichten, Herr Zirfas, an solche Geschichten glaube ich nicht. Natürlich, so etwas kommt vor – bei Edgar Allan Poe oder vielleicht auch bei mir – –“
„Das heißt?“
„Nicht in der Wirklichkeit“, sagte Timo, während er mit versteckter Verblüffung beobachtete, wie Margot Wegener auf halber Höhe des Schloßhügels auf einer morschen Bank Platz nahm. Wie kommt Margot hierher? Seit dem letzten Winter (eine Nacht, an die er sich ungern erinnerte) hatte er sie nicht mehr gesehen. Rasch wandte er sich Zirfas zu, dabei im Augenwinkel beobachtend, wie Margot ihre faszinierende kupferrote Mähne aus der Stirn strich und ihr nonnenhaftes, allerdings durchbrochenes schwarzes Kleid bis über die Knie schob, offenbar in der Absicht, ihre Beine in der Junisonne zu bräunen.
„Herr Prohn ist ein Künstler, wie gesagt“, erklärte Lauber, „er fotografiert, und er beabsichtigt, ein Buch über Stiegliz zu schreiben.“
„Das ist neuerdings erlaubt“, warf Timo ein.
„Der Junge hieß Karoly Zigorsky“, sagte Zirfas mit leiernder Stimme, „er war sechzehn Jahre alt und stammt aus dem polnischen Babimost. Dort wurde er am 29. Mai von seinem Vater als vermißt gemeldet. Den Namen schon mal gehört?“
„Karoly.“ Mit ausdrucksloser Miene erwiderte Timo Zirfas’ Blick. Dabei war er furchtbar erschrocken, einmal mehr hatte er das Gefühl, daß ihm die Dinge aus den Händen glitten, aber das ging diesen automatenhaft wirkenden Polizeioffizier nichts an.
Karoly – –
Natürlich kannte er den Jungen, seit Jahren und sehr viel besser als diese Margot Wegener, die ausgerechnet heute hier auftauchen mußte – am selben Tag, an dem seine Frau Lisa ihn womöglich für immer verließ. „Aber er – lebt?“
„Nein.“ Zirfas zog einen schmalen Packen Fotografien aus der Jackentasche. „Er wurde regelrecht geschlachtet und dann wie ein Tier verscharrt. In seinem Grab kam er noch einmal zu sich. Und so sah er aus – vorher.“ Er flipperte die Bilder durch und reichte ihm eine zerknickte Fotografie, die Karoly zeigte, wie Timo ihn tatsächlich gekannt hatte: unter störrisch sich sträubendem schwarzen Haar ein lachendes, slawisch breites Jungengesicht, das mit optimistischem Blick in die Welt sah. „Sie haben übrigens Besuch? Aus dem Westen?“
„Meine Sache.“ Mit der Schuhspitze zog er einen imaginären Kreis auf dem Magmaplatz. Die Schuhe waren aus extraweichem Schlangenleder, graubraun wie sein Haar, das er in gewissen Abständen färbte. „Also gut – ich kannte den Jungen.“
Zirfas pfiff leise durch die Zähne, dabei warf er Lauber einen tadelnden Blick zu. Der Bürgermeister hob die Schultern: Von diesem Logiergast auf Schloß Stiegliz hatte er nichts gewußt.
„Das müssen Sie uns schon etwas genauer erklären.“ Zirfas packte Timo bei der Schulter, mit barschem Griff, als ob er ihn zuführen wollte; doch der weiche Stoff des olivgrünen Seidenhemdes schien ihn zu irritieren: Auch sein Griff wurde gleich wieder weich und rutschte ab.
„Karoly hat von kleinen Schmuggeleien gelebt“, sagte Timo, dabei insgeheim immer wieder Margot beobachtend, die oben auf der morschen Bank ihr Kleid bis zu den Hüften hochstreifte. Metallisch glänzte in der Sonne ihr Haar, und womöglich war es der Anblick dieses kupfernen Funkelns, der ihn veranlaßte, in die Offensive zu gehen. „Karoly war ja nicht der einzige“, sagte er zu Zirfas, „da gibt es eine ganze Bande junger Polen, die regelmäßig durch die Wälder schleichen, dann nachts über die Oder und auf unserer Seite wieder durch die Wälder – übrigens bewundernswert, wieviel Mut diese Kerle aufbringen: bei Nacht und Nebel durch die Wolfsregion.“
„Unsinn!“ Diesmal war es Lauber, der ihm mit erhobener Stimme ins Wort fiel. „Hier gibt es weit und breit keine Wölfe, schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wenigstens nicht auf unserer Seite.“
„Ach so? Jedenfalls – das Schloß war ja lange Zeit unbewohnt, und ehe ich zurückkam, wurde es von den Schmugglern als Warenlager benutzt: Zigaretten, Würste, Ersatzteile für Autos und was weiß ich noch. Eines Tages, das muß jetzt wenigstens schon ein halbes Jahr her sein, ertappte ich Karoly, wie er vorn im Südflügel durch eine Fensterluke in den Keller schlüpfte. Was zu trinken, die Herren?“
„Gerne – nein“, korrigierte sich Lauber, da Zirfas finster den Kopf schüttelte.
„Und wie jetzt weiter?“ Der Polizist fing an, ihm auf die Nerven zu gehen.
„Wie weiter?“ echote Zirfas. „Das hängt ganz davon ab, was Sie uns noch alles erzählen. Auf jeden Fall haben Sie sich strafbar gemacht: Begünstigung. Sie hätten Ihre Beobachtung melden müssen.“
„Ich hätte die Beobachtung nicht einmal machen dürfen“, korrigierte Timo. „Dank unserem gemeinsamen Freund Knut Lauber hatte ich beim damaligen Stand meines Prozesses Haus-, das heißt Schloßverbot.“ Als er bei dem Wort Schloß, das für ihn einen unauslöschlichen Zauberklang hatte, zur Rückfront seines Elternhauses schaute, bemerkte er beunruhigt, daß Margot von der Bank verschwunden war. Allerdings flatterte ihr Kleid im leichten Wind auf der Lehne, wie eine Fahne, die zur Anarchie rief.
„Also Begünstigung und Hausfriedensbruch, Verstoß gegen eine richterliche Verfügung“, zählte Zirfas auf, während er neuerlich in seinen Fotografien blätterte. „Hätten Sie den Jungen angezeigt, wäre er eingesperrt oder abgeschoben worden. Jedenfalls wäre er heute noch am Leben. Und so sah Zigorsky nachher aus.“
Während er auf die scharf ausgeleuchtete Aufnahme blickte, die Zirfas ihm unter die Nase hielt, spürte Timo, wie Übelkeit in ihm aufstieg.
„Folter, Tätowierung mit Dolchen, Drogenmanipulation, Säure“, sagte Zirfas. „Er wurde verschleppt, vor genau drei Wochen, direktemang vom väterlichen Acker in Babimost. Irgendwohin, an einen geheimen Ort oben in den Bergen oder vielleicht – –“
„Vielleicht hier? Im Schloß? Wollten Sie das sagen?“ Immer wieder blickte er auf die schauerliche Fotografie, und seine Stimme hörte sich belegt an.
„Werden wir sehen“, sagte Zirfas, Jagdgier im Blick, „wir krempeln das ganze Schloß um, noch heute, und wenn wir – –“
„Aber das geht nicht, Hans!“ rief Lauber flehentlich. „Alle Zugänge zum Schloß wurden ja gestern versiegelt, vom Gerichtsvollzieher – tut mir leid, fällt mir erst jetzt wieder ein.“
Zirfas warf ihm einen Blick zu, der noch vor wenigen Jahren unbefristete Lagerhaft bedeutet hätte.
„Das stimmt, was er sagt“, bestätigte Timo, „das Gericht teilt die Befürchtung des Bürgermeisters, daß ich mir widerrechtlich unsere Familienbibliothek aneignen und mit fünftausenddreihundert Bänden im Handgepäck über Nacht verschwinden könnte.“
Unterhalb der Bank, an deren Lehne Margots Kleid flatterte, bemerkte er jetzt ein langes Frauenbein, das sich mit lasziv wirkender Trägheit zwischen Gräsern und Wildblumen anwinkelte und streckte.
„Also gut“, sagte Zirfas, „wenden wir uns Ihrem geheimnisvollen Gast zu, der sich seit zwanzig Minuten dort drinnen versteckt hält.“ Er drängte sich zwischen Lauber und Timo Prohn hindurch und trat ohne weitere Umschweife in die Orangerie.
Auf dem Hügel unterhalb von Schloß Stiegliz, versteckt hinter einer Rotbuche, die sich in Kniehöhe wie eine riesige Hand in fünf Stämme zergliederte, belauerte Margot seit den Morgenstunden die Orangerie.
Sie hatte ihren Auftrag. Am späten Abend war sie losgefahren in ihrem Alfa Spider, Frankfurt/Main – Frankfurt (Oder) fast nonstop, und seitdem spürte sie diesen Kitzel, der sie vorwärtspeitschte, dieses Kribbeln in ihrem Körper, den Stachel, nach dem sie süchtig war: Abenteuer, Verhängnis, unkontrollierbare Gefahr.
Im Morgengrauen, nahe dem Falkenberg bei Fürstenwalde, war sie in das Unwetter geraten: der Himmel ein Netz aus Blitzen, dazu Donnerstöße wie Faustschläge, wie Stiefelschritte aufständischer Gladiatoren, während Sturzfluten sich auf die Straßen, in die Wälder, über ihrem nachtschwarzen Spider ergossen. Kurzer Stop am Fuß des Falkenbergs, einem Sandhügel von allenfalls sechzig Metern Höhe, der aus der brettflachen Landschaft aufragte wie ein wirklicher Berg. Die Mondsichel, durch die weichen Kuhbäuche der Wolken schneidend. Und im akustischen Wirrwarr des Gewitters immer wieder etwas wie Schreie, verzweifelte Rufe, dann zwei- oder dreimal ein langgezogenes, jäh abbrechendes Jaulen, ein gierig die Oktaven emorjagender Heulton: Wölfe ...
Einen Moment lang war sie versucht, einfach auszusteigen, hinauszulaufen in die Zaubernacht, in das elektrische Chaos, in dem sich zertrümmernde, übernatürliche Mächte bekämpften, entluden, dann trügerisch versöhnten. Aber sie war weitergefahren, sehr langsam, mit schaufelnden Scheibenwischern, mit klopfendem Herzen, gezogen von den Lichtseilen ihrer Scheinwerfer, durch glitzernde Wasserrinnen; links und rechts der wind- und regengepeitschte Wald. Dann wieder märkische Dörflein und Städtchen, schwarze Hausruinen, nirgendwo Licht in den Fenstern, alles wie ausgestorben, wie fluchtartig verlassen unter dem Eindruck einer übermächtigen Gefahr. Die tiefhängenden, mit triefenden Fingern nach ihr greifenden Äste der Alleebäume, die mit kratzendem Geräusch über das Dach ihres Spider streiften, und immer wieder die löchrigen Dorfsträßchen im Schein peitschenförmiger Straßenlaternen, die sich aus einer anderen, schwarzen, boshaften Epoche in die Gegenwart zu biegen schienen.
Gegen sechs Uhr früh, in einem Waldweg neben dem Ostflügel von Schloß Stiegliz, hatte sie ihren Wagen, der vor Hitze knackte, hinter Wildrosengestrüpp versteckt. Der Wald dampfte, und auf diesem Dampf ein Schillern von rötlich aufsteigender Sonne, ein Funkeln wie von bunt gefärbten Splittern; das Laub der Büsche und Bäume umwirkt mit Spinnengefädel, darauf die Tropfen wie Perlen aufgereiht. Die Schreie der Morgenvögel. Das Seitentürchen in der bröckelnden Mauer zum Wirtschaftshof war versiegelt. Ohne nachzudenken, brach Margot das amtliche Siegel auf und schlüpfte in den mit Gestrüpp und Gerümpel zugewucherten Hof.
Erinnerungen an jene Winternacht vor sechs, sieben Monaten, als sie mit den Männern des Neuen Bundes auf Schloß Stiegliz war. Sie schauderte, das war die morgendliche Kühle; zwischen verrotteten Erntewagen, zerbrochenen Traktorachsen, Dreschflegeln, die aus Dornenranken ragten, huschte sie südwärts, wo der Wirtschaftshof in den Park von Schloß Stiegliz überging. Hinter sich spürte sie die ungeheure Steinmasse des verlassenen Schlosses, wie eine Riesenfaust, die sie vorwärts stieß, in die Tiefe, hügelab in den Park, der sie mit der anschmiegenden Nässe kniehoher Gräser empfing. Sie schlüpfte aus ihren Sandalen. Ihre Schritte rauschten in der Wiese, ihr Kleid sog sich mit Tautropfen voll und wurde schwer und klebrig, eine zweite, schwarze, durchscheinende Haut.
Die Stille dieses Parks. Seine Verwunschenheit. Die hohen, gewellten, bunt getupften Wiesen, naß und grün und tief wie ein zweites Meer. Darin die Bäume, uralte, schrundige, zum Himmel ausgreifende Buchen, überwiegend Blutbuchen, vereinzelt oder wie verschwörerisch in kleinen Gruppen, und schwarzrot ihr tropfendes, dampfendes Laub. Sie glaubte zu singen, ihre Gedanken zu hören, Gedanken wie Melodien, aber das waren die Vögel, die in den Bäumen, im Gestrüpp erwachten zu einem tausendstimmigen, sinnverwirrenden Gesang: Jubel, Klage, Chaos, Begierde ... Drunten, in der Tiefe, über der kupfergrünen Kuppel der Orangerie ging pathetisch, feuerfarben die Sonne auf.
Auf halber Höhe des Schloßhügels, kaum hundert Meter über der Orangerie, bezog Margot Posten hinter der Rotbuche, die sich in Kniehöhe zu fünf gewaltigen Stämmen gliederte, was in der Tat an eine aus der Erde gereckte Hand denken ließ. Daß Timo Prohn neuerdings mit einer Frau auf Schloß Stiegliz lebte, war im ersten Moment eine Enttäuschung, dann spürte sie den Zorn, den Haß auf diese Frau. Es war noch nicht einmal halb sieben, doch die Orangerie machte den Eindruck, als hätten ihre Bewohner während der Nacht kaum geschlafen. Hinter der Glaswand ging die Frau hin und her, in verbissen wirkender Geschäftigkeit, während Timo (nur mit schwarzen Boxershorts bekleidet) hinter ihr herlief mit beschwörenden Gebärden, zu denen die Frau immer wieder nur den Kopf schüttelte: stumm, entschlossen, aber entschlossen wozu?
Margot witterte zur Orangerie hin. Sie begann zu begreifen, was dort unten vorging und wer diese Frau hinter der Glaswand war. Schmale Gestalt, sehr viel schmaler als sie selbst, geradezu schlankheitsbesessen, und das fahlblonde, glatte Haar kurzgeschnitten: sportlich, streng. Auf Fotografien hatte sie diese Frau schon gesehen: Lisa, mit Timo Prohn verheiratet seit zehn Jahren. Fotos, die zu ihrer Mission gehörten, die man ihr gezeigt hatte, damit sie informiert war soweit wie nötig, damit sie Freunde von Feinden unterschied.
Er ist isoliert, hatte es geheißen, von Gegnern umgeben, in seinem Kampf ganz allein. Aber das stimmte nicht, diese Information war veraltet, oder doch nicht? Plötzlich verstand sie: Lisa packte ihre Sachen.
Die Sonne, kaum aufgegangen, erzeugte bereits eine stechende Hitze. Die Wiesen dampften; es war schwül wie in einem Treibhaus, in dem die beiden da unten tatsächlich lebten. Und Margot beobachtete: wie Lisa vor dem breiten, selbst aus dieser Entfernung zerwühlt wirkenden Bett niederkniete und mehrere Koffer hervorzog. Wie Timo gestenreich auf sie einredete, dann zu seinem Schreibtisch an der linken Schmalwand trottete, wo er sich in einen Stapel großformatiger Schriftstücke vertiefte: vielleicht Akten aus seinem Prozeß um Schloß Stiegliz, vielleicht Skizzen zu seinem Buch über Stiegliz, an dem er (falls zumindest diese Informationen stimmten) seit einigen Wochen schrieb.
Ein gutaussehender Mann, dachte Margot hinter der Rotbuche, schlank, hochgewachsen, dem man seine dreiundfünfzig Jahre keineswegs ansah, als ob er über das Geheimnis ewiger Jugend verfügte. Sein glattes Gesicht, das beinahe weich wirkte, der offene, obwohl verträumte Blick seiner braunen Augen unter dem (wahrscheinlich gefärbten) gleichfalls braunen Haar. Die Stärke seines Körpers, der ihr einmal nahe, ganz nah gewesen war (doch dann war Timo geflohen, oben aus dem Schloß, in jener Winternacht). Und seine Besessenheit, die er zu verbergen verstand und die sie dennoch spürte, eine Art liebenswürdiger, dabei zu allem entschlossener Verrücktheit, die Margot roch, die sie vom ersten Moment an gewittert hatte wie einen besonderen Körperduft.
Sie beobachtete und wartete. Immer wieder trat Timo vor die gläserne Wand und starrte zum Schloß hoch, als ob er sich von der ruinenhaften, steinernen Masse Inspiration oder Kraft erhoffte oder als fürchtete er, das Schloß könne jählings verschwinden wie ein Trug. Mehrfach lief er sogar drinnen auf der von Kletterpflanzen umschlungenen Wendeltreppe bis unter die Kuppel und trat oben auf den winzigen Söller, wo er in andächtige Betrachtung des noch im Schatten liegenden Schlosses und des sonnenüberfluteten Parks versank.
Gegen halb zehn erst beschloß sie, Timo zu sich heraufzulocken, auf den Schloßhügel, in die wuchernde Wiese, hinter den Buchen-Fünfling, während Lisa unten im Glashaus ruhig weiter ihre Kleider und Wäsche falten und verstauen mochte. Provozierend nahm sie auf der morschen Holzbank neben der Rotbuche Platz; ihr Herz klopfte. Sie wußte, daß Timo sie früher oder später bemerken würde, und dann – –
Dann fuhr völlig unerwartet dieser Polizeiwagen vor. Margots Herz begann zu rasen. Ihre Kehle fühlte sich plötzlich trocken und rauh an, und sie begriff, daß sie jetzt nicht mehr imstande war, das Spiel zu stoppen. Während Timo sich unten auf dem Vulkansteinplatz mit dem feisten Bürgermeister Lauber und mit einem in grauem Zivil auftretenden Polizisten unterhielt, ließ sich Margot in die dampfend warme Wiese unterhalb der morschen Bank gleiten, wo sie ihr Kleid auszog. Nackt bis auf einen sehr knapp geschnittenen schwarzen Slip, räkelte sie sich im feuchten, vor Insekten summenden Gras, und ihr Kleid flatterte über ihr an der Lehne der Bank wie eine Fahne. Und dann allerdings fuhr sie hoch, als sie unten die Schläge mehrerer Autotüren hörte:
Lisa startete, mit Prohns sandfarbenem Peugeot fuhr sie ohne weiteres davon. Kurz darauf traten Timo, der dicke Lauber und der hagere Polizeioffizier aus der Orangerie. Der uniformierte Polizist, der die ganze Zeit über statuengleich gewartet hatte, rollte in seinem Lada bis vor die Orangerie, wo er wendete und die drei Männer einsteigen ließ. Dann fuhr auch der Polizeiwagen davon, über den knirschenden Kiesweg zum Parktor, das ebenso offen blieb wie die Tür zur Orangerie.
Margot streifte ihr Kleid, ihre Sandalen über und rannte über den Hügel nach unten, auf den Vulkansteinplatz: Niemand mehr da. Sie schaute nach links und rechts; dann huschte sie ins Glashaus.
Die Landstraße von Lebus über Stiegliz nach Frankfurt (Oder) schmiegte sich den Windungen des Grenzstroms an, allerdings in einer Distanz von einigen hundert Metern, so daß von der Straße her die Oder nur hier und dort zwischen den Bäumen in der Ferne schimmerte. Dieser östlichste Streifen Brandenburgs war noch immer eine einsame, scheinbar von aller Welt vergessene Gegend, ein spärlich besiedelter Landstrich aus Staub und Heidekraut und Sand, in dem nur Birken und Lärchen wurzeln konnten, eine am Rand lichte und flimmernde, in der Tiefe dickichthaft sich verfinsternde, mit Gestrüpp und Geschling und tückischen Sandmulden drohende Waldeinsamkeit. Allerlei Gelichter trieb hier sein Wesen: Schmuggler und Schlepper von jenseits der Oder, dann allerdings auch manövrierfreudige Freunde altdeutschen Brauchtums, und die Jäger und Förster berichteten voller Sorge, daß sich in den brandenburgischen Lärchen- und Birkenwäldern selbst der vor Jahrzehnten ausgerottete Grauwolf und der Mähnenwolf wieder anzusiedeln begannen.
Auf der schmalen Asphaltschneise in diesen Wäldern raste der Polizei-Lada mit asthmatischem Röhren auf das Grenzstädtchen Frankfurt zu. Obwohl die Straße erst im Vorjahr überteert worden war, begann sich das alte Katzenkopfpflaster bereits wieder hervorzuwölben, und die Achsfedern des russischen Wagens rüttelten ächzend über den ackerartigen Belag.
Mittagszeit nahte. Die vier Insassen schwiegen, mit rotbehaarten Händen umklammerte Worzak das Lenkrad, als ob er es zerquetschen wollte. Hin und wieder donnerten überalterte Lastzüge bulgarischer oder polnischer Herkunft an ihnen vorbei, Sandwolken aufwirbelnd, die der Luft einen bernsteinfarbenen Schimmer verliehen. Scheinbar interessiert beobachtete Kriminalkommissar Zirfas, der wieder neben Worzak Platz genommen hatte, wie sie beiderseits der Straße Scharen von Vögeln aus den Bäumen aufscheuchten und vor sich hertrieben. Im Fond neben dem Bürgermeister, der wieder und wieder sein Taschentuch aus der Jacke nestelte und sich über Hals und Glatze fuhr, saß Timo Prohn in düsteren Gedanken, die abwechselnd um Lisa und Karoly kreisten und sich zwischendrin zum Überfluß auch noch zu Margot Wegener verirrten.
Karoly, der angeblich auf gräßliche Weise ermordet worden war – ein Irrtum, ein Mißverständnis vielleicht. Aber er fühlte, es war kein Irrtum, es war genau das eingetreten, was er seit Monaten befürchtet, wovor er (in Träumen, in Gedanken) Karoly immer wieder gewarnt hatte. Abermals sah er die Fotografie vor sich, die Zirfas ihm gezeigt hatte, und wieder wurde ihm übel. Gewaltsam wandte er seine Gedanken von Karoly ab.
Vor einer halben Stunde gen Westen abgereist – Lisa, in ihrem sandfarbenen Peugeot, den sie wenige Wochen nach ihrer Hochzeit zusammen gekauft hatten. „Was habe ich mit diesem Polenjungen zu tun?“ Wie sie Zirfas ins Gesicht gelacht hatte, mit einer Kälte, einer Bitterkeit, die in Wahrheit ihm galt, ihrem Mann Timo, der „um eines verrückten, kindischen Traums willen“ ihre Existenz ruiniert, ihre Ehe zerstört hatte. „Das sind seine Freunde!“ Anklagend hatte sie auf Timo gedeutet, dann hatte sie ihre Koffer geschnappt, in den Peugeot geworfen und war abgereist. Ohne ein weiteres Wort, ohne Kuß, ohne Abschied, einfach so. Nicht daran denken. Sie wird zurückkommen, bald schon; aber er ahnte, daß er all das hier würde aufgeben müssen – das Schloß, seinen Traum –, um Lisa zu versöhnen. Und daß er niemals die Kraft aufbringen würde, sich noch einmal von Stiegliz loszureißen: Selbst wenn er seinen Prozeß verlor, selbst wenn alle Welt sich gegen ihn verschwor, er würde Mittel und Ausflüchte, er würde seinerseits Verbündete finden, um notfalls gewaltsam – – Ruhig, ermahnte er sich, alles wird gut.
Und Margot? Seine Gedanken fanden an diesem wunderschönen Junitag einfach keinen Ruhepunkt. Die geheimnisvolle, erschreckende, gefährlich bezaubernde Margot, die unversehens im Park von Schloß Stiegliz aufgetaucht war, wie eine Erscheinung, die glücklicherweise nur er bemerkt hatte. Oder? Jetzt nicht daran denken, auch hieran nicht, ermahnte er sich – und schon gar nicht an jene Winternacht, als sie – –
Mit einer scharfen Drehung wandte er seinen Kopf nach rechts, wo die Bäume in rasendem Taumel vorübertanzten, und spürte ein Stechen zwischen seinen Schultern, das sich wie ein Pfeil durch sein Genick bis in den Schädel bohrte. Der ständige Streit mit Lisa, sein Prozeß wegen des Schlosses mit Lauber, mit der Gemeinde Stiegliz, mit wankelmütigen, überforderten Richtern und undurchsichtigen Sachverständigen, die wie Fadenpuppen auf der Bühne des Gerichtes auf- und wieder untertauchten, und das seit nunmehr eineinhalb Jahren ... Neben sich hörte er Lauber schnaufen wie einen Dämon. Und eben fuhren sie mit unverminderter Geschwindigkeit über die nördliche Grenze des Oderstädtchens, dessen Bürger seit Monaten ihre Häuser und Wohnungen nach Einbruch der Dunkelheit tunlichst nicht mehr verließen.
Durch den schwergewichtigen Lauber ohnehin beengt, rollte Timo vorsichtig mit den Schultern, um seine Muskeln zu lockern. Seit Wochen wachte er in beinahe jeder Nacht gegen drei, vier Uhr morgens auf, mit einem Schrei, beklommen, unter schweißfeuchten Laken, bedrückt von Bildern, die sich, wenn er sie festzuhalten suchte, wie Nebelfetzen auflösten: Grauen, das zu seinen Erinnerungen zu gehören schien, allerdings so wie ein furchterregender Burgwächter, der Tor und Brücke bewacht. Seine Nerven waren ramponiert, seine Muskeln vollkommen verspannt, und immer häufiger erlebte er diese quälenden Momente, in denen ihn ein unkontrollierbares Zittern überlief – wie bei einem Weinkrampf, der allerdings regelmäßig ausblieb, obwohl ihn in solchen Augenblicken eine tiefe Traurigkeit befiel.
Er durfte sich nicht einen einzigen Fehler erlauben. Vorläufig war er auf Schloß Stiegliz lediglich geduldet, und der Bürgermeister – aber keineswegs nur Lauber allein – lauerte auf den Moment, da er in eine der zahlreichen Fallen, die sie für ihn aufgestellt hatten, tappen würde. In den zurückliegenden Monaten hatte er ein Gespür entwickelt für das Gewirr widerstreitender und größtenteils wohlmaskierter Interessen, das wie ein Netz über Schloß Stiegliz gesponnen war. Paktierst du mit diesen, machst du dir jene zum Feind. Stimmst du hier einem verlockenden Kompromiß zu, verlierst du dort unversehens an Boden, stürzt in eine dieser tückischen Sandmulden und versinkst bis zum Hals.
Bis zum Hals, echote es in ihm, während sie im Schrittempo bereits die Kreuzung vor der Oderbrücke überquerten, die wie immer wegen des turbulenten Grenzverkehrs vollkommen verstopft war. Dutzende überladener Polski-Fiats summten wie flügellahme Insekten aus dem überdachten Brückenschacht hervor, während Timo plötzlich dachte:
Aber das ist es nicht, der endlose Prozeß nicht, auch nicht der sinnlose, immer in die gleichen Wunden sich einbohrende Streit mit Lisa – das alles ist es nicht, was meine Nerven kaputt macht, was mich aus dem Schlaf auffahren läßt, schreiend, was mir die Ruhe raubt, den Frieden, was an meiner Euphorie frißt, mit der ich nach vierzigjährigem Alptraum hierher zurückgekehrt war. Aber was dann? Für einen Moment sah er abermals Margot vor sich, die Zauberin, mein Verhängnis, ahnte er: wie sie durch die hüfthoch mit Gräsern, Wildblumen überwucherte Wiese von Park Stiegliz auf ihn zukam, in ihrem schwarzen, knöchellangen Kleid, mit ihrem wallenden, immer ein wenig an Trance erinnernden Gang, mit ihrem Lächeln, ihrer kupfern funkelnden Mähne, ihren hypnotisch braunen Augen – als käme sie aus einer Welt, dachte er plötzlich, in der scheinbar alles wie in der vertrauten Welt war, und doch ganz anders, auf unergründliche Weise verwandelt: aus der Nachtseite dieser Wirklichkeit ...
Aber Schluß jetzt mit diesen Gedanken!, befahl sich Timo, während Worzak scharf abbremste und über die Schwelle des Rolltors auf den Hof vor dem Leichenschauhaus von Frankfurt (Oder) fuhr.
Auf einer Holzbank im Flur saß weinend ein polnisches Bauernpaar: ländliche Gesichter, Mitte Fünfzig, gekrümmt, greisenhaft, mit eisfarbenem Haar.
„Die Eltern des kleinen Polen“, sagte Zirfas über die Schulter zu Lauber und Timo, die hinter ihm durch den Gang hasteten. „Sie weigern sich, die Leiche zu identifizieren.“
Der Flur mündete auf eine milchgläserne Tür mit der Aufschrift Rechtsmedizin. Dahinter ein weiter, grau gekachelter Raum, und in einer Ecke, vor dem verhängten Fenster: die Metallbahre, hochbeinig, auf Gummirädern; in der Luft ein Geruch von Asepsis, Vergeblichkeit.
Mit einem Ruck zerrte Zirfas das Leintuch von der Bahre: „Und? Ist er’s?“
Sofort wandte Lauber sich ab.
„Nein – vielleicht“, murmelte Timo, „ich ... glaube schon.“ Wieder klang seine Stimme belegt. Aber da half kein Räuspern, da blieben keine Zweifel, keine Ungewißheit, über die sich hinwegräuspern ließe: Es war Karoly. Er hatte kein Gesicht, keine Lider, keine Zunge mehr, doch Timo erkannte den Jungen an der Narbe.
Auch er wandte sich jetzt ab und rannte nach draußen, durch die Milchglastür, vor der Karolys Eltern saßen, noch immer weinend, und im Vorbeilaufen nickte er ihnen hölzern zu. Auf dem Vorplatz vor dem Leichenhaus blieb er stehen und wartete: nicht auf Zirfas, er wartete auf Lauber.
„Was ich Ihnen jetzt sage, werde ich niemals vor diesem Zirfas oder vor irgendeinem Polizisten wiederholen.“ Er zog den Bürgermeister mit sich über die belebte Hauptstraße, zur Kneipe gegenüber, die – wie auch anders – Letzte Hoffnung hieß. „Ich weiß genau, daß Zirfas das ausschlachten, verdrehen, mir letzten Endes anhängen würde, und wie Sie begreifen werden, Herr Bürgermeister, kann eine solche Entwicklung nicht in meinem Interesse sein.“
Die Kneipe war nahezu leer. Sie bestellten Radebeuler, setzten sich an einen Ecktisch, und während sich Lauber mit seinem Tuch über Gesicht und Glatze wischte, fuhr Timo leise fort:
„Was wissen Sie von den Dingen, die oben auf Schloß Stiegliz geschehen? Von geheimen – oder gar nicht so sehr geheimen – Zusammenkünften, die begonnen haben, lange bevor ich hierher zurückgekehrt bin? Sie zucken die Schultern? Sie sind ein Philosoph, Herr Bürgermeister, denn zweifellos ist Ihnen bewußt, daß Ahnungslosigkeit in bestimmten Fällen dem Wissen vorzuziehen ist. Prost! Aber ich wollte Ihnen von Karoly erzählen, dem armen Kerl dort drüben in seiner Eisschublade, dessen Gesicht nur noch ein blutiger Brei ist.“
Und er erzählte es ihm, und obwohl er ja sah, wie Lauber sich wand, wie er seinem Blick auswich und am liebsten die Flucht ergriffen hätte, zwang er den Bürgermeister, sich alles anzuhören – oder doch einen Teil dieser Geschichte, der Geschichte von Karoly, der eines Abends im Dezember 1991 zu ihm gekommen war.
„Blutend“, sagte Timo, „er humpelte, sein Gesicht war geschwollen, und er behauptete, er sei im Dunkeln auf dem Waldhang gestürzt. Dabei war es eindeutig, daß er verprügelt worden war, und nicht nur verprügelt: eine klaffende Wunde an seiner linken Hüfte, vorn; seine Hose zerfetzt und darunter der glatte Spalt, aus dem Blut quoll: wie von einem Axthieb oder von einem Dolch, aber eine Wunde, die man sich nicht bei einem Kampf zuzieht.“
Sie hatten ihn festgehalten, zu zweit, und der dritte hatte von der Seite her mit einer Klappaxt zugeschlagen. Kastriert die Polacken, eine Parole, die man schon seit längerem an den Hauswänden von Lebus, von Frankfurt, sogar von Dorf Stiegliz las. Karoly wand und sträubte sich unter dem Griff seiner Peiniger, und als ihn der hastig geführte Hieb traf, riß er sich los und stürzte davon, den Waldhang hinab, rutschend, taumelnd, sich überschlagend, durch die Trümmer der Ostmauer von Schloß Stiegliz in den Park, dann immer stärker humpelnd bis zur Orangerie, wo er Timos Namen rief, zweimal, mit unkenntlich verzerrter Stimme, ehe er auf dem Vulkansteinplatz zusammenbrach.
„Trinken Sie noch ein Bier, Herr Lauber?“ Er bestellte, ohne eine Antwort abzuwarten, zwei weitere Radebeuler, während eine Gruppe schwarz gekleideter Leichenträger in die Kneipe trat. „Zumindest“, sagte er zu Lauber, „hat Karoly, als ich ihm einige Wochen später diese Version der Geschichte erzählte, nicht widersprochen, mich nur aus großen Augen angesehen: ein gescheiter Junge, und daß ich kein Wort Polnisch spreche, hat uns nie gestört. Wenn ich langsam, in einfachen Sätzen, mit ihm sprach, verstand er jedes Wort.“
Er hatte Karoly damals – stümperhaft, mit den einfachsten Mitteln – verarztet. Die Wunde gereinigt, einen Preßverband angelegt. Und ihn drei Wochen lang in der Orangerie versteckt, hinter einem Vorhang, bei schärfster Kälte, da es ihm für den Jungen im Schloß zu unsicher geworden war.
Wieder prostete er dem Bürgermeister zu, der jetzt bedrückt und regelrecht alarmiert wirkte.
„Warum ... ich meine, weshalb wollen Sie das alles nicht auch Zirfas erzählen?“
„Ich weiß noch nicht genau, wessen Spiel Sie spielen, Herr Lauber, ob Sie beispielsweise das Schloß wirklich nur deshalb versiegeln ließen, damit ich nicht mit der Bibliothek durchbrennen kann. Aber zumindest glaube ich zu wissen, daß Ihr Freund Hans Zirfas, ehemals – –“
„Ich muß jetzt wirklich gehen!“ warf Lauber hastig ein. Er stemmte sich hoch. „Ich habe nichts gehört, gar nichts, kein Wörtchen, und es wäre besser ...“
Der Rest war nicht mehr zu verstehen, da Lauber, während Timo sein Radebeuler leerte, fluchtartig die Letzte Hoffnung verließ.
Gleich rechts im Eingang der Orangerie, auf einer zersprungenen Marmorscheibe, die ihrerseits auf rostigen Metallfüßen ruhte, hatte Timo zwei überdimensionale, gegen fünf Jahrzehnte alte Einmachgläser aufgestellt. Ein sonderbarer Altar, dachte Margot, die durch die Orangerie lief und immer wieder wie magnetisiert zu den bauchigen Gläsern zurückkam. An Urnen fühlte sie sich erinnert, wobei allerdings das transparente Material seltsam indiskret wirkte, schamlos beinahe, wie diese Gefäße, krötenartig auf dem Marmor hockend, ihren Inhalt zur Schau stellten: ockerbraunen, mit Klumpen durchsetzten märkischen Sand.
In diesen Gläsern hatte Timo vor mehr als fünfundvierzig Jahren Laub- und Ochsenfrösche gehalten, in großer Zahl und zum Schrecken seiner Mutter, die über die eigentümliche Fähigkeit verfügte, sich in nahezu jeder Lage und selbst vor den friedvollsten Erscheinungen maßlos zu fürchten. Alle Lieder seiner Kindheit, die die Mutter ihm und seinem Bruder Kai vorgesummt, vorgeträllert und -gesungen hatte, waren Melodien der Angst, Gesänge des Grauens, Partituren der Panik gewesen; aber davon und vom Geheimnis dieser Gläser wußte Margot nichts. Sie wandte sich ab vom Altar der bauchigen Urnen; mit ihrem trancehaften Gang schritt sie zur linken Schmalwand und fing an, Timos Schreibtisch zu erforschen.
Im ramponierten Wechselrahmen eine Collage, halb Fotografie, halb Kohlezeichnung: Timo und Lisa als ernst blickendes Paar vor der Orangerie von Schloß Stiegliz; darunter drei rätselhafte Zeilen in runder, zweifellos weiblicher Schrift (Lisa?):
„Wie zauberisch diese Glaswand spiegelt:
Wer hindurch späht, sieht nach draußen
und mehr noch in sich selbst hinein.“
Margot las die Zeilen mehrmals, dann drehte sie das Bild mit den ernsten Gesichtern zur Glaswand. In einem Schubfach fand sie einen Karton, in diesem ein dickes Bündel großenteils zerknickter und vergilbter Fotografien. Die Sonne flutete durch die Wände, sie flimmerte im Laub der riesenhaften Kletterpflanzen, die sich längs der Eisentreppe in die Kuppel rankten, und Margot setzte sich auf den Drehstuhl vor Timos Schreibtisch und wühlte in den alten Fotografien.
Irgendwo in der Orangerie jetzt, vielleicht hinter dem kreisrunden, turmförmigen Vorhang vor der Stirnwand, der Dreiton eines Telefons, den Margot ignorierte. Sie blätterte in den Fotografien, die Schloß Stiegliz zeigten, wie es vor zweiundfünfzig, vor achtundvierzig Jahren war: ein herrschaftliches Anwesen, die Fassade strahlend, der Park ein Muster geschorenster, peinlichster gärtnerischer Ordnung, doch schon damals wirkte das Schloß abweisend wie ein Wächter, der ein düsteres Geheimnis hütet. Das Telefon verstummte.
Sie wußte längst, daß Timo ein sogenannter Designfotograf war, der im anderen, im westlichen Frankfurt sein Geld mit kostbaren Kamerainszenierungen verdient hatte, die allerdings überwiegend Werbezwecken dienten. Aber diese gilbfleckigen Bilder hatte ein anderer aufgenommen: Immer wieder zeigten sie auch Timo als Jungen, stets in der damals noch prachtvollen Kulisse von Schloß und Park Stiegliz vor beinahe fünfzig Jahren. Träumerisch fragend im Alter von vier oder fünf, düster blickend mit sieben, hochaufgeschossen, doch nahezu steinern schauend mit zwölf oder dreizehn Jahren. Und auf allen diesen Bildern, an seiner Seite, nicht nur die furchtsam in die Kamera blickende hellhaarige Frau, sondern ein weiterer Junge, fast im gleichen Alter wie Timo, aber ohne familiäre Ähnlichkeit: weizenblond und störrisch gelockt neben dem dunklen, brav gescheitelten Schopf von Timo, eine kraftvolle Gestalt schon als Kind, neben der Timo geradezu schmächtig wirkte. Und dazu der Blick des Blondgelockten: hypnotisch, ein Blick, der sich in das Gegenüber förmlich einwühlte und doch zugleich kalt und abweisend schien. Obwohl die braun-gelblichen Bilder die wirklichen Farben verfälschten, war Margot sicher, daß der Augenton dieses Jungen (ein Mann längst, etwa im Alter von Timo) ein intensives Meergrün war.
Der Grünäugige, Blondgelockte, von dessen Blick sie nicht loskam: Timos verschollener Bruder, wer denn sonst? Doch aus irgendeinem Grund waren sie um keinen Preis bereit, ihre Warnung ernst zu nehmen, wenigstens anzuhören: daß dieser Bruder (der Grünäugige, Hypnotische) womöglich noch am Leben war. Plötzlich spürte Margot einen beißenden Zweifel. Sie warf die Fotografien in den Karton, knallte ihn auf die mit Papieren überhäufte Schreibtischplatte und sprang auf.
Bildest du dir wirklich ein, zischte in ihr eine boshafte Stimme, daß sie dich für ihre Sache brauchen: ausgerechnet dich? Ihre Augen verdunkelten sich, ihr Blick wurde fahrig: als ob in dieser Orangerie ein Beweis versteckt wäre, etwas, das ihre Mission über jeden Zweifel belegte. An der überwucherten Wendeltreppe, an dem furchigen, uralten Ledersofa vorbei lief sie durch den von der Sonne erleuchteten Raum, auf das vollkommen zerwühlte Bett zu, während die Stimme weiter zischelte: Kann schon sein, Hexe, daß du ihnen nützlich bist. Aber glaubst du im Ernst, daß sie nicht auch ohne dich ihr Ziel erreichen?
Margot stöhnte jetzt unter der Wirkung ihrer inneren Stimme. Neben dem Bett bemerkte sie einen Schwenkspiegel, der in einem Rädergestell aufgehängt war und mit weißem Tuch verhüllt. Sie zerrte das Tuch weg und trat so nah vor den Spiegel, daß er unter ihrem Atem, der Wärme ihres Körpers beschlug. Dabei streifte sie ihr Kleid ab; minutenlang starrte sie in das Glas. Mit den gespreizten Fingern beider Hände fuhr sie rückwärts durch ihre Mähne, so blieb sie stehen, skulpturhaft, mit emporgereckten Armen, und ohne ihre Lippen zu bewegen, antwortete sie der Stimme in ihrem Innern: Ohne mich kommen sie nie zum Ziel.
Während abermals der Dreiton des Telefons durch die Orangerie schallte, bückte sich Margot und zog unter dem weißen Tuch ein helles, glockig geschnittenes Kleidchen hervor. „Das hast du vergessen, Lisalein.“ Sie streifte das Kleid über, das für ihren üppigeren Körper viel zu eng war, auch entschieden zu kurz: ein prall sitzendes, gerade durch seinen biederen Schnitt obszön wirkendes Hurenkostüm.
Margot feixte in den Spiegel, dann lief sie um die Wendeltreppe herum zur Stirnwand der Orangerie, streifte den grauen Vorhang beiseite und fand in einem Chaos aus Büchern, Wäsche, Konservendosen das noch immer quäkende Telefon – einer jener drahtlosen Apparate, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, die auf Knopfdruck Tastatur und Mikrofon freigeben. „Ja?“ sagte sie atemlos.
„Mein Name ist Robert Trowal“, erwiderte eine Stimme, die seltsam gepreßt klang, „ich möchte Herrn Prohn sprechen.“
„Herr Prohn ist im Moment nicht da, ich erwarte ihn in ... etwa einer Stunde – –“
„Ich rufe wieder an“, sagte der Mann hastig und legte im gleichen Moment auf.
Als gehörte genau das zu ihrer „Mission“, kehrte sie ohne weiteres Nachdenken zu Timo Prohns Schreibtisch zurück, wo sie neuerlich den rissigen Karton öffnete. Stapelweise zog sie Fotografien hervor, und in Lisas Kleid trat sie vor die linke Schmalwand der Orangerie und fing an, die Glaswände mit den Bildern zu schmücken, die Schloß Stiegliz, Timo und den Grünäugigen vor vierzig, vor drei-, vor siebenundvierzig Jahren zeigten. Behutsam schob sie die Fotografien in die Fugen zwischen rostigen Metallrahmen und blindfleckigem Glas, und sie brauchte Stunden, bis sie alle Bilder aus dem Karton an den Glaswänden befestigt hatte. Draußen dämmerte bereits der Abend.
Zwischendurch nochmals das Telefon: wiederum die gepreßt klingende Stimme, die sich Trowal nannte. „Herr Prohn jetzt zu sprechen?“ Er war offenbar sehr nervös.
„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, wann er – –“
Wieder hängte er unvermittelt ein.
Sie kehrte zum Schreibtisch zurück, zog einen weiteren Karton hervor, und auch dieser Karton enthielt Stapel großformatiger Fotografien, die sie in die Furchen aus bröckelndem Fensterkitt klemmte: Bilder von Karoly, in Schwarzweiß und in Farbe, immer wieder Karoly, sein Lächeln, sein dunkler Blick unter gesträubtem schwarzem Haar. Sie arbeitete methodisch, in Lisas Kleidchen, das ihr viel zu eng war, reckte sie sich immer höher vor den gläsernen Wänden empor, und nachdem sie das letzte Karoly-Bild neben dem größten Foto des Grünäugigen befestigt hatte, warf sie sich auf die schwarze Ledercouch, legte ihren Kopf mit dem flutenden Kupferhaar auf die Seitenlehne und betrachtete nur noch diese beiden Bilder: den Blondgelockten, Hypnotischen, Grünäugigen, daneben den Schwarzhaarigen, Lachenden mit den slawisch breiten Wangenknochen, beide vielleicht im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren, beide in Park Stiegliz, der hier ein Muster ausgesuchtester gärtnerischer Ordnung, dort eine hüfthoch wuchernde Wildnis war.
Abends, als er nach Hause, zu seinem Kindheitspark zurückfuhr, war Timo in bedrückter Stimmung. Schon im Taxi hatte er, zum Erstaunen des Chauffeurs, der abschätzig in den Rückspiegel blickte, zum ersten Mal seit vielen Jahren geweint. Tatsächlich überlegte er, auf der Landstraße von Frankfurt nach Stiegliz, ob er seine Sachen packen und all das hier aufgeben sollte – den Prozeß, das ruinenhafte Schloß, die Erinnerungsgespinste; diesen ganzen Naturzauber, dachte er, seinen Vergangenheitswahn. Einfach alles zerreißen, aufbrechen, über alle sieben Berge fliehen.
In Höhe der Ostmauer von Park Stiegliz bat er den Fahrer, auf offener Straße zu halten. Er zahlte und stieg aus. Ohne sich um den Chauffeur zu kümmern, der ihn als Geisteskranken ansehen mochte, sprang er über die neu installierte Leitplanke und drang in das schmale Waldstück ein, das an dieser Stelle die Straße von der Parkmauer trennte. Er zwängte sich durch eine Bresche in der Mauer und trat in den abenddämmrigen Park.
Sofort befielen ihn düstere Gedanken. Inständig hoffte er, daß zumindest Margot nicht auf ihn gewartet hatte – auch ohne die Zauberin war seine Lage verworren genug. Was wollte sie von ihm? Er kannte sie ja kaum, sie hatten sich ein einziges Mal getroffen: oben im Schloß, vor einem halben Jahr und unter sonderbaren Umständen, die sicher keine Gedanken an romantische Wiederbegegnung begünstigten.
Er marschierte nahezu zehn Minuten, immer dicht an der Ostmauer entlang, die im Lauf der Jahrzehnte weitgehend zerbröckelt war. Direkt dahinter begann der Grenzwald, ein sich stetig verbreiternder Keil zwischen dem Sträßchen und der ehemals wehrhaften Mauer, eine gemiedene Wildnis aus Birken und Lärchen, dazwischen Gesteinsbrocken, Sandmulden, vermodernde Baumriesen, nahezu undurchdringliches Unterholz. Keine Wege, keine Pfade: Finsternis. Region der Wölfe, der Schmuggler, der unerschrockenen Grenzgänger wie Karoly.
Auf halbem Weg zur Orangerie setzte er sich auf eine Bank, die morsch war wie alle Bänke in Park Stiegliz, beugte sich nach vorn, Ellbogen auf den Knien, und bettete sein Gesicht in die Schale seiner Hände. Vom Wald her die Schreie der geflügelten Nachtjäger und im Unterholz ein Knistern und Knacken wie von Schritten. Plötzlich empfand er ein heftiges Unbehagen bei der Vorstellung, in die Orangerie zurückzukehren.
Er dachte an Lisa, die um diese Stunde in ihrem Reihenhaus Frankfurt West eintreffen mochte, müde, erbittert und trotz allem mit sich selbst zufrieden. Und abermals dachte er, voller Trauer und Reue, an Karoly, der damals, im Winter zur Jahreswende ‘91/’92, mehrere Wochen lang bei ihm gewohnt hatte.
Aber wieso „bei ihm“? Von Anfang an war er sich ja bewußt gewesen, daß Karoly das Schloß, die ungeheuren Vorratskeller, auch die Orangerie als Stützpunkt und Lager, als Versteck und Unterschlupf für sich entdeckt hatte, lange bevor er selbst nach Stiegliz zurückgekehrt war. Wie er sich auch umgekehrt, als er im Jahr 1990 alle Westbrücken, überhaupt alle Gegenwartsbrücken hinter sich abbrach, immer wieder vor Augen führte, daß er sein Kindheitsschloß keineswegs so vorfinden würde, wie er es vor vierzig Jahren verlassen hatte. Scheinbar verteidigte er sich gegen einen unsichtbaren Angreifer, indem er in Gedanken hinzufügte: Schließlich bin ich kein Phantast, vielleicht ein Träumer, ein verbohrter, sentimentaler Träumer, das schon – aber trotz allem hatte er sich stets einen scharfen Sinn für die Gesetze wie auch für die Grenzen der Realität bewahrt.
Auch wenn Schloß Stiegliz offiziell als leerstehend, verlassen, ungenutzt galt, als Ruine, war er gleichwohl schon bei seiner Rückkehr überzeugt gewesen, daß er dann eben inoffizielle, aber doch gewohnheitsmäßige und sehr wahrscheinlich sogar langjährige Schloßbewohner vorfinden würde: Menschen ohne Obdach vielleicht oder Menschen mit verschwiegenen Interessen, wobei er schon damals natürlich an Schmuggler, auch an Flüchtlingsschlepper dachte und anderes mehr. Jedenfalls war ihm bewußt, daß er das Schloß, immerhin ein Anwesen mit mehr als fünfzig Zimmern, Kammern, Sälen, erst Zug um Zug würde zurückerobern, sich wieder zueignen, aufs neue würde hineinschlüpfen müssen, was sich keineswegs per Gewaltstreich erledigen ließ, einzig mit List und Phantasie, mit Geduld, auch mit Nachsicht, und das hieß: Er war von Anfang an darauf gefaßt, seine Kindheitswelt – zumindest übergangsweise – mit gewissen inoffiziellen Bewohnern zu teilen.
Beispielsweise mit Karoly, dachte er auf der morschen Bank, wo er schon vor fünfzig Jahren gesessen hatte, auf dem Schoß seiner Mutter Gesine, die ihm ängstliche Melodien ins Ohr summte. Oder eben mit Margot, wenn auch nur für eine Nacht, die sie keineswegs zu zweit verbrachten, vielmehr mochten es vierzig, wenn nicht sechzig junge Burschen gewesen sein, dazwischen auch einige ältere Prügel, die damals, im Dezember 1991, für einen Tag, für eine Nacht sein Schloß bevölkerten: Geländespiele.
Er begann zu frösteln. Doch bei dem Gedanken an die verwaiste Orangerie empfand er noch immer ein Unbehagen, das er sich nicht erklären konnte, und so blieb er sitzen, in Gedanken, Erinnerungen, und starrte in den dämmernden Abend.
Dezember 1991: Diese geisterhaften Lichter in allen Fenstern, sogar oben in den Turm- und Mansardenluken, als er abends, nach einem langen Gerichtstag, aus Frankfurt zurückkam – in beschwingter Stimmung, denn damals sah alles nach einem raschen und günstigen Ende aus. Der verschneite Schloßhof voller Off-road-Jeeps, und in der Halle, am Kaminfeuer, diese besoffenen Burschen: Schnürstiefel, Lederkluft; in der Luft ein Gemisch aus Schweiß, Bier, Kameraderie und Feindseligkeit. Er hatte sich vorgestellt, arglos: der Schloßherr, darauf minutenlang Schweigen. Bis er den Bogen schlug und die ganze Horde einlud, als seine Gäste, zu Weißem und Rotem, soviel man begehrte. Tatsächlich hatte der geheime Weinkeller seiner Eltern, der in den Gewölben durch eine unkenntliche Falltür zugänglich war, die Jahrzehnte unbekümmerten Plünderns überstanden. Vier Fäßlein à fünfzehn Liter kostete ihn der Burgfriede in jener Nacht.
Am nächsten Tag war der Spuk verschwunden, was Timo erst gegen Mittag bemerkte, da er in jener Nacht – bei bitterer Kälte – erstmals in der Orangerie genächtigt hatte. Am Abend aber kam Karoly wieder, verletzt, er humpelte, und bei seinem Anblick durchfuhr es Timo: Was für ein Glück, daß er nicht gestern kam ...
Und während er jetzt auf der Bank saß, am Rand der Wiese, durch die er so manches Mal mit Karoly gelaufen war: wie körperlicher Schmerz neuerlich dieser Gedanke, daß er niemals mehr kommt, nie mehr, denn er war es – er, Karoly, sein Körper –, den Zirfas ihm heute mittag im Leichenhaus von Frankfurt gezeigt hatte.
Timo stand auf. In der Ferne, weit jenseits der zerfallenen Ostmauer, glaubte er das sehr leise Heulen eines Wolfes zu hören, diesen eigentümlichen, die Oktaven emporjagenden Jaulton, ein unterwürfiges Winseln, ein gieriges, zerquetschtes Schreien, das auf dem höchsten Ton abbrach und an diesem Abend keine Antwort fand.
Mit raschen Schritten ging er auf die Orangerie zu. Schon von weitem bemerkte er, daß sein Glashaus von Dutzenden durch die Wände funkelnder Kerzen erleuchtet war. Lisa, durchfuhr es ihn, sie ist zurückgekommen, sie läßt mich nicht allein. Dabei mochte sie ihre Rückkehr schon wieder bereut haben, sagte er sich mit schuldbewußtem Lächeln, da in der Orangerie – und womöglich auch unten im ganzen Dorf Stiegliz – anscheinend wieder einmal der Strom ausgefallen war.
Als er die Tür zum Glashaus aufzog, fuhr mit ihm ein Luftzug hinein, der die Kerzen flackern ließ und zur Hälfte löschte. „Lisa? Liebes? Wieder mal Stromausfall.“
Keine Antwort. Zögernd trat er ein.
Im Halbdunkel, das mit dem Geruch von Qualm und heißem Wachs erfüllt war, erkannte er nur schemenhaft die vertrauten Umrisse – die Couch vor der Silhouette der überwucherten Wendeltreppe, rechts das flache Rechteck seines Bettes –, während linkerhand eine rätselhafte, hier und dort von helleren Quadraten durchbrochene Finsternis herrschte, als ob die Glaswand dort verhängt worden sei.
Von der Wendeltreppe her bewegte sich langsam eine Gestalt auf ihn zu, in hellem Kleid, das er natürlich kannte, und über dem Kleid, seltsam ruckend, wie von ihrem Körper losgelöst, schwebte die bleiche Scheibe des vertrauten Gesichts von Lisa.
„Da bist du ja. Ich bin so froh. Laß uns alles vergessen, was wir uns gestern an den Kopf geworfen haben.“
Warum antwortete sie nicht? Warum blieb sie drei Schritte vor ihm stehen? Zaghaft trat er vor, streckte den Arm aus. Er wollte sie berühren, ihre Schulter, doch mit einer schwebenden Bewegung wich sie seitlich vor ihm aus.
„Du willst mir Angst einjagen, zur Strafe!“ Sein Lachen klang heiser. Immer noch schwieg Lisa, irgend etwas stimmte nicht mit ihr, aber was? „Laß gut sein“, sagte er, mit leiser Stimme, die sich der Szenerie unwillkürlich anglich. „Komm her zu mir“, flüsterte er, aber sie wich gegen das Bett zurück, und jetzt glaubte er zu verstehen: Versöhnung durch Liebe, durch Küsse, Zärtlichkeit.
Fatal, daß just in diesem Moment das Telefon seinen aufdringlichen Dreiton quäkte, keineswegs zum ersten Mal an diesem Freitag, aber das wußte Timo nicht. Unschlüssig blieb er stehen. Im Halbdunkel vor ihm, noch immer sonderbar schwebend, Lisas Gesicht über dem hellen Kleidchen, und verworren dachte er: Sie ist viel größer als ... und ihr Parfüm ... Dann zuckte er die Schultern, murmelte: „Entschuldige, nur eine Sekunde.“ Rasch lief er um die Wendeltreppe herum, zu seiner Rumpelecke hinter dem Vorhang.
„Schloß Stiegliz.“
„Herr Prohn? Timo Prohn?“ Eine männliche Stimme, die gepreßt und außerordentlich nervös klang. „Mein Name ist Robert Trowal. Gott sei Dank, daß ich Sie endlich erreiche.“
„Worum geht es denn?“ fragte Timo, während er hinter dem turmförmigen Vorhang hervortrat, abermals auf der Suche nach Lisa.
„Ich muß Sie treffen, es ist dringend. Ich habe da etwas sehr Wichtiges für Sie, an dem – sagen wir – auch Dritte brennend interessiert sind.“
Etwas Wichtiges? Womöglich eine Information, ein Dokument, mit deren Hilfe er den Prozeß endgültig zu seinen Gunsten wenden konnte? Aber Vorsicht, dachte er, es wäre nicht das erste Mal, daß sie versuchten, mir eine Falle zu stellen. „Können Sie – sind Sie autorisiert, mir zu sagen, wessen Interessen Sie vertreten?“
„Das spielt hier absolut keine Rolle“, antwortete Trowal. „Ich habe Ihnen folgendes anzubieten. Zufällig bin ich im Besitz eines Kunstwerks, einer Skulptur, die nach meinen Informationen aus dem Familienbesitz von Schloß Stiegliz – Ihren Vorfahren – stammt. Wenn Sie interessiert sind, diese unersetzliche Skulptur zu einem vernünftigen Preis zu erwerben ...“
Ich habe nicht die geringste Ahnung, dachte Timo, wovon dieser Mann redet. Plötzlich glaubte er einen Luftzug zu spüren, von der Tür her, und im Halbdunkel sah er einen Schatten, eine lautlose Gestalt, die durch die leise erklirrende Tür nach draußen schwebte. „Warten Sie einen Moment, bitte“, sagte er ins Telefon, und dann lauter: „Lisa!“
An der Wendeltreppe vorbei tastete er sich in den vorderen Teil der Orangerie: nichts, keine Spur von ihr.
„Die Sache duldet keinen Aufschub“, sagte Trowal in drängendem Tonfall. „Soweit ich weiß, stellt die Skulptur das Hauptmotiv des alten, seit ... seit einiger Zeit nicht mehr verwendeten Schloßwappens dar. Wer im Besitz dieser Statue ist, gilt seit altersher als Herr über Schloß Stiegliz. Hören Sie?“
„Lisa? – Ja, ich höre“, sagte Timo, der in diesem Moment die Orangerietür erreicht hatte. Er drehte den altertümlichen Lichtschalter, worauf im ganzen Glashaus Licht aufflammte. „Lisa!“ Verblüfft trat er nach draußen, auf den Vulkansteinplatz, in die warme, nahezu mondlose Frühsommernacht. „Diese Skulptur“, sagte er, „was stellt sie dar?“
„Es ist ein in realistischem Stil modellierter junger Mann, muskulös wie eine dieser antiken Skulpturen“, sagte Trowal, „und das Ganze ist aus leuchtendem Bernstein geschlagen, und ein Wolf mit gefletschten Zähnen verbeißt sich von hinten in das Genick dieses – –“
„Ein Wolf?“ wiederholte er; „sind Sie sicher, daß es ein Wolf sein soll?“ Vor ihm, auf dem im Sternenlicht glitzernden Magmaplatz, entdeckte er einen hellen, rechteckigen Fleck, und als er sich bückte, war es eine Fotografie, farbig, die Lisas Gesicht, ernst blickend, bleich und in Lebensgröße, zeigte.
„Hundertprozentig sicher“, sagte Trowal, „und der Jüngling, also, dieser ... dieser junge Mann reißt die Arme hoch, die er hinter seinem Kopf um den Nacken des Wolfes schlingt – zweifellos, um die Bestie abzuschütteln oder ihr den Atem abzuschnüren, während der Wolf ...“
Plötzlich verstummte Trowal, und Timo, der in den Lichtschein der Orangerietür zurückgekehrt war, blickte nichts begreifend auf die Fotografie. Zugleich stellte er sich vor, wie Trowal die Skulptur in der Hand drehte, um weitere Einzelheiten zu entdecken, und in seiner Verwirrung begann er auch seinerseits, die Fotografie in seiner Hand zu drehen.
„Mit den Vorderpfoten“, sagte Trowal, „krallt sich der Wolf in den Rücken des Jünglings. Die Hinterpfoten schweben noch in der Luft, und den Kopf hat er nach links hin verdreht, um besser zubeißen zu können, und seine glühenden Augen blicken über die linke Schulter dieses Mannes hinweg den Betrachter an.“
Auf der Rückseite des Lisa-Bildes entdeckte er jetzt einen kantigen Schriftzug: Ich bin hinter Lisas Maske: Such mich! „Noch niemals in meinem Leben“, sagte er aufgebracht, „habe ich etwas gesehen, das dieser Skulptur auch nur von ferne ähnlich sieht.“ Abermals wendete er das Blatt und blickte auf die Fotografie, die er selbst aufgenommen hatte, er erinnerte sich genau – in seinem Atelier in Frankfurt West, vor zwei oder zweieinhalb Jahren. „Können Sie beweisen“, sagte er, „ich meine, woher soll ich wissen, daß diese Skulptur tatsächlich aus dem Besitz meiner Familie stammt?“
„Absolut kein Problem. Ich verfüge über die entsprechenden Dokumente.“ Trowals Stimme, noch immer gepreßt und überaus nervös, klang jetzt gleichwohl erleichtert. „Ich halte mich gegenwärtig in Ratzeburg auf“, sagte er, „und aus gewissen Gründen bin ich genötigt ... Also kurz und gut, wenn Sie an der Skulptur interessiert sind, müßten Sie nach Ratzeburg kommen – morgen abend, zwanzig Uhr, der allerspäteste Termin.“
„Okay“, erwiderte Timo, „und wo?“ Dann verschlug es ihm die Sprache:
Er stand in der Tür zur erleuchteten Orangerie, und er sah: Alle Wände waren mit Bildern bedeckt – Bildern, die Schloß Stiegliz, Park Stiegliz vor fünfundvierzig, vor fünfzig Jahren zeigten, dazwischen ihn selbst und Kai, seinen Bruder: Kai und er als Kinder, und ihre Mutter, die ängstlich lächelnd, den Blick niedergeschlagen, ihre Hände auf die Schultern ihrer Söhne legte, und dann die neueren Bilder, schwarzweiß und großformatig: Karoly lächelnd, Karoly im Schloßhof, Karoly, Karoly – –
„Rufen Sie später noch mal an“, sagte Timo, „ich kann jetzt nicht.“ Er klappte das Telefon zu, und erst jetzt bemerkte er:
Auf der rissigen Ledercouch lag, wie hastig hingeworfen, in die Polster gebauscht, Lisas helles Kleidchen, und als er hinging, das Kleid in die Hand nahm, war in dem Stoff ein dunkler Duft – nicht der vertraute Geruch von Lisa; es wirkte verwandelt, theatralisch, kostümhaft, und kein Zweifel: Das helle, brave, glockige Kleidchen war noch erfüllt von der Wärme eines Körpers, von dem es Sekunden vorher abgestreift worden war.
Sie beobachtete ihn mit angehaltenem Atem. Er wirkte aufgestört, aufs äußerte verwirrt – kein Wunder –, während sie selbst wieder ganz kühle Spionin war. Sie hatte eine Mission zu erfüllen.
Durch das Gewirr der Kletterpflanzen hindurch, die sich über ihr, die Stangen der Wendeltreppe umschlingend, bis hinauf in die Kuppel schwangen, beobachtete sie, wie Timo Prohn das fatale Kleidchen zurück auf die Ledercouch legte. Er wandte sich nach links und starrte gegen die improvisierte Bilderwand, wozu er mehrfach den Kopf schüttelte. Er versuchte zu begreifen: Lisa –? Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, das spürte sie, aber er schien zu ahnen, daß nicht Lisa diesen Spuk inszeniert hatte. Und dann der Telefonanruf? Von einem Wolf war dringlich, mehrfach die Rede gewesen: Wer war dieser Mann? Was hatte er von Timo gewollt?
Versunken blickte er auf das doppelte Bildnis, das den Park von Schloß Stiegliz zeigte, wie er vor fünfzig Jahren, wie er vor vierzehn Tagen war: hier ein Muster geschorenster gärtnerischer Ordnung, beherrscht vom hypnotischen Blick des blondlockigen, grünäugigen Bruders, dort eine überwucherte Wildnis, aus der tierhaft, wenngleich vertrauensvoll lächelnd jener slawische Junge aufzutauchen schien.
Mit der rechten Hand stützte er sich leicht auf die Platte seines mit Papieren, mit Büchern, Akten überhäuften Schreibtischs. Dabei wandte er Margot sein Halbprofil zu, und durch das dunkelgrüne Pflanzengeschlinge hindurch glaubte sie zu sehen, wie seine Lippen einen dreisilbigen Namen formten, dann eine einzige Silbe, hell, weit, so daß sein Mund sich öffnete wie zu einem lautlosen Schrei. Als er sich abwandte, bemerkte sie ein Schimmern in seinen Augen.
Sie räusperte sich. Da schreckte er hoch, wie aus traurigen Gedanken:
„Lisa?“ Mit einer Stimme voller Hoffnungslosigkeit.
„Verzeihung“, wisperte Margot. Langsam trat sie hinter dem Gewirr aus Kletterpflanzen und Wendeltreppengestänge hervor. „Ich habe hier auf Sie gewartet, das heißt, draußen im Park ... Ich würde gern einen Moment mit Ihnen sprechen.“
Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Sein Blick glitt über ihr Haar, das knöchellange schwarze Kleid hinab, das in wallende Bewegung geriet, als sie lächelnd auf ihn zuging, die Arme angewinkelt, die Finger zu einer entschuldigenden Geste gespreizt.
„Waren Sie das – mit den Bildern?“ Noch immer wirkte er fassungslos. „Wie kommen Sie dazu, hier herumzuschnüffeln!“
Mit einem Lächeln ging sie über alles hinweg. Die Orangerie war ein erleuchteter gläserner Würfel, der in unirdischer Schwärze zu schweben schien. Für einen Moment hatte sie ein Gefühl von Schwerelosigkeit, von Verlorenheit: als wären sie für immer in diesem Gehäuse eingeschlossen, das mit Bildern, mit Geflüster angefüllt war, ihrer einzigen Wirklichkeit.
„Erinnern Sie sich nicht?“ fragte sie sanft. „Im vergangenen Winter, oben im Schloß?“ Sie deutete nach draußen, in die Schwärze, von wo sie jetzt sehr leise, sehr fern, gedämpfte Stimmen zu hören glaubte. „Jene Nacht letzten Winter, als Sie oben in die Halle kamen, und draußen war alles verschneit?“
„Keine sehr angenehme Erinnerung“, sagte er. „Verschwinden Sie jetzt, ich will ...“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Lassen Sie mich allein.“
„Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen, Timo.“ Dicht stand sie vor ihm, und sie wiegte sich hin und her wie in Trance. Weiß schwebte vor ihm das Oval ihrer Gesichtes, darin die dunklen, ansaugenden Augen, umströmt von ihrem Duft, ihrem Kupferhaar.
Er wich einen Schritt zurück, noch immer mit verschränkten Armen, und er spürte, dies alles wurde zuviel für ihn: Lisa, Karoly, der Prozeß, und jetzt auch noch die Polizisten und diese Margot, die ihn vollends zu verwirren drohte. „Ich glaube kaum, daß Sie mir helfen können. Wobei auch. Gehen Sie jetzt!“
„Ich habe zufällig von gewissen Verhandlungen gehört, von Absprachen, die offenbar schon sehr weit gediehen sind, von Verträgen über das künftige Schicksal dieses Schlosses.“
„Ich glaube Ihnen kein Wort.“ Dabei starrte er in ihre dunkelbraunen, überweit geöffneten Augen, und er fragte sich, ob Margot unter Drogen stand. Er atmete den Duft ihres Körpers, ihres Parfüms ein, und er war sicher, daß es der gleiche Geruch war, den vorhin Lisas Kleid verströmt hatte. Ich bin hinter Lisas Maske, fiel ihm ein, such mich! Und dann: Sie ist eine Spionin, irgendwer hat sie vorgeschickt, um mich zu umgarnen.
„Bemerken Sie denn nicht, was hier gespielt wird?“ rief sie mit einer Heftigkeit aus, die ihn erschreckte. „Sie sind viel zu gutgläubig, Timo! Während man Sie mit diesem schmierenhaften Prozeß in Atem hält, werden hinter den Kulissen Abmachungen getroffen, von denen Sie offenbar keine Ahnung haben! Ich glaube, Sie sind wahrhaftig der einzige, der noch nichts davon gehört hat: Schloß Stiegliz soll in den Besitz einer Stiftung übergehen, die ...“
Abrupt verstummte Margot. Draußen im Park abermals diese Stimmen, unterdrückt und zischelnd, die jetzt auch Timo hörte. Gehetzt blickte er sich um, dann wandte er sich wieder zu Margot um, wobei er ausrief:
„Was wissen Sie von diesen Machenschaften? Was spielen Sie für eine Rolle in diesem Spiel?“
„Scht, leise“, machte Margot. „Bitte glauben Sie mir: Ich will Ihnen helfen. Dabei weiß ich auch nicht viel mehr als Sie – zufällige Dinge, die ich aufgeschnappt habe: Man will im Schloß eine Art Kunstakademie einrichten für Bildhauer, Musiker, Maler ...“
„Aber das Schloß gehört mir!“
„Bringen Sie diese Leute dazu, sich mit Ihnen zu einigen“, flüsterte Margot. Hinter Timos Rücken glaubte sie Schatten zu bemerken, geduckte Silhouetten, die draußen die Orangerie umschlichen, dazu das sehr leise Knirschen von Schritten auf Kies. „Sie selbst sind doch auch ein Künstler, und momentan herrscht eine Pattsituation. Schlagen Sie den Leuten vor, daß Sie diese Kunstakademie leiten werden, als Präsident, als Direktor – das wäre ja eine verdienstvolle Aufgabe: gut für die Künste, gut für Sie selbst und für diese elende Region.“
Noch während sie sprach, schlüpfte sie an ihm vorbei, zur Tür, wo sie einen Augenblick lauschte, dann nach draußen huschte, in den von zischelnden Stimmen, von schleichenden Schritten erfüllten Park.
In dieser Nacht fand Timo lange Zeit keinen Schlaf. Er ging in der Orangerie auf und ab, wieder und wieder griff er zum Telefon und wählte die vertraute Nummer. Er stellte sich vor, wie es in ihrem nachtstillen Reihenhäuschen in Frankfurt West schellte, minutenlang, aber Lisa war nicht zu Hause.
Vielleicht zu einer Freundin gefahren, versuchte er sich zu beruhigen, oder sie ließ das Telefon absichtlich klingeln, da sie nicht mit ihm sprechen wollte.
Er löschte das Licht, trat vor die Glaswand und lauschte in den Park. Draußen noch immer die wispernden Stimmen, dazu Schritte, mal im Kies knirschend, mal rauschend im nachtfeuchten Gras. Karolys Kumpane? Oder der hagere Kriminalkommissar Zirfas, der bei Nacht und Nebel das versiegelte Schloß aufbrechen, Halle und Gewölbe, Säle und Gemächer durchsuchen ließ?
Es war ihm egal. Hauptsache, sie ließen ihn – wenigstens für diese Nacht – in Ruhe. Er zog sich aus und legte sich auf das Bett, das für ihn allein viel zu breit war. Noch immer herrschte im Glashaus drückende Schwüle.
In den Stunden zwischen Mitternacht und Morgen wälzte er sich in beklemmenden Träumen, eher Wachträumen als Phantasien des Schlafs: Margot, ihr wallender Gang, ihr tranceartiges Lächeln, und dazu ihre geflüsterten Andeutungen: „Machenschaften ... Absprachen ... Kunstakademie ...“ Noch immer glaubte er ihr kein Wort. Wieder und wieder schweiften seine Gedanken zu Karoly, seinem gräßlich verstümmelten Leichnam (nicht daran denken!), dann zu Lisa, ihrer Fotografie draußen auf dem Magmaplatz, und auf der Rückseite der herausfordernde Spruch: Hinter der Maske: Such mich! – – Kai, der Grünäugige, sein verschollener Bruder – – Karolys Lächeln, vertrauensvoll, arglos – – Karoly, den er gerettet hatte, gepflegt, geheilt, damals ... In der Ferne jetzt, sehr leise, ein gieriges, winselndes Jaulen: Wölfe? – Irgendwann schlief er ein.
Aber sein Schlaf blieb unruhig, es war kein Einsinken in die Tiefen des Vergessens; er kratzte und pochte nur an den Toren vor den Gewölben des Schlafs. Und er fühlte sich noch überreizter, erschöpft wie nach schwerer Arbeit, als er um fünf Uhr dreißig wieder aufstand und sich an seinen Schreibtisch setzte.
Benommen ordnete er seine Papiere, die Margot durcheinandergeworfen hatte. Er pflückte alle Fotografien wieder von den Wänden, minutenlang versenkte er sich in den Anblick des doppelten Bildes – Kai, Karoly –, dann verstaute er auch diese Bilder in den rissigen Kartons. Er fing an, sich Notizen zu machen für sein Stiegliz-Buch, an dem er seit einigen Wochen arbeitete.
Doch kaum eine halbe Stunde später wurde er schon wieder gestört. Es war wenig nach Sonnenaufgang, als der Kriminalbeamte Zirfas und sein rübezahlbärtiger Gehilfe Worzak am Morgen des 20. Juni 1992 abermals vor der Orangerie vorfuhren.
„Sie haben da gestern gegenüber Lauber so merkwürdige Andeutungen gemacht“, sagte Zirfas, in die Ledercouch gefläzt, während Worzak in der Orangerie auf und ab ging und sich wechselweise in den Anblick von Pflanzenkübeln und Bücherrücken vertiefte. „Ich kann Ihnen nicht empfehlen, Ihre abstrusen Ideen – vor welchem Forum auch immer – zu wiederholen. In Ihrem eigenen Interesse natürlich! Wer wie Sie von mysteriösen, in den Wäldern lauernden Mörderbanden faselt, der nötigt uns geradezu den Verdacht auf, daß er selbst ... Womöglich haben Sie ja den kleinen Karoly umgebracht? Und ihn anschließend – allerdings etwas voreilig – in Ihrem eigenen Waldstück verscharrt?“
„Und mein Motiv?“ Um nicht wie ein offiziell Verhörter vor diesem Polizeioffizier zu stehen, hatte Timo wieder auf seinem Schreibtischstuhl Platz genommen, den er nur halbwegs in Zirfas’ Richtung schwenkte – bereit, jederzeit zu seiner Arbeit zurückzukehren.
„Schmuggel“, sagte Zirfas, „vielleicht auch Menschenschlepperei, das würde sich dann schon finden. Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen und diesem Zigorsky, und nachdem er drohte, Sie auffliegen zu lassen – –“
„Apropos Drohung – alles, was Sie sagen, kommt hier rein.“ Timo klopfte auf den schmalen Papierstapel, der neben ihm auf dem Schreibtisch lag.
„Was heißt das – was kommt wo rein?“
„Daß Sie mich frühmorgens mit Ihrem Unsinn unter Druck zu setzen versuchen. Hier“ – wieder klopfte er – „in mein Buch über meine Rückkehr nach Stiegliz.“
„Blödsinn! Nehmen Sie sich in acht! Ich könnte Ihnen eine Menge Leute nennen, die bei dem Namen Zirfas anfangen zu zittern!“
Timo beobachtete ihn lächelnd, wobei er mit dem Schlangenlederschuh auf seinem linken Knie wippte. Diesmal hatte er den arroganten Polizisten aus der Fassung gebracht – zum ersten Mal, dachte er, seit er das fragwürdige Vergnügen hatte, diesen Epochen überdauernden Spürhund kennenzulernen. „Und wie würden Sie – natürlich rein theoretisch – diesen ganzen Unfug beweisen?“
„Kommt schon noch. Im Handumdrehen habe ich die richterliche Verfügung, und wenn wir erst einmal anfangen, das Schloß zu durchsuchen – –“
„Ich bezweifle“, warf Timo ein, „daß Sie auf diese Durchsuchung wirklich Wert legen. Sie wissen genauso gut wie ich, daß Sie oben im Schloß Dinge finden könnten, die mit Ihrer Theorie absolut nicht zusammenpassen. Dinge, von denen zwischen Frankfurt und Lebus kein Mensch etwas wissen will.“
„Ich wiederhole, Herr Prohn: Passen Sie auf, was Sie sagen.“ Sein Gesicht wurde noch um mehrere Grade zerfurchter. „Vorläufig nehme ich noch nicht im Ernst an, daß Sie in diese Geschichte verwickelt sind. Sollten Sie aber weiterhin unverantwortliche Behauptungen verbreiten, wäre ich gezwungen, mich sehr viel gründlicher mit Ihren Motiven, überhaupt mit Ihrer Beziehung zu dem kleinen Polen zu beschäftigen. Haben Sie eine Vorstellung, welchen Verdacht ich in diesem Fall – sozusagen behelfsweise – schöpfen könnte?“
Lächelnd schaute Timo ihn an.
„Daß Sie mit Karoly eine Liebschaft hatten! Und als Ihre Frau vor drei Wochen überraschend ihren Besuch ankündigte ... Nehmen wir einmal an, Karoly hat Sie mit Ihrem kleinen Geheimnis erpreßt. Zufällig verschwand er genau einen Tag, bevor Ihre Frau in Stiegliz auftauchte.“
Sprachlos blickte Timo den Polizisten an. So weit würde Zirfas gehen?
Im Hintergrund ertönte ein schabendes Geräusch. Er wandte sich um: Worzak kauerte vor seinem Bett, unter dem er einen langen Gegenstand hervorzog, der im Morgenlicht lindgrün schimmerte.
„In ganz genau diese Folie“, sagte Zirfas, „wurde der Junge eingewickelt, ehe ...“ – kurze Pause – „... man Zigorsky in Ihrem Waldstück vergrub.“
Worzak erhob sich und versetzte der Rolle einen Tritt, worauf sich die Endlosplane ausrollte und mit rasch sich verdünnendem Wulst, dabei leise knisternd, durch die zwölf oder fünfzehn Meter lange Orangerie auf Timo zulief. Dünnes, gewöhnliches, überall erhältliches Plastik jener Art, das man in allen Parks und Gärten zur Winterzeit verwendete, um Blumenbeete gegen Frost abzuschirmen.
„Warum gehen Sie nicht dran?“ Irgendwo unter den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch quäkte das Telefon.
Timo zog den Apparat hervor und klappte ihn auf. „Schloß Stiegliz.“
„Kommen Sie heute abend nach Ratzeburg“, sagte Trowal mit gehetzter Stimme, „die Statue – Sie erinnern sich – aus dem Besitz von Schloß Stiegliz, wir treffen uns um zwanzig Uhr an der Bar, Hotel Burg am See.“
„In Ordnung“, erwiderte Timo unter Zirfas’ scharf beobachtenden Blicken, und dann zu dem wie sprungbereit dasitzenden Polizisten: „Ich habe noch zu arbeiten. Lassen Sie mich jetzt allein.“
Die gesamte mitteleuropäische Geschichte ist ein einziger inständiger Kampf gegen Wildnis und Dickicht, gegen die Düsternis der Wälder, die Rufe der Tiere, ihr undeutbares Äugen, gegen die schweigsame Schwärze der Erde, die aus dem Tiergeruch hervorströmt, die aus den Schreien, den Klagen aller verwunschenen Tiere hervordringt und unter den Wiesen hervorschimmert wie ein gigantisches Grab. Denken wir an Vergangenheit, so überläuft uns zuweilen ein Schauder, der die Härchen auf unserem Körper sträubt wie damals, uns mit Erinnerung überflutet an unsere Herkunft – an undurchdringliche, wie für immer verfinsterte Wälder, an jenes Chaos grunzender Stimmen, felliger Leiber, an Erdhöhlen und Feuergarben, an das fette Gelb des zwischen Wolken schwimmenden Mondes, an zerknackende Knochen, behaarte Hände, die aus Moos und Wurzeln nach uns greifen, an eine sonst sorgsam vergessene mythenalte Angst.
Längst haben wir die Erde, die Angst versiegelt. Die großen Städte sind unsere letztgültige Ausflucht vor allem, was vorher war: bis tief in die Erde sich einsenkende, bis zum Himmel ausgreifende Konstruktionen aus Stahl und Kunststein und Glas, Türme und Mauern als Wehrwerk gegen eine Nachtwelt, die vielleicht draußen längst nicht mehr lauert, die unbemerkt in den Zentren unserer Städte wuchert, im ewigen Schatten der Türme, in Schluchten so finster, wie keine urgeschichtliche Waldschlucht je verfinstert war. Und da ist es wieder, in unserem Innersten, wimmelnd, tierhaft, grauenvoll verwandelt: jenes Chaos grunzender Stimmen, entstellter Körper, erdhaften Sterbens; eine Wildnis so grausam, so faunisch, so mythenverhangen, wie einst die alte, die ursprüngliche Wildnis vielleicht niemals war. Oder wie Wildnis, der Wald, wie Erde, unser Leben womöglich seit jeher war.
Lisas Gedanken, immerhin passend zu ihrem Beruf: Mit Tusche und Feder, mit Bleistrich und gröberer Kohle, sehr viel seltener in Farbe illustrierte sie Märchen, Fabeln, halb vergessene Sagen aus alter Überlieferung. Es war Samstag, der 20. Juni, um die Mittagszeit, als sie ihren Peugeot durch die Frankfurter Kaiserstraße steuerte. Sie war mit Alex Gerten verabredet, ihrem und Timos gemeinsamem Freund, der in einem Bankenturm dieses tatsächlich schluchtartigen, urwaldhaften Stadtviertels arbeitete, einer jener drei oder vier Siedlungen mit der (Kriegsregionen beiseite) unangefochten höchsten Quote unnatürlicher Todesfälle Europas.
In einer stockenden Schlange überwiegend luxuriöser Limousinen zweigte sie in die Moselstraße ein, und tatsächlich hatte sie Glück, was in diesem Fall bedeutete: Schon nach kurzem Suchen fand sie einen Parkplatz. Sie schaltete den Motor ab und stieg aus.
Warm strahlte die Mittagssonne, wie ein boshaftes Zauberlicht über einem Grüppchen zerfledderter Jugend, das im Rinnstein kauernd mit Spritze und Kerze und weißem Pulver hantierte. Für diese grauen Gesichter, ihre hageren Körper war die Sonne ein feindliches Gestirn. Lisa hörte das Murmeln ihrer Stimmen, ein Raunen, monotonen Singsang, uralte Magie. Versammlung ums Feuer, ein heiliges, klägliches Flämmlein, Ritual der Hoffnung im Wirrwarr aus Angst und Frost und zerreißendem Schmerz. Das Zauberpulver. Die magische Kraft, die in deinen Körper fährt. Explosion der Hitze in deinem Herzen, Hirn, deinen Gliedern, Anschwellen der Stimmen, der Geräusche, traumhaft, und ein fieberbunter Schleier, der über allem niederschwebt, was eben noch grau war, feindlich und fahl. Ein elegant gekleideter Herr mit silbernen Schläfen näherte sich dem Grüppchen, tippte auf einen Rücken, und der beugte sich – stumpf, demütig, ekstatisch –, dann straffte er sich, tauchte hoch, und eine schmale Gestalt folgte dem Eleganten zu einer Haustür, die weit offen stand. In der Leibung ein schmieriger Vorhang, darüber der Schriftzug Pension.
Lisa hastete über die Straße. Drüben, direkt neben seiner Bankfiliale, hinter dem hohen Fenster des eleganten Restaurants, erkannte sie Alex, der einen Fensterplatz erwischt hatte: seine breiten Schultern im dunkelblauen Jackett, die blonde Wildheit seiner Haare, das strahlende Blau seiner Augen, dazu sein Grinsen, zuversichtlich, jungenhaft, das Lisa für einen Moment alles Grauen, alle Depression, auch allen Groll auf Timo vergessen ließ. Noch auf der Straße erwiderte sie seinen Blick mit befreitem Lächeln, das sich in der Scheibe spiegelte (ihre schlanke, beinahe schon zu magere Gestalt, das kurze, häubchenhaft anliegende dunkelblonde Haar), dann trat sie am Türsteher vorbei in das Banker’s Inn ein, das zu exklusiver Küche einen Panoramablick auf die elementare Marktwirtschaft der Junkies und Babystricher in Frankfurt West gewährte.
„Du siehst bezaubernd aus“, sagte Alex mit seinem unwiderstehlichen Lügenlächeln. Er war aufgesprungen, und jetzt umarmte er sie mit jener Zartheit, die sie immer wieder erstaunte und rührte. Alex war ein Hüne, neben dem jeder andere Mann – auch Timo – schmächtig wirkte.
„Schwindler“, protestierte sie, „ich sehe grau und zerknittert aus wie meine eigene Oma.“ Grau wie das staubfarbene Kostüm, ergänzte sie in Gedanken, das sie gerade heute besser nicht angezogen hätte. Aber jetzt war es zu spät, auch hierfür zu spät.
Alex rückte ihr den Stuhl zurecht, dann winkte er den Kellner herbei, mit dem er routiniert das Ritual der Wein- und Menübestellung durchspielte. Vorhin am Telefon hatte sie ihm in Stichworten von ihrem „Desaster in Stiegliz“, von „Timos Verbohrtheit“, ihrem Streit und ihrer überstürzten Abreise erzählt.
„Jetzt entspann dich erst mal.“ Zu diesem Ratschlag lächelte Alex so sorglos, daß sie wiederum für einen Moment all ihren Ärger und Kummer vergaß. „Du weißt doch, daß Timo ein Dickkopf ist, du kennst ihn ja besser als ich, aber ich wette, in drei, spätestens vier Wochen hat auch er von seinem alten Steinhaufen im märkischen Sand und von diesem ganzen Gestrüpp aus Prozeß und Intrigen genug. Ich glaube, Lisa, es war richtig, daß du Hals über Kopf weggefahren bist. Ohne dich hält er’s dort nicht mehr lange aus.“
Sie hatte da ihre Zweifel. Und während sie seinen Blick mit müder Skepsis erwiderte, spürte sie, daß sie überhaupt keine Lust mehr hatte, sich andauernd mit Timo und seinen verrückten Ideen zu beschäftigen.
Als der Kellner roten Wein servierte, Alex sein Glas hob und sie mit abwesendem Lächeln seine Geste erwiderte, da zauberte ihre Erinnerung längst vergessen geglaubte Bilder hervor: Bilder eines Wochenendes vor vierzehn Jahren, hellbunte Splitter ihrer flüchtigen Liaison mit Alex. Flüchtig von seiner Seite aus, während sie selbst heftig in ihn verliebt gewesen war, aber Alex war ein Schmetterling – damals wie heute –, ein „Frauenmann“, der es bei keiner Geliebten länger als einige Wochen oder allenfalls wenige Monate aushielt, „aus Angst“, wie er beteuerte, „die große Liebe zu versäumen“. Wenig später hatte sie Timo kennengelernt, im Grunde durch die Vermittlung von Alex, der ihr seinen Freund aus Studentenzeiten vorgestellt, sie beide regelrecht verkuppelt hatte und dann bübisch grinsend abgeschwirrt war, zu irgendeiner Cathérine oder Iris oder Monika ...
„Und du weißt doch“, sagte Alex, der offenbar auch Gedanken lesen konnte, „im Gegensatz zu mir ist Timo absolut treu.“
„Da bin ich mir nicht mehr so sicher.“ Sie versuchte die Erinnerungsbilder zu verscheuchen, die sie so sehr verwirrten, daß sie fürchtete, unter Alex’ Blick wie ein Mädchen zu erröten. „Er hat sich da auf sonderbare Sachen eingelassen – nicht mit einer Frau, aber da gab es so einen Polenjungen, mit dem er sich angefreundet hatte, und wie es aussieht, wurde dieser Junge vor kurzem ermordet.“
Alex’ Antwort war ein Schulterzucken, das amüsiert wirkte, beinahe roh. In diesem Moment beneidete ihn Lisa um seine unverwüstlich heitere Laune, um seine spöttische Distanz, die ihm half, die Dinge leicht und stets von ihrer lichten Seite zu nehmen. Unwillkürlich ahmte sie das Heben und Senken seiner breiten Schultern nach: weg mit dieser Schloßruine, die Timo seit anderthalb Jahren zwischen Frankfurt/Main und Frankfurt (Oder) pendeln ließ, in immer höherem Tempo, wie ein rasendes Perpendikel, das – wenn überhaupt – allein noch in seinem märkischen Osten hin und wieder zur Ruhe kam.
Aber bei ihr versagte die Gebärde: unmöglich einfach abzuschütteln, was sie seit Wochen und Monaten bedrückte. Er hatte sie überredet, regelrecht angebettelt: „Laß uns alle Brücken abbrechen, Lisa, in Stiegliz fangen wir ganz von vorne an.“ Und sie hatte es versucht, nun gut, nur drei Wochen auf Probe, aber diese drei Wochen – es war mehr als genug. Es ging nicht. Zumal Timo sie dort gar nicht brauchte: Er schien wie verwandelt, alles an ihm – sein Gang, seine Gestik, seine Worte. Er sprach nur noch von diesem Prozeß, von Lauber, von Karoly, diesem Polenjungen, und in jeder Nacht, die sie gemeinsam in der Orangerie verbrachten, war er gegen drei Uhr früh aus Alpträumen erwacht: zitternd, mit einem angstvollen, erschreckenden Schrei. Auch die Menschen dort waren anders: abschätzig, verschlossen, berechnend, wie ihr schien. Ganz zu schweigen von den dürftigen Verhältnissen, unter denen sie in der Orangerie gelebt hatten: ein unbeheiztes Glashaus, oft genug ohne Wasser, ohne Strom – nein, es ging nicht. Und sie wußte nun nicht, was werden sollte mit Timo, mit ihrer Zukunft, mit ihr selbst.
Jetzt spürte sie, daß Alex sie noch immer mit seinem leise amüsierten Lächeln betrachtete. Sie blickte auf, wollte sein Lächeln erwidern und schlug den Blick gleich wieder nieder, von der heiteren Gewalt, die dieser ungemein attraktive blonde Riese ausstrahlte, mädchenhaft verwirrt. Ich bin vierundvierzig Jahre alt, ermahnte sie sich, ich bin seit zehn Jahren verheiratet, und Timo und ich ... Alles in allem war ihre Ehe glücklich gewesen. Bis vor anderthalb Jahren, als Timo plötzlich mit seinem Entschluß herausgerückt war: Wiedereroberung seiner „Kindheitswelt“, aus der er vor einem halben Jahrhundert, wie er sich ausdrückte, „vertrieben worden war“. Kampf um Schloß Stiegliz, sein „Elternhaus“, Genugtuung für die damals erlittene „widerrechtliche Enteignung“.
Plötzlich hatte er angefangen, in den schwärmerischsten Farben von dieser Kindheitswelt zu phantasieren, von der er vorher kaum jemals gesprochen hatte: Kinderjahre auf einem düsteren Schloß, mit Gesinde in Küche und Park und Ställen, mit einem Bruder – Kai, dem Blonden, Grünäugigen, geheimnisvoll Verschollenen –, von dem bis dahin fast nie die Rede gewesen war. Kartons voll gilbfleckiger Bilder, und Timo hatte sie gezwungen, stundenlang diese Bilder zu betrachten, die er ausschweifend zu kommentieren liebte. Und dann Timos Eltern – die furchtsame, schwermütige Mutter Gesine, erdrückt und verdeckt von der vage angsteinflößenden, dabei nebelhaften Gestalt des Vaters, Heribert Graf Prohn zu Stiegliz, einem veritablen Adligen aus uraltem Geschlecht. Plötzlich „Vertriebene“, bettelarm, ohne Schloß, ohne Gesinde, nur mit Kindern und Habseligkeiten in der Blechbaracke eines „Auffanglagers“: Timos Eltern, die im Winter 1953, wenige Wochen nach ihrer Ankunft im Westen Deutschlands, auf einer tiefverschneiten nordhessischen Waldlichtung tot aufgefunden worden waren. Beide erfroren. Rätselhaft bis heute, ob ihr Tod auf Mord oder Resignation zurückging oder ein Unglücksfall war. Und nicht lange darauf, kurz nachdem die beiden Jungen in einem Waisenhaus notdürftig untergekommen waren, war auch Timos um ein Jahr jüngerer Bruder Kai über Nacht und für immer verschwunden, und zwar unter mysteriösen Begleitumständen, über die Timo sich ausschwieg, die ihn jedoch bis heute zu bedrücken schienen.
„Im Grunde“, sagte Lisa jetzt, mehr in Gedanken als zu Alex, „weiß ich sehr wenig von Timo, trotz all der Jahre, die wir zusammengelebt haben. Noch gestern, als ich nach Hause fuhr, dachte ich, wie sehr er sich doch verändert hat. Aber was denn, wenn dieser Timo, der da plötzlich zum Vorschein gekommen ist, der mir so fremd, so unbekannt erscheint – wenn das der wirkliche Timo wäre, der sozusagen nur jahre- und jahrzehntelang in dem anderen, dem westlichen Timo, den wir kannten, zu kennen glaubten, geschlafen und auf seine Stunde gewartet hat?“
„Du machst dir zu viele Gedanken“, gab Alex zurück. „Weißt du, was dieses Schloß und der ganze Plunder dort meiner Ansicht nach ist? Timos steingewordene Midlife-crisis! Der gute Junge ist jetzt dreiundfünfzig. Laß ihn noch ein Weilchen von seiner verlorenen Kindheit und Jugend phantasieren, dann kommt er brav zu dir zurück. Und wer weiß? Vielleicht gewinnt er ja nebenher doch noch seinen Prozeß, dann habt ihr künftig da drüben ein hübsches Wochenendhäuschen. Was macht’s da schon aus, daß es in eurer Datscha durchs Dach regnet?“ Mit übertriebenen Gesten untermalte er sein Szenario. „Dafür werdet ihr durch fürstlichen Luxus mehr als entschädigt: ein Park so groß wie Rhein-Main-Airport, ein Glashaus für ganze Elefantenherden, zwei Türme so dick wie indische Heiligtümer, außerdem vierzig Zimmer ...“
„Fünfzig!“ verbesserte Lisa kichernd, und als hätte Alex auf dieses Zeichen gewartet, begann auch er kindisch zu prusten. Er nahm ihre Hand zwischen seine blond behaarten Pranken. Sie schloß die Augen, immer noch kichernd, und in diesem Moment fühlte sie sich, während draußen eine Polizeisirene durch den Dschungel jaulte, so zauberhaft leicht wie seit Monaten nicht mehr.
Vor einer halben Stunde war er in Ratzeburg angekommen, gegen neunzehn Uhr in seinem klapprigen Lada Niva, den er sich vor einigen Monaten gekauft hatte, da die teils schlammigen, teils tückisch versandeten Sträßchen am märkischen Oderufer anders kaum zu bewältigen waren. Unter der Dusche hatte er sich Schweiß und Reisestaub abgespült. Jetzt saß er auf dem Hotelbett und wählte abermals die vertraute Nummer an, dabei nur mit einem um die Hüften geschlungenen Frotteetuch bekleidet, unter seinem Nabel die flammend rote Inschrift Romantisches Ratzeburg – Hotel Burg am See.
„Lisa?“ sagte er in den Telefonhörer. „Was für ein Glück, daß ich dich endlich erreiche. Ich hab’ mir Sorgen gemacht ...“
An ihrer Stimme, ihrer Wortkargheit spürte er, daß sie ihm immer noch grollte. Dabei war er selbst inzwischen wieder in euphorischer Stimmung: Die Dinge gerieten in Bewegung. Zirfas’ Drohungen, Margot Wegeners mysteriöse Andeutungen, schließlich dieser Trowal, der ihn wegen des Prozesses um Schloß Stiegliz zu sprechen wünschte – das alles bewies, daß das Verfahren in eine möglicherweise entscheidende Phase eingetreten war.
„Ich rufe von Ratzeburg aus an“, sagte er, „bei dir alles in Ordnung? Ich treffe mich hier gleich mit einem gewissen Robert Trowal, der mir wichtige Beweisstücke übergeben wird: Dokumente, die meinen – unseren Besitzanspruch unwiderlegbar beweisen.“
Warum antwortete sie nicht? Warum hörte er nur ihr abwartendes Atmen im Hörer? Weshalb gab sie ihm kein Zeichen, daß sie ihm vertraute, daß sie – noch immer – auf seiner Seite war?
„Glaub mir, Lisa, bitte“, sagte er, „nicht mehr lange, dann ist dieser ganze Alptraum vorbei. Die wollen doch nur, daß ich aufgebe, deshalb ziehen sie den Prozeß in die Länge, deshalb versuchen Lauber und dieser Zirfas jetzt auch noch, mich in ihre Mordgeschichte zu verwickeln.“
Er wartete. Von Lisa wieder keine Reaktion. Dann plötzlich ihre Stimme, die verzweifelt und aufgebracht klang: „Warum rufst du überhaupt an?“
Darauf wußte er nicht gleich eine Antwort. Und während er noch überlegte – verdutzt, auch ein wenig schuldbewußt –, hörte er von Lisa ein kleines, bitteres Lachen, dann hängte sie ohne ein weiteres Wort ein.
Minutenlang blieb er auf der Bettkante sitzen; endlich schüttelte er die Düsternis ab und stand auf: Jetzt keine weiteren Gedanken an Lisa, schließlich mußte er sich auf diesen Trowal konzentrieren. Er öffnete seinen Koffer und streifte den hellen Leinenanzug über. Er versorgte er sich mit Geldbörse und Schlüssel und trat auf den Gang.
Und dann aber, auf der mit grünem Spannteppich ausgelegten Treppe, diese sonderbare Begegnung, dieser flüchtige, wiederum traumähnliche Anblick. Im Grunde war es ein Nichts, ein Nervenspuk, ein vorbewußtes Zapping, wie es jedem zuweilen unterläuft.
Auf der Treppe kam ihm ein Junge entgegen. Blondgelockt, etwa vierzehn, fünfzehn Jahre alt, bekleidet mit Jeans, Turnschuhen, pinkfarbenem T-Shirt, darauf der Schriftzug Schwer...in – wie diese jungen Leute sich heutzutage eben kleiden. Eine halbwüchsige, dabei schon athletisch wirkende Gestalt, der Blick ernst, in sich gekehrt, was sich wahrscheinlich mit der glänzenden Spange in seinem Lockenschopf, mit dem seitlich an seinem Gürtel klemmenden Walkman erklärte. Er hörte irgendeine Musik, während er mit raschen Schritten nach oben lief, und da die Treppe eng war, gewunden, überdies durch Blumenkübel verschmälert, mußte Timo ausweichen.
Mit dem Rücken drückte er sich gegen die gekalkte Wand, und als sich der Junge seitlich an ihm vorbeischob, traf ihn dieser intensive Blick aus meergrünen Augen. Husch, schon war der Junge vorbei, während Timo wie unter dem Bann eines Trugbildes erstarrte.
Als er sich umwandte, war die Erscheinung verschwunden, er hörte nur noch das Tappen der Schritte weiter oben auf der Treppe, durch den Teppich gedämpft. Und Timo, der langsam weiterging, dachte benommen: Er sah haargenau so aus wie Kai vor ... fast vierzig Jahren. Die blonden Locken, seine kraftvolle, dabei schlanke Gestalt, und dann dieser Blick, dieses selten intensive Grün.
Sein um ein Jahr jüngerer Bruder Kai, der mit vierzehn Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden war. Timo hatte ihn niemals vergessen können. Dabei dachte er nur ungern, mit schmerzlichem Widerwillen an jene Zeit nach dem Tod der Eltern, als er und Kai in das Waisenhaus von Northeim einquartiert worden waren, inmitten eines zertrümmerten Landes und der noch viel grauenvolleren Trümmer ihrer eigenen zerstörten Familie, ihrer buchstäblich über Nacht in Stücke gehauenen Welt.
Für einen Moment quollen Erinnerungen in ihm hoch, doch er drückte die Bilder weg, schüttelte seine Benommenheit ab, durchquerte die pompöse Hotelhalle und trat durch die Glastür mit dem goldenen Schriftzug Bar.
Dämmriges Licht, gedämpfte Stimmen, eine klimatisiert-zeitlose Atmosphäre, die im Kontrast zur sommerlichen Seestimmung draußen besonders künstlich wirkte: als hätte er eine Bühne betreten, wo die wenigen Gäste auf ein geheimes Zeichen hin sich in den ledernen Clubsesseln vorbeugten, von ihren Drinks nippten, sich murmelnd unterhielten, während der Barmixer in vorgetäuschter Geschäftigkeit seinen Tresen polierte.
An der linken Seite, halb verdeckt durch eine hüfthohe hölzerne Trennwand, saß ein hagerer Mann mit schwarzem Bürstenhaarschnitt, der Timo mit durchdringendem Blick musterte. Die anderen Gäste, die paarweise oder in kleinen Gruppen beisammen saßen, nahmen keinerlei Notiz von ihm.
„Herr Trowal?“ Er trat neben den Tisch des Hageren, der einen dunklen, auffällig weit geschnittenen Anzug trug.
Der andere nickte. Sie mochten etwa im gleichen Alter sein, Trowal vielleicht vier, fünf Jahre älter, doch mit seinem durchbohrenden Blick, seinem zerfurchten, fahlen Gesicht machte er einen kranken, abgehetzten Eindruck. „Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Herr Prohn“, sagte er leise. „Ich bin in Eile, also keine langen Vorreden.“ Er deutete auf den Sessel neben sich und Timo nahm Platz.
Hinter dem Tresen, ihnen gegenüber, trat der Barmixer hervor. „Wo haben Sie Ihren Georg gelassen“, fragte er vertraulich, „und darf es heute wieder – –?“
„Wir haben schon ausgecheckt“, sagte Trowal, „ich bin auf dem Sprung.“ Seine gepreßt klingende Stimme hörte sich, da Timo ihm gegenüber saß, noch unheimlicher an als vorhin am Telefon, dem er den klanglichen Defekt zumindest teilweise zugeschrieben hatte.
Während Timo ein Glas Merlot bestellte, bückte sich Trowal unter den Tisch. Er wartete, bis der Kellner sich abgewandt hatte, dann zog er einen schmalen Koffer hervor, den er vor ihnen auf die Marmorplatte legte. Der Koffer war mit schwarzem, zerschlissenem Leder bespannt, der Lack auf den Schloßspangen abgesplittert, und die Spangen selbst wirkten verbogen, als wäre der Koffer gewaltsam geöffnet und später ebenso gewaltsam wieder verschlossen worden.
„Hier drinnen ist alles, was Sie brauchen – die Statue und einige Dokumente, die Herkunft und Echtheit des Exponats beweisen.“ Er verstummte und blickte sich gehetzt in der kleinen Bar um, in der weit und breit nichts Beunruhigendes zu entdecken war. „Es steht hundertprozentig fest“, sagte er, „daß diese Skulptur – ebenso das Pergament und das Quartheft – aus dem Familienbesitz der Grafen von Stiegliz stammt. Prüfen Sie die Materialien, aber wie gesagt: Sie müßten sich sehr rasch entscheiden, da einige skrupellose Interessenten ... Wieviel Zeit benötigen Sie?“
„Das läßt sich so nicht sagen“, antwortete Timo erstaunt. „Ich müßte diese Dokumente – und die Skulptur – zunächst einmal ansehen. Möglicherweise handelt es sich ja um Fälschungen, einen üblen Scherz.“ Als er den Arm hob, um den Koffer zu öffnen, packte ihn Trowal mit hartem Griff am Handgelenk, wozu er zischte:
„Doch nicht hier! Sind Sie von Sinnen, Mensch?“
Der Kellner erschien und servierte den Merlot. Trowal zog seine Hand zurück und setzte ein Lächeln auf, das maskenhaft und äußerst humorlos wirkte.
„Finden Sie nicht“, sagte Timo leise, „daß Sie übertreiben? Für solche Sachen interessiert sich normalerweise doch nur ein kleiner Kreis von Spezialisten. Was bringt Sie auf die Idee, daß man versuchen könnte, Ihnen diesen Koffer gewaltsam abzujagen?“
Noch immer durchbohrte ihn Trowal mit Blicken, und als Timo nach seinem Glas griff, bemerkte er, daß seine Hand zitterte.
„Ich räume Ihnen eine Frist von vierundzwanzig Stunden ein“, sagte Trowal. „Prüfen Sie den Inhalt dieses Koffers, ziehen Sie meinetwegen einen Experten hinzu. Aber diskret! Ich rufe Sie morgen abend wieder an.“ Er wollte schon aufspringen, doch Timo hielt ihn mit seinem Blick fest und fragte rasch:
„Und der Preis?“
„Darüber werden wir uns dann schon einig. Ich bin sicher, daß diese Skulptur für Sie – in Ihrer Situation – von unermeßlichem Wert ist.“ Er wartete, wie um sicherzugehen, daß Timo keine weiteren Einwände erheben würde, dann sagte er abschließend: „Also – zu treuen Händen, ja? Und äußerste Diskretion!“ Jetzt stand er auf und reichte Timo die Hand. „Sie hören von mir – bald schon“, sagte er, und ehe Timo auch nur eine Abschiedsfloskel murmeln konnte, hatte der andere sich abgewandt und eilte mit schlotterndem Anzug aus der Bar.
Timo blickte ihm nach, wobei er eine Hand auf das rauhe Leder legte. Was hat er damit gemeint, überlegte er: in Ihrer Situation? Woher wußte dieser Trowal, in welcher Lage, welcher Klemme er sich befand? Und schließlich: Wieso zeigte er sich so sicher, daß irgendwelche uralten Exponate, selbst wenn sie tatsächlich aus dem Besitz seiner Familie stammten – daß diese geschichtlichen Zeugnisse ihm bei seinem Prozeß von Nutzen sein würden? Immerhin handelte es sich hier um ein nach heutigem Recht ablaufendes Verfahren, dessen Richter sich durch historische Reliquien aus der Schatzkammer der alten Grafen und der noch viel älteren Ordensritter von Schloß (ehemals Burg) Stiegliz schwerlich beeindrucken lassen würden. Oder doch? Weshalb sonst strahlte Trowal eine geradezu panische Nervosität aus, und wer konnten die „skrupellosen Interessenten“ anderes sein als seine Gegenspieler vor Gericht – oder „hinter den Kulissen des Gerichtes“, wie Margot gesagt hatte –, die unter Anwendung aller erlaubten und unerlaubten Schliche mit ihm um die Herrschaft über Schloß Stiegliz kämpften?
Er leerte sein Glas in zwei, drei hastigen Zügen. Dann nahm er den Koffer, rief dem Barkeeper im Hinausgehen seine Nummer zu und eilte in sein Zimmer zurück – ohne einen Blick für die rothaarige junge Frau, die in der Hotelhalle hinter einer Spiegelsäule stand und ihn mit diskretem Interesse beobachtete.
Am Schreibtisch in seinem Hotelzimmer sitzend, der auf gebogenen Jugendstilbeinen unter dem Fenster stand, entzifferte Timo das uralte Statut, das in einer Mischung aus altertümlichem Deutsch und fehlerhaftem Latein verfaßt war. Der Koffer mit der rissigen Lederbespannung und den verbogenen Schloßspangen lag geöffnet hinter ihm auf dem Bett, neben seiner Jacke, die er abgestreift hatte.
In Memoriam
Domus Hospitalis Sanctae Mariae Theutonicorum Jerosolymitani
et Pax Thorni
Gellend
Preist Ihr itzo den Frieden
Und suhlt Euch dreist in Lug und Verrat!
Von Jagiellos Horden vertrieben,
Wie Hunde aus der Heimat verjagt!
O Thorn, du güldener Morgen,
Du schwanke Brück’ ins Vaterland!
Schandreiche Schrift, Pax Thorni,
Papyrfahles Leichtuch auf Nogat und Memelsand!
Herrlicher Pruzz, ach, der den blonden Bruder jaget,
Als wie ein Narr, der sein Bild im Spiegel zerschlaget,
Und findet erwachet wüste Trümmer allhier,
Geiergeschrei voll geiler Begier,
Fahles Gespenst, das in Rauch und Ruinen klaget,
Wolke von Dohlen, die all Säligkeit versaget – – –
Bis daß der WOLF wiederkömmt
Und Jagiellos Gebeine zernaget.
Was um Himmels willen sollte das alles bedeuten? Wer ist „Jagiello“? überlegte Timo. Wer oder was soll dieses „Thorn“ sein, und was zum Teufel ist ein „herrlicher Pruzz“, der „den blonden Bruder jaget“? Von Widerwillen erfaßt, ließ er das Pergamentblatt sinken: Es fühlte sich schrundig an, wie mumifizierte Tierhaut, und es wies keinerlei Datierung auf. Jedoch schien das Poem seinem barocken Stil nach dem 17. Jahrhundert zu entstammen, auch wenn Timo den so undeutlichen wie unbehaglichen Eindruck hatte, daß sich die Zeilen auf erheblich ältere Ereignisse in nebelhaft ferner Vergangenheit bezogen.
Neben diesem klarschriftlichen (obwohl sonst einigermaßen unklaren) Poem gab es nur noch ein brüchig gebundenes, etwa zwei Dutzend Seiten starkes Quartheft in schwarzem Wachseinschlag, das in gedrängter, schwer leserlicher gotischer Handschrift chiffrierte Daten enthielt – eine ununterbrochene Folge von Lettern und römischen Zahlzeichen, die zu entziffern, auch nur historisch einzuordnen er sich außerstande sah.
Die Skulptur, etwa zwanzig Zentimeter hoch, aus leuchtendem Bernstein und überraschend schwer, hatte er nur flüchtig gemustert und dann in den Koffer zurückgelegt. Sie stellte den Jüngling, der die Arme emporwarf, und die Bestie, die sich von hinten in sein Genick verbiß, in kraß naturgetreuer Manier dar, die ihm geradezu Ekel einflößte.
Während er den Pergamentbogen hin und her wendete, hatte Timo plötzlich den Eindruck, als ob sich unter ihm eine Falltür öffnete – mit knarrendem Laut eine uralte Tür über einem vor Jahrhunderten gemauerten Schacht, der mit sonderbaren Geheimnissen, mit Totenschädeln, geflüsterten Blutschwüren, mit Seufzern und Schreien und einem Wirbel düsterer Bilder angefüllt war: Geschichte, Vergangenheit, seine Geschichte, die seiner Familie, womöglich die Wahrheit über Schloß Stiegliz, aber eine Wahrheit, um die er sich niemals gekümmert hatte und die ihm noch immer als vollkommen belanglos erschien. Spinnweben, Knochen und Staub, dachte er, zerfallene Pergamente, längst verröchelte Schreie, Hoffnungen, die gestillt oder für immer unerfüllt geblieben waren – vor vielen Jahrhunderten, als Stiegliz noch ein wehrhaftes Gemäuer, von einem tiefen Graben umgeben, mit einer an Kettenwinden sich aufbäumenden Ziehbrücke ausgestattet war.
Aber was ging das ihn an, und gerade jetzt? Was halfen ihm diese teils zerbröselnden, teils verschlüsselten Dokumente, die sich raunend und rätselreich auf dunkle Vorzeit zu beziehen schienen? Daß die Geschichte der Grafen von Stiegliz bis in die Zeit der sogenannten Deutschordensritter zurückreichte, hatte er gewußt, wieder vergessen, sich im übrigen nie darum gekümmert. Und während er jetzt an die bürgerliche Gerichtsbarkeit, an die schäbigen Gerichtsflure und -säle in Frankfurt (Oder) und an den Bürgermeister Lauber, seinen Widersacher, dachte, erschien es ihm abermals, als könnte in seiner Lage nichts belangloser, nichts unnützer sein als gerade diese Ordens- und Rittervergangenheit seiner längst zu Schlamm und Dreck und Staub verrotteten Ahnen.
Dennoch empfand er, weiterhin auf das rissige Pergament starrend, eine fast unerträgliche Beklemmung, so daß er aufsprang und sich fast gewaltsam vom Schreibtisch abwandte. Für mich, dachte er, beginnt die Geschichte von Schloß Stiegliz mit meiner Geburt, keine Sekunde früher. Nur dorthin, in meine Kindheitswelt wollte ich zurückkehren, niemals zu diesen Ordensrittern und vaterländischen Zeremonienmeistern, die sich vor Hunderten von Jahren Zeit und Langeweile und Trübsinn mit geheimnisvoller Bündlerei und unergründlichen Grausamkeiten vertrieben.
Zögernd näherte er seine Hand der seitlich im Koffer liegenden Skulptur. Da er sich scheute, sie am sprunggestreckten Wolfsleib oder am entblößten Körper des Jünglings zu packen, der nachgerade obszön sein Becken, sein Geschlecht vorreckte, umschloß er mit der Faust die in einen imaginären Waldesboden gestemmten Füße des Jungen, den er kopfüber aus dem Koffer zog.
Die Irritation geht von diesem Wolf aus, dachte er. Beunruhigend ist vor allem anderen diese durchaus zweideutige Skulptur, die auf der einen Seite im Bild des athletischen und zeugungskräftigen Jungmannes sozusagen unbeugsames Ordens-, Ritter- oder meinetwegen Deutschtum verherrlicht, andererseits aber doch auch die rohe, blutgierige, muskeldurchflochtene Bestie idealisiert, die dieser zugleich überhöhten, untadelig gewachsenen, kühn blickenden, nahezu eitel sich zeigenden Ritterlichkeit ganz offenkundig den Kopf abbeißt!
Der geheimnisvolle Koffer, die alles in allem nicht eben geschmackssichere Skulptur, das Pergamentpoem und das mit Chiffren gefüllte Wachsheft begannen ihn gegen seinen Willen zu faszinieren. Von der Echtheit dieser Exponate war er seltsamerweise überzeugt, und obwohl er ebenso sicher war, daß die Skulptur, das Poem, das unleserliche Quartheft ihm bei seinem Prozeß gegen Lauber, gegen die Gemeinde Stiegliz und in seinem Ringen mit dem fintenreichen Polizeioffizier Zirfas keinen Schritt weiterhelfen würden, faßte er an diesem Abend des 20. Juni den Entschluß, sobald als möglich oben im Herrenhaus, in der grauenvoll vergammelten Bibliothek von Stiegliz einige der dort zu Hunderten lagernden Folianten durchzublättern. Möglich, daß er auf diesem Weg mehr oder minder interessante Aufschlüsse über die verworrene Geschichte Derer von Burg und Schloß Stiegliz, seiner ritterlichen und gräflichen und in jedem Fall äußerst kriegerischen Vorfahren erhielt.
Er legte das Pergament zu der Skulptur und dem Quartheft zurück in den Koffer, den er provisorisch verschloß und in seinem Zimmersafe versorgte.
Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr, als Timo abermals in seine Jacke schlüpfte und das Zimmer verließ, um seine Gedanken bei einem Seespaziergang zu klären.
Aus der Menge, die sich schwatzend und lachend an der Uferpromenade erging, löste sich urplötzlich eine hochgewachsene Frau, in schwarzem Kleid, mit kupfern flutenden Haaren. „Ich glaube fast, Timo, Sie verfolgen mich!“
Er stand wie zur Skulptur versteinert. Kaum war er in diesem Rattennest zwischen Ost und West eingetroffen, tauchte auch schon, wie an Schnüren gezogen, Margot Wegener vor ihm auf, und nicht nur das: Wie selbstverständlich hängte sie sich bei ihm ein, und ihr zufälliges Treffen stellte sie so hin, als ob er ihr heimlich nachgereist wäre.
Zufällig?
Rasch versuchte er zu überlegen, ob Margot – falls sie sich bereits zu diesem Zeitpunkt in der Orangerie versteckt gehalten hatte –, aus seinem Telefongespräch gestern abend mit Trowal hatte schließen können, wohin er fahren würde.
Nein, das war unmöglich. Noch immer war er nicht sicher, ob tatsächlich Margot – oder wer sonst, wenn nicht sie – ihm den überrumpelnden Streich mit all den Kerzen und Fotografien gespielt hatte – und mit der Aufschrift auf der Rückseite des Lisa-Bildes: Such mich! Aber eines wußte er sicher: Von dem Ort, an dem er und Trowal sich treffen würden, war bei jenem Telefonat nicht die Rede gewesen. Erst am folgenden Morgen, in Anwesenheit von Zirfas und dem rübezahlbärtigen Wachtmeister, hatte Trowal verfügt, daß sie sich hier in Ratzeburg treffen würden.
Dennoch hing Margot nun an seinem Arm, neben ihnen die Kulisse der über dem See, hinter Trauerweiden untergehenden Sonne, und immer noch machte sie ausgelassene Hüpfschritte, so daß ihre Mähne ihm über die Wange fuhr. „Entschuldigen Sie! Ich fürchte, ich habe schon einen kleinen Schwips – ich war so allein, mir war stocklangweilig, und da habe ich dort vorn im Café ...“ Sie brach kichernd ab und machte die Bewegung wiederholten Becherns. „Und jetzt? Kommen Sie, Timo, tun Sie mir den Gefallen, gehen wir in eines dieser Gartenlokale.“
„Meinetwegen, auf ein Glas.“ Seine Stimme klang belegt. „Warum nicht? Aber ich bezahle!“ Er war befangen. Sein Herz klopfte. Dicht neben sich spürte er ihren Atem, der nach Wein roch. Als er sich mit der freien Hand eine Strähne aus der Stirn strich, berührte er zufällig ihre Schläfe.
„Eine Autopanne“, sagte sie, „ich bin nicht einmal freiwillig hier. Und was hat Sie in dieses romantische Ratzeburg verschlagen?“
„Von mir erfahren Sie kein Wort, solange Sie mir nicht verraten, was es mit dieser ominösen ‚Kunstakademie’ auf sich hat.“ Er hatte versucht, seine Worte scherzhaft klingen zu lassen, aber jetzt spürte er, wie Margot sich neben ihm versteifte.
Als sie ihm ihren Arm entzog, war er für einen Moment enttäuscht, allerdings auch erleichtert. Wieder sah er sie vor sich, wie er sie gestern vormittag gesehen hatte: ihr trancehaftes Lächeln, ihr wallender Gang, während sie durch die Wildwiese von Schloß Stiegliz geschlendert war, und das Sonnenlicht hatte Funken gesprüht in ihrem Kupferhaar. Die Zauberin, mein Verhängnis ... Unsinn, dachte er.
„Warum bleiben Sie denn stehen? Und wie sehen Sie mich an? Kommen Sie, Timo!“ Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn zwischen die Bänke eines vollbesetzten Freiluftcafés.
An einem Tisch rückten die Leute auseinander, so daß eine Lücke zwischen den Zechenden entstand. Während er über die Bank kletterte, glaubte er für einen Augenblick, den Jungen von vorhin, aus dem Hotel, wiederentdeckt zu haben – den Grünäugigen, Ernsten, zwei Tische weiter links. Aber dann drehte der Blondlockige sich um und zeigte das grobe Gesicht eines Bauernburschen. Timo quetschte sich in die Lücke neben einem beleibten Mann, der ihn noch enger gegen Margot preßte.
Sie tranken einen schweren Rotwein, der im Tonkrug serviert wurde. Es war heiß unter den bunten Glühbirnen, in der trunkenen Menge, neben Margot, die ihren linken Arm um seine Schulter legte, mit der rechten Hand nachschenkte, immer wieder, während sie leise, in verschwörerischen Andeutungen sprach.
Die „ominöse Kunstakademie“: Sie selbst wußte, wie schon gestern abend gesagt, nichts Genaues, sie hatte lediglich gehört, daß Verhandlungen im Gange waren. Ein „reicher Unternehmer aus dem Westen und hochgeschätzter Mäzen“ war bei einer Reise durch Brandenburg zufällig auf Schloß Stiegliz gestoßen. Das eindrucksvolle, dabei furchtbar vernachlässigte Anwesen dauerte ihn: In den Ruinen, dem Verfall, der wuchernden Wildnis entzifferte er die Gewalt der Geschichte, den Glanz einstiger Pracht. Er entschloß sich, das Schloß zu kaufen, es zu nutzen in seinem wohltätigen Sinn, und das hieß: als Stätte großzügiger Förderung der schönen, der bildenden und musikalischen Künste, eben als Kunstakademie.
„Wer ist dieser Mann?“ fragte Timo mit schwerer Zunge, mit heißer Schläfe, an der er Margots kühle Schläfe spürte.
„Name? Keine Ahnung!“
Sie bestellte nach, schon wieder, dabei waren sie, war zumindest er längst betrunken – berauscht vielleicht weniger vom schweren Wein als vom Duft ihres Körpers, vom Knistern ihres Kupferhaars. Er hatte von ihr geträumt, mehr als einmal seit jener Winternacht vor sechs, sieben Monaten, und einmal sogar (ein Versehen) in Lisas Armen. Doch nie wäre er auf die Idee gekommen, diesen Traum in die Wirklichkeit zu ziehen. Über ihnen, im wolkenlosen Nachthimmel, segelte die gekrümmte Sichel des abnehmenden Mondes.
„Und jetzt bist du dran, Timo, jetzt dein Geständnis: Was machst du hier in Ratzeburg?“
Er war eben noch nüchtern genug, sich mit einigen geheimnisvollen Anmerkungen zu begnügen: die Skulptur, der Koffer, der mysteriöse Bote. Das Ganze offenbar wertlos, belanglos für seinen Prozeß, wie erst für Margot ... Familiengeschichten.
„Und du hast diesen Mann vorher nie gesehen? Wie sah er aus, wie hieß er?“
„Keine Ahnung, ist ja auch egal.“ Seine Stirn glühte. Der fruchtige Wein kühlte nur für einen Moment, dann kehrte die Hitze zurück, die längst nicht mehr nur in seinem Kopf loderte.
„Übrigens habe ich nicht einmal ein Hotel.“ Ihre Finger spielten mit seiner Hand, und ihre dunklen Augen blickten ihn an, auffordernd und unverwandt, bis Timo den Blick niederschlug.
„Wir könnten ja bei mir im Hotel fragen, ob noch etwas frei ist.“
„Und wenn nicht?“
„Aber es ist ... ein großes Hotel!“
Sie lachte ihn einfach aus – oder an. Nachdem er sekundenlang in ihr Gesicht, in ihre funkelnden Augen gestarrt hatte, stimmte er zögernd, überrascht in ihr Lachen ein, das überhaupt nicht mehr aufhören wollte, auch bei ihm nicht, einem Wolkenbruch ähnlich, der zuweilen zu versiegen schien, um sich dann desto prasselnder aufs neue zu verströmen.
„Und du weißt wirklich nicht mehr, wie der ‚mysteriöse Bote’ hieß?“
„Aber wenn ich’s dir doch sage!“ Noch immer fühlte Timo diesen unbezwinglichen Lachreiz, und während er ihre vier Karaffen bezahlte, fragte er sich vergeblich, wann er zum letzten Mal derart hemmungslos und übrigens ohne jeden Anlaß gelacht hatte – gelacht und geprustet und gekichert, bis ihm die Luft wegblieb, bis er am ganzen Körper naßgeschwitzt war und sich vollkommen kraftlos fühlte, dabei federleicht und regelrecht beseligt. All diese Gruselgeschichten um Schloß Stiegliz, auch Lisas trotzige Abreise, sogar Karolys grauenvoller Tod, an dem er sich mitschuldig fühlte – all das war ihm in diesen Momenten vollkommen egal.
Auf dem Weg zum Hotel, unter den Bäumen der mittlerweile fast menschenleeren Seepromenade, zog sie ihn an sich und blieb stehen.
„Wir sind betrunken“, sagte er leise.
„Ja, Timo – und deshalb können wir nichts dafür.“
Sie küßte ihn mit einer Wildheit, die seinen Widerstand vollends brach. Ihre Hände fuhren unter sein Jackett und krallten sich in seinen schweißnassen Rücken. Als sie weitergingen, hielt sie ihn hinten am Gürtel gepackt, eine Geste, die seine berauschte Phantasie in ungekannte Erregung versetzte.
Beim Nachtportier verlangte er lediglich seinen Schlüssel, Zimmer zwo-fünf-drei.
„Bürgermeisteramt Stiegliz.“
„Herr Lauber? Entschuldigen Sie – ich weiß, es ist noch früh am Morgen, außerdem Sonntag, aber ... Hier spricht ... Timotheus Prohn.“
„Herr Prohn? Aber keine Ursache! Weshalb rufen Sie an?“ Während er sprach, lag er noch im Bett, in gestreiftem Pyjama, dessen Knopfleiste sich über seinem Bauch spannte, und das „Bürgermeisteramt“ beschränkte sich derzeit auf ein furniertes Nachttischchen mit Notizblock und altertümlichem Telefon. „Wollen Sie mir eine vernünftige Einigung vorschlagen, einen außergerichtlichen Vergleich?“
„Ich habe eine etwas sonderbare Bitte, Herr Lauber – eigentlich nur eine Frage. Gestern, in meinem Park, ich meine – im Park von Schloß Stiegliz, als Sie und Zirfas vor der Orangerie vorfuhren ...“
„Ja?“
„Haben Sie da nicht bemerkt, daß weiter oben im Park, auf dem Schloßhügel, eine junge Frau – –“
„Das geht mich nichts an“, behauptete Lauber, während er sich aufrichtete, ein Kissen in seinen Rücken stopfte und einladend auf die Bettdecke klopfte: Eben erschien im Türrahmen, das Frühstückstablett balancierend, seine Frau Therese.
„Aber Sie haben sie gesehen? Rote Haare, schwarzes Kleid? Sie heißt Margot Wegener.“
„Hmm, tja.“ Linkshändig schenkte er sich Kaffee ein, dann setzte er das Kännchen ab und biß in ein dunkles Brot, das mit Blutwurst aus dorfeigener Schlachtung belegt war. Dabei hörte er aufmerksam auf die merkwürdige Geschichte, die sein übrigens keineswegs unsympathischer Widersacher ihm aufzutischen versuchte, gewunden und offenbar recht geniert. Und der Bürgermeister registrierte auch, daß Timo Prohn sich matt anhörte – als ob ihm nach durchsoffener Nacht der dickste Kater aller Zeiten im Genick säße.
„Sie muß Ihnen doch aufgefallen sein!“ beharrte Prohn. „Ein alter Fuchs, Herr Bürgermeister, wie Sie!“
„Nun ja, kann schon sein.“ Da er zu ahnen glaubte, worauf dieses überraschende Interview hinauslaufen sollte, legte er für alle Fälle seinen Notizblock zwischen Stullen, Rühreiteller und Kaffeetasse bereit. Draußen, vor seinem winzigen Fenster, tauchten die Trauerweiden ihre schimmelgrünen Bärte in den Dorfteich von Stiegliz: ein milder, windstiller Tag.
„Ich rufe von Ratzeburg aus an“, sagte Prohn. „Also kurz und gut, ich bin von dem Mädchen fasziniert. Zufällig haben wir uns gestern abend hier in Ratzeburg noch einmal getroffen, und jetzt ...“
Ratzeburg, überlegte Lauber kauend. Was zum Teufel suchte Prohn in diesem aufgeputzten Wasserstädtchen zwischen Ost und West? „Ich glaube, ich verstehe“, sagte er langsam. „Jetzt ist dieses Fräulein Wegener weg, und Sie haben keine Adresse, keine Telefonnummer, und da glauben Sie, daß ich ... Aber was für ein Irrtum, lieber Herr Prohn! Sie überschätzen mich! Ja, früher, vor wenigen Jahren noch ... Aber heute? Im Zeichen der drei großen D?“
„Soll heißen?“
„Datenschutz, Demokratie, Diskretion“, sagte Lauber glucksend, „ich kann Ihnen da leider nicht helfen, lieber Prohn, tut mir aufrichtig leid, zumal ich Ihnen wirklich gern beigesprungen wäre, schon aus Diplomatie. Oder sagen wir’s so: Was hätten Sie mir denn im Gegenzug anzubieten?“
„Diese kleine Geschichte hier“ – Prohn klang jetzt gereizt, er schien nahe daran, die Nerven zu verlieren – „hat nicht das mindeste mit unserem Prozeß zu tun.“
„Ach so? Aber Sie haben sich mit Fräulein Wegener getroffen? Und Sie suchen weiter das Gespräch mit ihr? Natürlich rein privat?“ Da Lauber vor Aufregung unter der Bettdecke zappelte, gerieten Tablett und Tasse in Bewegung, und ein Schwall Kaffee ergoß sich über die Rühreier. Der Bürgermeister unterdrückte einen Fluch, dabei notierte er auf seinem Schreibblock: Z. anrufen – in Sachen St./P.!
„Allerdings, eine rein private Angelegenheit“, sagte Prohn. „Und die Frage ist: Wollen Sie mir helfen? Sie können mir doch nicht im Ernst erzählen – –“
„Lassen Sie mich nachdenken“, unterbrach ihn Lauber, „ich denke, wir sehen uns sowieso heute nachmittag – drüben.“
„Heute nachmittag?“
„Sechzehn Uhr, Friedhof Babimost, am Grab des kleinen Polen.“
„Ja, natürlich.“ Prohns Stimme erstarb. Ohne ein weiteres Wort hängte er ein.
Lauber beugte sich ächzend zur Seite und legte den Hörer auf die Gabel zurück. Seine Stimmung wurde immer heiterer, während er sich neuerlich über seine Wurststullen hermachte. Zum Erstaunen seiner Frau, die mehrfach ihren Kopf durch den Türrahmen steckte, begann er, in ihrem uralten Eichenbett sich räkelnd, sogar zu summen und zu trällern. Linkshändig malte er Strichmännchen auf seinen Schreibblock, dürftige, gekrümmte Gestalten, darunter auch vierbeinige, mähnenhafte Wesen mit hängenden Lefzen, die eine Art Festung umkreisten. Unter dieses Gemälde krakelte er zuletzt den launigen Titel: Schau an, der Tanz beginnt.
Es war gegen neun Uhr vormittags, als sich der Bürgermeister von Stiegliz in heiterster Stimmung erhob und, noch immer mit seinem Pyjama bekleidet, in ein Nebenzimmerchen überwechselte, das mit Aktenschränken und einem überdimensionalen Schreibtisch vollgestopft war und ihm seit Jahrzehnten als Bürgermeisteramt diente. Er begab sich hinter seinen Schreibtisch, einen Augenblick tätschelte er sinnend über seine Glatze, dann beugte er sich nach vorn, griff diesmal zum amtlichen Telefon und wählte eine dreizehnstellige Nummer, die weder in heutigen noch in früheren Zeiten jemals in öffentlich zugänglichen Verzeichnissen aufgeführt worden war.
Seine rechte Hand noch auf dem Hörer des hoteleigenen Telefons, saß Timo Prohn wenigstens eine Minute lang auf der Bettkante, bereits wieder im hellen Leinenanzug, den der Hotelservice ihm geplättet hatte – dafür sah er selbst jetzt desto zerknitterter aus. Der Zimmersafe, in einem Wäschefach im Schrank an der rechten Längswand, war geöffnet, ebenso der schäbige schwarze Koffer, der auf dem braunen Spannteppich zu seinen Füßen lag. In dem Koffer ruhten ganz richtig das wolfsköpfige Pergamentpoem und das Quartheft mit den chiffrierten Informationen, doch die Statue fehlte.
Ihm war so übel, daß er fürchtete, sich erbrechen zu müssen. Dabei dachte er in diesen Minuten überhaupt nicht an Trowal und die Scherereien, die dieser nervöse, aller Wahrscheinlichkeit nach paranoide Mensch ihm machen würde, wenn er erfuhr, daß die Skulptur verschwunden war.
Er dachte an das, was – möglicherweise – während der vergangenen Nacht geschehen war. Oder vielmehr: Er versuchte, nicht daran zu denken, aber das mißlang ihm. Während er auf den Boden zwischen seinen bestrumpften Füßen blickte, sah er immer wieder sich selbst, wie er auf dem Doppelbett stand – nackt bis auf diesen verfluchten Gürtel, den sie ihm umgeschnallt hatte, und schwankend, da er vollständig betrunken war, in einer lächerlichen, entwürdigenden Pose, die Margot unablässig mit Kommandostimme korrigierte. Bis sie irgendwann mit seiner Position halbwegs zufrieden war und nun ihrerseits in die Wolfsrolle schlüpfte. Sie sprang ihn von hinten an, woraufhin er die Arme emporwarf ...
Möglich, daß er das alles nur geträumt hatte. Mit der linken Hand tastete er über seinen Nacken, der aber tatsächlich schmerzte, und ebenso war es unbestreitbar, daß die Statue verschwunden war.
Erst jetzt fielen ihm die „skrupellosen Interessenten“ und Trowals nervöser Ausruf „Die Sache eilt!“ wieder ein. Also war Margot nichts anderes als –? Aber das ergab keinen Sinn, es sei denn – es sei denn, daß diese verdammte Statue in seinem Prozeß um Schloß Stiegliz tatsächlich ein Beweisstück von sensationellem Wert war.
Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. Der „reiche Unternehmer und Mäzen“ irgendwo aus dem deutschen Westen, der sich in die verrückte Idee verrannt hatte, Schloß Stiegliz zu kaufen und zu einem „Salem der Künste“ zu verwandeln, weil dies seiner „kulturellen Verantwortung“ und zweifellos auch seiner Eitelkeit ebenso wie seinen unternehmerischen Interessen entsprach: Steuerschuldminderung, hymnische Ehrung in allen Feuilletons. So weit, so gut, dachte Timo, neuerlich mit Brechreiz kämpfend; aber welche Rolle spielte Margot in diesem Spiel? Offenbar hatte sie versucht, ihm eine Kooperation mit dem „Mäzen“ und „reichen Unternehmer“ schmackhaft zu machen: „Sie selbst sind doch Künstler, und wäre das nichts: Timo Prohn als Präsident der Kunstakademie von Schloß Stiegliz?“ Und dann allerdings – dann war dieser Trowal dazwischengefahren, der anscheinend wiederum ganz andere Interessen vertrat und die Position des Mannes mit der millionenteuren „kulturellen Verantwortung“ untergrub.
Oder nicht? War das nicht alles reine Phantasterei? Fing er selbst allmählich an, den Verstand zu verlieren? Timo sprang auf, da befiel ihn heftiger Schwindel; behutsam setzte er sich auf die Bettkante zurück.
Also noch einmal: hier der „Mäzen“ mit seiner „Kunstakademie“, dort Trowal mit der sonderbaren Statue. Falls die Skulptur (auf welche Weise auch immer) in der Tat unwiderleglich sein – Timos – Besitzrecht auf Schloß und Park Stiegliz bewies, war der Mann aus dem Westen ein für allemal aus dem Spiel. Und nicht nur er: Auch Lauber, auch Zirfas und all die anderen dunklen Grüppchen, die sich immer wieder einmal auf Schloß Stiegliz einquartierten, hatten dann für alle Zeiten ausgespielt. Und das bedeutete – es bedeutete – gar nichts. Es war reine, vielmehr katertrübe Spekulation, dachte Timo, und Tatsache war dagegen:
Margot hatte ihn gepackt, und sie hatte ihn bis vor diesen Schrank geführt, damit er endlich den Zimmersafe öffne. Der Schlüssel war in seinem Portemonnaie, und tatsächlich tappte er hin, zu dem Stuhl, wo sein Anzug, ihr Kleid, ihre Wäsche als zerknülltes Bündel lagen. Es war tiefe Nacht. Vor seinem Fenster schwebte skeletthaft der abnehmende Mond.
Er hatte seine Geldbörse hervorgezogen, doch der Schlüssel war weg, und als er sich umgewandt hatte, in trunkenem Erstaunen, hielt sie das Schlüsselchen in der Hand. „Ich möchte, daß du aufschließt.“
Sie hatte ihn belohnt. Kurz darauf war er eingeschlafen, gegen fünf Uhr früh, und jetzt – jetzt war es kaum erst neun, in seinem Kopf klopfte der Schmerz, in seinem Magen wühlte die Übelkeit, und von Margot, von dieser Statue keine Spur.
Als der Priester, der ein mit Goldbrokat besetztes Gewand trug, seinen Weihrauchkessel über der offenen Grube schwenkte, brachen Karolys Mutter und alle Frauen von Babimost in lautes Schluchzen und Klagen aus. Auch die Augen vieler Männer wurden feucht, und ein noch jüngerer, ungemein breitschultriger Mann schlug sich mehrfach mit den Fäusten vor die Brust, wozu er mit dumpfer Stimme bedrohlich klingende Worte rief.
Der kleine Vorortfriedhof war schwarz von trauernden, zürnenden, klagenden Menschen, ganz überwiegend sonnenverbrannte Bauerngesichter, die ihre Blicke mit flehendem, mit beschwörendem Ausdruck auf die über dem Grab schwebende, von zwei Ministranten emporgereckte Schwarze Madonna hefteten.
Zu diesem ärmlich wirkenden Friedhof gehörte nur eine kleine, von außen nahezu protestantisch karge Kapelle. Doch die Glocken in dem dürftigen Türmchen dröhnten dunkel und unheilvoll wie das Läutwerk einer Kathedrale über die Gräber, über die Wälder und Äcker der sandigen Ebene von Babimost. Auf ein Zeichen des Priesters hin traten die Trauernden der Reihe nach an das Grab, nahmen die kleine Schaufel und schippten Erde auf Karolys Sarg.
Während alledem empfand Timo weder Gram noch Trauer, ihn erfaßte ein weit über Karoly, sein Grab, über ihn selbst und Schloß Stiegliz hinauszielender Trübsinn. Er war (direkt von Ratzeburg) zusammen mit Knut Lauber gekommen, die einzigen Deutschen während dieser katholischen Zeremonie, und auf Laubers Rat hin hatten sie sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten. Sie standen vor einem halb verfallenen Familiengrab, drei oder vier Gräberreihen rechts von dem Erdloch, in dem die Totengräber Karolys Kiefernholzsarg versenkt hatten.
Um sie herum entstand eine Leere, die immer weiträumiger wurde. Als die Glocken verstummten, standen alle Trauernden jenseits des noch immer offenen Grabes und schauten ihn und Lauber stumm, auffordernd, mit einer spürbaren Beimischung von Feindseligkeit an.
Da trat der dicke Bürgermeister, der sich in einen abgenutzten schwarzen Anzug gezwängt hatte, mit gemessenen Schritten an das Grab, vor den bereits wieder abgeflachten Erdhügel. Nachdem er ächzend in die Hocke gegangen war, drückte er ein Knie ein wenig tiefer, so daß er tatsächlich für mehrere Sekunden, die Stirn gesenkt, die Hände vor der Brust gefaltet, vor dem Toten, den Trauernden, dem überrascht blickenden Priester kniete.
Mit stockender Stimme sprach er einen langen polnischen Satz, dann stemmte er sich hoch und kam wieder auf Timo zu, stark schwitzend und mit einer Miene, die Bewegung, Bitterkeit, ja Rührung verriet. In diesem Moment empfand Timo beinahe Respekt vor diesem feisten Feigling und gerissenen Schlingenleger.
„Was haben Sie zu den Leuten gesagt?“ Über das Grab hinweg, das jetzt von den Totengräbern mit großen Schaufeln zugeschippt wurde, schaute er in die Menge der Trauernden drüben, deren Mienen jedoch, über Schmerz und Verzweiflung hinaus, keine bestimmten Reaktionen zu entnehmen waren.
„Ich schäme mich zutiefst“, übersetzte Lauber gedämpft, „daß ein so unmenschliches Verbrechen auf deutschem Boden möglich war, und ich bitte die Angehörigen, die Trauernden, ich bitte alle Menschen, die sich durch diese Tat bedroht und geängstigt fühlen, im Namen von Stiegliz, von Deutschland, im Namen aller Deutschen um Verzeihung.“
„Und was dieser breitschultrige Mann dort – sehen Sie? –, was der vorhin ausgerufen hat, während er sich gegen die Brust schlug – haben Sie das auch gehört?“
„Wollen Sie das wirklich wissen? Er hat ‚beim Grab meines Bruders, bei Karolys unsterblicher Seele‘ Rache geschworen. Wir sollten jetzt besser gehen.“
Mit der überfüllten Fähre setzten sie über die nach Unrat und Fäulnis stinkende Oder, beide schweigsam, in trüben Gedanken, aus denen Timo nur einmal auftauchte mit der verschwörerisch gemurmelten Frage:
„Und? Haben Sie die Adresse?“
Lauber begann in den Taschen seiner speckigen schwarzen Jacke zu kramen, aus der er endlich ein Zettelchen hervornestelte: kein Name, keine Adresse, nur eine Telefonnummer, maschinenschriftlich, und die Vorwahl deutete auf einen Anschluß im Umland von Frankfurt/Main.
„Eine Hand“, sagte Lauber, „wäscht die andere. Daran hat sich nichts geändert, und das wird immer so sein.“
Timo nickte schweigend. In seinem Kopf pochte noch immer der Katerschmerz, und in seinem Bauch spürte er, vermischt mit Übelkeit, eine elektrische Nervosität.
Als sie sich hüben, vor dem Schild mit der Aufschrift Stiegliz – Tiblice, trennten, sagte der dicke Bürgermeister, jetzt wieder mit heiterer Miene, zum Abschied: „Machen Sie sich um Himmels willen keine Sorgen!“
„Wegen Zirfas?“
„Wie? Nein – ich dachte an Karolys Bruder.“
„Ich wollte mich nur vergewissern, ob Sie gestern noch gut zurückgekommen sind.“
„Ja, danke“, sagte Timo. Er saß in der Orangerie an seinem Schreibtisch und brütete über dem codierten Quartheft. Zwischendurch hatte er mehrmals versucht, telefonisch Margot Wegener zu erreichen, doch bisher ohne Erfolg. Draußen dämmerte bereits der Abend.
„Wie sich inzwischen herausgestellt hat, waren meine Vorsichtsmaßnahmen keineswegs übertrieben. Ich habe konkrete Hinweise, daß ein offenbar fanatischer Interessent mit allen Mitteln versucht, sich in den Besitz dieser Statue zu bringen. Haben Sie sich schon entschieden? Sie möchten die Exponate kaufen? Natürlich zu einem vernünftigen Preis.“
„Ich ... bin mir noch nicht ganz schlüssig. Schließlich bin ich kein Historiker. Und ehrlich gesagt: Mir ist keineswegs klar, inwiefern diese Statue ... Wahrscheinlich muß ich einen Experten zuziehen.“
„Aber mit äußerster Diskretion – das war so vereinbart! Verfügen Sie über einen Tresor?“
„Natürlich nicht“, sagte Timo erstaunt. „So reich bin ich ja nicht.“
„Ich fürchte, es war etwas unüberlegt von mir, Ihnen mit den Dokumenten auch die Skulptur auszuhändigen. Ich bin mittlerweile sicher, daß diese Leute – wer immer sie sein mögen – hauptsächlich hinter der Statue her sind. Wir machen es so: Ich schicke morgen jemanden zu Ihnen, der die Figur abholt. Wir verschließen sie in einem Banksafe, und wenn Sie – und meinetwegen Ihr Experte – die Statue prüfen möchten, vereinbaren wir einen Termin. Einverstanden?“ Trowals Stimme klang gepreßter und abgehetzter denn je.
„Im Prinzip schon, nur ...“ Aber jetzt fiel ihm kein stichhaltiger Grund ein, der gegen Trowals Vorschlag sprach.
„Wann kann der Mann morgen vorbeikommen? Sagen wir – vierzehn Uhr?“
„Das ist leider – –“
„Meinetwegen auch am Vormittag – wir richten uns ganz nach Ihnen. Elf Uhr?“
Er saß in der Falle.
„Herr Prohn?“
Als er vorhin die Nummer angewählt hatte, die Lauber ihm zugesteckt hatte, war ihm beinahe das Herz stehengeblieben: plötzlich Margots Stimme, allerdings rauschend und verwischt, und er hatte Sekunden gebraucht, bis er begriff, daß sie vom Band eines Anrufbeantworters sprach. Und dann weitere Sekunden, in denen er zu spüren, vor sich selbst einzugestehen begann, daß er ... daß er Margot liebte. Sie hat mich verhext! Unsinn.
„Was ist los? Warum sagen Sie nichts?“
„Es ... gibt da ein kleines Problem“, sagte er so gepreßt, als ob er seinen Gesprächspartner zu parodieren versuchte.
„Ja?“
„Ich habe die Skulptur momentan nicht im Haus.“
„Verschonen Sie mich mit Ihrem unpassenden Humor! Und nennen Sie mir jetzt – bitte – eine Uhrzeit. Der Mann wird pünktlich bei Ihnen sein.“
„Das war kein Scherz, leider, Herr Trowal. Ich habe die Nacht in Ratzeburg ... Ich war nicht allein“, sagte er leise. „Und dieses Mädchen – also kurz und gut, sie hat die Statue mitgenommen, natürlich in harmloser Absicht: Sie wollte mich foppen.“
Für mehrere Sekunden herrschte Schweigen.
„Wenn Sie mir nicht als seriöse Person beschrieben worden wären, als rechtmäßiger Nachkomme der Grafen von Stiegliz ...“
Schweigen. Während Trowal offenbar fieberhaft überlegte, versuchte Timo noch einmal, sich an seiner alten Version aufzurichten, daß die Reaktionen dieses hageren Bürstenfrisurträgers paranoid übertrieben waren.
„Was Sie mir da aufgetischt haben, hört sich an wie die allerdämlichste Ausrede für einen abgefeimten – –“
„Aber es ist die Wahrheit.“
„Also gut, dann hören Sie jetzt zu: Sie rufen das Mädchen an, sofort. Ich schicke jemanden bei Ihnen vorbei, der Sie – noch heute abend – dort hinbringt. Wie heißt die Dame? Wo wohnt sie?“
„Unglücklicherweise ...“ Blitzschnell beschloß er, Margots Namen zu verschweigen. „Ich habe nicht einmal eine Adresse und lediglich einen Vornamen: Anna.“
Wieso Anna? Eine Augenblicksidee.
Trowals keuchender Atem bewies, daß er nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren. „Wissen Sie, was Sie sind, Prohn? Sie sind entweder der abgebrühteste Schurke, was aber nicht sein kann ... Also sind Sie ganz einfach ein Trottel, der sich von einer Hure beklauen läßt! Anna! Warum nicht Marion, Jacqueline, Innozenza? Ein letztes Wort – mein letztes Wort in dieser Angelegenheit: Ich gebe Ihnen noch einmal vierundzwanzig Stunden, um die Skulptur wieder zu beschaffen. Eine Nacht, einen Tag. Montag abend rufe ich an, und wenn die Statue dann nicht wieder in meinem Besitz ist, bleibt Ihnen keine Wahl mehr: Dann müssen Sie den Kaufpreis bezahlen.“
„Wie hoch ... Ich meine, um welchen Betrag geht es denn überhaupt?“
„Unter diesen Umständen – auf jeden Fall eine siebenstellige Summe.“
Timo stockte der Atem: Der Kerl mußte übergeschnappt sein. Ein Millionenbetrag für diese geschmacklose, Gewalt und Düsternis ausstrahlende Bernsteinfigur. Ganz abgesehen davon, daß er nicht annähernd soviel Geld besaß oder sich beschaffen konnte. „Keine Sorge“, sagte er leise. „Sie bekommen die Skulptur zurück, natürlich. Morgen schon. Vierundzwanzig Stunden sind in jedem Fall genug. Meine Telefonnummern haben Sie? Ich meine, auch meine zweite Nummer in Frankfurt/Main?“ Da ihm in diesem Moment eingefallen war: Er würde in den Westen reisen müssen, zu Margot, die offenbar in Südhessen lebte, und er würde bei dieser Gelegenheit auch mit Lisa sprechen und sich mit ihr versöhnen.
„Natürlich“, sagte Trowal.
„Und umgekehrt – wie erreiche ich Sie?“
„Warten Sie auf meinen Anruf.“ Brüsk legte Trowal auf.
Wie oft, wie ernst, geradezu feierlich hatten sie, besonders in ihren ersten Jahren, über diese Fragen debattiert: Fotografie oder Malkunst – und welche dieser Künste den höheren Rang verdiente. Durfte die Fotografie sich überhaupt zu den Künsten rechnen? Und umgekehrt: Waren Pinsel, Tusche oder Kohlestift als künstlerische Mittel noch zeitgemäß?
Natürlich hatten sie sich niemals einigen können. Und ebenso selbstverständlich war, daß Lisa nicht im Ernst den „künstlerischen Rang“ seiner Fotografien in Zweifel zog, wie sich umgekehrt auch Timo von den Skizzen und Illustrationen seiner Frau regelrecht verzaubert zeigte. Zum Zeichen ihrer auch künstlerischen Gemeinschaft hatten sie gemeinsam jene Collage angefertigt – halb Fotografie, halb Kohleskizze –, die seither auf Timos Schreibtisch in der Orangerie von Stiegliz stand; darauf die rätselhaften Widmungszeilen von Lisa:
„Wie zauberisch diese Glaswand spiegelt:
Wer hindurch späht, sieht nach draußen
und mehr noch in sich selbst hinein.“
Lisa hatte ihre Zeit in Stiegliz gut genutzt – zumindest für ihre künstlerische Arbeit, die ihr allerdings vor allem als Ablenkung gedient hatte, als Ausflucht vor ihrer ehelichen Wirklichkeit. Ihre Skizzenmappe jedenfalls war übervoll, und die romantischen Motive verliehen den zumeist flüchtig gestrichelten oder mit breitem Kohlestrich konturierten Bildern einen besonderen Reiz, eine seltene Mischung aus Archaik und realistischer Genauigkeit.
Dennoch war sie unsicher, was sie von diesen Bildern halten sollte. Sie glaubte sich unfähig, deren rein künstlerische Qualität zu beurteilen, da sie – zumindest fürs erste – keinerlei emotionale Distanz zu den dargestellten Szenen besaß: Versenkte sie sich in den Anblick des gezeichneten Parks, so glaubte sie plötzlich, hinter dem gewaltigen Rotbuchen-Fünfling Timos Gestalt zu erkennen; betrachtete sie die filigran gestrichelte Orangerie, so meinte sie, oben auf dem Söller vor der grün oxidierten Kupferkuppel wieder Timo zu sehen, wie er ihr lächelnd zuwinkte ...
Es war Montag, der 22. Juni, kurz nach der Mittagszeit. Für den Nachmittag hatte sie Alex eingeladen, und nun schlenderte sie durch das große, spärlich möblierte Zimmer im Erdgeschoß, das sich nahezu über die ganze Breite und Tiefe ihres (allerdings schmalen) Hauses erstreckte. Mattweiß gekalkte, grob strukturierte Wände, eine schwarzlederne Couch, die sich längs dreier Wände zog, darüber die weiten weißen Flächen, behängt mit einer eigentümlichen Mischung aus streng arrangierten Fotografien von Timo und ihren eigenen, überwiegend märchenhaften Tusche- und Kohlemotiven.
Vor dem Fenster abermals der Glanz eines sonnigen Frühsommertags. Das Gärtlein und die Terrasse allerdings, hinter ihrem Reihenhäuschen, kamen der Stiegliz-Rückkehrerin unwirklich, zwergenhaft vor, so daß sich Lisa, am Fenster stehend, für einen Moment fragte, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, Hals über Kopf wieder gen Westen zu fliehen.
War es nicht, entschied sie rasch. Auf der Couch lag ihre Mappe. Sie klappte sie auf und fing an, ihre Skizzen an den Wänden zu installieren (wie unlängst Margot die fotografischen Bilder an den gläsernen Wänden der Orangerie befestigt hatte, aber davon wußte Lisa nichts).
Bei der Vorstellung, daß ihre neuen Bilder, die sie Alex unbedingt zeigen mußte, letzten Endes nur ein Vorwand für ihre Einladung waren, mußte sie lächeln. Sie bückte sich energisch und zog weitere Skizzen aus der Mappe hervor. Nein, sie war keine skrupellose Puppenspielerin, die andere Menschen für ihre Zwecke manipulierte, aber der Gedanke, durch eine kleine Romanze mit Alex kathartisch auf den ungetreuen, „in seine Sandburg verrannten“ Timo einzuwirken, war alles andere als unangenehm.
Bleib auf dem Boden, ermahnte sie sich.
Gegen halb zwei erschien Alex – abermals im seriösen Banker-Outfit, das von seinem jungenhaften Lächeln, seinem ewig verwuschelten Blondschopf und dem mediterranen Blau seiner Augen in dreister Weise Lügen gestraft wurde. „Eine ganz unverdiente Ehre“, sagte er, in das Bilderzimmer tretend, „oder hast du vergessen, daß ich ein in meiner Art vollendeter Kunstbanause bin?“
Dann verschlug es ihm die Sprache: Lisa hatte ihre „Stieglizer Skizzen“ als gedrängten, rechteckigen Block in der Mitte der Längswand arrangiert, vis à vis der Tür, so daß der Blick des Eintretenden zuerst auf diese Bilder fiel. Um das plakatartige Arrangement herum bildete die weiße Wand einen leeren Korridor, als ob die anderen, seit längerem aufgehängten Skizzen und Fotografien sich von dieser kompakten Gruppe eingedrungener Bilder distanzierten, scheu oder verachtungsvoll.
Gebannt trat Alex näher. „Wie gesagt, von künstlerischer Qualität und diesen Sachen verstehe ich überhaupt nichts.“ Er lockerte den Knoten seiner stahlblauen Krawatte. „Aber wenn du mir erlaubst, Lisa, einfach von den Dingen zu sprechen, die du auf diesen Bildern festgehalten hast ... Ist dieses Gebäude, ich meine“, er deutete auf eine Kohleskizze, „ist Timos Schloß wirklich so groß wie auf deinem Bild, oder ist das – ähm – künstlerische Freiheit?“
„Das ist wirklich eine banausische Frage“, sagte Lisa. „Aber wenn du darauf bestehst: Die Relationen stimmen.“
Die Skizze zeigte die Umrisse des Schlosses in der Abenddämmerung. Es sah aus wie eine monströse, zum Sprung hingeduckte Kröte, wobei die bulligen Treppentürme, die das Hauptgebäude von Schloß Stiegliz flankierten, auf Lisas Zeichnung die zum Sprung angewinkelten Beine der Monsterkröte bildeten – mit den emporgereckten Kniekugeln (Turmkuppeln), die Körper und Kopf beidseitig überragten.
„Ich glaube“, sagte Alex, „allmählich fange ich an, Timo zu verstehen: Die Vorstellung, daß ihm das alles gehören könnte – daß er der rechtmäßige Besitzer dieses Anwesens ist ... Und auf der anderen Seite so eine hinterlistige Seilschaft alter Genossen, die ihm das alles abzuluchsen versuchen ...“
Er schien zutiefst beeindruckt, und zwar von dem „Vermögenswert“, den Schloß Stiegliz offenbar darstellte und den er bisher anscheinend unterschätzt hatte. Von den Märchenmotiven und nachtweltlichen Symbolen, die Lisa in ihre Skizzen geschmuggelt hatte, schien er nichts zu bemerken: nicht die Kröte, die sich bedrohlich zum Sprung duckte; nicht die flehende Hand, die sich in Gestalt des Rotbuchen-Fünflings aus der Erde des verwilderten Parks reckte; nicht den zertrümmerten, gewaltsam niedergeschlagenen Menschenleib, als welcher das Schloß auf anderen Bildern – vom Söller vor der Orangeriekuppel aus gezeichnet – wieder und wieder erschien.
„Das ist ja ein richtig luxuriöses Anwesen“, sprach Alex, „warum hat er mir das nicht gleich gesagt? Weißt du was, Lisa, dieses Schloß ruft geradezu nach Investoren; da könnte man ruckzuck ein First-Class-Hotel draus machen – na ja, vielleicht nicht gerade in dieser gottverlassenen Gegend –, aber, sagen wir, ein Edelsanatorium à la Marienbad?“
Und dann sein Resümee, während Lisa ihn in einer Mischung aus Amüsement und Verärgerung anlächelte: „Darüber muß ich mit Timo sprechen, sobald wie möglich! Wenn wir uns hinter die Sache klemmen – Timo, ich und natürlich meine Bank –, wär’ doch gelacht, wenn wir diesen possenhaften Prozeß nicht gewinnen!“
„Wenn du dort gewesen wärst.“ Ganz trübe wurde ihr jetzt, da sie nach Stiegliz zurückdachte, trüb vor Trauer, vor Müdigkeit. „Es ist eine andere Welt – dort ist überhaupt nichts ‚edel‘, Alex, glaub mir – in Stiegliz ist alles ...“ Sie überlegte. „... wie verzaubert, wie in bösen, dunklen Träumen: eine Welt aus Ruinen und Schmutz und Armut, und drum herum die Wälder; und die Menschen, diese Stieglizer Bauern, auch Lauber, der Bürgermeister – sie sind ... tückisch, du kannst ihnen nicht trauen; und immer spürst du ihren Haß, ihre Verachtung, auch wenn sie dir ins Gesicht lächeln. Und ringsum in den Wäldern, am Ufer, im Schloß selbst und im Park – da gehen Dinge vor, von denen jeder weiß, vielleicht auch Timo, und von denen niemand sprechen will. Die Nachtseite“, schloß sie leise, beinahe murmelnd, „wie in den ältesten Märchen, die immer gewußt haben: Da gibt es eine Grenze, dahinter ein Land der Schatten, dort ist alles wie bei uns, wie in der vertrauten Welt, und doch ganz anders, auf grauenvolle Weise verwandelt.“
Aufblickend sah sie in das gebräunte Gesicht von Alex, der sie mit einer Art erschrockener Belustigung beobachtete. Gegen ihren Willen mußte sie lächeln. „Ach, Alex“, sagte sie, „warum hab’ ich dich eingeladen? Ich dachte, du würdest mich ein wenig bewundern für meine schönen Bilder und mich nachher trösten, weil ich so allein und durcheinander bin.“
Sofort schaltete Alex um. Sein Lächeln, sein strahlender Blick versengten alle Düsterkeit. „Als Witwentröster“, rief er, „bin ich hundertmal besser denn als Expörte für modörne Kunst!“ Mit theatralischer Geste zog er sie auf die Couch unter den Stiegliz-Bildern. „Wo ist der Champagner, Madame?“
„Im Kühlschrank“, sagte Lisa erwartungsvoll, „wo sonst?“
Alex sprang auf. Handkehrum war er wieder da, mit einem silbernen Tablett, darauf die Champagnerflasche und zwei kristallene Kelche. „Ihre Kunst, gnädige Frau, ist überwältigend, und ich spreche jetzt von der Kunst, Ihre natürliche Schönheit zu sinnverwirrendem Zauberglanz zu steigern!“
Der Korken knallte, der Champagner schäumte, und dann Alex, mit übergangsloser Zartheit:
„Auf dich, Kleines. Auf euch beide. Daß alles wieder gut wird.“
Sie tranken. Alex schenkte nach. Sie spürte ein Brennen in den Augen; plötzlich preßte sie sich an Alex’ Brust. Seine Hände tätschelten ihren Rücken, strichen sanft über ihr Haar, sein Mund summte beruhigende Silben. Er bückte sich zu ihr hinab, und seine Lippen berührten ganz zart ihre Wange.
Draußen glitt nahezu lautlos die Haustür auf, ein feiner, schabender Klang, den nur Lisa aus Gewohnheit hörte.
„Küß mich, Dummkopf“, flüsterte sie rasch, und als Alex zögerte, als er im Gegenteil zurückweichen wollte, schlang sie die Arme um seinen Nacken und drückte seine Lippen auf ihren Mund.
Alex murmelte etwas, das unverständlich blieb. Lisa seufzte, in ihrem Kopf die zartbunten Bilder von jener Liaison vor vierzehn Jahren, und in diesem Moment, da Lisa und Alex teils erpreßte, teils erinnerte Küsse tauschten, ertönte von der Diele her ein verblüfftes Räuspern.
Die beiden fuhren auseinander.
Vor ihnen stand Timo. Wie müde, dachte Lisa, wie bleich, wie zerbrechlich er aussieht.
„Du mußt nicht glauben ...“ Alex machte eine beschwichtigende Geste gegen Timo, zugleich warf er Seitenblicke zu Lisa, die von äußerster Verwirrung zeugten.
Timo zuckte mit den Schultern. Sein Blick streifte erst Lisa, dann den Block dunkler Stiegliz-Bilder hinter ihr. „Entschuldigt“, sagte er, „ich muß erst mal telefonieren.“
Dann seine Schritte auf der Holztreppe. In ihrem Haus gab es ein Telefon auf jeder Etage, aber Timo ging bis ganz nach oben, zu dem Apparat in seinem Dachatelier.
Sie schien eine Menge Geld zu haben – oder einen reichen Gönner. Jedenfalls lebte sie in Hanau-Wilhelmsbad, in einer einstöckigen Jugendstilvilla, deren Fassade so perfekt restauriert war, daß das Haus geradezu museal wirkte.
Timo parkte unter einer Linde. Als er vorhin aus dem Atelier wieder nach unten gekommen war: im Bilderzimmer noch immer Lisa und Alex, beide verwirrt, schuldbewußt, wie versteinert; aber er hatte jetzt keine Zeit, über den Charakter dieser unerwarteten Umarmung nachzudenken: Trost, Freundschaft, Begierde, Zärtlichkeit ... „Tut mir leid, ich muß noch einmal weg: ein überraschender Termin.“
Von seinem Atelier aus hatte er auf Margots Anrufbeantworter gesprochen. Er hatte gespürt, daß sie zu Hause war, und er war sicher, daß sie auf ihn wartete. In gewisser Weise war es ihm nicht einmal unlieb, daß Lisa und Alex ... Etwas Entlastendes, Beruhigendes ging von dieser Umarmung zwischen seiner Frau und seinem besten Freund aus: als ob er sich jetzt wegen seiner „Stieglizer Raserei“ kein Gewissen mehr zu machen bräuchte und Lisa gerade in Alex’ Armen verläßlich aufgehoben sei. Aber während er sich diese Version zurechtlegte, spürte er einmal mehr, daß unter dem Einfluß von Stiegliz alles, was ihm bisher als festgefügt erschienen war, sich aufzulösen, fratzenhaft zu verzerren und auf wenig geheure Weise neu zusammenzusetzen begann.
Er drückte die Klinke des verschnörkelten Gartentörchens und trat in einen Watteau’schen Garten. Rechterhand ein Miniatursee unter Weidenästen, blühendem Geranke, umgeben von einer wildbelassenen Wiese und Bäumen im Halbkreis, die offenbar Waldlichtung spielten.
Der Sandweg zur Freitreppe, fünf Stufen mit Intarsien: die drei Weltkugeln, die Pyramide nebst goldener Kugel, die verschränkten Hände – Freimaurersymbole. Die Haustür war angelehnt.
„Margot?“
Keine Antwort. Sein Herz begann zu hämmern.
Er trat in einen schmalen Gang, drückte hinter sich die Tür zu. Der Gang führte in einen lichtdurchfluteten Saal, der sich offenbar über die volle Breite und Tiefe des Hauses erstreckte: ein Museum.
Lange Reihen gläserner Vitrinen, und die Wände dicht an dicht behängt mit größtenteils altersgedunkelten Ölgemälden. Ludwig Tieck fiel ihm ein, Der Bilderhändler (dessen Haus unter dem Gewicht der an allen Wänden, in jedem Winkel aufgehängten Bilder einstürzt und den Bildersüchtigen unter Gemälden, Gesteinstrümmern begräbt), während er auf knarrendem Schiffsparkett in den Saal trat.
„Da bist du ja.“
Er fuhr herum: Margot, ernst, düster, bleich. Ihre Augen fixierten ihn, so daß er stehenblieb und ihren Blick ebenso starr erwiderte. Er hatte den Eindruck, daß sie benommen war: Drogen vielleicht oder meditative Trance.
„Warum hast du mich warten lassen.“ Mit schleppenden Schritten kam sie auf ihn zu. Sie trug ein knöchellanges, überweites Gewand, kalkweiß und mit Nonnenkapuze, das um die Taille mit einem Strick gegürtet war.
Noch immer hämmerte sein Herz, wie in einem Traum, dabei spürte er ja, daß sie Theater spielte. Oder nicht? Er versuchte es mit Strenge, mit Vernunft: „Was soll der Unsinn, Margot! Wo hast du diese Skulptur? Du ahnst ja gar nicht, in welche Schwierigkeiten du mich gebracht hast!“
Sie packte ihn bei den Schultern und zog ihn an sich.
„Laß das doch.“
Sie drückte sein Gesicht in ihre Schultergrube, ihr mähnenhaftes Haar, dessen Geruch in ihm abermals jenes Bild beschwor: die kniehohe Wiese, die schwankenden Wildblumen auf dem Hügel unterhalb von Schloß Stiegliz.
„Ich bin wirklich in Eile“, murmelte er, „ich will nur diese Skulptur holen.“
Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihn lange an. „Die Skulptur? Da hinten.“
Er wollte sich umwenden, doch sie hielt ihn fest und küßte ihn.
„Aber ein Gläschen trinken wir doch, bevor du gehst? Schau, dort ist die Figur.“
In einer hohen, schmalen Glasvitrine von der Form eines Türmchens stand in Blickhöhe tatsächlich der unselige bernsteinerne Jüngling – im Halbprofil, so daß der angreifende Wolf nur teilweise zu sehen war.
Warum sollte er Margot vor den Kopf stoßen? Sie verhielt sich wirklich lieb, und sie schien sogar ein wenig zerknirscht, da sie ihm Scherereien gemacht hatte. „Aber wirklich nur ein Glas – ich muß ja noch fahren!“
Endlich wieder ihr Lächeln. Und ein bittersüßes, likörartiges Getränk aus Jugendstilkelchen, das Timo in einem Zug hinunterstürzte.
Als käme er auf diese Weise rascher von ihr fort! Sie schenkte nach. Sie schmiegte sich an ihn, dabei blickte sie ihn wiederum unverwandt an, bis er einen leisen Schwindel empfand, als schaue er in eine dunkle, ansaugende Tiefe.
„Komm, ich muß dir rasch noch etwas zeigen.“ Über die Treppe führte sie ihn nach oben. Die Stufen mündeten in einen Flur, gegenüber eine schwarze Flügeltür, die Margot öffnete. Dahinter ein hoher Raum, die Luft voller Staub und so mit Düsternis erfüllt, daß Timo auf der Schwelle stehenblieb, bis seine Augen sich an das matte Licht gewöhnt hatten.
Eine Bibliothek. Die Wände bis unter die Decke mit Regalen aus schwarzem Holz bedeckt, und darin drängten sich Hunderte, ja Tausende lederhäutiger Folianten.
„Diese Skulptur ...“ Seitlich drückte sich Margot gegen ihn. „Ich glaube, Timo, sie ist bei mir besser aufgehoben als bei dir. Mein Haus ist alarmgesichert.“
Aber die Tür stand offen! Daran dachte er im Moment nicht. Dachte er überhaupt? Er starrte Margot an, eine Nonne in kalkweißer Kutte, darüber ihr Kupferhaar. Sie führte ihn zu einer Gruppe grauer Ledersessel, auf die aus unbekannter Quelle ein Kegel staubigen Sonnenlichts fiel. Schon saßen sie einander gegenüber, schon hatte Margot ein zerfleddertes Büchlein aus dem Regal gefischt, das sie auf ihren Schoß legte, eine Hand auf dem Buch zur Faust geballt.
„Aber wenn du möchtest, kannst du die Figur natürlich mitnehmen – nachher: Sie gehört ja dir.“ Ihre Stimme klang schwer und hallend.
„Gehört sie nicht!“ protestierte Timo. „Sie gehört ...“ Wie egal ihm auf einmal dieser Trowal, seine Statue, dieser ganze Zauberkram in dem schäbigen Koffer war. Er blickte Margot an. Er war bei ihr, nichts anderes zählte.
Wieder spürte er sein Herz, rasend und hämmernd, und wagte nicht aufzustehen, obwohl er nichts sehnlicher gewünscht hätte, als neben ihr zu sitzen, ihren Duft zu riechen, ihre Haut mit seinen Händen zu spüren. Doch er fühlte sich unbeholfen, krötenhaft entstellt neben diesem Mädchen, das ihm auf einmal unberührbar, von unirdischer Schönheit schien.
„Mein Zaubertrank.“ In ihren Händen funkelten wieder die schmalen Kelche. „Er wirkt nur, wenn man das Glas bis zur Neige leert.“
Gehorsam nahm er das Glas und trank es aus. Als sie ihm den Kelch wegnahm, hielt er auf einmal das zerfledderte Büchlein in Händen, das zu seiner Verblüffung den Titel Der Wolf von Stiegliz trug.
„Sieh es dir in Ruhe an. Vielleicht hilft es dir ja weiter. Und wenn du nachher die Statue mitnehmen willst ...“ Ohne ihren Satz zu beenden, glitt sie zur Tür, die sich hinter ihr schloß, während Timo das Buch aufblätterte.
Er fühlte sich benommen. Irgendwo im Haus, gedämpft durch die Schicht der Bücherwände, verfremdet durch das Rauschen in seinen Ohren, glaubte er Margot leise singen zu hören, während er mit fahrigen Händen blätterte.
Sinnlos. Seine Augen irrten über die Zeilen und sahen nur Margot. Seine Hände berührten die vergilbten Blätter und fühlten nur Margots Haut. Unmöglich, sich gerade jetzt auf den weitschweifigen Text zu konzentrieren, der im übrigen nur ein altes Märchen nachzuerzählen schien, das Timo aus seiner Kindheit kannte: die Mär vom Oderwolf, der durch die Wälder strich und mit Vorliebe kleinen Knaben auflauerte. Er stand auf, legte das Büchlein auf den Tisch und ging zur Tür.
„Margot?“
Während er auf den Gang trat, vernahm er draußen, auf der Straße, das Startgeräusch eines starken Motors. Er stürzte zum Flurfenster. In der abendlichen Dämmerung sah er, wie unten, vor dem Haus, ein flacher schwarzer Sportwagen davonglitt, seine Rücklichter glitzernd in den Pfützen der regengrauen Allee.
Er war nicht einmal in die Garage gefahren, er hatte vor ihrem Vordereingang geparkt, damit sie sofort wieder starten konnten. Seine Idee, in die er sich während der rasenden Rückfahrt von Hanau regelrecht verrannt hatte: sofortiger Aufbruch, er und Lisa, eine improvisierte Reise – nach Rom, nach Florenz, vollkommen egal –, die einem zweifachen Zweck dienen würde:
Versöhnung mit Lisa (denn er spürte jetzt, daß ihre Verbindung tatsächlich zu zerreißen drohte – und daß er dieses Scheitern, Erkalten, Auseinandergehen nicht ertragen würde; daß er sie brauchte, daß er Lisa nicht einfach opfern konnte, für Stiegliz, für seine „Verrücktheit“, wie eine Figur in einem Spiel). Und dann natürlich: Flucht vor Trowal, und nicht nur vor diesem paranoiden Kofferboten, Flucht auch vor der hexenhaften Margot, vor seinen Gedanken an Karoly (Schuld, Trauer, Grauen), vor diesem ganzen Wahngebilde, das ihn enger und enger zu umstricken drohte, seit er beschlossen hatte, nach Stiegliz zurückzukehren. Das ruinenhafe Schloß, die Schemen im nächtlichen Park, dachte Timo auf der Autobahn im Nieselregen, der gespenstische Prozeß, diese ganze verwunschene Landschaft: wie aus einem Alptraum, aus dem du nicht und nicht erwachen kannst ... Und er konnte es doch! Er würde sich befreien; alles würde sich beruhigen, wenn er zusammen mit Lisa für einige Zeit einfach davonfuhr, in die Sonne, ans Meer, unter den lächelnden Himmel Italiens.
„Jetzt? Losfahren? Es ist zehn Uhr abends!“ Sie stand vor ihm, die Hände in die Hüften gestützt, und ihre Augen verdunkelten sich vor Empörung. Was er nicht bedacht hatte, waren Lisas unverrückbare Gewohnheiten und ihr Groll, der sie alles, was er vorschlug, mit kalter Verstocktheit ablehnen ließ. Sie war bereits im Nachthemd, auf dem Flur zwischen Bad und Schlafzimmer, und sie roch nach Zahncreme, nach Seife, nach sauberer Müdigkeit.
Er spürte, wie ihm die Dinge endgültig entglitten, aber er versuchte es noch einmal: „Mittag oder Abend – was macht das schon? Wir packen unsere Sachen – nur das Allernötigste – und fahren in den Morgen hinein.“
Sie warf ihm, schon auf der Schwelle zum Schlafzimmer, einen Blick zu, als ob er betrunken wäre. „Das kommt mehr als überraschend. Was ist los mit dir, Timo? Wovor willst du so plötzlich fliehen? Übrigens hat da vorhin ein Mann angerufen, mit einer Stimme, als würde er gewürgt.“
Trowal.
„Was – was wollte er denn?“
„Hat er mir nicht gesagt. Aber er klang bedrohlich, und er hat verkündet, daß er morgen vormittag hier vorbeikommen wird. – Wie sehr du dich verändert hast, Timo.“ Unter diesen Worten wandte sie sich bereits ab von ihm. „Mit was für Leuten du neuerdings zu tun hast: der tote Polenjunge in Stiegliz, die Polizei, und jetzt dieser finstere Anrufer. Aber das ist alles deine Sache. Du hast es mir ja erklärt – wann war das? Letzten Donnerstag in Stiegliz: daß du dich entscheiden mußt und daß du dich entschieden hast – für deinen Kampf, für deinen Prozeß und gegen mich.“
„Lisa, bitte.“ Seine Aufbruchsstimmung, ohnehin eher Panik, begann abzuflauen. Noch immer fühlte er sich benommen, und bei der Erinnerung an Margot, an das Hexenspiel, das sie wieder mit ihm gespielt hatte, empfand er im Moment nur noch eines: Erschöpfung, Leere. Als hätte er seine Kräfte, die er für seinen Kampf um Stiegliz brauchte, bereits für alle Zeit aufgezehrt.
„Wie auch immer“, sagte Lisa. Zumindest klang ihre Stimme nun eine Spur versöhnlicher. „Ich gehe jetzt erst mal schlafen. Laß uns morgen beim Frühstück weiterreden.“ Und ehe er widersprechen konnte: „Du weißt ja, wie sehr ich mir das seit langem gewünscht habe: daß wir endlich wieder einmal gemeinsam verreisen. Aber du weißt auch, daß ich das fürchterlich finde: unausgeschlafen durch die Nacht zu fahren.“
Natürlich hatte sie recht. Wenn man es von ihrer Seite aus sah – wenn man vernünftig blieb – wenn man außer acht ließ, daß Margot abermals mit dieser fluchbeladenen Skulptur verschwunden war!
O Timo, was warst du für ein Narr – zum zweiten Mal. Was für ein Spiel spielt sie mit dir? Warum hast du dir nicht einfach diese Figur geschnappt und das Weite gesucht? Warum hast du ihr nicht wenigstens erklärt, daß Trowal dir eine Frist gesetzt hat: Rückgabe der Skulptur bis heute abend, sonst ... Ja, was eigentlich? Erpressung seines märchenhaften „Kaufpreises“ in Höhe von drei, fünf, sieben Millionen Mark?
„Kommst du auch schlafen?“
„Einen Moment – höchstens fünf Minuten noch.“ Er küßte sie zerstreut, wandte sich ab und ging nach oben in sein Atelier, plötzlich wieder mit Panik kämpfend, während er hörte, wie Lisa unten, in der ersten Etage, die Schlafzimmertür hinter sich zuzog.
Wie sollte er jetzt schlafen?
Wie sollte er Robert Trowal erklären, daß er Margot (Anna!) aufgespürt, daß er auch die Figur wiedergefunden hatte und die beiden ihm dann neuerlich durch die Finger geglitten waren? Daß er sie überall in ihrem Hexenhaus gesucht hatte, sogar im Keller, sogar unter dem Dach, obwohl er die ganze Zeit schon geahnt hatte: Sie war es – sie, Margot –, die vorhin mit dem Sportwagen gestartet, die ganz einfach davongefahren war, die ihn zum Narren hielt, schon zum zweiten Mal?
Spätestens auf der Treppe nach unten, zu ihrem Bilder- und Vitrinenzimmer, hatte er gewußt, mit untrüglicher Sicherheit gewußt, was er dort vorfinden würde: Die Vitrine in der Ecke des Saals geöffnet, leer, und das ganze Haus war leer, leer, oder vielmehr – ein Museum, angefüllt mit geheimbündlerischen Exponaten, aber kein Haus, in dem Menschen lebten; nirgends eine Spur von Margot, nirgends ein Hinweis, daß dieses Haus überhaupt bewohnt war. Neben der Bibliothek ein kleiner Schlafraum, ein Bad, eine Küche: alles steril wie ein Hotelapartment, die Kleiderschränke leer, nirgendwo Wäsche – irgend etwas –, und das Bett sah aus, als ob es noch nie benutzt worden wäre.
Als er nach draußen ging, durch diesen Garten, der aussah wie ein kunstvoll angelegter Park en miniature: wieder das Gefühl, als ob er in einen Traum geraten wäre, in eine Traumwelt, verzauberte Welt, und fände den Ausgang nicht mehr.
Sein Geländewagen unter der Linde. Wilhelmsbad schlief schon. Er selbst kam sich wie ein Schlafwandler vor – bis das Startgeräusch des Motors in der Stille explodierte.
Trowal würde ihn endgültig für einen Betrüger halten. Durch das neuerliche Verschwinden der Skulptur würde er sich noch mehr in seiner paranoiden Theorie bestätigt sehen, daß irgendwelche hinterlistigen Drahtzieher versuchten, ihm dieses angeblich kostbare Kunstwerk durch Machenschaften zu entwenden.
Er ging in seinem Atelier auf und ab, zwischen der Bücherwand und der gläsernen Schräge, über der die Sterne im nachtschwarzen Himmel glitzerten. Selbstverständlich würde Trowal versuchen, ihn unter Druck zu setzen; er würde die Skulptur verlangen, die Margot entwendet hatte, oder seine phantastische Summe, die zusammenzukratzen illusorisch war. Und auf der Rückfahrt von Hanau war Timo zu dem Schluß gekommen, daß Trowal auch vor Gewaltmaßnahmen nicht zurückschrecken würde.
Natürlich war er sich bewußt, daß Flucht keine Lösung darstellte – zumal es sich um befristete Flucht für allenfalls vierzehn oder zwanzig Tage handelte, mit anschließender Rückkehr nach Frankfurt West oder Frankfurt Ost. Aber eine andere Lösung fiel ihm nicht ein, zumal er weiterhin entschlossen war, Margot Wegeners wirklichen Namen, ihre Adresse keinesfalls preiszugeben – diesem Trowal oder wem auch immer.
Die Skulptur, der „vom Wolf gebissene Jüngling“, dachte Timo in seinem Dachatelier: für Margot ein Totem, durch das sie meinen Willen manipulieren, mich wie eine Fadenpuppe dirigieren kann. Diese Vorstellung war unheimlich, alarmierend und in gewisser Weise sogar entwürdigend, aber nicht wirklich unangenehm. Im Gegenteil.
Er machte nicht einmal den Versuch, sich hinzulegen. Er schlich nach unten und begann zu packen.
Quälend langsam verging die Nacht.
Um sechs Uhr dreißig weckte er Lisa. Die Koffer standen gepackt in der Diele. Er hatte den Frühstückstisch gedeckt, Reisekarten, Atlanten neben den Tellern gestapelt, und er hatte auch sofort seinen Vorschlag parat: Italien!
„Warum Italien?“ fragte Lisa schläfrig.
„Von mir aus auch Dänemark – was du willst!“
Immerhin schien sie an seiner Idee allmählich Gefallen zu finden. Allerdings sah sie nicht ein, weshalb er auf derart überstürztem Aufbruch beharrte. Sie blieb die Vernunft in Person, während Timo immer zappeliger wurde. Umständlich studierte sie Streckenkarten, berechnete Reisezeiten, zitierte Stauprognosen, woraufhin Italien sowohl wie Dänemark aus dem Rennen waren. „Eigentlich“, sagte sie, „hatte ich gehofft, daß wir endlich einmal eine Fernreise machen – Neuseeland soll wunderschön sein.“
Das Thema Flugzeug kostete ihn eine halbe Stunde. Er saß wie auf Kohlen. Also doch mit dem Auto. Aber wohin? Er verlor die Beherrschung: „Warum können wir nicht einfach losfahren? Warum muß bei uns immer alles und jedes perfekt geplant sein?“
Warum mußte er ausgerechnet jetzt anfangen, giftige Bemerkungen zu machen?
„Wo warst du übrigens gestern abend, Timo? Warum hast du die ganze Nacht nicht geschlafen? Ich spüre doch, daß mit dir irgend etwas nicht stimmt!“ Sie funkelte ihn an.
Er versuchte zu beschwichtigen. Sie hatten es nicht gelernt, miteinander zu streiten, und jetzt fing sie, wie in Stiegliz, wieder zu weinen an – urplötzlich, nachdem er behauptet hatte:
„Du hast wirklich keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Gerade du! Nachdem ich dich gestern erst mit Alex ertappt habe – bei einem Kuß, in zärtlicher Umarmung!“
Eifersucht? Er selbst war fassungslos über dieses komödiantisch klingende Wort. Draußen fuhr ein Wagen vorbei, mit dramatisch quietschenden Reifen: Trowal? Er sprang auf. „Fahren wir jetzt?“
„Nein!“
„Dann fahre ich eben alleine los!“
Und tatsächlich stürzte er aus der Küche, in die Diele, wo die Koffer standen und wo er sich wahllos zwei Gepäckstücke schnappte, mit denen er nach draußen zu seinem Wagen lief.
Was jetzt? Er hatte ganz einfach die Nerven verloren. Er konnte doch nicht wirklich mit diesen beiden Koffern losfahren – ohne Lisa und irgendwohin?
Er warf die Koffer hinten in den Wagen. Lisa stand am Fenster, ein zerknülltes Taschentuch vor dem Gesicht. Er selbst war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Er machte ihr ein Zeichen: Komm doch! Als sie den Kopf schüttelte und sich abwandte, blieb ihm keine Wahl mehr: Er stieg ein und fuhr davon, auf die Autobahn in Richtung Süden, als ob er tatsächlich nach Italien reisen wollte.
Nach zwei Stunden kehrte er um –
Auf dem Rückweg geriet er in einen Stau – –
Am frühen Nachmittag war er wieder daheim – – –
Er fand das Haus bis unter das Dach durchwühlt, alle Zimmer, Schränke, Laden, alles durcheinandergeworfen, überall Scherben, Verwüstung, und er rief: „Lisa! Lisa – bitte, wo bist du?“, und er rannte mehrmals durch alle Zimmer, vom Keller bis auf den Dachboden, riß alle Türen auf, rief Lisa, schrie Lisa und fand endlich, unten im Wohnzimmer, zwischen Lisas von der Wand gefetzten Stieglizer Skizzen, die hingekritzelte Botschaft:
Ich hatte mir Ihren unpassenden Humor bereits verbeten. Modalitäten des Austauschs morgen telefonisch. – T.