In der Nacht zum 24. Juni 1992 wölbte sich der Himmel schwarz und sternenschwer über der noch immer tückisch strudelnden Oder, über Dorf und Schloß Stiegliz und den ostwärts sich dehnenden Lärchenwäldern, wo die umgestürzten Bäume wie zu verzwicktem Riesenmikado hingeworfen lagen. Fünf Tage waren seit jenem Unwetter vergangen, das die Bootslände zertrümmert hatte, durch Wald und Dorf gewirbelt war, an Dächern gerüttelt und die Grabmulde des sterbenden Karoly freigespült hatte – zu früh, zu spät, je nachdem. An den Hauswänden in Frankfurt und Lebus war ein neues Graffito aufgetaucht – Grenze? Oder? In Stiegliz schien alles gerichtet für eine friedvolle Nacht.

Bis gegen vier Uhr früh ein von fern herbeiwehendes Knurren und Winseln den alten Karl Cramsen aus dem Schlaf riß: Wolfsjaulen, kein Zweifel, dieser einzigartige, unheimlich vertraute Tierschrei, zugleich gierig und unterwürfig, die Oktaven emporschleifend, dann jäh abbrechend auf dem höchsten Ton. Darauf Stille, doch nur für einen Lidschlag, schon setzte das ganze Rudel mit choralem Geheule ein, das dem Alten, wie er sich auch die Ohren mit seinen Fäusten zupreßte, bis unter die Schädeldecke fuhr. Dort setzte sich das Jaulen und Winseln fest, schleifte wie mit zwei Dutzend Geigenbögen auf seinen Hirnnerven hin und her, und dazu wehte ein leises Splittern und Knacken über Bäume und Dächer in seine Schlafkammer herein: nicht zu entscheiden, ob Geäst oder Gebeine dort draußen zuschanden gingen. Fluchend tastete Cramsen nach dem Nachtlicht.

Längst war er ein weißhaariger, knochendürrer Greis und hielt sich doch immer noch auf dem Rüttelsieb, auf dem er schon so viele hatte tanzen, sich spreizen, dann durch die Maschen stürzen sehen. Die rasend bewegten Jahre hatten ihm alle Bilder durcheinandergeschüttelt; nichts hatte er vergessen außer dem Sinn, dem Zusammenhang, der all diese Eindrücke, Erinnerungen, Schicksalsschläge früher einmal geordnet und zu einem Menschenleben begrenzt hatte: mit der Geburt beginnend, an Angst und Hoffnung aufgefädelt und an diesen Schnüren sich hangelnd bis in den Sarg.

Draußen im Wald jaulten die Wölfe, wie sie seit jeher geheult und gewinselt hatten, unterbrochen nur von kurzen Perioden lauernden Schweigens. Im knöchellangen weißen Nachthemd trat Cramsen ans Fenster und blickte hinaus ins Sternendunkel, das sich im Dorfteich verdoppelte und sein unsicheres Glitzerlicht über den Wald warf, wo in der Höhe schwarz und brockenhaft Schloß Stiegliz emporragte. Die Nachtluft war mild, doch Cramsen hörte das verhaßte, verzaubernde Jaulen; er starrte zu dem von Bäumen und Büschen verstrüppten Schloßschatten empor und fröstelte.

Keiner im Dorf war älter als Cramsen, keine Familie hatte länger in Stiegliz ausgeharrt als die seine, die seit beinahe tausend Jahren dem Grafen von Burg, später Schloß Stiegliz dienstbar war. Als Förster hatten seine Urahnen die Urwälder um Stiegliz gelichtet; als Jäger hatten sie Wölfe und Braunbären ins Dickicht getrieben; als Soldaten waren sie dem Grafen von Stiegliz während zahlloser Kreuzkriege ins Samland und Kulmerland gefolgt. Auf Befehl des Grafen hatten sie geholfen, die wilden Prussen zu unterwerfen, was Jahrhunderte dauerte, und die heilige Marienburg zu erbauen, die binnen weniger Jahre wieder verloren ging. Bis Königsberg waren Cramsen und der Graf von Stiegliz vorgedrungen, hatten gegen die Horden Jagiellos die furchtbare Niederlage von Tannenberg erlitten und waren, während weiterer Jahrhunderte, schrittweise zurückgeworfen worden bis hinter die Oder, wo sie sich bis zum heutigen Tage hielten. So geringfügig Cramsen im Rückblick die wenigen Perioden erschienen, da der Graf nicht im Schloß residiert, nicht über Stiegliz regiert hatte, so unkenntlich hatte sich ihm längst die Grenze verwischt zwischen dem tausendjährigen Grafen Prohn zu Stiegliz und seinem ebenso ausdauernden Gefolgsmann Cramsen einerseits und den jeweiligen Erbfolgern, die generationenweise diese beiden übernatürlichen Subjekte verkörperten: den Kriegs-, Burg- oder Schloßherrn und dessen als Jäger oder Totengräber, Verwaiser oder Förster dienstbaren Vasallen, der seit jeher Cramsen hieß.

Plötzlich glaubte Cramsen im Wald östlich von Schloß Stiegliz, in einer Entfernung von wenigstens drei Kilometern, ein Flackern zu erkennen: ein dünnes, gelbliches Züngeln wie von Flammen; dann stieg verhüllend eine Qualmwolke auf, die langsam verwehte und abermals den Blick freigab auf das Feuer, das jetzt orangerot emporleckte bis beinahe zur Höhe der Lärchenwipfel.

Leise zog er das Fenster auf und horchte nach draußen. Das Prasseln des Feuers war nun deutlich zu hören, und es mischte sich mit dem Knurren und Winseln der Wölfe, das aus der Richtung des Feuers kam und gemeinsam mit dem Loderton der Flammen zu ihm herüberfauchte. Gefahr, sofort zum Schloß hoch, dachte Cramsen, dem sich sämtliche Körperhärchen sträubten: als wollte im nächsten Moment aus seiner Haut ein zottiges Fell hervorschießen, ihn verwandeln, seinen Leib mit Bestienkraft, sein Hirn mit mörderischer Gier erfüllen wie in jener Mär, die seit Jahrhunderten den Gefolgsmann des Grafen umgab.

Einst hatte Graf Prohn zu Stiegliz die Mär aufgeschrieben und dem treuen Cramsen eine Abschrift geschenkt. Niemals hatte Cramsen das Bewußtsein verlassen, daß der Graf eines Tages zurückkehren, ihn wieder zu sich rufen würde, und so sehr ihm das geile, gierige, geflissentliche Winseln der Wölfe verhaßt war, so sehr erfüllte das chorale Jaulen ihn nicht nur mit Qual, sondern überdies mit der Gewißheit, daß ihre Stunde wieder gekommen war.

Im Halbdunkel tappte er zum Schrank neben seinem Bett, warf mit soldatischer Raschheit derbe Kleidung über, versorgte sich im Rausgehen mit Stablampe und Pistole und trat schon aus der Tür, auf das finstere Dorfsträßchen.

Durch alle Glieder fuhr ihm jetzt das tobende Wolfskonzert, und der Brandgeruch benahm ihm beinahe den Atem. Immer schon hatte er über diese Überschärfe seiner Sinne, vor allem des Sehnervs, des Hör- und Geruchssinns verfügt, die Entfernungen schmelzen ließ, Hindernisse durchdrang und ihn oft genug mit überwältigenden Sinneseindrücken peinigte. Deutlich sah er oben im Lärchenwald, unweit der Ostmauer von Park Stiegliz, den Scheiterhaufen vor sich, und er sah die Wölfe, die gelbäugig an der Schattengrenze verharrten, während der Auserwählte des Rudels Zähne und Krallen in das Fleisch ihres Opfers schlug.

Cramsen schaltete die Stablampe ein und hastete hügelan auf den Wald östlich von Schloß Stiegliz zu, aus dem ihm ein Inferno aus prasselndem Feuer, Wolfsgeheule und den Klagerufen des Überfallenen entgegenschallte.

Wie gern hätte Timo an einen üblen Scherz geglaubt, notfalls auch an einen Racheakt, eine Verzweiflungstat, regelrecht einen Amoklauf von Lisa. Aber diese systematische Verwüstung in ihrem Haus und das höhnisch-lakonische Zettelchen, zwischen die heruntergerissenen Stiegliz-Bilder gemischt, erlaubten keine Illusionen: Trowal hatte seine Drohung wahr gemacht. Lisa war in den Händen eines paranoiden Entführers.

Sie hatten alles ausgeräumt, umgestürzt, absichtlich zertrümmert: unten im Bilderzimmer auf dem Teppich eine dicke, knirschende Schicht aus zerfetzten Bildern und zersplitterten, in Stücke gebrochenen Rahmen. Dazu die Ledercouch der Länge und Breite nach aufgeschlitzt: als ob er die unselige Skulptur in seine Möbel eingenäht hätte! Auch oben, unter dem Dach, in seinem Atelier, hatten diese Leute fürchterlich gewütet, und in ihrer Erbitterung, weil sie die Skulptur nicht fanden, hatten sie alle seine Kästen voll unersetzlicher Fotonegative aus dem Schrank gezerrt, die Filmrollen zerrissen, sogar mit Messern durchbohrt.

Es war tief in der Nacht. Seine Suche nach Lisa mochte Stunden gedauert haben. Immer wieder war er durch alle Räume, durch den Garten gelaufen, in den Keller gestürzt, dann wieder atemlos bis hinauf in den Speicher gelaufen, und er hatte sich gezwungen, gegen jede Wahrscheinlichkeit an seinem Glauben festzuhalten, daß Lisa die Nerven verloren, daß sie beschlossen hatte, ihm eine aberwitzige Lektion zu erteilen.

Draußen rauschte der Regen. Timo stand im zerschlagenen Bilderzimmer vor der Terrassentür und schaute in die Dunkelheit. Der Regen rauschte auf die Tannen und trommelte auf die Gartenmöbel, die aus morschem Buchenholz waren. Für Sekunden sah er wieder diesen Jungen vor sich, aus dem Ratzeburger Hotel Burg am See: die blonden Locken, die hochgewachsene Gestalt und, vor allem, dieses intensive Grün seiner Augen wie damals, vor beinahe vierzig Jahren, sein verschollener Bruder Kai.

Er mußte einen Entschluß fassen.

Mit den Schuhen links und rechts Scherben, Holzsplitter, zerfetzte Fotos und Gemälde beiseite schiebend, bahnte er sich einen Pfad zum Telefon, das auf einem Tischchen neben der Zimmertür stand. Notruf, seit Stunden war ihm bewußt, daß er die Polizei längst hätte verständigen müssen: Ich möchte eine Entführung melden ... Zum zehnten oder zwölften Mal an diesem Abend, in dieser Nacht hob er den Hörer ab, und wiederum tippte er nicht einmal die Nummer ein. In der Leitung das Freizeichen. Sacht legte er den Hörer zurück.

Zunächst einmal auf den Anruf dieses Trowal warten. Und vor allem: Margot suchen, abermals, und diesmal würde er ...

Vielleicht ließ sich ja alles noch gütlich regeln. Ihm war, als ob er in eine gräßlich entstellte, abgrundtief häßliche Fratze starrte. Stillhalten, dachte er, den Blick erwidern, bis das Trugbild verblaßt. Seine magische Formel aus alter Zeit.

Und er hatte recht. Oder nicht? Er schlüpfte aus der Haustür, die er nur spaltbreit aufzog: als ob er befürchten müßte, daß um diese Nachtstunde, bei diesem Regen ein zufälliger Passant durch ihr Sträßchen liefe und die Verwüstungen drinnen bemerkte. Und als ob diese Verwüstungen einen Verdacht begründeten, der sich gegen ihn, den Hausherrn Timo Prohn, den Ehemann der Entführten richtete.

Leise schloß er seinen Lada auf. Wiederum auf die Autobahn Richtung Hanau, wo um diese Zeit nur vereinzelte Fernlaster durch den Regen rasten. Auf seinem Rücksitz die sinnlosen Koffer: Dänemark! Italien! Weshalb hatte Lisa ihm nicht vertraut? Warum hatte sie nicht gespürt, daß es dieses Mal nicht um Vernunft und Reiserouten, daß es um Fratzen und Verwüstung, buchstäblich um Leben und Tod ging?

Warum war er – nachdem so viele Jahre lang alles gutgegangen war – urplötzlich nur noch von Leuten umgeben, die sich völlig unnormal verhielten? Deren Motive rätselhaft, deren Reaktionen unberechenbar waren?

Trowal, der ihm zuerst unter dramatischen Umständen diese Statue ausgehändigt hatte, um ihm wenige Tage darauf dieselbe Figur unter Drohungen, mit blanker Gewalt, wieder abzujagen! Der Polizeioffizier Zirfas, der ihn aus heiterem Himmel beschuldigte, Karoly ermordet zu haben! Und Margot – was trieb sie für ein Spiel, was waren ihre Motive, weshalb war sie wie besessen hinter dieser Statue her? Als ob alle Welt plötzlich vom tollwütigen Wolf gebissen wäre!

Er beschleunigte; die Scheibenwischer schaufelten; jetzt erst bemerkte er, daß er mit Standlicht fuhr. Er war überzeugt, daß ihn Margot abermals in ihrer Jugendstilvilla erwarten würde. Er klammerte sich an diese Überzeugung, wieder und wieder kämpfte er gegen seinen Verdacht, daß Trowal doch recht hatte mit seinen „skrupellosen Antiquitätenjägern“, mit seiner paranoiden Theorie, in der es für Margot nur diese Rolle gab: als raffinierte Kunsträuberin, gar als gewerbsmäßige Hehlerin, und ihr „Museum“ in Wahrheit ein Warenlager, geradezu ein Schau- und Verkaufsraum für geraubte Exponate aus Museen, Galerien, privaten Sammlungen aus aller Welt.

Nachdem er sie überraschend aufgespürt hatte: neuerlich ihr Ablenkungsmanöver, ihre Bestrickungskünste im Nonnenkostüm, an die er mit aussetzendem Herzschlag dachte.

Er mußte abbremsen. Für eine halbe Sekunde wurde ihm bewußt, daß er Margot liebte. Er lächelte. Blödsinn!

Sein Lächeln erlosch. Diese beiden Seiten, beschloß er, haben rein gar nichts miteinander zu tun. Kein Entweder-Oder. Hier geht es jetzt überhaupt nicht um Margot, um gewisse Vorfälle in Ratzeburg und in Margots beeindruckender Bibliothek, sondern einzig und allein um Lisa. Die Skulptur aufspüren, aushändigen und dann Lisa in seine Arme schließen. Ordnung schaffen: in ihrem Haus in Frankfurt, in Stiegliz, in ihrem Leben.

Seine Anspannung ließ nach, ebenso der Regen. Morgengrauen in Wilhelmsbad. Er parkte unter der tropfenden Linde. Wieder das verschnörkelte Törchen, der Watteau’sche See, der ziselierte Garten, von den Bäumen her ein ohrenbetäubendes Vogelkonzert. Die Freitreppe: Geheimbundsymbole. Kein Name, keine Klingel. Und die Haustür war diesmal verschlossen.

Er klopfte. Nichts.

Klopfte nochmals. Wartete. Nichts!

Da ging er ums Haus herum, geduckt, schleichend wie ein Dieb. Er bog tropfende Büsche beiseite, rüttelte an Kellerfenstern, als wäre das eine Selbstverständlichkeit für ihn: in fremde Villen einzusteigen wie ein berufsmäßiger Schränker.

Sie haben uns den Krieg erklärt, Timo ... Eine Parole aus längst versunkener Zeit.

Beim dritten Fenster hatte er Glück, es war in den Rahmen gedrückt, aber nicht verriegelt. Er schob das Fensterchen auf, ging zwischen den tropfenden Büschen in die Knie und schraubte sich, die Füße voran, in Margots Haus.

Auf einem vom Sturm umgestürzten Birkenstamm saß der weißhaarige Alte am Rand der Lichtung, über der soeben der Morgen dämmerte, graublau, windstill und frühsommerlich mild.

„Du kannst ihn jetzt nicht verhören, Hans“, sagte Lauber, „der Mann ist ...“ Wahnsinnig ist der Alte, vollendete er in Gedanken, wischte schon wieder Schweiß von seiner Stirn und blickte sich auf dem verheerten Kampfplatz um, als wäre diese Waldlichtung Cramsens nach außen gestülpter Wahn.

„Aber er hat geschossen, kein Zweifel“, sagte Zirfas, „er hatte die Pistole noch in der Hand.“ Zum Überfluß zog er die in Zellophan gehüllte Waffe aus dem Jackett und hielt sie Lauber unter die Nase.

Der Bürgermeister blinzelte zur Pistole hin, wandte dann rasch den Blick ab. In seinem stahlblauen, scharf gebügelten Anzug wirkte Zirfas aufreizend wach und kampfbereit, während sich Lauber dumpf und beklommen fühlte. Stumm beobachteten sie den fuchsbärtigen Wachtmeister Worzak, der mit einem Ast in den Resten der Feuerstelle scharrte. Der Verletzte neben ihm in der Wiese wand sich im Fieberschlaf, seufzte leise und warf immer wieder den Kopf mit der spitzen Schnauze hin und her. Während die Vögel ringsum in Bäumen und Buschwerk das Grauen des Morgens mit triumphaler Gleichgültigkeit zu besingen schienen: Waldgesetz.

Nicht das prasselnde Feuer im Schloßwald, nicht das Jaulen der Wölfe oder der Klageruf ihres Opfers hatte vorhin, gegen halb fünf Uhr früh, auch den Bürgermeister aufgeweckt. Lauber hatte einen tiefen Schlaf, aus dem erst der in Echowellen über die Wälder hallende Knall ihn aufschrecken ließ. Er war zum Fenster gestürzt, hatte die Flammen bemerkt, im gleichen Moment seine Frau Therese beruhigt und, noch während er in Wäsche und Anzug fuhr, telefonisch Zirfas verständigt.

Mit schwer begreiflicher Raschheit waren der Polizeioffizier und sein Gehilfe Worzak zur Stelle. Kaum hatte der Bürgermeister eingehängt, fuhr draußen der tannengrüne Geländewagen vor. Zu dritt rasten sie über das Dorfsträßchen, dann schon den Schloßhügel empor und tauchten auf holprigen Forstwegen in den Wald ein.

Als sie die Brandstelle erreichten, war das eben noch lodernde Feuer, offenbar hastig auseinander gezerrt, schon nahezu erloschen. Im Gestrüpp ringsum ein Trappeln, ein Trommeln und Knacken wie von vielfüßiger Flucht, während auf der verwüsteten Lichtung drei reglose Silhouetten zurückgeblieben waren: die hagere, wie versteinerte Gestalt des alten Cramsen, der die Pistole noch vorgereckt hielt; vor ihm der wie niedergeschmettert in der Wiese liegende Braunbär, der riesenhaft, beinahe urweltlich aussah; neben dem Feuer, schemenhaft im Qualm, der darüber hinwegtrieb, die Umrisse des Wolfes, der auf der Seite lag, in sich zusammengekrümmt, dabei leise stöhnend.

Nachdem er hinter Zirfas und Worzak, die sichernd ihre Waffen zogen, aus dem Geländewagen gesprungen war, hatte Lauber geglaubt, daß ihm seine Nerven einen Streich spielten. Er fand sich in eine Jagdszene wie aus den ausweglosen Erzählungen Cramsens versetzt, die den Alten und seine Zuhörer oft genug um Jahrhunderte zurückführten, in eine märchenhaft qual- und gefahrvolle Vergangenheit. Doch als Lauber nähertrat, erkannte er, daß unter den zerfetzten Tierfellen beider Opfer Menschenhaut schimmerte. Die Erleichterung, die er im gleichen Moment empfand, war zweifellos töricht.

Stumm hatte er beobachtet, wie Zirfas mit Pantherschritten auf Cramsen zugegangen war und ihm die Waffe aus der Hand genommen hatte. Der Alte hatte sich umgewandt, war zum Rand der Lichtung getrottet und auf den Baumstamm gesunken, wo er seither zusammengesunken hockte.

Da sie keine Vorstellung hatten, welcher Art ihre Wunden sein mochten, hatten sie nicht gewagt, die Verletzten aus ihrer grotesken Vermummung zu befreien: die schmale, fiebernde Gestalt im grauen Wolfsfell sowenig wie den hünenhaften zweiten, der mit gespreizten Beinen rücklings im Gras lag – braun bepelzt, reglos unter der Bärenmaske, auf halbem Weg zwischen dem Feuer und dem apathisch dasitzenden Cramsen.

Ein blutiger Spuk, ein tödliches Theater, dachte Lauber, der sich im gleichen Augenblick verbot, darüber nachzugrübeln, wen der Notarzt in wenigen Minuten aus den Kostümen hervorschälen würde. Rettungswagen und Spurensicherung waren verständigt; mehr konnten sie momentan nicht tun.

„Es geht wieder los“, sagte da Cramsen vom Baumstamm her. Das weiße, ein wenig gelbliche Haar hing ihm in die Stirn, und während er sprach, blickte er Lauber starr ins Gesicht. „Gegen die Wölfe wollte ich losziehen, wie es meine Pflicht ist. Erst war ich beim Schloß, aber der Graf war nicht da ... Die haben geheult und geknurrt und gejault, Knut, wie – wie immer schon. Und dazu das Feuer, das mir den Weg gewiesen hat: über die Ostmauer ins Gestrüpp, immer dem Fauchen, dem Lodern entgegen.“ Abrupt verstummte er. Sein Blick ging über Lauber, über die Lichtung hinweg und verlor sich in der Wirrnis aus Erinnerung und Laubwerk.

„Das waren keine Wölfe!“ fauchte Zirfas, wandte sich aber gleich darauf schulterzuckend um. Eben rollte mit rotierendem Blaulicht der Rettungswagen auf die Lichtung, stoppte neben der Feuerstelle, und zwei Sanitäter mit Bahre sprangen aus dem Wagen, gefolgt von dem Notarzt, den Zirfas und Lauber seit Jahrzehnten kannten: Dr. Siebold, übergewichtig wie Lauber, mit eisgrauem Schnauzbart, der ihm ein robbenhaftes Aussehen verlieh.

„Was soll das“, murrte er, „bin schließlich kein Tierarzt. – Ach so?“ Er wirkte erschrocken, als er neben dem in braunen Pelz Genähten niederkniete. Rasch trennte er das Fell auf, mit scharfem Schnitt von der Brust bis zum Nabel hinab. Er zog die zottigen Hälften auseinander, musterte nur kurz die Wunde und sagte: „Herzbeutel durchschossen, tot.“

Auf Zirfas’ Wink hin trat Worzak zu dem Toten, beugte sich über ihn und zerrte ihm die Bärenmaske vom Kopf.

„Das ist Zigorsky“, sagte Lauber, der sich sofort wegdrehte, aber zu spät. Übelkeit stieg in ihm auf.

Reglos saß Cramsen auf dem Baumstamm. Neben dem Feuer lag die Wolfsgestalt, ringsum türmten sich die ausgerissenen, wild übereinander geworfenen Bäume. Für einen Augenblick hatte Lauber neuerlich den Eindruck, daß er aus der Wirklichkeit gerissen und in eine grausame Wahn- und Zauberwelt gestoßen worden war.

„Zigorsky ist schon seit letzter Woche tot“, sagte Zirfas, „hast du das vergessen, Knut?“ Seine Stimme war voller Verachtung für den Bürgermeister, der vornübergekrümmt dastand, als müßte er sich übergeben.

„Der Bruder“, gab Lauber mühsam zurück, „der Bruder des toten Karoly. Beim Begräbnis – vorgestern – hat er öffentlich geschworen, daß er seinen Bruder rächen würde.“

„Scheint nicht geklappt zu haben.“

Als Lauber sich wieder umwandte, kniete Dr. Siebold bereits bei der Wolfsgestalt, die still neben den Resten des erloschenen Feuers lag. Mit langen Schnitten trennte der Arzt das Fell auf, tastete, lauschte und befahl dann: „Klinik, Notoperation, sofort!“

Als die beiden Sanitäter den Verletzten anhoben, glitt ihm das durchschnittene Fell wie ein Mantel von den Schultern. Die Tierhaut löste sich von Armen und Beinen und entblößte den Körper eines allenfalls sechzehn- oder siebzehnjährigen Jungen, der ausgemergelt und sehr weißhäutig war. Entkräftet und zerschunden wirkte er und im Kontrast zu dem ins Gras geglittenen Wolfsfell geradezu widernatürlich nackt. Da die spitzgeschnäuzte Maske seinen Kopf noch immer umschloß, waren seine Gesichtszüge nicht zu erkennen.

„Halt“, sagte Zirfas, „wir müssen den Burschen identifizieren.“ Er trat neben die Bahre, doch im gleichen Moment hoben die Sanitäter ihre Last an, so daß die Wolfsschnauze wie witternd durch die Luft fuhr.

„Später“, rief Siebold vom Rettungswagen her, „er hat Quetschungen am Hals; kann sein, daß seine Nackenwirbel verletzt sind.“ Mit überraschender Geschmeidigkeit sprang er hinten in die Notambulanz und bereitete schon Infusionen vor, während die Sanitäter den Schwerverletzten behutsam zum Wagen trugen.

Türen schlugen zu, die Ambulanz fuhr an. Mit etwas Glück würde der Junge – der Wolfsjunge, dachte Lauber – zumindest die Fahrt bis zur Klinik in Frankfurt überstehen.

Hinter ihm ertönte ein wölfisches Knurren. Lauber fuhr herum und unterdrückte einen Aufschrei, als er Zirfas erblickte: eine furchige Grimasse aus Verachtung und Hohn.

„Zwo’nhalb Tote in zwei Tagen“, sagte der Kommissar. „Eine Flasche Wodka für den, der Wölfchens Identität errät. Na, Worzak? Knut?“

Während Lauber ratlos den Kopf schüttelte, durchfuhr ihn der Verdacht, daß Zirfas sehr genau wußte, was für ein Spiel hier gespielt wurde. Wer Karoly Zigorsky gefoltert und den Sterbenden verscharrt hatte. Wer sich hinter der Wolfsmaske verbarg und wer dieses nächtliche Bestiarium in Szene gesetzt hatte, in das Cramsen hineingeplatzt war in der keineswegs vorgesehenen Rolle des Jägers. Blödsinn, beruhigte er sich.

Als er an Zirfas vorbeisah, bemerkte er Cramsen, der gebückt neben Karolys Bruder stand und dem Toten ins Gesicht starrte, als werde er niemals begreifen, was in dieser Nacht geschehen war.

Telefone sind magische Relikte, aus alten Zeiten in unsere Epoche geschmuggelt, nichts anderes als ein behelfsmäßig technisiertes Orakel: Wir hören Stimmen, ergeben uns Einflüsterungen, und wenn der Apparat schweigt, wenn wir sehnlich, doch vergebens auf einen Anruf warten, gleichen wir jenen Priestern niedergehender Kulte, deren bisher bewährtes Ritual versagt: Beschwörend starren wir auf das Maschinchen, das wir umkreisen, prüfend rütteln, doch die Verbindung ist abgerissen, der magische Kontakt stellt sich nicht mehr her.

Timos Gedanken, während er in Frankfurt West in seinem Atelier saß, hinter seinem Schreibtisch, umgeben von einem Chaos aus zerfetzten Filmen, Schriften, Fotografien. Inzwischen war es neun Uhr morgens. Entgegen seiner Hoffnung, an die er sich geklammert hatte, noch während er durch Margots Haus in Wilhelmsbad geschlichen war, hatte er dort alles so verwaist vorgefunden wie tags zuvor, als ihm Margot mit dieser verfluchten Skulptur vor der Nase davongefahren war. Er hatte ihr eine Nachricht hinterlassen – Melde dich! Eine Katastrophe! Sie haben Lisa! T.P. – und war wie von Geistern gejagt zurück nach Frankfurt gefahren, in ihr Reihenhaus, plötzlich gepeinigt von der Vorstellung, daß Trowal wieder und wieder versuchen würde, ihn anzurufen. Seither starrte er auf diesen totemistischen Apparat, Nebenanschluß in seinem Dachatelier, der geduckt, krötenhaft auf seinem Schreibtisch stand und Stunde um Stunde schwieg.

Er lehnte sich zurück und versuchte gleichmäßig ein- und auszuatmen. Da fuhr mit einem Mal ein Signalton durch die Stille, der ihn aufschrecken ließ, als hätte er gerade mit dieser Klangfolge überhaupt nicht gerechnet: das Telefon. Wie in Zeitlupe griff er zum Hörer.

„Vermutlich war Ihnen das eine Lehre. Ihrer Frau geht es übrigens ganz gut. Ein Schock. Jetzt schläft sie. Sie steht unter heilkundiger Betreuung.“

„Ich will mit ihr sprechen! Sofort!“

„Aber ich sagte Ihnen doch: Momentan schläft sie. Haben Sie die Skulptur?“

„Nein, noch nicht.“

„Sie spielen ein seltsames Spiel, Herr Prohn. Übrigens sehr viel gefährlicher, als Sie anzunehmen scheinen. Könnte es sein, daß Sie Ihre Frau loswerden wollen?“

„Sie sind ja noch verrückter als – –“

„Ihnen bleiben vierundzwanzig Stunden. Ich melde mich morgen.“ Leises Klacken. Die Verbindung war tot.

Er sprang auf und ging in seinem Atelier auf und ab. Bei jedem Schritt knirschten unter seinen Schuhen winzige Scherben, die sich im Webteppich verhakt hatten: Splitter von den Glastüren seiner Bücherwand, die diese Vandalen gleichfalls zerschmettert hatten. Lisa unter Schock: Was hatte dieser Trowal mit ihr angestellt? Unter heilkundiger Betreuung: Was hieß das? Verfügten die Entführer etwa über einen Arzt?

Lisa ... Für einen Augenblick spürte er, daß niemand anderes als er an dieser Entführung, dem Chaos, der Katastrophe schuldig war. Obwohl er mit weit aufgerissenen Augen den Spuk zu bannen versuchte, sah er eine rasche Folge von Bildern, die Lisa als Opfer zeigten: Lisa in einem Gewölbe; Lisa gefesselt; Lisa schreiend, während eine Gestalt sich über sie beugte und drohend die Faust hob ...

Jetzt erst bemerkte er, daß er den Hörer nicht auf die Gabel zurückgelegt hatte. Als er neben dem Schreibtisch stehenblieb und auflegte, klingelte der Apparat sofort von neuem.

„Timo? Ich ... habe eben deine Nachricht gefunden.“ Ihre Stimme, die mit gespenstischer Automatik den Anblick, den Duft seiner Wildwiese in Park Stiegliz heraufbeschwor.

„Margot.“ Er flüsterte ihren Namen. Unvermittelt begannen seine Augen zu tränen.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich ... Es tut mir so leid. Bist du jetzt zu Hause? Ich meine – in etwa einer Stunde? Ich möchte gerne ... natürlich nur, wenn du – –“

„Komm, bitte – so schnell du kannst!“ Seine Stimme zitterte, ebenso seine Hand, die den Hörer umklammerte. „Ich warte hier auf dich, natürlich warte ich!“ Seit Ewigkeiten. Ein Leben lang. Auf dich und auf diese Skulptur.

„Gut“, sagte sie, „dann mach’ ich mich jetzt auf den Weg.“

Die Leitung rauschte. Wieder beugte er sich vor und hängte ein.

Alles wird gut werden. Er wischte sich über die Augen, doch das half nichts, immer noch kamen weitere Tränen nach.

Schon in einer Stunde, dachte er, würde er diese zertrümmerungswürdige Skulptur wieder in Händen halten, und dann – dann begann abermals eine qualvolle Wartezeit. Ihnen bleiben vierundzwanzig Stunden. Trowal würde sich erst morgen wieder melden, frühestens gegen neun Uhr früh wie heute, und bis dahin ... Warum hatte er nicht eine halbe Stunde später anrufen können, nach Margot – warum, warum?

Sonderbarerweise empfand er noch immer keinen Groll, keinen Zorn auf Margot, die an all diesen Verwicklungen doch sicher nicht unschuldig war. Aber was auf ihr Konto ging, das war allenfalls Übermut, ihre Neigung zu tyrannischem Scherz, während Trowal zu roher Gewalt gegriffen hatte, zu Verwüstung und Menschenraub.

Er ging auf und ab und starrte aus dem Fenster, knirschte mit den Zähnen und erschrak über das malmende Geräusch. Für einen Moment war er versucht, seinen Freund Alex anzurufen, aber auch diesen Gedanken verwarf er: Besser, wenn Alex und Margot einander niemals kennenlernten.

Doch obwohl er sich zum Zerplatzen angespannt fühlte, obwohl er unter der Qual ohnmächtigen Wartens litt wie ein Gefangener, der düster die Jahre, die Stunden, die Tage zählte, durchströmte ihn immer wieder die überhaupt nicht begründbare Gewißheit, alles würde gut.

Als sie vor ihm stand, wußte er, daß er alles für sie aufgeben würde, sofort und besinnungslos. Sie stand in seiner Haustür, die kupferne Mähne offen, dazu ein eng geschnittenes Kostüm in der Farbe ihres Haars. Sie schaute ihn an, wortlos, und auch ihr Mund, ihre vollen, vorwölbenden Lippen waren ein wenig geöffnet wie zu einer unhörbaren Frage. Vor der penibel gestutzten Kulisse seines Vorgärtchens in Frankfurt West wirkte sie wie eine Erscheinung aus einer Welt, in der vollkommen andere Gesetze galten.

Er machte eine Bewegung, unfähig zu sprechen, und als sie an ihm vorbei in die Diele trat und ihre Schulter gegen seinen Arm streifte, vergaß er für einen Moment zu atmen. Rasch schloß er die Tür.

Sie blieb gleich wieder stehen, ihr Blick glitt über die Verwüstung ringsum, während er sie von hinten beobachtete: die Bewegung ihres Kopfes, als sie mit einem Ruck die Haare zurückwarf – die Gebärde ihrer rechten Hand, die ein ledernes Säckchen, das ihr als Handtasche diente, am verknoteten Riemen fester packte – das Tänzeln ihres linken Fußes in der schwarzen Sandale – sogar eine Art Pochen in ihrer Kniekehle, als sie dieses linke, zugleich schlanke und kräftige Bein im Knie durchdrückte, worauf der rechte Fuß zu tänzeln begann. Der Kostümrock, rostrot mit einem Stich ins Bräunliche, spannte sich um ihre Hüften, und Timo, der sie unverwandt betrachtete, empfand ein Kribbeln, das von seinen Beinen her aufstieg, während seine Kehle trocken wurde.

„Das alles tut mir so leid, Timo. Ich ...“ Sie wandte sich um zu ihm, ihr Gesicht war bleich, in ihren Augen ein Funkeln, als sie hinzufügte: „Es wird Zeit, daß wir offen miteinander reden.“

Er nickte und spürte zugleich, wie ihm schwindlig wurde: Margots helles Gesicht, ihre ansaugenden Augen, umflutet von ihrem Haar, das im Mittagslicht Fünkchen sprühte – dies alles schwankte sekundenlang vor ihm auf und ab, als ob sie an Deck eines Bootes stünden und nicht in diesem verwüsteten Reihenhaus, wo alles nach Lisa rief, nach Lisa roch, nach einer zehnjährigen gemeinsamen Vergangenheit, die seit gestern in Trümmern lag. Oder sehr viel länger schon. Lisa befreien, mit Margot davongehen, durchzuckte es ihn, und er spürte, daß dies kein Widerspruch war: alles zurücklassen, das Alte klären, dann endlich davonziehen, nach Stiegliz, ins neue Leben.

„Was schaust du mich so an?“ fragte sie, wie in Ratzeburg, wieder mit ihrem hellen Lächeln, und in törichter Verwirrung gab er zurück:

„Ich ... ich möchte dich fotografieren.“ Wie früher Lisa, oder nein, ganz anders: „In Stiegliz, wie du aus der Wiese voller Wildblumen tauchst. Wie du durch den Park gehst, bei Sonnenaufgang, im langen schwarzen Kleid. Wie du dich hinter der Rotbuche versteckst, dem Blutbuchen-Fünfling, den wir als Kinder immer ‚rote, tote Hand‘ nannten, weil der Baum für uns aussah wie die aus der Erde gereckte Hand eines lebendig Begrabenen.“ Er verstummte. Wieder dieses Schuldgefühl, doch diesmal nicht wegen Lisa: Für einen Moment sah er Karoly vor sich, wie er humpelnd, verwundet durch den Park lief und vor der Orangerie zusammenbrach. „Die Figur – hast du sie mitgebracht?“

„Sie ist an einem sicheren Ort“, sagte Margot rasch, mit einem Lächeln, flüchtig und kühl, wie ihm schien. „Wenn du willst, fahren wir nachher hin, um sie zu holen.“

Sie wandte sich ab und trat auf die Schwelle zum Bilderzimmer, das um diese Stunde vom Sonnenlicht durchflutet war. Als sie die Verheerung sah, die zerfetzten Bilder, Zeichnungen, Fotografien zwischen zersplitterten Rahmen, Scherben, hölzernen Keilen, spürte sie am ganzen Körper einen nadelnden Schmerz, als ob man sie selbst zu Boden gestoßen, zwischen all diese Splitter und Scherben geworfen hätte. „Das ist furchtbar, Timo.“

„Erklär es mir“, sagte er dicht hinter ihr, und jetzt fühlte sie seine Hände auf ihren Schultern und seinen Atem an ihrer Schläfe.

„Ich hab’ schon in Stiegliz und dann in Ratzeburg versucht, es dir zu erklären, aber du wolltest nichts davon hören. Da gibt es einen mächtigen westdeutschen Unternehmer“, sagte sie und spürte seine Hände, die seitlich über ihren Körper glitten, „der Schloß Stiegliz in seinen Besitz bringen will – um jeden Preis.“

„Aber das Schloß gehört mir, ich bin der rechtmäßige Erbe!“ sagte er, und sein Atem ging unregelmäßig, während er sich von hinten an sie preßte. „Eine Kunstakademie! Warum ausgerechnet in Schloß Stiegliz? Und um mich unter Druck zu setzen, inszeniert er diesen Spuk mit der Statue, mit Drohung und Geiselnahme? Entschuldige, Margot, aber diese Geschichte kommt mir absurd vor. Der Mann muß vollkommen durchgedreht sein – wenn es ihn gibt, was ich bezweifle. Wie heißt er denn überhaupt?“ fragte Timo und spürte im gleichen Moment, wie Margot sich unter seinen tastenden Händen verkrampfte.

„Das kann ich dir nicht sagen. Jedenfalls nicht hier.“ Plötzlich flüsterte sie. In der Klammer seiner Arme drehte sie sich um zu ihm und wisperte heiser: „Fahren wir, Timo. Wir holen die Skulptur. Unterwegs sprechen wir weiter.“

Die helle Scheibe ihres Gesichtes war jetzt dicht vor seinem, und ihre Mähne kitzelte an seinen Schläfen. Auf ihrem Rücken faltete er die Hände und drückte sie an sich. „Langsam“, sagte er, „erst will ich wissen ...“ Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Im Grunde suchte er nur nach einem Vorwand, um diese Umarmung zu verlängern. „Ich lasse dich erst los, wenn du mir den Namen dieses Verrückten sagst.“

In seinen Armen, im Türrahmen des verwüsteten Bilderzimmers stand Margot wie eine Statue: Zauberin in Trance. Die Augen geschlossen, das Kupferhaar im Mittagslicht funkelnd, ihre Lippen geöffnet. Aber wie bleich sie war, wie unwirklich schön, wie reglos, fast steinern, so daß Timo plötzlich fröstelte.

„Der Mann heißt Söllner“, flüsterte sie.

Was hatte er sich erhofft? Der Name sagte ihm überhaupt nichts.

„Carl Söllner – er betreibt eine Lederfabrik in Buchhain im Taunus, nicht weit von hier.“

Das Frösteln wurde immer stärker. Regelrecht bebend – vor Angst oder Kälte – ließ er seine Arme sinken und wich zurück vor ihr. Er war so durcheinander, daß er das leise Scharren vorn an der Haustür zwar registrierte, aber außerstande war, das Geräusch irgendwie einzuordnen: als Zeichen der Hoffnung oder Signal einer Gefahr. Doch warum riß Margot auf einmal die Augen auf? Noch immer stand sie kaum einen Meter vor ihm, auf der Schwelle zum Bilderzimmer, dessen Anblick ihn an die „wüsten Trümmer“, an „Rauch und Ruinen“ aus dem uralten Wolfspoem erinnerte. Aber Margots Panik hatte anscheinend nichts mit der Verwüstung in ihrem Rücken zu tun, sowenig wie mit ihm, der sonderbar fröstelnd vor ihr stand: Ihr Blick ging an ihm vorbei, hinaus in den Flur.

Da hörte er abermals ein Huschen und Scharren, spürte etwas wie menschlichen Atem an seinem Genick: dort, wo sich die Wolfsbestie in den bernsteinernen Jüngling verbissen hatte.

Er fuhr herum.

Das letzte, was er sah, war etwas Blitzendes, das ihn an der Schläfe traf, und der Blitz zuckte noch immer vor seinen Augen, als um ihn herum längst alles schwarz geworden war.

„Der Junge wird durchkommen – wahrscheinlich“, sagte Dr. Siebold, der den Patienten eigenhändig operiert hatte. Ein komplizierter Schädelbruch, dazu Quetschungen an Luft- und Speiseröhre.

Zusammen mit Zirfas und Lauber stand er im Flur der Intensivstation, vor der Glaswand, die sie von dem Bett des Patienten trennte. Nach der langwierigen Operation wirkte Siebold erschöpft, und obwohl er noch den grünen Kittel des Chirurgen trug, erinnerte er mit seinem gesträubten eisgrauen Schnauzbart mehr denn je an eine Robbe.

Das mußte ein gespenstischer Moment gewesen sein, dachte Lauber, eine schaurige Sensation auch für die abgebrühten Mediziner, als der Junge mit dem Wolfskopf in den Operationssaal getragen wurde. Behutsam hatte Siebold die Tiermaske abgelöst, und da er ja fürchtete, daß die Nackenwirbel verletzt sein könnten, hatten sie ihm eine Halsmanschette angelegt. Unter der Kopfmaske war das hagere Gesicht eines Sechzehn-, Siebzehnjährigen zum Vorschein gekommen, die Züge nichtssagend, verrutscht infolge der Narkose, das blonde Haar kurzgeschoren, wie es bei vielen jungen Leuten in Mode war.

„Er hat einen Hieb mit einem Steinbrocken abbekommen“, sagte der Arzt, „aber die Kopfmaske hat den Schlag gedämpft. Letztlich verdankt er’s dem Wolfsfell, daß er überlebt hat.“

„Und Cramsen“, erinnerte Zirfas, setzte dann grimmig hinzu: „Was möglicherweise auf dasselbe hinausläuft.“

Noch immer schrieb man den 24. Juni. Es war gegen vier Uhr nachmittags, ein milder Frühsommermittwoch. Seit einer Stunde lag der Junge auf der Intensivstation des Stadtkrankenhauses Frankfurt (Oder). Noch war er ohne Bewußtsein, doch wie Siebold versicherte, würde er gegen Abend zu sich kommen.

„Irgendwelche Anhaltspunkte, wer der Bursche ist?“ Der Arzt streifte sich die Gazemaske ab, die ihm von der Operation her noch unterm Kinn hing, und schob sie in die Tasche seines Kittels, auf dem Lauber spinnenförmige Blutspuren bemerkte.

„Nichts, gar nichts! Kein Mensch hat ihn je in der Gegend gesehen.“ Zirfas starrte unverwandt durch die Trennscheibe, als könne er den Jungen mittels hypnotischer Blicke zwingen, seine Identität preiszugeben.

Im Wald oberhalb von Stiegliz, auf der Lichtung und im Buschwerk ringsum, hatten sie eine Menge verwischter Spuren gefunden – Abdrücke wie von großen Tierpfoten, zu groß, um wirklich von Wölfen herzurühren, aber nichts, was auf die Anwesenheit von Menschen deutete. Einmal abgesehen von der Feuerstelle und den Fußspuren, die von Cramsen stammten, und von dem Schußkanal, den der verrückte Alte in die Brust des Polen getrieben hatte.

„Noch etwas“, sagte Siebold zu Zirfas, „das ist sehr merkwürdig und für Sie wahrscheinlich eine wichtige Information. Der Junge ist ungewöhnlich mager, klapperdürr, als ob man ihn ausgehungert hätte. Und nicht nur das.“ Er machte eine Pause und warf einen düsteren Blick auf den Bewußtlosen hinter der Glaswand, über dessen Bett sich eben eine Krankenschwester beugte. Sie kontrollierte die Apparate, die am Kopfende aufgetürmt standen. Mehrere Schläuche verbanden die Geräte mit dem Jungen, dessen Schädel mit einem leuchtend weißen Verband umwickelt war. Unter dem Laken zeichneten sich die Umrisse seines Körpers ab, der in der Tat äußerst fragil und ausgemergelt wirkte.

„Er hat eine Reihe weiterer Verletzungen“, sagte Siebold, „nicht von dem Kampf, sondern ältere, teilweise vernarbte Wunden.“ Als die Schwester drinnen aufschaute, machte er ein Zeichen. Sie streifte das Laken weg, und Lauber, der auf diese neue Attacke gegen seine Nerven nicht gefaßt gewesen war, schreckte heftig zusammen.

„Verletzungen dieser Art“, sagte Siebold, „finden wir charakteristischerweise bei Folteropfern. Achten Sie auf die kreisrunden, an den Rändern entzündeten Wunden an den Oberschenkeln. Auch seine Brustwarzen sind entzündet, was gleichfalls typisch ist. Und wenn Sie die Brandwunden am Unterbauch studieren ...“

„Mir reicht’s“, sagte Lauber mühsam, wandte sich ab und fixierte ein an der Flurwand aufgehängtes Gemälde, das eine Idylle zeigte: Märkischer Lärchenwald im Morgendämmer.

„Sie bekommen dann natürlich unseren detaillierten Bericht“, hörte er Siebold, der ungerührt weitere Einzelheiten erläuterte, aber Lauber zwang sich, nicht länger hinzuhören.

In einem Nebenraum wartete Cramsen, bewacht von Worzak, und obwohl Lauber jetzt seinen Kreislauf spürte, der ihm mit Schwindelgefühl und Schweißausbruch dramatische Signale sandte, zwang er sich, in diesem Korridor auszuharren, bis Zirfas die Gegenüberstellung anordnen würde. Während er sein Taschentuch zückte und sich über Glatze und Nacken wischte, überlegte er, daß es illusorisch war, ausgerechnet von Cramsen Aufschluß über die Identität dieses Jungen zu erhoffen. Aber Zirfas schien sich eine Menge von diesem Auftritt zu versprechen, und da der Bürgermeister keineswegs sicher war, welche Rolle Zirfas in diesem immer verwirrenderen Spiel spielte, ignorierte er sein Schwindelgefühl ebenso wie Siebolds Erläuterungen, starrte die märkische Idylle an und wartete auf Cramsen.

Kurz darauf registrierte er, wie sich Zirfas zwischen ihm und Siebold hindurchdrängte und auf die Tür zuging, hinter der Worzak mit dem Alten saß. Erleichtert wandte er sich um und lief Siebold direkt in die Falle: Der Arzt packte ihn bei der Schulter, zog ihn zur Glaswand, pickte mit dem Finger auf die Scheibe und erklärte:

„Sehen Sie, Herr Lauber, Abschürfungen an den Fußknöcheln, außerdem Schwellungen, die nicht allein durch die Fesselung zu erklären sind. Das bedeutet ...“

Hören Sie auf, wollte Lauber sagen und wankte gegen das Idyll zurück, während eben Zirfas aus der Seitentür trat, gefolgt von Cramsen, der mit Handschellen an Worzak angeschlossen war.

Die Krankenschwester hinter der Glasscheibe zog das Laken wieder über den malträtierten Körper. Schwungvoll streifte sie das weiße Tuch bis zum ebenso weißen Kopfverband hinauf, wie bei einem Toten, korrigierte sich dann und gab das Gesicht des Jungen frei, das jetzt wieder glatt, kindlich, nichtssagend wirkte – als hätten sich Kampf, Marter und Todesangst nur in den Köpfen der Männer abgespielt, die ihn durch die Glaswand beobachteten.

„Kennst du ihn, Karl? Wer ist dieser Junge?“ fragte Lauber in drängendem Tonfall. Obwohl er immer noch Übelkeit spürte, dazu leichtes Schwindelgefühl, hatte er Zirfas ein Zeichen gegeben: Laß mich mit dem Alten sprechen, mich kennt er, mir vertraut er.

„Blöde Frage“, murrte Cramsen. Im schlotternd weiten grauen Anzug stand er hoch aufgerichtet vor der Glaswand, eine hagere, scheinbar fleischlose Gestalt, das weiße Haar sorgsam zurückgekämmt, so daß seine Gesichtsknochen, selbst die beinerne Stirnplatte, hervortraten.

Beunruhigt registrierte Lauber, daß Cramsen den Jungen hinter der Glasscheibe nur kurz angesehen, sich dann gleich wieder abgewandt hatte. Jetzt ging sein Blick am Bett des Bewußtlosen vorbei, durch Glas und Stein hindurch, um sich einmal mehr in Erinnerung und Phantasie zu verlieren. Als Zirfas, der neben dem Gemälde an der Korridorwand lehnte, mit einer Frage dazwischenfahren wollte, machte Lauber ihm wiederum beschwichtigende Zeichen: Warte noch.

„Er gehört zu meiner Rotte“, sagte im gleichen Moment Cramsen mit hohlem Tonfall, „ich finde diesen Befehl unsinnig, genauso wie der Graf.“

Der ist wieder ganz woanders, merkte Lauber. Doch diesmal übte sich Zirfas in stummen Gebärden und nickte energisch: Weiter, frag ihn doch!

„Du kennst also diesen Jungen, Karl? Wie heißt er?“

„Was will man machen“, sagte Cramsen gegen die Glaswand, „Anordnung von Obersturmbannführer Görsmann. Dem muß auch der Graf sich fügen, so sehr ihn das verbittert: nicht mehr Herr über die eigene Komturei zu sein. Und der gemeine Mann kennt sowieso für alle Zeiten nur eine Parole: Befehl ist Befehl.“

Schon das Verhör, das Zirfas am Vormittag mit Cramsen angestellt hatte – in seinem Kommissariat in Frankfurt –, war ein Desaster gewesen. Wenn der Alte erregt war, hatte er die irritierende Angewohnheit, von lange zurückliegenden Vorfällen so zu berichten, als ob sie eben erst geschehen wären. Er sah dann keine Grenze mehr zwischen Jetzt und Früher und vermutlich, wie Lauber argwöhnte, auch keine scheidende Linie zwischen Erinnerung und schierer Phantasie.

„Aber der Junge da“, sagte Cramsen mit hohler Stimme und tippte gegen die Glaswand, „muß sich natürlich auflehnen. Weiß niemand, welcher Teufel ihn reitet. ‚Albert‘, sag’ ich zu ihm, ‚Befehl ist Befehl. Denk dir dein Teil, aber gehorche, sonst wirst du erschossen, so einfach ist das.‘ Aber Albert Jungfried ist ein störrischer Kopf.“

Im Augenwinkel bemerkte Lauber, daß Zirfas zu Worzak hin gestikulierte, der sein Notizbuch aufklappte und etwas notierte. Zweifellos schrieb er den eben gehörten Namen auf: Albert Jungfried.

„Karl“, fragte er leise, „in welchem Jahr bist du?“

So hatte Lauber den Alten oft gefragt, abends im Wirtshaus von Stiegliz, wo Cramsen zu schwadronieren, mit gespenstischen Kenntnissen von entlegenen Epochen aufzuwarten pflegte, bis keiner der Zuhörer mehr wußte, wo ihnen Köpfe und Füße standen – ob anno 1393, behelmt und eisendröhnend, in der Deutschordensschlacht um Samaiten oder ’45 im notdürftigen Unterstand des letzten märkischen Volkssturmtrüppchens, das sich unter Cramsens Führung gegen die siegreichen Sowjets im Wald verschanzte.

„Wir schreiben den 17. Februar ‘45“, sagte Cramsen in strammer Haltung, „beim Morgenappell warne ich den Jungen, zwei Stunden später brennt er durch.“

Ehe der Alte vollends in ferne Zeiten und Länder entglitt, führte ihn Lauber stets mit der Frage „In welchem Jahr bist du?“ behutsam ins heutige Stiegliz zurück. Dazu fühlte er sich als Bürgermeister verpflichtet – aus Fürsorge gegenüber Cramsen und zur Ernüchterung der zechenden Zuhörer, die sich an den vaterländischen Phantasie- und Zeitreisen mehr noch als am reichlich ausgeschenkten „Steinpils“ zu berauschen pflegten: ein Bier, ein Korn, ein Sieg über Jagiellos Armeen.

„Natürlich kommt er nicht weit: Görsmann jagt seine Bluthunde hinter ihm her, die den Jungen bei Alt Golm schnappen. Sie werfen ihn ins Gewölbe unter Bu... Schloß Stiegliz, hängen den Kerl dort auf und tun sich an ihm gütlich.Und wie sie glauben, daß er tot ist, werfen sie den Albert weg: So einfach ist das, Knut“, sagte Cramsen. Tippte noch einmal gegen die Glaswand und faßte zusammen: „Heißt Albert Jungfried, wird gefunden, ins Krankenhaus gebracht und notoperiert. Hat aber zuviel Blut, zuviel Lebenskraft verloren. Ist gebrochen, geschändet, geschunden und stirbt noch in der Nacht nach der Operation. So ist das, ja ...“

„Komm jetzt, Karl“, sagte Lauber sanft. Er beschloß, sich nicht länger um Zirfas zu kümmern, obwohl der ihn mit zornigen Blicken durchbohrte, faßte den Alten um die Schultern und führte ihn an der Glaswand entlang zum Lift.

Während sie nach unten fuhren, lehnte Cramsen an der Kabinenwand und brummelte unverständlich. Doch plötzlich wurde sein Blick klar, er fixierte Lauber und sagte mit schneidender Stimme: „Weitaus schlimmer als die Kapitulation ist für den Grafen der entwürdigende Umstand, daß Görsmann sich als Herr über Stiegliz aufführt.“

„Ist gut, Karl, beruhige dich“, sagte Lauber. Er fühlte sich beklommen, dabei kannte er doch diese Manier des Alten, längst Vergangenes und Vergessenes in eine stehende, grenzenlose Gegenwart zu zerren, Gräber zu öffnen, lange zerfallenen Gebeinen wieder Leben einzuhauchen.

Der Lift hielt an, wieder umfaßte er den Alten bei den Schultern und führte ihn durch die Halle des Hospitals. Von der Seite her warf Cramsen ihm einen Blick zu und fuhr fort:

„Und er sprach zu mir: ‚Ich befehle dir, Cramsen, paß auf meine Söhne auf. Einer von ihnen ist der neue Graf.‘ Natürlich führe ich diesen Befehl aus, wie ich jeden Befehl ausführe“, sagte Cramsen ohne Blick für die verblüfften Gesichter der Ärzte, Schwestern und Angehörigen, die ihnen am Ausgang entgegenkamen. „Ich lasse die beiden Knaben nicht mehr aus den Augen, sowenig wie Görsmann, und dann endlich schreiben wir den 28. Februar ‘45“, sagte er mit lauter, obwohl hohl klingender Stimme auf der Straße, wo Lauber ihn an befremdeten Passanten vorbei zum Taxistand führte.

„Beim Morgenappell sage ich zu meinen Jungen: ‚Haltet Augen und Ohren auf, ich spüre genau, heute passiert was.‘ Mittags erfahren wir, daß sich Görsmann nach Westen abgesetzt hat. ‚Der Spuk ist vorbei‘, sagt der Graf zu mir in Park Stiegliz, ‚nicht mehr lange, dann fängt ein neuer Spuk unter dem Zeichen des roten Sterns an. Aber wir beide, Cramsen, haben alles überstanden: Versailles und Marienburg, Stalingrad und Tannenberg. Wir sind am Leben’, sagt der Graf. Packt seine Söhne, links Timo, rechts Kai, beim Kragen und reckt die Knäblein in die Höhe – ‚siehst du, Cramsen‘, ruft er aus, ‚meine Banner der Unsterblichkeit!‘“

„Fahren Sie uns nach Stiegliz“, sagte Lauber zum Taxichauffeur, schob sich hinter dem Alten in den Wagen und starrte erschöpft aus dem Seitenfenster, während neben ihm Cramsen wieder unverständlich brummelte.

Er war nur ganz kurz bewußtlos gewesen, höchstens eine Minute, wie Margot ihm versicherte. Aber was Timo in diesen Sekunden erlebt hatte, verstörte ihn mehr als alle Schrecknisse der vergangenen Stunden und sogar mehr noch als die Gefahr, in der er sich gegenwärtig befand: gefangen in seinem eigenen Haus – von einem vor Zorn rasenden Trowal in seinem eigenen Keller eingesperrt, zusammen mit Margot, während Trowal über ihnen durch die Zimmer stampfte und zweifellos alles verwüstete, was bei seinem ersten Amoklauf der Zerstörung entgangen war.

Irgendwo in der Ferne, weit über ihnen, hörte er den Signalton eines Funktelefons. Trowal, dachte er mechanisch, holt Instruktionen ein, wie er nun mit uns verfahren soll. Eigentlich müßte ich Margot dankbar sein, überlegte er dann, denn wenn diese verdammte Skulptur hier im Haus wäre – wer weiß, ob Trowal nicht kurzen Prozeß gemacht hätte.

Andererseits hatte einzig und allein Margots Anwesenheit Trowal derart in Rage versetzt. „Sie spielen ein doppeltes Spiel, Prohn!“ hatte er Timo angefahren, mit überkippender Stimme, ehe er ihn und Margot in dieses fensterlose Kellerloch gezwungen und die Stahltür hinter ihnen verriegelt hatte. „Sie müssen verrückt sein, daß Sie ausgerechnet mit Söllner paktieren!“

Timo hatte protestiert, zu erklären versucht, daß er keinen Söllner kenne. Aber darauf Trowal, mit geradezu dämonisch verzerrter Stimme:

„Sie lächerlicher Lügner! Für wie dumm halten Sie mich eigentlich? Anscheinend für ausgesprochen blöd, da Sie nicht einmal auf die Idee kamen, daß wir Ihr Haus überwachen lassen! Und obwohl wir Sie hier mit dieser Hexe aus Söllners Gefolge erwischt haben, wollen Sie behaupten, Sie hätten den Namen nie gehört?“

Das hatte Timo ja gar nicht behauptet, aber für Erklärungen blieb keine Zeit. Schon waren sie, von Trowal mit vorgehaltener Waffe dirigiert, die Kellertreppe hinabgerumpelt, schon war hinter ihnen die Tür ins Schloß geschlagen, das Trowal zweifach verschloß.

Timos Schläfe, gegen die der Knauf von Trowals Revolver geprallt war, klopfte schmerzhaft. Doch selbst diese Schmerzen kamen ihm sonderbar irreal, ja bedeutungslos vor, gemessen an der bedrängenden Wirklichkeit der Traumbilder, die er während seiner Ohnmacht gesehen hatte. Er war zweifellos nicht mehr bewußtlos, doch noch immer fühlte er sich wie in Trance. In seinem Kopf ein Gewirr aus Kammern, Sälen, Hallen voller Fratzen, voll flehender, geisterhafter Gesten: Karoly!

Stockdunkel war es in diesem Kellerloch, aber das war nichts gegen die Finsternis, in die er vorhin gestürzt war.

„Glaubst du mir jetzt, daß ich die Wahrheit gesagt habe – daß es Söllner gibt, daß er tatsächlich hinter der Skulptur her ist?“

Er hörte Margots Stimme und sah doch nicht einmal einen Schatten von ihr.

„Wir müssen hier raus, Timo! Wenn Trowal erfährt, daß ich die Skulptur habe ... So wie er aussieht, wird er nicht davor zurückschrecken, mich zu ...“

Er spürte förmlich den Schauder, der Margot überlief. Warum? dachte er. Warum nur sind alle wie blutrünstige Bestien hinter dieser Skulptur her? Er saß auf dem staubigen Boden seines eigenen Kellers, des ehemaligen Kohlenkellers, vor dessen Wand ein seit Jahrzehnten nutzloser Haufen Kohle aufgeschichtet lag. Wieder sagte Margot etwas, eine körperlose Stimme, aber Timo verstand ihre Worte nicht, plötzlich elektrisiert von der Gewißheit, daß sein Traum, die während der Ohnmacht ihm zugeflogene Vision einen Schlüssel zu dem Geheimnis um die Wolfsskulptur enthielt.

Im Traum war er nach Stiegliz zurückgekehrt. Er war in das Schloß eingedrungen, mit einem Gefühl banger Erregung, wie in einen verbotenen Leib. Was hieß das? Drinnen die Halle voller Staubgespinste, dabei blutrot und mit Orgelklang erfüllt. Plötzlich hörte er ein Seufzen, ein kraftloses Klagen, und als er sich umsah, stand Karoly vor ihm:

Karoly, wie er auf Zirfas’ Fotografie ausgesehen hatte – verstümmelt, nackt, geschändet, wie vermodert, obwohl er aus seinem Grab auferstanden war. In seinem Traum ein zweites Mal auferstanden; er reckte beide Arme vor, und sein Mund öffnete sich zu einem Schrei: sein Mund ohne Zunge, darin der malmende Stumpf; seine nackte Brust, darauf der mit Messern eingeritzte Schriftzug; und an seiner Hüfte die Narbe, an der er – Timo – schuldig war wie an der Folter, den Schmerzen des Jungen, seinem grauenvollen Tod.

Wieso schuldig? Wieso er?

Die Orgeln dröhnten im Traum. Karoly streckte seine Hände aus. In dieser Haltung eines Schlafwandlers, eines dem Grab abermals Entstiegenen bewegte er sich mit ruckenden Schritten durch die blutrote Halle auf Timo zu.

Er schloß die Augen und riß sie dann weit auf, um den Spuk zu vertreiben. Wie durch einen Schleier aus herabhängendem Baumlaub glaubte er Margot zu sehen, die sich in der Düsternis von der Kellerwand abstieß. Mit drei Schritten war sie bei ihm und kniete sich neben ihm hin.

„Wir müssen hier raus, Timo. Denk nach!“

Ihr Schatten schwankte, als sie sich über ihn beugte, schwärzer und kompakter als die Dunkelheit ringsum. Und noch immer – oder abermals – bewegte sich Karoly mit gespenstischer Leichtigkeit durch die Halle auf Timo zu.

Er stand wie erstarrt. Erst im letzten Moment, ehe die modrigen Finger ihn berührten, wich seine Lähmung, und er warf sich zur Seite, worauf Karoly mit einem fast unhörbaren Schluchzen an ihm vorbei und immer tiefer in die Halle ging. Timos Herz raste. Besinnungslos folgte er der Gestalt, die hinter den mit Fresken verzierten Säulen nach links bog und auf die Tür zur Bibliothek zuschwebte.

Vor der Tür wandte sich Karoly um. Sein zerstörtes Gesicht lächelte, als er Timo mit traumhaft verlangsamten Bewegungen beider Arme zu sich winkte.

Die Tür glitt auf, und aus der Bibliothek schien eine Wolke gefangener Geister, jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelang gebannten Schreckens in die Halle zu stieben. Von unbeherrschbarer Furcht erfaßt, verbarg sich Timo hinter einer Säule, die mit Ordensrittern geschmückt war. Noch immer dröhnten die Orgeln. Karoly schwebte in die Bibliothek, und Timo folgte ihm mit seinen Blicken, bis sich Karolys schmale Gestalt zwischen den hohen Regalen verlor.

„Timo! Komm zu dir! Tu etwas!“

Karoly hat ein bestimmtes Buch gesucht! Oder wollte er mich auf etwas hinweisen? Aber auf was? Aber er ist tot! Ich verliere den Verstand! dachte Timo, der in diesem Moment ein Brennen wie von Tränen in seiner Kehle spürte.

Noch einmal tauchte Karoly zwischen den Regalen der Bibliothek, zwischen Säulen und Folianten auf. Timo war sicher, daß er diese Bilder vorhin im Traum nicht gesehen hatte; doch jetzt erblickte er sie so deutlich, als wäre Karoly bei ihnen in diesem Kellerloch: Er schwebte auf eine Wand in der Bibliothek zu, eine Wand, vor der ein Haufen Gerümpel lag – rostige Helme, längst erloschene Fackeln, ein gelbstichiger, ehemals weißer Mantel mit aufgesticktem achtzackigem schwarzen Kreuz. Karoly bückte sich, schob das Gerümpel zur Seite, und – –

In diesem Moment zerstoben die Traumbilder so abrupt, als hätte jemand gleißendes Licht eingeschaltet. Verwirrt blinzelte Timo ins Dunkle. Der Kohlenhaufen ...

Als er aufstand, pochte seine Schläfe stärker. Er tastete sich zu der Wand vor, wo die nutzlosen Kohlen lagen, dorthin, wo soeben Karoly verschwunden war. Und während er noch auf die in der Dunkelheit funkelnden Kohlestücke starrte, fiel ihm ein, warum der Haufen bis heute hier lagerte, obwohl ihr Haus seit langem nicht mehr mit Kohle beheizt wurde.

Die Häuser in ihrer Reihenhauszeile, die aus den dreißiger Jahren stammte, waren unter der Erdlinie allesamt mit Durchschlupflöchern verbunden. Während des letzten Weltkriegs waren die Bewohner auf diesem Weg zu einem Gemeinschaftsbunker gekrochen, der sich unterhalb des Kellers im vordersten Gebäude der Hauszeile befand. Der Bunker war nach dem Krieg zugeschüttet worden, doch die Durchschlupfluken hatte niemand verschlossen, zumindest nicht dieses Loch, das ihr Haus mit dem Nachbargebäude verband.

All diese Erinnerungen überkamen Timo binnen eines Wimpernschlags. Er kniete sich vor den Haufen und begann, so leise wie möglich Kohlestücke beiseite zu räumen. Nach einer geflüsterten Erklärung glitt Margot neben ihn, und nicht lange, so hatten sie die Luke freigelegt.

„Die Nachbarn sind meistens auf Reisen.“ Timo legte sich auf den staubigen Boden und robbte in den Keller des Nebenhauses hinüber.

Im Rückspiegel seines Lada Niva sah er kaum fünf Minuten später das entgeisterte Gesicht Trowals, der hinter der Gardine ihres beleuchteten Küchenfensters hervorspähte – nicht viel anders, als Lisa ihm zehn Jahre lang Tag für Tag hinterhergesehen hatte, wenn er morgens in sein Fotoatelier fuhr.

Während er mit aufheulendem Motor davonschoß, schien ihm dieses bürgerliche Ehe- und Arbeitsleben um so weiter entfernt zu sein, als an seiner Seite nicht Lisa, sondern Margot saß: Spinnfäden in ihren Haaren, das Gesicht von Kohlenstaub geschwärzt, unnatürlich bleich dagegen der Rücken ihrer Hand, die sich an seinen rechten Arm klammerte.

„Wo hast du die Statue?“ schrie Timo gegen den dröhnenden Lada-Motor an. „In Hanau, in deinem Haus?“

„Nein – ja – in der Nähe.“

„Findest du nicht, daß du mit deinem Versteckspiel genug Unheil angerichtet hast?“ Doch obwohl sich Timo um einen strengen Tonfall bemühte, empfand er keinen Zorn auf sie, nicht einmal einen Anflug von Ärger, im Gegenteil: Gemeinsam waren sie diesem verrückten Trowal entkommen, gemeinsam fuhren sie durch die laue Frühsommernacht. Der Rest würde sich sehr bald wie von selber lösen. Wie von Zauberhand, dachte Timo und lächelte in den Rückspiegel, wo weit und breit kein Verfolger zu sehen war.

„Also nach Hanau“, sagte er. Margot würde ihn zum Versteck der Statue führen. Er würde Trowal die verfluchte Skulptur zurückgeben. Dann mußten sie Lisa freilassen, und dann ...

Nein, darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken.

Bei Nacht rollten sie durch die Frankfurter Peripherie, auf direktem Weg zur Autobahn nach Hanau. Mit Zehntausenden Lichtern glitzerte und blinkte die Stadt wie ein zweiter, hellerer Nachthimmel, der die blassen Sterne hoch über ihnen zu verspotten schien.

„Erkläre es mir“, bat Timo, „verrat mir endlich, was hier gespielt wird. Nach Trowals jüngstem Auftritt kann ich wohl nicht länger bezweifeln, daß dieser Söllner existiert, daß auch er hinter der Skulptur und den Dokumenten her ist – und daß du in irgendeiner Verbindung zu ihm stehst. Trotzdem begreife ich immer noch nicht – –“

„Das ist ganz einfach“, unterbrach ihn Margot, während sie die Autobahnauffahrt erreichten und Timo den widerstrebenden Geländewagen beschleunigte. „Oder vielmehr, es ist ziemlich kompliziert.“

Timo seufzte, während es in seinem Bauch zu kribbeln begann. Wann immer er Margots Stimme hörte, ihren Duft roch, hatte er Mühe, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Aber jetzt mußte er sich einfach zusammenreißen, jetzt mußte er darauf bestehen, daß Margot ihm alles sagte, was sie über die Hintergründe dieser Intrige um Schloß Stiegliz und die Statue, um Trowal und den ominösen Söllner wußte. Konzentrier dich auf ihre Worte, ermahnte er sich, du bist schließlich kein halbwüchsiger Knabe mehr – obwohl er sich fast mehr als alles andere wünschte, genau das wieder zu sein: ein junger Mensch, dem nicht eine ganze Welt geraubt worden war. Der nicht gealtert war über dem Versuch, diesen unersetzlichen Schatz wieder aufzuspüren. Der nicht aus seiner Kindheitswelt vertrieben worden war. Dessen Bruder nicht vor vielen Jahrzehnten verschwunden und höchstwahrscheinlich seit langem tot war. Dessen Eltern, einst Herren von Schloß Stiegliz, nicht auf einer verschneiten westdeutschen Waldlichtung auf so schäbige wie rätselhafte Weise umgekommen waren. Und dessen Leben, weil all diese zertrümmernden Ereignisse ausgeblieben waren, nicht in einer fahlen Ersatzwelt fast unbemerkt vergangen war. Warum konnte man die diffusen, alles in allem sinnlosen letzten Jahrzehnte nicht einfach auslöschen?

Ein kleiner Stich in seiner Herzgegend: Sinnlos? Lisa ...

Wieso konnte man, fuhr die Gedankenstimme unbeirrt fort, nicht einfach dieses Leben im Wartestand ungeschehen machen, das er von ihrer Flucht aus Stiegliz bis zur Rückkehr in seine Kindheitswelt geführt hatte: halb bewußtlos, ohne Überzeugung und fast immer ohne das Gefühl, in der Wirklichkeit zu sein?

Gewaltsam riß sich Timo von diesen Phantasien los und warf Margot im Halbdunkel des Wagens einen Seitenblick zu. Noch immer war ihr Gesicht vom Kohlenstaub geschwärzt, was sie jedoch nicht zu stören schien. Er stellte sich vor, wie sie einander in ihrem Hexenhaus in Wilhelmsbad langsam entkleideten, dann sich gegenseitig ...

„Fangen wir bei Söllner an“, schlug er mit rauher Stimme vor. „Wer ist dieser Mann, was will er?“

„Söllner selbst kenne ich überhaupt nicht. Ich bin ihm niemals begegnet.“

„Du kennst ihn nicht? Aber du hast mich in seinem Auftrag auf Schloß Stiegliz besucht! Und hat nicht vorhin auch Trowal behauptet, daß du zu seinem ‚Gefolge‘ gehörst?“

„Gefolge, ja, vielleicht“, bestätigte sie, und in ihrer Stimme schwang nun ein bitterer Beiklang mit. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich versucht habe, an ihn selbst heranzukommen. Ich wollte ihn davon überzeugen, daß ich besser als jeder andere seine Interessen in Zusammenhang mit Schloß Stiegliz vertreten kann.“

„Aber welche Interessen? Und warum gerade du?“ rief Timo, in dessen Rückspiegel plötzlich ein Dreißigtonner auftauchte, der sie mit einem Lichtkanonade aus einem halben Dutzend Scheinwerfern bombardierte. Erschrocken trat er aufs Gaspedal.

„Söllner ist, wie gesagt, ein reicher Industrieller, ein Textilfabrikant, dessen Fabrik in Buchhain – nicht weit von hier, im Taunus – halb Europa beliefert. Er selbst ist schon ein alter Mann, weit über Siebzig, soviel ich weiß. Und er ist wild entschlossen, sich diesen ‚letzten Wunsch‘, wie er es angeblich genannt hat, zu erfüllen: Er will das Schloß unbedingt in seinen Besitz bringen und dort eine Stiftung einrichten, eine Kunstakademie oder was weiß ich; jedenfalls etwas Wohltätiges, damit man seinen Namen mit dieser guten Sache verbindet und nicht mit ...“

„Nicht mit was?“ fragte Timo, da Margot plötzlich verstummt war.

„Na ja, ich glaube, in seiner Vergangenheit gab es irgendwelche finsteren Geschichten.“

„Das mag ja alles sein, aber warum will er ausgerechnet Schloß Stiegliz kaufen? Und wenn er sich schon derart auf meinen Besitz fixiert hat, warum wendet er sich dann nicht als Kaufinteressent an mich? Warum beauftragt er statt dessen dich, im Schloßpark herumzuschleichen und mir sonderbare Angebote zu machen? Was steckt zum Beispiel hinter seinem kuriosen Vorschlag, ich könne Präsident seiner Kunstakademie werden, die ohne meine Einwilligung auf Schloß Stiegliz nie entstehen kann?“

„Er hat mich nicht ... nicht direkt beauftragt“, murmelte Margot so leise, daß er ihre Worte im Dröhnen des Motors kaum verstehen konnte. „Ich habe es vorgeschlagen, und da niemand widersprochen hat –“

„– hast du beschlossen, daß sie deinen Vorschlag akzeptiert hätten?“ Timo lachte, aber er selbst fand, daß es weder entspannt noch amüsiert klang. Er war überzeugt, daß ihm Margot diesmal die Wahrheit – oder zumindest einen Teil der Wahrheit – gebeichtet hatte. Unverkennbar war es ihr nicht leichtgefallen, ihre ungewisse und eher klägliche „Mission“ einzugestehen. Aber sehr viel stärker irritierte ihn die mehr und mehr diffuse Rolle, die dieser Söllner zu spielen schien: ein ungreifbarer Drahtzieher, dessen Motive und eigentliche Absichten unbekannt waren. „Warum ausgerechnet Stiegliz?“ wiederholte er.

„Soviel ich weiß“, antwortete Margot, deren Stimme mittlerweile eher kleinlaut als bitter klang, „hat das Schloß irgendwann früher in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt. Kann sein, während dem Krieg.“

„Im zweiten Weltkrieg? Wenn er damals auf dem Schloß war, müßte – oder könnte – ich ihn kennen. Allerdings war ich damals ein kleines Kind.“

Eine schwankende Reihe halb vergessener Gesichter tauchte vor Timo auf: Soldaten, Offiziere, SS-Leute, die in den Kriegsjahren bei ihnen einquartiert waren. Nur wenige von ihnen waren längere Zeit geblieben, die meisten waren nach kurzer Zeit versetzt worden, an die erst weit entfernte, dann stetig näher rückende Front oder an noch weitaus schauerlichere Orte. Außerdem hatten Timo und sein Bruder Kai nur wenig Kontakt mit den Uniformierten, von denen die Eltern sie so weit wie möglich fernhielten. Warum eigentlich? überlegte er und spürte, wie eine vertraute Angst in ihm aufstieg: ein Grauen, das zu seiner Erinnerung gehörte, aber so, wie ein furchterregender Wächter zu einem Verliestor gehört.

Unser Vater, dachte er, hat uns, ohne es je ausdrücklich zu sagen, immer das Gefühl vermittelt, daß die Schwarzuniformierten im Wirtschaftsflügel für uns, die Söhne des Grafen Heribert Prohn von Stiegliz, kein angemessener Umgang seien. Im ganzen Schloß, auch im Park, sogar im Wald gab es mehr Orte, die uns verboten waren, als Plätze, die wir betreten durften, oder gar solche, die uns vertraut waren, wo wir uns heimisch fühlen konnten.

Wie war er gerade jetzt auf diese düsteren Erinnerungen gestoßen? Erst nach einigen Momenten fiel ihm wieder ein, was Margot eben erwähnt hatte: „finstere Geschichten in Söllners Vergangenheit“, die sich möglicherweise auf Schloß Stiegliz abgespielt hatten.

Hatte sich Söllner in den dreißiger oder vierziger Jahren bei ihnen aufgehalten? Welche vertuschungswürdigen Vorfälle mochten sich damals ereignet haben? Die Angst seiner Mutter kam ihm in den Sinn, diese allumfassende Angst, die ihr hervorstechendster Charakterzug gewesen war. Wovor hatte sie sich gefürchtet? Und dann fuhr ihm, scheinbar zusammenhanglos, ein weiterer Schreckensgedanke durch den Kopf: Ob ich mich an diesen Söllner erinnere oder nicht – wenn er damals auf Schloß Stiegliz war, so erinnert er sich in jedem Fall an mich.

Der Schrecken, flüchtig und rätselhaft, verging so rasch, wie er gekommen war. Vielleicht kennt er mich, vielleicht auch nicht, beruhigte sich Timo – was macht das schon für einen Unterschied?

Wenn er auch nur von fern an seinen Vater dachte, fühlte sich Georg Wilko ganz krank vor Angst und Sorge. Der ewige Aufpasser an seiner Seite hatte behauptet, daß es hierfür keinen Anlaß gebe, dabei spürte er doch, daß sein Vater in Gefahr war. Und daß der hagere, mürrische Mann, mit dessen Gesellschaft er auf Weisung seines Vaters nun schon seit Tagen vorliebnehmen mußte, drauf und dran war, die Nerven zu verlieren.

Warum? Was war nur passiert? Georg konnte fragen, soviel er wollte, er bekam bestenfalls ausweichende Antworten, die auf drei Kilometer Entfernung nach Lüge rochen. Und nach Panik.

Wieder einmal saßen sie in dem umgebauten stahlgrauen Van, einem mobilen winzigen Apartment mit zwei Betten, Miniaturküche und sogar einer Dusche, die allerdings nur mit kraftlosem Keuchen ein wenig Wasser spie. Georg hatte es sich auf seinem Bett bequem gemacht, die Kopfhörer seines Walkman auf den Ohren, die Augen geschlossen, um von seinem Begleiter nichts zu hören und nichts zu sehen. Der saß vorn in der Fahrerkabine und steuerte den Van durch die Nacht, wobei er allerdings keinerlei Eile zu haben schien. Vielmehr schlich er seit einer halben Stunde hinter einem Dreißigtonner her und scherte nur ab und zu ein wenig nach links aus, als wollte er nachsehen, was sich vor dem Lastzug befand.

Es war unerträglich schwül, aber die Fenster im hinteren Teil des Wagens ließen sich nicht mehr öffnen, seit sein Vater angeordnet hatte, sie durch Panzerglas zu ersetzen.

Den gesamten Nachmittag und den halben Abend hatten sie in einer Reihenhaussiedlung am Rand von Frankfurt West verbracht: Georg in dieser Blechzelle eingesperrt, während der andere vom Fahrersitz aus mit starrem Blick eines der Reihenhäuschen beobachtet hatte.

Irgendwann hatte sich eine rothaarige Frau dem Haus genähert. Sie hatte geklingelt, ein Mann hatte geöffnet (er kam Georg von irgendwoher bekannt vor – aber woher?), die Frau war im Haus verschwunden, und Georg ... Anscheinend war er kurz darauf eingeschlafen.

Als er zu sich kam, war er allein im Van und es war Nacht. Er blickte aus dem Fenster und sah eben noch im Schein einer Laterne, wie der so wundersam vertraut wirkende Mann und die rothaarige Frau wieder auf die Straße traten – doch komischerweise kamen sie diesmal aus dem Nachbarhaus. Gesichter und Kleidung mit schwarzem Staub verschmiert, hasteten sie auf einen am Straßenrand parkenden russischen Geländewagen zu. Kaum waren sie davongerast, da kehrte auch sein wortkarger Begleiter zurück, schwang sich hinter das Steuer und jagte hinter dem Jeep her, den er allerdings bald darauf aus den Augen zu verlieren schien. Seitdem schlichen sie über diese Autobahn, im Schatten des Dreißigtonners, und Georg fragte sich mit immer flauerem Magengefühl, in was für eine Geschichte sein Vater und Trowal verstrickt sein mochten.

Schon seit Ratzeburg weigerte sich Trowal, auf seine Fragen zu antworten. Genauer gesagt, er speiste ihn mit kindischen Lügen und Ausreden ab. Wohin fuhren sie? „Eine Geschäftsreise.“ Wo hielt sich sein Vater auf? „Bei Geschäftsfreunden.“ Warum durfte Georg den Van oder, wenn sie in einem Hotel abstiegen, sein Zimmer praktisch nie verlassen? „Weil du eigentlich in der Schule sein solltest. Soweit ich weiß, wirst du erst in zwei Jahren volljährig.“ Wann würden sie seinen Vater wieder treffen? „Wenn wir diese Reise beendet haben.“ Wann würde das sein? „Vielleicht morgen schon.“

Aber dieses Morgen brach niemals an, wie für immer waren sie im Heute gefangen, und so schien ihre Reise, die eher einer ziellosen Flucht oder Verfolgungsjagd glich, nie mehr enden zu wollen.

Georg streifte den Kopfhörer ab und richtete sich auf. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht und den Hals hinab, und auf seinem T-Shirt mit dem Schriftzug Lebus lebt! zeichnete sich über der Brust ein tatzenförmiger dunkler Fleck ab. Vorn auf dem Fahrersitz, durch die Glaswand von ihm getrennt, saß Trowal in angespannter Haltung, seine Silhouette so scharfkantig wie eine Statue aus grob behauenem Stein. Immer noch schlichen sie hinter dem Lastzug her, dabei mußte es weit nach Mitternacht sein. Georg beschloß, unter die Dusche zu gehen, ehe er sich schlafen legen würde. Vielleicht, dachte er wie an jedem Abend, wache ich morgen früh auf und bin endlich wieder daheim.

„Könnte es sein“, fragte Timo, „daß Söllners dunkle Vergangenheit und sein Wunsch, Schloß Stiegliz zu besitzen, enger miteinander zusammenhängen, als man dir gesagt hat?“

„Wie meinst du das?“ fragte Margot schläfrig zurück.

Da Timo hierauf keine Antwort wußte, zuckte er nur mit den Schultern. Aber im Wagen war es so dunkel, daß Margot seine Geste kaum hatte sehen können. Abgesehen von dem Lkw einen halben Kilometer hinter ihnen herrschte auf der Autobahn um diese Nachtstunde wenig Verkehr. „Ich weiß nicht – noch nicht“, sagte er.

Aber er glaubte zu wittern, daß es da eine Verbindung gab, daß Söllner seinen Namen vielleicht gerade deshalb mit Hilfe von Schloß Stiegliz reinwaschen wollte, weil sich auch die „finsteren Geschichten aus seiner Vergangenheit“ in Stiegliz abgespielt hatten. Und welche Zeitspanne in diesem Jahrhundert war für schmutzige Geheimnisse besser geeignet als die Jahre ’39 bis ’45?

„Angenommen, er will tatsächlich – aus welchen Motiven auch immer – um jeden Preis das Schloß in seinen Besitz bringen“, überlegte er laut. „Inwiefern kann ihm Trowals Statue bei diesem Plan weiterhelfen? Trowal hat zwar behauptet, die Skulptur und die Dokumente in dem Koffer bewiesen, daß ich der rechtmäßige Besitzer von Schloß Stiegliz sei. Aber meiner Ansicht nach beweisen diese Sachen überhaupt nichts – höchstens, daß meine Ahnen vor ein paar Jahrhunderten ziemlich kauzige Herrschaften waren, die sich ihre Zeit mit – –“

„Ich glaube nicht“, fiel ihm Margot ins Wort, „daß Söllner von dieser Bernsteinskulptur weiß. Durch mich jedenfalls nicht.“ Sie holte tief Luft. „Es war einzig und allein meine Idee, die Figur von dir ... auszuleihen. Ich hatte nie die Absicht, sie Söllners Leuten zu geben. Ich wollte sie einfach nur ... haben, sie ansehen, berühren, verstehst du, Timo: Es war wie ein Zwang – als ob die Skulptur mich verhext hätte!“

Noch während Margot diese Worte sprach, entstand in Timos Kopf eine unerwartete Leere. Sie ähnelte den bekannten Gefühlen der Erschöpfung wie auch der Ratlosigkeit, mehr aber noch einer so plötzlichen wie totalen Erleichterung: Auf einmal war sein Inneres von allen Mißtönen des Verdachts und der Gewissensbisse, der Verschwörungs- und Verfolgungsphantasien reingefegt.

Minutenlang schwieg er, an das Lenkrad geklammert. Auch Margot sah wort- und reglos geradeaus: als hätte ihr letztes Geständnis sie der allerletzten Kräfte beraubt.

Die Skulptur beweist nichts, dachte Timo. Ich muß sie Trowal zurückgeben, damit er Lisa freiläßt, aber mit meinem Kampf um Schloß Stiegliz hat diese ganze Gespenstergeschichte nichts zu tun. Vor allem aber: Die unselige Bernsteinstatue steht auch nicht zwischen mir und ihr; Margot hat die Figur nicht in Söllners Auftrag entwendet. Ganz im Gegenteil: Dieser angebliche Auftrag diente ihr nur als Vorwand, um nach Schloß Stiegliz ... um zu mir zurückzukehren, folgerte Timo begeistert und trat stärker auf das Gaspedal. Andere Gründe oder Motive besaß sie nicht – die ganze Söllner-Geschichte hatte sie nur deshalb eingefädelt, weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Warum, frohlockte er, habe ich das nicht schon viel früher durchschaut? Natürlich hatte Margot auch die Statue nur deshalb mitgenommen, damit er sie verfolgen mußte, damit sie einander treffen konnten, damit eine Beziehung zwischen ihnen entstand. Woher hätte sie wissen sollen, in welches Unheil sie Lisa dadurch stürzte?

Alles, was ihn in den letzten Tagen, ja teilweise schon seit Monaten und Jahren verwirrt und gequält hatte, schien sich ihm in diesen Momenten aufs Harmonischste zusammenzufügen. Oder vielmehr: Vor seinem inneren Auge entwirrten sich die Geschehnisse, und mit atemberaubender Geschwindigkeit schoß auseinander, was keineswegs zusammengehörte, was nur in seinem Kopf mehr und mehr zu einem undurchdringlichen Gespinst geworden war. Tatsache war (phantasierte er), daß nicht ein einziges von all den außergewöhnlichen Geschehnissen, die sich in den letzten Tagen ereignet hatten, in irgendeiner kausalen Verbindung mit seinem Kampf um Schloß Stiegliz stand.

Auch Karolys Tod nicht, dachte Timo, den allerdings in diesem Moment ein unbehagliches Gefühl beschlich. Karoly ist durch ein grausames Verbrechen umgekommen, dachte er, nicht weniger, aber auch nicht mehr: ein Verbrechen, das sich zufällig auf dem Grund von Schloß Stiegliz ereignet hat und dem ebenso zufällig ein Junge zum Opfer fiel, den ich gekannt habe.

Mit Gewalt riß er seine Gedanken von Karoly los. Was im übrigen diesen Söllner betraf: Vielleicht konnte er den Mann sogar für seine Zwecke einspannen? Er mußte Söllner lediglich vorspiegeln, daß er mit dessen Plänen durchaus sympathisiere, dann konnte man in der Öffentlichkeit verbreiten lassen, daß dieser „reiche und mächtige Unternehmer“ auf Schloß Stiegliz eine Stiftung samt Kunstakademie zu gründen gedenke. Der niedergedrückten Region verhieß Söllners großherziger Plan Aufschwung, Ansehen, Arbeitsplätze; eine Entwicklung, die bedauerlicherweise durch politisch-juristische Machenschaften blockiert werde, da Gericht und Behörden den rechtmäßigen Erben von Schloß Stiegliz seit Jahren nicht nur hinhielten, sondern regelrecht nasführten.

Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, dachte Timo (ohne wirklich zu erwägen, daß bereits eine Teufelspranke über Schloß Stiegliz schweben könnte), wenn sich auf diese Weise nicht öffentlicher Druck ausüben und das Gerichtsverfahren beschleunigen ließe! Und wenn ich nachher mit Söllner über die Nutzung des Schlosses nicht einig werde, kann das Urteil deshalb doch nicht mehr zurückgezogen werden! In so hoffnungsvollen Farben erschien ihm in diesen Minuten seine – ihre! – Zukunft, daß ihm schwindlig wurde vor Euphorie. Die Skulptur zurückgeben, dachte er wieder, Lisa befreien, ein Scheinbündnis mit dem vielleicht zwielichtigen, vor allem aber mächtigen Söllner eingehen, und dann ...

„Wie sieht dieser Söllner eigentlich aus?“ fragte er.

„Er ist sehr publicityscheu“, sagte Margot, „es gibt keine aktuellen Fotografien von ihm, und ich selbst habe ihn ja noch nie gesehen. Aber die meisten beschreiben ihn als hünenhaften Mann, kahlköpfig, burschikos.“

Flüchtig tauchte vor Timos innerem Auge eine Gestalt aus fernen Tagen auf: ein Riese mit glänzender Glatze und einem noch jungen Gesicht, doch mit kalten Augen über der schwarzen Uniform. Aber es gelang ihm nicht, einen Namen mit diesem Schemen zu verbinden. Wieder stieg das vertraute Grauen in ihm auf, rasch drückte er die Erinnerung weg. Ohnehin blieb ihm vorerst keine Zeit, über den schattenhaften Gast aus seiner Erinnerung nachzudenken, denn mit plötzlicher Lebhaftigkeit sagte Margot:

„Wir müssen gleich runter von der Autobahn. Da vorn kommt ein Parkplatz mit WC. Wir sollten uns den Kohlenstaub von den Gesichtern waschen, bevor wir die Figur abholen.“

„Warum – –“

„Weil ich sie in einem Hotelsafe deponiert habe, in der Hanauer Innenstadt.“

Für einen Moment flackerte Timos Mißtrauen wieder auf. Was denn, dachte er, wenn sie doch wieder nur so tut, als ob sie bereit wäre, mir die Skulptur zurückzugeben? Wenn sie doch nur wieder nach einem Vorwand sucht, um aus meinem Wagen aussteigen und im Schutz der Dunkelheit abermals verschwinden zu können?

Doch gegen seine Euphorie vermochte sich dieser vage Verdacht nicht zu behaupten. Ohne weitere Einwände setzte Timo den Blinker und bog auf den Parkplatz ein. Während er zwischen Baumreihen auf das beleuchtete Gebäude zurollte, beschloß er lediglich, Margot – beziehungsweise den Bereich der Damentoiletten, in dem sie zwischenzeitlich verschwinden würde – während ihres Aufenthalts möglichst nicht aus den Augen zu lassen.

Sie hatten ihn wieder auf freien Fuß setzen müssen, natürlich. Einen von drüben herübergestreunerten Bären abzuschießen war schließlich kein Verbrechen, im Gegenteil. Mochten die Polizisten auch behaupten, mochte selbst Lauber, der feige Verschwörer, glauben, daß sich in den Tierfellen leibhaftige Menschen versteckt hätten – er, Cramsen, wußte es besser. Für einen Augenblick hatte gestern auch ihn dieser Spuk gefoppt, aber die Menschlein in den Bestienpelzen waren nichts als Blendwerk. Mit solchen Zauberbildern konnte man einen Zirfas narren, doch weder den alten Cramsen noch gar den Grafen. Der gebot den Geistern seit alter Zeit, der verstand es wie kein zweiter, aus Stein und Schatten Gestalten zu formen, so bezwingend, scheinbar lebendig, daß Cramsen bei der Erinnerung ein Frösteln überlief.

Aber der Graf weilte nicht auf dem Schloß, nicht in der Orangerie, davon hatte sich Cramsen eben mit eigenen Augen überzeugt.

Es war fast schon Mitternacht, doch das kümmerte ihn nicht. Stockfinster war es hier im Wald, der Himmel mit Wolken verhangen, aber er kannte jeden vertrockneten Busch, jede krumme Lärche, jedes Sandloch. Und die Lichtung, wo das Feuer gebrannt, der Braunbär mit dem Mähnenwolf gekämpft hatte, hätte er selbst dann wiedergefunden, wenn Zirfas ihm die Augen ausgestochen hätte. Das Wispern der Blätter im Nachtwind, das Rascheln der Wiesel und Jaulen der Wölfe, das dunkle Glucksen der Oder, der Geruch kalter Asche und längst verschorften Blutes wiesen ihm so sicher den Weg, daß er wie an Schnüren gezogen durch den Schloßpark eilte, sich durch die Bresche in der Ostmauer zwängte und den sandigen Hang hinaufkletterte, auf dessen anderer Seite die Lichtung begann.

Er erklomm den Hügelkamm, dann trottete er abwärts der Lichtung entgegen, und sein Haar wehte wie Spinnfäden hinter seinem Schädel her. In der Luft vernahm er ein Wispern, nicht allein von Laub und Insekten: In das Summen und Raunen mischten sich Menschenlaute, fern noch, flüsternd, doch rauh wie Stimmen, die an Kommandos, an Flüche gewöhnt waren.

Von diesem Getuschel angezogen, überquerte Cramsen im derben Armeemantel, Koppel umgeschnallt, doch ohne Pistole, die die Polizisten einbehalten hatten, die Lichtung, deren Gras niedergetrampelt, geschwärzt, mit Ästen und den Fetzen von Wolfs- und Bärenfell übersät war. Jenseits der Lichtung tauchte er wieder in den Wald ein, so leise, daß nur er das Rascheln der Zweige, die er beiseite bog, und das Rieseln der Sandkörner unter seinen Stiefeln hörte.

Das Murmeln der Oder, vermengt mit dem Alarmschrei eines Nachtkauzes, dem auf der östlichen Flußseite ein zweiter Kauz antwortete. Dann stimmten wieder die Wölfe ihr Jaulen an, das Sehnen und Adern vibrieren ließ. Cramsen schlüpfte an einem verfaulenden Busch vorbei in das fast mannshohe Schilfmeer, das sich in sanftem Gefälle bis hinab zur Oder zog.

Links von ihm, durch Baumreihen gedeckt, in einer Entfernung von kaum hundert Metern, begann das zu Schloß Stiegliz gehörende Ufergrundstück, wo Karoly bei lebendigem Leib verscharrt worden war. Diese Bluttat war Cramsen natürlich bekannt; erbittert hatte er mit Lauber im Dorfkrug darüber gestritten, als stimmgewaltiger Wortführer der Bauern von Stiegliz, berstend vor Geschichten von jagellionischen Greueltaten, die allesamt bewiesen: Ein Schöpflöffel voll Blut, aus dem Leib eines Polenjungen rieselnd, war nur eine geringe Anzahlung auf jahrhundertealte Schuld, die bis heute nicht gesühnt worden war.

Unter die Schilfwedel geduckt, schlich Cramsen zum Ufer hinab, dem Wispern und rauhen Tuscheln entgegen. Die Mondsichel sägte sich durch eine Wolkenbank und beleuchtete eine Szenerie, die ihm nur allzu vertraut erschien:

Ein plumpes Boot, bis zum Rand in die Oder gedrückt durch das Gewicht von einem halben Dutzend Kerlen. In den Kahn gezwängt, wie Vieh oder Gerümpel zusammengepfercht, legten sie eben vom Ostufer ab und stakten stracks der deutschen Seite zu. Doch dort unten, die Gesichter mit Schlamm geschwärzt, Haar und Körper durch laubfleckige Kleidung getarnt, lauerten die Grenzwächter, von Cramsen längst erspäht. Hart am westlichen Uferrand lagen sie, durch Schilf gedeckt wie er selbst, auf den Boden gepreßt, in den Händen Holzprügel, Messer auch, die im Mondlicht zu ihm heraufblinkten.

Noch während das Boot heranglitt, sich schwankend in die Sandböschung fraß, sprangen die Grenzwächter auf. Wie ein achtbeiniges, achtfäustiges Tier stürzten sie sich auf die Kerle im Kahn, die, überrumpelt, durch die Enge behindert, mit wuchtigen Schlägen niedergemacht wurden. Leiber stürzten ins Wasser, ins Schilf, in den Ufersand. Schreie vernahm Cramsen, so gellend, daß er mit den Zähnen knirschte, um in den Gesang nicht einzustimmen, und der Geruch von Angst, Erregung, dann von Blut auch brandete über den Hang zu ihm herauf.

Als es vorbei war, der Duft nur mit Stille, mit leisem Keuchen noch vermischt, reckte er den Kopf aus den Blättern und spähte zum Ufer hinab. Vollends nun wie Säcke, wie Lumpen übereinander geworfen lagen die Besiegten in ihrem Boot: hier ein Kopf mit blutender Stirn unter schwarzen Haaren, dort ein Arm oder Bein, schlaff über Bord hängend, im Wasser treibend hinter dem Kahn.

Das Boot selbst aber schlingerte, von kräftigen Stößen ermuntert, bereits über die Oder gen Neumark zurück.

Nicht weit genug, lange nicht weit genug, dachte Cramsen, und sein Blick eilte dem Boot voraus, verfing sich drüben im Gespinst aus Laub und Erinnerung und zog das Boot auf sandigen Flußläufen immer weiter östlich, bis nach Thorn und weit darüber hinaus nach Livland, in eine Urwelt aus Sumpf und Dschungel, aus der einst die Horden Patollos hervorgekrochen waren – blutrot gefärbte Speere schleudernd, ihre Leiber notdürftig in Felle gewickelt, an denen in Fetzen noch fauliges Fleisch hing, die Gesichter mit Wolfsmasken verhüllt zum Schrecken der teutschen Ritter Mariä.

Trowal bremste den Van so abrupt ab, daß Georg das Gleichgewicht verlor. Mit der Schulter prallte er gegen die Plastikwand der Duschkabine, stellte fluchend die dünne Wasserfontäne ab, schob die Kabinentür auf und hangelte nach einem Handtuch.

Er spürte die Erschütterung im Blechboden, als Trowal vorn die Fahrertür aufstieß und nach draußen sprang. Dann Stille, während Georg angespannt horchte. Warum hielt Trowal an? Warum war er ausgestiegen, ohne ein Wort? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Georgs Herz klopfte, seine Hände zitterten auf einmal so heftig, daß es aussah, als schwenkte er das Handtuch wie eine weiße Fahne.

Jemand schrie auf, eine männliche Stimme, scheinbar vertraut und lange entbehrt ... Vater! dachte Georg, schrie: „Vater!“ – und stürzte schon, im Rennen das Tuch um seine Hüften wickelnd, zur Tür, riß sie auf:

Ein Autobahnparkplatz, verlassen in der Dunkelheit. Von der Schwärze des Waldes hob sich nur das WC-Häuschen ab, ein Würfel aus weißem Licht. Trowal hatte den Van direkt vor dem Gebäude gestoppt, schräg vor einem zweiten Wagen, den Georg sofort wiedererkannte: der russische Jeep, dem sie vorhin gefolgt waren.

Von der Frau mit den Spinnweben in der kupferroten Mähne keine Spur. Doch vor dem Kühler des Lada stand dieser Mann, der ihm so rätselhaft bekannt vorkam, die Arme in den Nachthimmel gereckt. Und Trowal, im knöchellangen schwarzen Mantel, breitbeinig vor dem Van stehend, richtete eine Pistole auf ihn.

„Wir waren eben auf dem Weg, Ihre blödsinnige Figur zu holen“, sagte der Mann.

Weder er noch Trowal schienen Georg zu beachten, der geduckt in der offenen Schiebetür des Van stand. Seine Stimme, dachte Georg, es klang nicht viel anders, als hätte eben mein Vater gesprochen.

„Dann können wir ja zusammen fahren“, antwortete Trowal, der sich gepreßter als jemals anhörte, krank vor Panik und Verfolgungswahn.

„Sobald Frau Wegener zurückgekommen ist“, sagte der Mann vor dem Jeep mit bewundernswerter Ruhe, wie Georg fand. „Wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich jetzt meine Hände wieder runter.“

Trowal reagierte nicht. Tatenlos sah er zu, wie Timo seine Arme sinken ließ. Doch Timo fühlte sich keineswegs bewundernswert ruhig. Vielmehr fragte er sich mit steigender Verzweiflung, wo Margot so lange blieb – ob sie ihn doch wieder gefoppt und die Flucht ergriffen hatte. Er selbst war bereits vor Minuten zu seinem Wagen zurückgekehrt, und in seiner blödsinnigen Euphorie hatte er entgegen allen Vorsätzen weder die Damentoilette im Blick behalten noch sich um mögliche Verfolger gekümmert.

Bis die Nacht auf einmal den dunkelgrauen Van ausgespien hatte. Und der Van den ebenso dunklen Trowal samt Paranoia und Pistole.

Das Toilettenhäuschen befand sich hinter seinem Rücken, doch ein Aufblitzen in Trowals Augen verriet Timo, daß dort etwas geschah. Langsam, um den nervösen Mann mit der Pistole nicht zu irritieren, wandte er sich um: Im Licht der zugleitenden Tür stand Margot vor dem kleinen Gebäude, die Augen geweitet, die Hände ein wenig vorgereckt, als wollte sie ihn aus fünf Schritten Entfernung aus Trowals Bannkreis herausziehen.

„Kommen Sie her, Frau Wegener“, sagte Trowal, dessen Pistole immer noch auf Timos Kopf gerichtet war.

Nachher fragte sich Timo, ob seine Sinne ihn genarrt hatten. Doch er war beinahe sicher, daß in diesem Moment ein Lächeln über Margots Gesicht geglitten war.

Dann verengten sich ihre Augen – sie duckte und drehte sich mit einer einzigen katzenhaften Bewegung und verschwand in der Dunkelheit des Waldes, der direkt neben dem Parkplatz begann.

„Margot!“ Timo schrie ihren Namen, fassungslos, da sie ihn wieder im Stich ließ – sie, die allein dieses immer gefährlicher werdende, immer weniger kontrollierbare Drama beenden konnte; sie, die allein die ganze Katastrophe angezettelt hatte ... Nein, das stimmt nicht, korrigierte er sich und rannte im selben Augenblick hinter Margot her.

„Stehenbleiben!“

Timo rannte. Er wußte selbst nicht, warum, aber er war überzeugt, daß Trowal nicht auf ihn schießen würde.

„Bleiben Sie sofort stehen!“

Da hatte er bereits die Baumreihe erreicht, hinter der die sichere Dunkelheit begann. „Komm, Timo!“ glaubte er Margots Stimme zu hören, schon tief im Wald, wie von Finsternis verzerrt.

Starr blieb er an der Lichtgrenze stehen, mit einem Mal unfähig, auch nur eine Faser seines Körpers zu bewegen.

„Timo, komm doch ...och ...och!“ Hallend und mit einem Echo, das wie Hohngelächter klang.

Gleich hinter deinem Schlosse fängt ja der dicke dunkle Wald an ... Aus welchem verschütteten Winkel seines Bewußtseins flogen ihm auf einmal diese nachtweltlichen Rätselworte zu? Und bedenk doch: Steht’s denn beträchtlich besser um dein eitles Ich? Scheinbar zu einem Baum zwischen Bäumen verzaubert, stand er reglos da, und ihm war, als blicke er nicht einfach in einen Wald, sondern in einen Abgrund, in eine Wildnis voller Schreie und Fratzen hinein, so grauenvoll, daß sich ihm buchstäblich die Haare sträubten.

Dann war Trowal neben ihm, mit einem Fluch und seiner Pistole, deren Mündung er Timo gegen die Schläfe drückte. Die Höllenvision verblaßte, der Abgrund verwandelte sich in einen gewöhnlichen Wald zurück – und Trowal stieß einen zweiten, kaum mehr artikulierten Fluch aus.

Zu ihren Füßen stürzte steil die Böschung in die Tiefe. Weit unten, zwischen Büschen und Unterholz, jagte Margot mit wehendem Haar dahin. Schon hatte sie den Grund der Schlucht erreicht, einen Waldweg, wo Dunkelheit sie verschlang. Dann heulte ein Motor, flammten Scheinwerfer auf – und mit schwankenden Lichtkegeln tanzte ein Motorrad durch den Abgrund davon.

„Dieses blödsinnige Spiel haben Sie zum letzten Mal mit mir gespielt“, hörte er Trowal an seiner Seite sagen. Doch Timo kümmerte sich kaum um den Mann mit der Pistole, obwohl der ihn an der Schulter packte und kommandierte: „Steigen Sie in meinen Wagen. Sie werden mich jetzt sofort zu dem Ort bringen, wo Sie die Wolfsfigur versteckt haben!“

„Ich habe keine Ahnung, wo sie ist“, gab Timo zurück. Er schüttelte Trowals Hand ab und ging auf seinen Jeep zu, ohne irgendeine Vorstellung, wohin er nun fahren solle.

„Einsteigen! In meinen Wagen!“ knurrte Trowal, während Timo bereits die Tür seines eigenen Autos aufzog.

Ich habe in den Abgrund der Hölle geschaut ... Wieder sträubten sich ihm bei der Erinnerung die Haare im Nacken, auf den Armen. Dabei hätte er gar nicht sagen können, was genau er gesehen hatte – Wildnis, verfluchte Urwelt, Unterwelt ...

Hinter sich hörte er ein klickendes Geräusch: Anscheinend hatte Trowal seine Waffe entsichert oder geladen, oder was immer man tun mußte, damit eine Pistole schußbereit war. Immer noch gewiß, daß Trowal nicht auf ihn schießen würde, wollte er sich eben in seinen Wagen setzen, da vernahm er in seinem Rücken einen hellen Schrei:

„Nein! Tu das nicht!“

Timo wirbelte herum und riß die Augen auf, überzeugt, daß eine weitere Vision ihn narrte. Vor ihm stand eine hohe schwarze Gestalt, das Gesicht eine wölfische Fratze aus Blutgier und Schmerz. Um den Hals des Wölfischen hatte sich ein bernsteinbrauner Jüngling gekrallt, nackt bis auf ein Tuch um seine Hüften, der mit einem Arm von hinten die Kehle des Gegners umschlang. Diese kämpfende Doppelfigur, elementar aggressiv und zugleich auf obszöne Weise theatralisch, ähnelte so sehr einer vergrößerten Spiegelung der „Wolfsbiß“-Statue (wobei die Spiegelung so weit ging, auch die Rollen von Wolf und Jüngling zu verkehren), daß Timo vor Entgeisterung beinahe aufgelacht hätte.

Ihm war bewußt, daß der „Wölfische“ niemand anderes als Trowal im schwarzen Mantel war – niemand anderes sein konnte. Und doch wich der Bann, der ihn neuerlich befallen hatte, erst in dem Moment, als sich die lebende Doppelfigur auflöste: Die beiden Kämpfenden stürzten zu Boden. Trowals Pistole schlitterte über den Asphalt. Mit einem Knurren warf er sich über den rücklings liegenden blonden Jungen und schlug ihm ins Gesicht.

Erst als Timo mit angehaltenem Atem in seinen Wagen geschlüpft war, gestartet hatte und davongerast war, über das Katzenkopfpflaster des Parkplatzes, zwischen den Baumreihen hindurch und mit dröhnendem Motor zurück auf die Autobahn – erst da wurde ihm bewußt, wer der „bernsteinbraune Jüngling“ gewesen war: der Junge aus dem Hotel in Ratzeburg. Der Grünäugige, Blondgelockte, der ihn in einem überwältigenden Déjà-vu an seinen Bruder Kai erinnert hatte – an Kai, wie er mit dreizehn, mit vierzehn Jahren gewesen, an Kai, der von einer Sekunde zur anderen aus seinem Leben verschwunden war.

Und der nun wahrhaft zurückgekehrt schien, unverändert, nicht gealtert: als hätte Kai das Geheimnis der Zeit entschlüsselt; als kennte er jenen verborgenen Hebel, mit dem sich die Uhr eines Lebens, einer Welt zurückdrehen ließ.

Mit einer winzigen Spur von Neid betrachtete Alex seinen Freund, der lang ausgestreckt vor ihm auf der Couch lag, die Augen geschlossen und leise murmelnd im Traum. Alex fragte sich, wie Timo es anstellen mochte, daß er mit seinen immerhin dreiundfünfzig Jahren so unveränderlich jung aussah. Seine Gestalt schlank, fast knabenhaft, das Gesicht beinahe faltenlos, als ob keine Sorge, kein Schmerz sich in diese Stirn je hätte einkerben können. Alex selbst, von athletischer Statur, mit blonder Löwenmähne und scheinbar unverwüstlich jungenhaftem Lächeln, stand in dem Ruf, die ewige Jugend gepachtet zu haben. Doch wann immer er mit Timo zusammentraf, mußte er sich eingestehen, daß dieses Image Schwindel war, eine Fassade, für deren Erhaltung er mit jedem Jahr etwas mehr Zeit und Mühe aufwenden mußte – in seinem Kraftraum im Keller und an noch weitaus entlarvenderen Orten. Er war ein Jahr jünger als Timo, als Abteilungsleiter einer Frankfurter Großbank auf dem Höhepunkt seiner Karriere, doch in diesem Moment fühlte er sich dumpf und kraftlos wie ein Greis.

Gegen vier Uhr früh war Timo hier in Alex’ Penthouse im Frankfurter Westend erschienen: Gesicht und Hemd geschwärzt wie ein Schornsteinfeger, in den Augen ein dunkles Leuchten, das Alex auf den ersten Blick irrsinnig schien. Und während der restlichen Nacht, bis in den frühen Morgen, hatte ihm Timo eine unglaubliche Geschichte erzählt, so haarsträubend, daß Alex Gertens Verstand sich noch immer weigerte, sie für bare Münze zu nehmen. Ihm wurde bewußt, daß er sich einzig aus diesem Grund in Betrachtungen zu Jugend und Altern geflüchtet hatte: um nicht immer wieder über das Gespinst aus Verbrechen und Horror nachdenken zu müssen, in das sein Freund sich verwickelt hatte.

„Sie haben Lisa entführt ...“

Mit einem Schrecken, in den sich Schuldgefühle mischten, sah Alex Lisa vor sich, in ihrem Bilderzimmer, wo sie ihn an sich gezogen und geflüstert hatte: „Küß mich!“ Sie hatte ihn, auf ihre Weise, um Rat und Hilfe angefleht, doch er – er hatte sich darin gefallen, ihre Sorgen und Timos „märkisches Abenteuer“ zu flüchtigen Launen herunterzuspielen, einer kleinen Ehe- und Midlife-Krise, die nicht weiter ernst zu nehmen sei. Dabei hatte ihm Lisa schon letzte Woche, als sie zusammen essen gegangen waren, von dem polnischen Jungen erzählt, der auf Timos Schloß ermordet worden war. Von dieser ominösen Skulptur, um die sich die gesamte verworrene Geschichte zu drehen schien, war damals allerdings noch keine Rede gewesen.

„Mindestens zwei verrückte Banden“, hatte Timo vorhin gestammelt, „sind hinter der Skulptur her. Einen Toten hat es bereits gegeben: Karoly ... Und ich fürchte, daß sie Lisa ... Wenn es mir nicht gelingt, endlich die Statue aufzuspüren, aber dafür brauche ich ... nein, keine Polizei! – nur Margot ... und, Alex, dich!“

Nach seiner Beichte und diesem Hilferuf war Timo, verstört und übernächtigt, auf der Couch eingeschlafen. Alex aber dachte seitdem vor allem über Timos Behauptung nach, daß ausgerechnet der Industrielle Carl Söllner in diese Entführungs- und Kunstraub-Geschichte verwickelt sei, womöglich sogar als Drahtzieher im Hintergrund.

Der alte Söllner, der als außerordentlich öffentlichkeitsscheu galt, dabei aber einer der reichsten und einflußreichsten Unternehmer Deutschlands war. Keineswegs unumstritten, da immer wieder Gerüchte auftauchten: über Verfehlungen während der „dunkeldeutschen Jahre“ und über seine angeblich ungebrochene Sympathie für „großdeutsche“ Schwärmerei. Doch zugleich genoß Söllner hohes Ansehen als Mäzen, der es verstanden hatte, sich die wichtigsten westdeutschen Kommunal- und Landespolitiker zu verpflichten, indem er bedeutende Teile seines Vermögens in wohltätige Stiftungen fließen ließ.

Wer würde es wagen, dieses „lebende Denkmal des Sozialstaats“ der Verwicklung in Kunst- und Menschenraub zu bezichtigen? Vor allem aber: Wer wäre bereit, Timos Geschichte zu glauben, daß der nahezu allmächtige Carl Söllner versuchte, sich durch finstere Schliche in den Besitz eines halb verfallenen ostdeutschen Schlosses zu bringen? Was waren Söllners Motive? Warum sollte er überhaupt so begierig auf dieses modrige Anwesen an der polnischen Grenze sein? Und wenn er aus irgendwelchen Gründen tatsächlich einen Narren an Timos Spukschloß gefressen hatte: Warum trat er nicht offiziell als Kaufinteressent auf? Weshalb hielt er seinen „großherzigen Plan“, dort eine weitere Stiftung zu gründen, regelrecht geheim? Und warum bediente er sich dubioser Agentinnen wie Margot Wegener?

Diese Margot übrigens (dankbar ließ Alex seine Gedanken wieder abschweifen) hatte es zweifellos verstanden, den armen Timo in sich verliebt, ja geradezu hörig zu machen: Nicht ein einziges Mal hatte Timo ihre Ränke erwähnt, ohne ihr Verhalten zu entschuldigen, nach harmlosen Erklärungen zu suchen, die allerdings nicht gerade überzeugend klangen. Aber Margot Wegeners Motive, dachte Alex, waren bisher so rätselhaft wie Söllners Beweggründe – zu schweigen von der anscheinend wahnsinnigen Strategie dieses Trowal, des Dritten im Statuen- und Menschenjäger-Trio, dessen Verhalten keinerlei Logik erkennen ließ.

In unruhigem Schlaf drehte sich Timo auf Alex’ Couch zur Seite und wandte seinem Freund den Rücken zu. Als erstes hatte ihn Alex vorhin in seinen Whirlpool gescheucht und ihm frische Kleidung bereit gelegt, die ihn nun allerdings umschlotterte wie ein Kind, das sich mit einem Anzug seines Vaters verkleidet hatte.

Vielleicht, dachte Alex und fuhr sich müde über die Augen – vielleicht geht es ja einzig und allein um diese Statue und die zugehörigen Dokumente. Möglich, daß sie auf dem Kunst- oder Antiquitätenmarkt ein Vermögen wert sind, was bedeuten würde, daß sowohl Trowal (von seinem verrückten Verhalten einmal abgesehen) als auch Margot Wegener im Auftrag zahlungskräftiger und offenbar skrupelloser Sammler oder Kunsthehler hinter diesem Schatz herjagen.

Wie aber paßte Söllner in dieses Szenario? Als Kunstsammler war er niemals hervorgetreten – was natürlich nicht ausschloß, daß er diese Leidenschaft im geheimen kultivierte. Und um des finanziellen Vorteils willen würde Söllner sicherlich nicht mit kriminellen Mitteln ein Kunstobjekt an sich zu bringen versuchen: Alex wußte zuverlässig, daß der alte Industriekapitän (Mehrheitseigener der Sölltex AG Textilien Lederwaren und an zahlreichen weiteren Unternehmen mit beträchtlichen Aktienpaketen beteiligt) allein bei seiner Bank (wo Alex die Abteilung für Großkunden-Aktienfonds leitete) ein neunstelliges Vermögen deponiert hatte.

Sehr viel wahrscheinlicher war daher, daß Söllner, falls auch er tatsächlich hinter dieser „Wolfsbiß“-Statue her war, sie und die zugehörigen Dokumente weder aus künstlerischen noch aus finanziellen Interessen in seinen Besitz zu bringen versuchte. Sondern?

So sehr Alex sein übernächtigtes Gehirn auch marterte, ihm fielen lediglich zwei Motive ein, beide nicht sehr überzeugend.

Erste Möglichkeit: Söllner wurde von Alterssentimentalität genarrt und hatte sich deshalb auf diesen Gegenstand fixiert, der für ihn mit einer rührseligen Erinnerung aus jüngeren Jahren verbunden war. Falls er während dieser jungen Jahre tatsächlich eine schwarze oder braune Uniform getragen hatte (was immer wieder behauptet, wenn auch nie bewiesen worden war) und wenn es sich (was sehr gut möglich war) bei der Skulptur beispielsweise um sogenannte „Beutekunst“ aus ehemals polnischem oder jüdischem Besitz handelte, so hatte Söllner allerdings gewichtige Gründe, diskret vorzugehen und sein Interesse an Schloß Stiegliz zu verschleiern.

Aber war Carl Söllner tatsächlich der Mann, der sich von einer so törichten Neigung verleiten ließ, derart windige Mittel einzusetzen? Nicht auszuschließen, dachte Alex, aber alles andere als wahrscheinlich.

Zweite Möglichkeit: Die Skulptur und die zugehörigen Dokumente (die, wie Timo erwähnt hatte, teilweise verschlüsselt waren) bewiesen, daß sich Söllner vor einem halben Jahrhundert in der Rolle eines SS-Manns etwas Schwerwiegendes hatte zuschulden kommen lassen. In einem solchen Fall mußte er diese Gegenstände in seinen Besitz bringen, um seine alte Identität neuerlich zu vertuschen, und dann mußte er erst recht im geheimen vorgehen, damit keinerlei Verbindung zwischen dem einstigen SS-Mann und dem heutigen Söllner ruchbar wurde.

War es aber typisch für einen Mann wie Carl Söllner, in einem solchen existenzbedrohenden Fall derart improvisiert, ja amateurhaft zu handeln? Hätte er sich, wenn es für ihn um alles oder nichts ginge, einer so unberechenbaren Mittlerin wie Margot Wegener bedient? Und wie konnte ihm, dem notorischen Sieger mit seinem legendären Gespür für Taktik und Timing, ein so schwerwiegender Fehler unterlaufen, der dazu führte, daß ein geheimnisvoller Dritter – Trowal – ihm die begehrten Gegenstände vor der Nase wegschnappte?

Nein, überlegte Alex, das ergibt so alles keinen Sinn. Er streckte sich in seinem Sessel und rieb sich abermals die Augen. Die Vögel stimmten vor den Fenstern bereits ihr Morgenkonzert an. In spätestens vier Stunden muß ich in der Bank sein, dachte Alex und wurde sich bewußt, daß er heute ganz gewiß nicht in sein Büro gehen würde. Er konnte Timo nicht im Stich lassen, er mußte ihm beistehen, auf welche Weise auch immer. Und dazu kam: Die Vorstellung, gemeinsam mit Timo in dieses sonderbare Abenteuer zu ziehen, begann ihn, je länger er darüber nachdachte, entschieden zu reizen.

Also, überlegte er von neuem – falls Söllner in der Tat hinter der Statue und den Dokumenten her ist, muß er ein erheblich stärkeres Motiv haben als sentimentale Leidenschaft oder die Vertuschung einer Vergangenheit, deren Schatten ihn seit Jahrzehnten begleiten. In eine solche, längst außer Kontrolle geratene Raub-, Entführungs- und Mordgeschichte würde ein Mann wie Söllner sich nur aus zwei Gründen verwickeln lassen:

Wenn die Dinge, die er in seinen Besitz zu bringen versucht, aus unerfindlichen Gründen so sensationell wertvoll sind, daß sie selbst die Begierde eines vielhundertfachen Millionärs entfachen können. Oder wenn ihr Besitz grenzenlose Macht verleiht.

Unter welchen Voraussetzungen aber konnten eine – wie Timo betont hatte – künstlerisch fragwürdige Bernsteinstatue und ein Koffer voll vergilbter Dokumente ein Milliardenvermögen wert sein? Und was konnte der ominöse Koffer enthalten, das seinem Besitzer unumschränkte Macht verlieh?

Spionage? Hightech-Geheimnisse? Blödsinn, murmelte Alex, auf diese Fragen gibt es ganz einfach keine sinnvollen Antworten. Es sei denn ...

Doch ehe er diesen Gedanken beenden konnte, glitt er, im Sessel neben Timo eher liegend als sitzend, in den Schlaf.

Unbehaglich beobachtete Dr. Siebold, wie Zirfas auf das Bett des Jungen zuging. Strikter polizeilicher Anordnung sich beugend, hatten sie den Patienten in ein Einzelzimmer der Intensivstation verlegt. Drei „besonders vertrauenswürdige“, von Zirfas persönlich ausgewählte Krankenschwestern sollten einander bei der Überwachung des Jungen abwechseln – einer Überwachung, dachte Siebold, die sich wohl kaum in medizinischen Belangen erschöpfte.

Soeben hatte Zirfas die diensthabende Schwester mit einer Handbewegung aus dem Zimmer gescheucht. Seltsamerweise trug er zu seinem Maßanzug lindgrüne Operationshandschuhe, die er noch auf dem Gang vor dem Krankenzimmer aus der Sterilverpackung gezogen und übergestreift hatte. Nun saß er auf einem Stuhl neben dem Bett des Schwerverletzten, der sich unruhig unter seinem Laken bewegte. Gestern am späten Abend erst war der Junge aus der Narkose aufgewacht.

„Er ist noch lange nicht übern Berg“, wagte der Arzt von der Tür her zu bemerken.

„Deshalb bin ich hier. Oder glauben Sie, ich will nicht wenigstens versuchen, mit ihm zu reden, bevor er uns ohne ein Wort abkratzt?“

Siebold würgte die Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag, legte sogar eine Hand vor seinen Mund und strich sich über den Schnauzbart. Er kannte diesen Zirfas seit langer Zeit, und er war keineswegs überzeugt, daß der Polizeioffizier mit seinem Dienstherrn auch seine Gesinnung gewechselt hatte. Dagegen war er nur allzu überzeugt davon, daß Zirfas – was immer er vorhaben mochte – gewiß nicht auf eigene Faust handelte. Wie ein gegen Impfung immunes Virus, dachte der Arzt, hatte auch die Gemeinschaft der Geheimen nach dem Zusammenbruch ihres alten Wirtskörpers nicht aufgehört zu existieren, sondern war zu dem neuen Wirt übergewechselt, der ihr bereitwillig Unterschlupf gewährte.

„Na, denn woll’n wir mal“, eröffnete Zirfas in seinem sanftesten Ton das Verhör.

Mit einer Mischung aus Angst und Benommenheit blickte der Junge den Zivilpolizisten an. Unter dem weißen Schädelverband wirkte sein Gesicht fahlgelb wie die Tropfinfusionen, die durch mehrere Schläuche mit seinen Armen verbunden waren.

„Ihr seid Neonazis, du und die anderen Dreckskerle – stimmt’s?“

Der Junge riß die Augen auf und schüttelte den Kopf. Im selben Augenblick verzog er schmerzlich sein Gesicht, dann stieß er einen Seufzer aus. „Wir sind einfach ‘ne Wandergruppe“, sagte er mit einer Stimme, die infolge der erlittenen Kehlkopfquetschung brüchig und heiser klang.

„‘ne Wandergruppe, deren Mitglieder sich zum Spaß abends am Lagerfeuer gegenseitig foltern“, präzisierte Zirfas. Sanft zog er ihm das Laken über die Brust hinab und tippte mit der Fingerspitze auf eine der verpflasterten Wunden, die den Körper des Jungen bedeckten.

Der Junge stöhnte auf, und seine Augen wurden noch unruhiger, als Zirfas weitersprach.

„Dr. Siebold“, sagte der Polizist, ohne seinen Blick von dem Verletzten zu wenden, „ich schlage vor, daß Sie wieder an Ihre Arbeit gehen. Ich rufe Sie, falls ich Sie brauche.“

„Das geht ...“ Abermals fuhr sich Siebold mit der flachen Hand über den Mund. Er hob die Schultern und ließ sie so resigniert wieder fallen, daß sein ganzer schwerer Leib zusammensackte. Dann wandte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Zirfas nahm an, daß er höchstens eine halbe Stunde benötigen würde, um aus seinem Gesprächspartner die wichtigsten Informationen herauszukitzeln. Dabei würde er bis ganz zuletzt keinerlei Mittel einsetzen, die den Namen „körperliche Gewalt“ ernsthaft verdienten.

Wie der Junge erklärte, hieß er Ralf Horn (also keineswegs Alfred Jungfried, wie der schwachsinnige Cramsen behauptet hatte). Er war sechzehn Jahre alt, stammte aus einem Kuhkaff in Schleswig-Holstein und hielt sich mit seiner „Wandergruppe“ seit zwei Tagen im Grenzwald an der Oder auf.

„Wandergruppe?“ fragte Zirfas nach, wobei er mit den Fingerspitzen seiner behandschuhten Rechten auf eine Brandwunde im Bauchbereich des Jungen trommelte.

„Rotte!“ preßte Ralf Horn hervor. „Wir sagen ... manchmal ... Rotte, aber eigentlich –“

„– ist das die treffende Bezeichnung“, ergänzte Zirfas, „obwohl ihr natürlich auch auf Wanderschaft geht.“

Ralfs Gruppe oder Rotte bestand aus fünf Burschen, alle in seinem Alter, und einem knapp zehn Jahre älteren „Rottenführer“. „Er heißt Martin“, behauptete Ralf. „Sagt immer, wir sollen ihn einfach Martin nennen.“

„Weil er keinen Nachnamen hat“, folgerte Zirfas. Der sanfte Ton, den er weiterhin an den Tag legte, verbarg die Tatsache, daß er just in diesem Moment die Geduld verlor. Die Finger seiner Rechten legten sich auf die empfindlichsten Wunden des Patienten wie auf Tasten einer eigentümlichen Klaviatur. Dort verharrte Zirfas’ Hand, je nach Bedarf verschiedene Töne anschlagend, während des restlichen Verhörs, das nun ohne weitere Verzögerungen die gewünschten Resultate erbrachte.

„Falls du es für eine kluge Idee hältst, zum Beispiel zu schreien ...“ Mit einigen raschen Tastenhieben deutete die Hand an, wozu sich Zirfas in diesem Fall genötigt sehen würde. Doch sie kam gleich wieder zur Ruhe, als Ralf seine Lippen zu einer gurgelnden Tonfolge öffnete und heftig den Kopf schüttelte.

„Martin ... Mühlheim und wir, also ... meine Kameraden und ich“, erklärte er atemlos, „wollten eigentlich in der Burg übernachten. Aber wie wir dort ankommen, ist alles mit so amtlichen Siegeln versperrt. Also sind wir hoch in’n Wald, aber da waren so Polacken ... ich mein’, Polen waren da, die drohten uns Prügel an und meinten, wir sollten verschwinden. Dabei is’ das doch ‘n deutscher Wald, sagt der Martin, und auch drüben, auf der anderen Oderseite, ist alles deutsches Kernland. Heißt die Neumark, hieß immer schon so und war immer deutsch, bis die roten Horden ...“

Die Hand erinnerte Ralf Horn daran, daß er nicht abschweifen sollte. Sein ganzer Körper war starr vor Angst, und obwohl ihm der Arzt ein Medikament gespritzt hatte, tosten in seinem Körper gewaltigere Schmerzen, als er jemals erlebt hatte – sogar schlimmere Schmerzen, als ihm gestern oben im Wald zugefügt worden waren. Er fürchtete, sich sofort übergeben zu müssen, wenn er den Mund aufmachte, um weiterzusprechen. Aber wann immer er stockte oder abschweifte, hieben eisenharte Finger eine rasche Tonfolge, die seinen ganzen Körper vibrieren ließ wie ein Instrument, auf dem Zirfas mit erbarmungsloser Virtuosität spielte.

War eine Frage der Ehre, berichtete er, sich von den Polacken nicht vertreiben zu lassen. Sie marschierten ein Stück tiefer in den Wald, wo sie sich auf einem sandigen, mit Lärchen bewachsenen Hügel verschanzten, den eine ringförmige Grube wie ein Burggraben umgab. Oben auf dem Hügel, gedeckt durch die Lärchen, schlugen sie ihr tarnfarbenes Zelt auf, das sich kaum von seiner Umgebung abhob. Mit erfahrenem Blick hatte Martin eine ideale natürliche Festung erspäht. Trotzdem kam es schon in der ersten Nacht zu furchterregenden Zwischenfällen.

Von der Erinnerung überwältigt, verstummte er für einen Moment. Doch da fuhr die Hand furchtbarer als je zuvor auf ihn nieder, alle Tasten zugleich anschlagend, und mit dunklen Schreien, die in der Tat schon beinahe an Hornklänge erinnerten, kehrte Ralf Horn in die Gegenwart zurück.

„Wir haben keine Zeit, darüber zu streiten, welche Motive alle diese Verrückten haben mögen oder wer hier möglicherweise mit wem paktiert!“ Timo fuchtelte mit beiden Armen, während er ein Hemd anzuziehen versuchte, das tagelang im Koffer gelegen hatte und erbärmlich zerknittert war. „Wir müssen Margot finden und die Statue zurückgeben, damit Lisa freikommt. Alles andere ist im Moment egal!“ Er hatte Mühe, sich in seine Jeans zu zwängen, da er zugleich auf seinen Freund einredete und vor Erregung immer wieder die Hände zu Hilfe nahm. „Wir fahren sofort los, Alex, über die Autobahn nach Hanau – irgendwo müssen wir anfangen! Vielleicht ist Margot ja in ihrem Haus, vielleicht hat sie dort zumindest die Skulptur wieder versteckt.“

Er glaubte es selbst nicht, sowenig wie Alex, dessen skeptischer Gesichtsausdruck nicht zu mißdeuten war. Alex hatte sich in seiner Bank abgemeldet, ein dreitägiger Kurzurlaub, der einen Tumult in seinem Sekretariat ausgelöst hatte: Dutzende von Terminen mit teilweise hochkarätigen Kunden, die Hals über Kopf verschoben werden mußten. Nun lehnte er, mit weißer Leinenhose, Windjacke und Schildmütze wie für einen Segeltörn gekleidet, in der Wohnzimmertür seiner Penthouse-Wohnung und schwieg aus Rücksicht auf Timo, der nervlich offenbar am Ende war.

Es war zehn Uhr vormittags. Sie hatten beide kaum geschlafen, doch überraschenderweise fühlte sich Alex frisch und zu jedem Abenteuer bereit. Vorhin hatte er Timos Lada Niva vom Straßenrand in seine Tiefgarage gefahren und war mit einem der Koffer zurückgekehrt, die Timo vor Tagen gepackt hatte, um mit Lisa fluchtartig in Urlaub zu fahren. Jetzt zog sein Freund Kleidungsstücke aus dem Koffer und streifte sie über, wobei er unablässig auf Alex einredete.

„Margot handelt nicht im Auftrag von Söllner“, keuchte er bei dem Versuch, seine Schuhe zu binden und gleichzeitig Alex im Blick zu behalten. „Glaub mir, bei dieser ganzen Geschichte handelt niemand logisch, weder Margot noch Trowal oder dieser Söllner – und das hat einzig und allein mit der Wolfsfigur zu tun! Etwas Bedrohliches geht von ihr aus; Gewalt und Zerstörung strahlt sie aus; und ich bekomme mehr und mehr den Eindruck, daß sie jeden verhext, der mit ihr in Berührung gerät.“

Verhext bist du sicher, mein Junge, dachte Alex, allerdings nicht von der Skulptur, sondern von deren Diebin.

Zu seiner Verblüffung hatte er in Timos Wagen einen weiteren Koffer vorgefunden – schwarz, mit schrundiger Lederhaut und verbogenen Schlössern –, der die von Timo beschriebenen Dokumente enthielt: den vergilbten Geheimbundvertrag samt wolfsköpfigem Poem, außerdem ein stockfleckiges Quartheft, dessen Seiten mit chiffrierten Zahlen- und Buchstabenkombinationen bedeckt waren. Bis dahin hatte er vermutet, daß die Skulptur und die Dokumente zusammengehörten, auch Timo schien das anzunehmen. Aber nun fragte sich Alex, ob ihnen nicht ein Denkfehler unterlaufen war – oder wie sonst ließ sich erklären, daß die Schatzjäger Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um die Bernsteinstatue an sich zu bringen, während sich für den Koffer und die Dokumente niemand zu interessieren schien?

Einer Eingebung folgend, hatte er den Wolfskoffer in seinen Wagen umgeladen, doch fürs erste blieb ihnen keine Zeit, über diese irritierende Frage nachzudenken. Seit Alex in seine Wohnung zurückgekehrt war, trieb Timo ihn und sich selbst unablässig an und redete auf ihn ein, so daß man keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Um kurz nach zehn fuhren sie mit dem Lift in die Tiefgarage hinab, wo sie in Alex’ Mercedes stiegen.

„Auf schnellstem Weg zur Autobahn“, sagte Timo. „In Wilhelmsbad zeige ich dir dann den Weg.“

Fügsam ließ Alex den Acht-Zylinder-Motor an. Er war keineswegs der Ansicht, daß blinder Aktionismus ihnen in dieser Situation weiterhelfen konnte. Vielmehr fand er, daß sie zumindest versuchen mußten, sich ein klareres Bild von den Personen, die in dieses Drama verwickelt waren, und von ihren möglichen Beweggründen zu verschaffen. Immerhin handelte es sich um Leute, die auch vor Gewaltverbrechen nicht zurückschreckten. Doch er argwöhnte, daß Timo jede Diskussion vor allem deshalb abblockte, weil er über Margots Rolle nicht nachdenken, weil er nicht eingestehen wollte, daß sie ein Lockvogel von Söllner war. Nach Alex’ Überzeugung würden sie in Wilhelmsbad weder Margot noch die heillose Skulptur vorfinden, und er nahm an, daß auch Timo sich von diesem Versuch, den erstbesten Strohhalm zu ergreifen, wenig versprach.

Andererseits war er fast erleichtert, daß Timo ihn nicht gedrängt hatte, in seiner Funktion als Bankmanager sofort einen Termin mit Söllner zu arrangieren. Schaudernd stellte er sich vor, wie Timo in seiner Gegenwart dem Industriellen vorwarf, in Entführung und Kunstraub verwickelt zu sein. Mit dem Kopf durch die Wand zu rennen war sowenig wie Stochern im Nebel eine erfolgversprechende Strategie.

„Worum es bei dieser Geschichte in Wirklichkeit geht“, sagte Timo, während sie in der Vormittagssonne durch die Kurven des Cityrings von Frankfurt/Main fuhren, „werden wir herausfinden – vielleicht –, nachdem wir Margot aufgespürt und Lisa freibekommen haben.“

Mein Lieber, ich befürchte ja, dachte Alex, daß wir es andersherum angehen müssen. Aber er schluckte abermals seinen Protest herunter, setzte den Blinker und reihte sich in die Schlange vor der Abbiegerampel in Richtung Autobahn ein.

„Ich habe keine Ahnung, warum“, sagte neben ihm Timo, mehr in Gedanken als zu Alex, „aber ich spüre immer deutlicher, daß hinter all dem ein großes, ein furchtbares Geheimnis steckt. Entweder bin auch ich kurz davor, verrückt zu werden, oder ...“

Er verstummte, unfähig, seine Gedanken zu entwirren, die eher Bildern glichen, Schatten und Traumszenen mit verwaschenen Konturen. Doch ihm war, als ob seine Kindheitswelt, in die er vor zwei Jahren zurückgekehrt war, nun erst aus ihrer Erstarrung zu erwachen begann – und er war keineswegs mehr sicher, ob er dieses Erwachen wirklich wünschte. Ein Erwachen geisterhafter Stimmen, die zu murmeln und zu seufzen, von Schatten, die zu beben und zu wandeln begannen, während Falltüren über Gewölben und Verliesen sich zu öffnen schienen, um ihr grauenhaftes Geheimnis preiszugeben. Ein Geheimnis, ahnte er, das auch mit ihm selbst, mit seiner eigenen Vergangenheit auf Schloß Stiegliz zu tun hatte und das doch viel größer und älter war – riesenhaft und verschlingend wie jene Urwelt, Unterwelt, die er in seiner Vision einen Wimpernschlag lang gesehen hatte, gebannt auf die Lichtgrenze, in die Waldschlucht hinabblickend, in der Margot mit wehendem Haar verschwunden war.

Timo schloß die Augen und sah Stiegliz, das wuchtige, dunkle Gemäuer, im Zentrum eines Sterns, auf das von allen Seiten schemenhafte Gestalten zustrebten. Menschen, die dort schon früher einmal gewesen, mit dem Geheimnis in Berührung gekommen und ihm für immer verfallen waren.

Söllner, der (möglicherweise!) während der Kriegsjahre auf Schloß Stiegliz gewesen war: Hatte er damals von einem Mysterium erfahren, das ihn am Ende seines Lebens zwang, dorthin zurückzukehren?

Der Grünäugige, Blondgelockte in Trowals Gefolge, ein Ebenbild des verschollenen Kai, wie Timos Bruder mit dreizehn, vierzehn Jahren war. Wie um alles in der Welt ließ sich die Existenz dieses spukhaften Wiedergängers erklären, und warum trieb es auch ihn, wie von einem Zauber gezogen, nach Schloß Stiegliz zurück?

Und welche mysteriöse Macht, dachte Timo mit aussetzendem Herzschlag, welches vergessene, in meinem Inneren lauernde Geheimnis hat auch mich selbst mit so gebieterischer Kraft nach Stiegliz zurückgeführt? Wieder spürte er jenes nur allzu vertraute Grauen, das ihn stets befiel, sobald seine Erinnerung ihn in gewisse schattige Winkel, verborgene Nischen seiner Kindheitswelt zu führen versuchte – an jene verbotenen Orte im Schloß, selbst im Park und im Wald von Stiegliz, von denen schon damals etwas Beklemmendes, ja Bedrohliches ausgegangen war.

Was aber? Warum konnte er es nicht greifen? Warum entzog es sich ihm jedesmal, sobald er danach zu tasten versuchte? Der Söller über der Orangerie fiel ihm ein, Herbst 1944, als er fünf Jahre alt war. Mit seiner Mutter hatte er an der Brüstung gestanden, während unten im Park, zwischen brennenden, mannshohen Fackeln, im Angesicht des tausendäugig erleuchteten Schlosses, jenes nächtliche Ereignis begann, das ihm bis heute, wann immer er daran dachte, ungeheuerlich erschien, mit unerträglicher Intensität in jede Faser seines Körpers dringend.

War es nicht einfach nur Musik gewesen, ein gigantisches Konzert zwar, aber doch bloß Musik – mit altertümlichen Streichinstrumenten, wundersam gebogenen Flöten und einem vielstimmigen Knabenchor? Und mit einer Melodie, einem Klang allerdings, der bei aller Kunst und Ausdrucksstärke mißtönend schien, wie nicht von dieser Welt? Jedoch nicht wie aus dem Himmel herniederklingend, dachte Timo, sondern wie hochkünstlerisch orchestriertes Winseln und Seufzen und Klagen aus ... jener Ur- oder Unterwelt, die gestern für einen Lidschlag vor ihm aufgesprungen war.

Gewaltsam drängte er die Erinnerungsbilder, die klagenden Töne aus ferner Vergangenheit zurück. Doch das Grauen blieb, eine ungreifbare Angst, die sich als Verspannung in seine Nackenmuskeln krallte. Wieder fragte er sich, ob er nicht nach genau diesem Grauen süchtig war, ob es ihn nach Stiegliz nur deshalb zurückgedrängt hatte, da er sich einzig im Bann jener gespenstischen Beklemmung, des alltäglichen Schreckens, einer Welt voller Fratzen und gewisperter Klagen, als wirklich und lebendig empfand. Gleich hinter deinem Schlosse fängt ja der dicke dunkle Wald an ...

„Wilhelmsbad“, sagte neben ihm Alex.

Timo öffnete die Augen und blinzelte ins Sonnenlicht. Sie hatten die Autobahn bereits verlassen und fuhren eben in den stillen Vorort ein. „Die nächste Straße rechts“, sagte er, „und dann noch einmal rechts.“

Alex bog in die Seitenstraße ein. Fünfzig Meter vor sich sahen sie bereits die Kreuzung, von der Margots Allee abzweigte. Da schob sich aus einer Ausfahrt rechterhand, kaum ein Dutzend Schritte vor ihnen, rückwärts ein Sattelschlepper hinaus. „Herrje, das kann ewig dauern!“ Seufzend trat Alex auf die Bremse.

Der Schlepper wälzte sich quer über die Straße. Obwohl er mit dem Heck fast schon an die Mauer auf der linken Straßenseite stieß, steckte rechts die Fahrerkabine noch einen Meter tief in der Ausfahrt.

„Wie will er da jemals wieder rauskommen! Gibt es nicht noch einen anderen Weg, Timo?“

Timos Antwort bestand aus einem Blick, in dem plötzlich Panik flackerte. „Stell den Wagen ab, schnell“, sagte er, „ich spüre etwas – wir müssen zu Margot!“

Alex hatte nicht die blasseste Idee, wovon sein nervlich überanstrengter Freund redete. Doch in einem Punkt hatte Timo recht: Es hatte keinen Sinn, hier zu warten. Also zuckte er mit den Schultern, setzte den Wagen zurück und parkte ein, und er hatte kaum den Schlüssel aus dem Zündschloß gezogen, als Timo bereits quer über die Straße rannte.

Fluchend folgte ihm Alex, hievte sich wie Timo auf die Mauer und balancierte am Heck des Lastwagens vorbei. Da aber bog Timo schon in Margots kleine Allee ein, hastend und rennend wie noch nie in seinem Leben, zumindest nicht mehr seit der Kinderzeit, als er mit Kai durch Wald und Park gelaufen war.

Nicht nur Ralf allein, die ganze Rotte schreckte in der ersten Nacht auf dem Lärchenhügel immer wieder aus Alpträumen auf. Rings um das Zelt hörte er, mit klopfendem Herzen in seinem Schlafsack vergraben, ein jaulendes, die Oktaven emporschleifendes Heulen, wie von Wölfen, obwohl Martin Mühlheim ihnen versichert hatte, daß sich die Wölfe nicht auf die westliche Oderseite wagten. Aber viel schlimmer als das Geheule der Wölfe war dieses Schleichen und Rascheln namenloser Schemen, die sie nicht sehen, nicht lokalisieren konnten, obwohl sie alle spürten, daß irgend etwas ganz in der Nähe war.

Unten im Graben – bei ihnen auf dem Hügel – sogar in ihrem Zelt: Es huschte und tappte um sie herum, selbst durch die Planen hindurch, obwohl die sich scheinbar nur im leichten Nachtwind ein wenig bewegten.

Träume, sagte Ralf Horn, der die wachsende Ungeduld in der Hand des anderen spürte, grauenvolle Alpträume, aber es war mehr als nur das. Man fuhr aus dem Schlaf, doch dann lag man wie gelähmt in der Dunkelheit, konnte sich nicht rühren, nicht atmen, nicht rufen, als ob jemand Zentnerschweres der Länge nach auf einem läge.

„Die Polen, was?“

„Nein!“ rief Ralf so gedämpft, wie die Hand, wie seine Panik es ihm erlaubten. „Meine Kameraden behaupteten, es wären die Pola– die Polen. Aber das ... ich wußte, daß es nicht stimmte. Die würden sich einen Spaß mit uns machen, sagte Martin und lachte, die glaubten, wir würden uns vor Angst in die Hosen machen, aber die wüßten nicht, was richtige deutsche Männer sind. Na ja, er befahl uns, auf den ganzen Spuk nicht zu achten und einfach weiterzuschlafen. Er selbst hielt die erste Wache, und ich sollte ihn um drei Uhr ablösen.“

Noch nie hatte sich Ralf so sehr vor einer Wache gefürchtet wie in jener Nacht. Obwohl er ja wußte, daß ihm das Zelt vor „dem da draußen“ keinen Schutz bot, graute ihm bei der Vorstellung, das Zelt verlassen, wie nackt in der Finsternis sitzen zu müssen, während ringsum die Wölfe heulten und diese – was immer sie sein mochten – durch den Wald huschten und schlichen und raschelten.

Gegen seinen Willen schlief er vor der Wachablösung noch einmal ein und erwachte erst, als ihn Martin an der Schulter rüttelte. Er wollte aufschreien, aber ihm war, als ob eine dicke, eiskalte Zunge in seinem Mund steckte. Er mußte würgen, er tastete über seinen Körper, überzeugt, daß irgend jemand sich auf ihn gelegt hatte. Aber da war nichts, wieder war da im ganzen Zelt nichts Verdächtiges – nur eine Rotte halbwüchsiger Helden, die mehr und mehr in Panik geriet.

Auch Martin Mühlheim, das spürte Ralf, vermochte seine Nerven kaum mehr zu beherrschen. Er kauerte zwischen Ralf und den anderen Jungen im Zelt, und im Mondlicht sahen sie, daß sein Gesicht bleich und verzerrt war.

„Ich geh’ nicht auf Wache“, hörte sich Ralf plötzlich sagen. Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da begannen seine Zähne zu klappern. Martin würde ihn wegen Befehlsverweigerung bestrafen, aber das war ihm in diesem Moment egal, ja mehr noch: Sollte er ihn schlagen, anspucken, treten, was immer er wollte, solange der Rottenführer nur in seiner Nähe blieb.

Denn alle Strafen, die Martin ersinnen konnte, dachte Ralf in seiner Angst, waren leichter zu ertragen als das Grauen, das ihn dort draußen erwartete – dort draußen, wo die Wölfe so unerträglich, wie in akustischer Zeitlupe, die Tonleiter hinauf- und hinunterheulten. Wo die Kreaturen, die Geister, die Dinger ohne Namen herkamen und herumhuschten, während die Nacht einfach nicht weichen, die Sonne scheinbar nie mehr aufgehen wollte.

„Um dich kümmer’ ich mich morgen“, sagte Martin Mühlheim und spuckte Ralf ins Gesicht. „Christoph, du gehst auf Wache.“

Christoph Siel, der Kamerad, stieß einen Fluch aus. Und auf einmal, als hätte jemand eine Tür aufgerissen, brüllten alle durcheinander, schrien und fluchten und heulten mit den Wölfen um die Wette, und obwohl Martin „Ruhe, verdammt!“ donnerte, brach in dem engen Zelt ein regelrechter Tumult aus.

„Wir alle haben durcheinanderkrakeelt, und außerdem hatten wir ja draußen keine Wache mehr“, erklärte Ralf der Hand, deren Plastiküberzug sich heiß anfühlte. „Deshalb hat keiner von uns gemerkt, daß sich die Polanskis an unser Lager rangeschlichen hatten. Plötzlich schlitzt einer von denen unser Zelt auf, und im Mondschein steht so ein Riesenkerl vor uns auf dem Hügel, hinter ihm zwei weitere Polacken.“

Erschöpfung überkam Ralf, mächtig wie eine Meereswelle, und für einen Augenblick sehnte er sich danach, das Bewußtsein zu verlieren. Doch die Hand würde ihn überallhin verfolgen, selbst in den Abgrund der Ohnmacht, und so beeilte er sich, seine Geschichte zu Ende zu bringen, damit dieser Polizist ihn endlich in Frieden ließ.

Martin Mühlheim, der stets einen WK-II-Revolver bei sich trug, riß die Waffe aus seinem Koppel, war mit einem Sprung durch die zerschlitzte Zeltplane draußen und drückte dem riesenhaften Polen die Mündung in den Wanst. „Was wollt ihr Schweine“, fragte er mit einer Ruhe, die um so unheimlicher wirkte, als sie eben noch alle durcheinandergeschrien hatten.

Dem großen Polen hatte der Revolver die Sprache verschlagen. Einer seiner Kumpane, der hinter einen Baumstamm zurückgewichen war, rief in grollendem Deutsch aus seiner Deckung:

„Irr seine Brruder umgebrracht! Irr den kleinen Karroly gefolterrt und lebendig in Errde gescharrt! Karroly tot sein! Mörrder irr!“

„Wer hier irre ist, dürfte klar sein“, gab Mühlheim zurück. Und dann mit kalter Befehlsstimme in die Richtung Ralfs und seiner Kameraden: „Schnappt euch die drei Polacken!“

Doch die Polen hatten andere Pläne. Trotz des Revolvers an seinem Bauch brüllte ihr Anführer ein Kommando, und seine beiden Kumpanen verschwanden wie Schatten in der Nacht.

„Meine Kameraden und ich sind ihnen noch nachgerannt“, erzählte Ralf, „ich sogar vorneweg, weil ich dachte, wenn ich einen der Kerle schnappe, komm’ ich beim Martin ohne Strafe davon. Aber wie ich zurückkomme, als letzter und mit leeren Händen, stürzen sich die Kameraden gleich auf mich und ...“

Und? klimperte die Hand.

Wieder stöhnte Ralf, unter der doppelten Last von Erinnerung und Schmerz.

Der Morgen dämmerte, endlich – ein Morgen, den gerade Ralf herbeigesehnt hatte wie noch nie zuvor das Ende einer Nacht. Doch wenn er gewußt hätte, was ihm an diesem Tag bevorstand, hätte er sich gewünscht, daß selbst die verfluchte, von Alpträumen und Gespenstern erfüllte Nacht niemals der Dämmerung gewichen wäre.

„Martin bestand darauf, daß ich bestraft werden müßte. Den Polen hatten sie gefesselt und an einen Baum gebunden. Wenn Sie wissen wollen, worin genau meine Bestrafung bestand“, fügte er in einem Anflug von Trotz hinzu, „dann brauchen Sie nur den Arzt fragen.“

Hab’ ich schon. Und weiter?

Obwohl er natürlich wußte, daß auch Zirfas nicht wirklich mit seinen Fingern sprechen konnte, war Ralf sicher, daß sich die Lippen des Polizisten nicht bewegt hatten. Seine Fragen, seine Befehle erreichten ihn schon längst nicht mehr in Form von Schall und Lauten, sondern als Wellen schierer Schmerzen, die seinen Körper, sein Gehirn vibrieren ließen wie ein furchtbar empfindliches Musikinstrument.

„Martin hatte uns befohlen“, antwortete er (der Virtuosenhand), „so alte Wolfs- und Bärenfelle mitzuschleppen – für Geländespiele, wie es zu Hause hieß.“

Nachdem der Rottenführer und die anderen an diesem Morgen Ralf einer mehrstündigen Bestrafung unterzogen hatten, erklärte Martin Mühlheim, auch ein Kamerad wie Horn, der sich schon mehrfach als feige erwiesen habe, müsse noch einmal eine Chance bekommen. Den ganzen Nachmittag über verfolgten Martin und drei Kameraden die flüchtigen Polen. Nur Ralf und der Gefangene blieben im Lager, von Christoph Siel bewacht. Am Abend, als Martin von der ergebnislosen Suche zurückkehrte, befahl er, den gefangenen Polen in das größte Bärenfell und Ralf in einen Wolfspelz einzunähen.

„Wenn du diesen Kampf gewinnst“, sagte Martin Mühlheim zu Ralf, „werde ich mich persönlich dafür einsetzen, daß du eine Auszeichnung bekommst.“

„Eine Auszeichnung“, wiederholte Zirfas versonnen, „von wem?“

Der Junge warf ihm einen erschrockenen Blick zu. „Mit dem Tod von diesem Polackenjungen haben wir nix zu tun!“

„Danach habe ich dich nicht gefragt.“

„Keine Ahnung, wer das überhaupt sein soll und wer da vielleicht sonst noch seine Hand im Spiel – –“

„Eine Auszeichnung“, wiederholte Zirfas, „von wem? Wer hat euch hierher, nach Schloß Stiegliz, geschickt?“

Doch diesmal mochte die Virtuosenhand auf die Tasten schlagen, wie sie wollte – Ralf Horn blieb, von unterdrücktem Schluchzen abgesehen, standhaft und stumm.

Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Der Junge hatte die Augen geschlossen und atmete zaghaft – die Karikatur eines Totstellreflexes, dachte Zirfas. Seine Hand verließ die Klaviaturpunkte und schnellte zu dem bandagierten Schädel des Jungen empor. In diesem Moment vernahm Dr. Siebold, der sich mit angehaltenem Atem von außen gegen die Krankenzimmertür preßte, ein dumpfes Geräusch, als ob ein mit Stoff umwickelter Gegenstand gegen eine Steinwand geschlagen würde.

Schon einen Lidschlag später ließ Zirfas von dem Vorzugspatienten der Intensivstation ab. Mit der behandschuhten Linken streifte er den besudelten Handschuh von seiner Rechten undversorgte die Utensilien in einem für Beweismittel vorgesehenen Beutel, den er in seine Tasche schob. Während er sich zur Tür wandte, sagte er sich, daß er den Rest der Geschichte ohnehin kannte:

Der verrückte Cramsen war in die Kampfarena geplatzt. Indem er den polnischen Bären abschoß, der vom teutschen Wolf schon beinahe zur Strecke gebracht worden war, hatte Cramsen – je nachdem – alles verpfuscht, weil mißverstanden, oder zu seinem logischen Ende geführt: weil vielleicht nur er in seiner irren Hellsichtigkeit erkannte, worum es bei diesem Totentanz um Schloß Stiegliz eigentlich ging.

Den Namen des Hintermannes, der die „Rotte“ nach Stiegliz entsandt hatte, war Ralf Horn ihm schuldig geblieben. Dennoch trug Zirfas ein wissendes, ja triumphierendes Lächeln zur Schau, als er an diesem Vormittag gegen halb elf aus Ralf Horns Sterbezimmer trat und Dr. Siebold befahl, seiner ärztlichen Pflicht nachzukommen.

In das Keuchen seines Atems, das Trappeln seiner Schritte auf dem Pflaster mischte sich ein Klang – so leise, daß Timo ihn zunächst kaum wahrnahm, so beharrlich, daß der jaulende Dauerton endlich doch in sein Bewußtsein drang.

Die Allee war viel länger als in seiner Erinnerung, allerdings war er diese Strecke noch nie zu Fuß gegangen. Genauer gesagt: gerannt, denn Timo rannte im Schatten der Linden wie niemals in seinem Leben. Links und rechts huschten Bäume, Autos, ergraute Villen hinter Mauern und Zäunen vorbei, weit hinter sich hörte er Alex’ stampfende Schritte, und der Klang schwoll unaufhaltsam an: Er war noch immer sehr leise, kaum hörbar, aber er wurde lauter und lauter und begann heulend und jaulend die Tonleiter emporzuschleifen – als blase Wind in etwas Hohles, eine stöhnende Röhre, mit wachsendem Zorn hinein.

So tiefes Unbehagen flößte Timo dieser Klang ein, daß alles in ihm sich sträubte weiterzulaufen; dabei wußte er ja, mit untrüglicher Gewißheit, daß Margot in Gefahr war. Er hatte es gespürt, schon in Alex’ Wagen und lange bevor er den Klang bewußt vernommen hatte: Sie war in ihrem Haus, bei ihr die Wolfsfigur, von der eine tödliche Bedrohung ausging. Er wollte sich zwingen, schneller zu rennen, aber der grauenvoll die Oktaven emporschleifende Dauerton ließ jede Faser seines Körpers vibrieren, jede einzelne Zelle erbeben, so daß Timo wie betrunken zu taumeln begann.

Nach zwanzig weiteren qualvollen Schritten, die er seinen widerstrebenden Beinen abzwang, hatte er Margots Gartenmauer erreicht. Der Ton war lauter und lauter geworden, doch er war noch immer so leise, daß man ihn kaum wahrnahm, wenn man sich nicht darauf konzentrierte. Aber Timo war jetzt vollkommen sicher, daß der jaulende Klang aus Margots Haus drang.

Vor ihrem Tor blieb er stehen, warf rasch einen Blick zurück und sah, daß Alex nur noch zehn Schritte hinter ihm war. Hinter dem Tor sah auf den ersten Blick alles unverändert aus. Weder im Garten noch hinter den Fenstern war irgend jemand zu sehen; die Haustür wirkte wie die Fenster unbeschädigt, was Timo einen Moment lang beruhigend fand – bis er den dunkelgrauen Van bemerkte, zehn Schritte vor ihm am Straßenrand.

„Da – Trowals Wagen“, flüsterte er Alex zu, der mittlerweile neben ihm stand und atemlos die Fäuste in die Hüften stemmte. Mit dem Kinn wies er in Richtung des Van, dann hob er die Hand, um die Torklinke zu drücken.

In diesem Augenblick schwoll der Klang unvermittelt so stark an, sirenenhaft jaulend, daß Timo aufschrie und seine Hände auf die Ohren preßte. Doch fast im selben Moment erstarb der Ton wieder, mit winselndem Nachhall, auf den Stille folgte – eine so vollkommene Stille, als wäre mit dem abscheulichen Geräusch auch alles Leben ringsum erstickt.

Timo ließ die Hände sinken, fing einen entgeisterten Blick von Alex auf und wollte etwas antworten, irgend etwas, um die furchtbare Stille zu durchbrechen, doch er brachte keinen Ton heraus. Mit einer Bewegung, die er selbst als traumhaft verlangsamt empfand, griff er abermals nach der Torklinke, drückte sie herunter, trat in Margots Garten und lief zwischen den kunstvoll verwilderten Baumreihen auf das Haus zu.

Noch immer umfing ihn totale Stille, die selbst das Knirschen seiner Schritte auf dem Kiesweg, das Keuchen seines Atems verschlang. Auf der Freitreppe wich er den eingelassenen Geheimbundzeichen aus, diesem Gewimmel aus Pyramiden- und Kegelsymbolen: winzigen Höllentrichtern, dachte er, Spukluken, aus denen namenloses Unheil drang.

Margots Haustür. Wieder stand sie spaltbreit offen, doch nicht verlockend: Düsternis lauerte hinter dem Spalt und jene vollkommene Stille, die ihm noch abscheulicher schien als vorher der winselnde Klang.

Timo schob die Tür auf. Margot? wollte er rufen, aber seine Kehle war wie verriegelt. Und mit einem Mal war ihm, als hätte er eine Grenze überschritten und wäre in eine fremde Welt getreten, ein äffendes Abbild, in dem alles wie in der vertrauten Welt aussah, aber verzaubert, auf grauenvolle Weise verwandelt: die Nachtseite ... Wie in Trance folgte er dem düsteren Gang bis zur Flügeltür, wobei er sich einzuschärfen versuchte, daß er ja wußte, was sich hinter dieser Tür befand: Margots musealer Saal, in dem sie ihre Exponate aufbewahrte; Glasvitrinen an den Wänden und der ganze Raum durchflutet von Licht. Dennoch empfand er heftiges Unbehagen, als er seine Finger der Türklinke näherte, und für die Dauer eines Wimpernschlags sah er abermals den Abgrund vor sich, den Krater voller Fratzen und wisperndem Wahnsinn, in dem Margot am Rand der Autobahn verschwunden war.

Urwelt, Unterwelt ... Unsinn! Mit einer Bewegung, die nur ihn selbst überrumpelte, stieß Timo die Tür auf. Eine Woge grellen Lichts schwappte ihm entgegen und ergoß sich über ihn, so daß er auf der Schwelle erstarrte und geblendet die Augen schloß.

Als er die Lider hob, erblickte er zuerst nur ein Gewirr aus Sonnenstrahlen, in denen Staubpartikel wie winzige Lichtwesen glommen und tanzten. Die Strahlen brachen sich in den Glasfassaden der Vitrinen, hinter denen Masken äugten, Trümmer von Büsten aufschienen, alchimistische Phiolen, plumpe Apparate in so rascher Folge leuchteten, erloschen und abermals erglühten, daß sich der ganze Saal um Timo zu drehen schien.

Dann erstarrte das Bild, die Lichtschauer verblaßten zu einem fahlen Schleier, zu glimmendem Nebel über der Szene, die Timo nun vor der hinteren Schmalwand des Saals erspähte:

Die Konturen eines Menschen, lang, hager, rücklings auf das Parkett gestreckt. Die niedrige Vitrine, die den Saal der Länge nach teilte, verdeckte ihn von der Brust aufwärts, und doch hatte Timo ihn auf den ersten Blick erkannt – im selben Moment, da er mit einem Gefühl des Grauens registrierte, daß dieser reglos auf dem Boden liegende Mann allem Anschein nach tot war.

Trowal ...

Neben dem scheinbar oder tatsächlich Toten, der wie gefällt zu ihren Füßen lag, stand hochaufgerichtet, mit entrücktem, ja ekstatischem Blick Margot – wieder in ihrer kalkweißen Nonnenkutte, in der erhobenen rechten Hand einen kleinen Gegenstand, von dem ein unnatürlicher Glanz ausging. Das gesamte Sonnenlicht, dessen Strahlen eben noch wie rasend durch den Saal getanzt waren, schien sich in diesem kaum über handgroßen Objekt zu bündeln, ja aus ihm hervorzulodern. Margot hielt es in Höhe ihrer Lippen, als sei sie im Begriff, daran zu riechen oder gar hineinzubeißen. Daher strahlte der düstere Glanz auch auf ihr Gesicht aus, eine leuchtend weiße Maske, umgeben vom Funkeln ihres Kupferhaars. Doch während ihr Gesicht in den Lichtkaskaden desto undurchdringlicher wirkte, schien der Glanz das Ding in ihrer Hand von innen zu erleuchten, mit einer funkelnd braungelben Aura zu umgeben, die seine Umrisse vergrößerte, zugleich aber verschwimmen ließ.

Dennoch erkannte Timo, daß dieses Objekt in Margots Hand nichts anderes als die tausendfach verfluchte Wolfsfigur war.

„Margot.“ Endlich gelang es ihm, ihren Namen hervorzubringen, wenn auch mit rauher Stimme, und einen Schritt in den Saal zu tun.

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, doch für einen Moment nur, und ihr Blick ging an ihm vorbei. Als hätte sie sich davon überzeugt, daß dort niemand in der Tür stand, daß niemand ihren Namen gerufen hatte, schweifte ihr Blick gleich wieder ab, zurück zu Trowal, dessen erstarrte Gestalt in diesem Moment ein Zucken überlief. Timo hörte ein metallisches Klicken, schattenhaft schnellte zu Margots Füßen ein Arm empor, dann fauchte, ohrenbetäubend und in Echowellen hallend, hinter der Vitrine ein Schuß hervor.

Margot schrie auf, und noch während sie schrie, sank sie in sich zusammen, und über ihrer linken Brust bildete sich ein ovaler Fleck, grellrot und rasch sich vergrößernd wie ein aufklaffender, gleichfalls schreiender zweiter Mund. Sie stürzte zu Boden, auf Trowal zu, hob im Fallen die Bernsteinstatue dichter an ihre Lippen, und abermals ertönte der Klang: erst leise stöhnend, dann schon heulend und jaulend, doch nur für die Dauer eines Herzschlags – dann sackte Margot auf den wieder wie leblos daliegenden Trowal, und neuerlich erstarb der Klang mit winselndem Schleifton, und während Timo noch wie erstarrt stand, knallte ein weiterer Schuß – –

Fast im gleichen Moment wurde draußen auf der Straße wild durcheinandergerufen. Benommen unterschied Timo nur immer wieder die Worte: „Schießerei – Polizei ... Schießerei – Polizei ...“, wie in einem Kinderreim. Während er noch lauschte, wurde er von hinten zur Seite gerempelt:

Alex – er stürmte an Timo vorbei in den Saal. Mit rudernden Armen rannte er längs der Vitrine bis zu Margot und Trowal, wo er sich bückte, etwas aufnahm, in dieser Bewegung bereits sich drehte, um zu Timo zurückzukehren: rennend, die Augen weit aufgerissen, seine Windjacke ballonhaft gebläht. „Schnell, Timo, weg hier – ich glaube, sie sind beide tot!“

Worte, die Alex unmöglich gesagt haben konnte, deren Sinn zu erfassen alles in Timo sich weigerte. Ohne im Laufen innezuhalten, packte ihn Alex, zerrte ihn mit sich, durch den düsteren Flur, die Freitreppe hinunter, hinaus in den Miniaturwald, zurück auf die Straße, und Timo ließ sich davonziehen, zu immer rascherer Gangart antreiben, ohne auf irgend etwas in seiner Umgebung zu achten.

Noch immer hallten in seinen Ohren, in seinem Kopf die Explosionen der beiden Schüsse, der grauenvolle Jaulton und Margots Schrei. Noch immer sah er ihr Gesicht vor sich, eine bleiche Maske, den schreienden Mund, schief darunter die Wunde in der kalkweißen Kutte, klaffend wie Lippen, die eine innere Gewalt aufsprengt zu einem viel tieferen Schrei. Undeutlich hörte er ringsum Rufe, Fenster, die auf- und wieder zuschlugen, dann Polizeisirenen, und immer noch rannten sie, vorbei an Häusern, Zäunen, Gärten – oder vielmehr: Alex rannte, wobei er Timo mit sich zerrte und zog.

Alex’ Mercedes. Timo sackte auf den Beifahrersitz, während Alex den Schlüssel mit bebender Hand ins Zündschloß schob. Wieder das Geräusch einer Explosion und ein Winseln und Jaulen, doch nur von dem Motor, den Alex gestartet hatte, und von durchdrehenden Reifen, als der schwere Wagen zurückstieß, dann nach vorn gerissen wurde, in Richtung Autobahn.

Timo wurde so fest gegen die Rückenlehne gepreßt, daß es ihm vollends den Atem benahm. „Und das alles wegen diesem Dreckding“, hörte er Alex fluchen.

Ehe er auch nur überlegen konnte, was diese Worte bedeuteten, spürte er einen schmerzhaften Schlag auf seinem Bein, gefolgt von einer kollernden Bewegung, mit der etwas Hartes in seinen Schoß fiel.

Er senkte den Blick und sah, vor Verwirrung blinzelnd, die schlanke Säule, die sich zwischen seinen Schenkeln hervorreckte, leuchtend und vibrierend, als wäre der bernsteingelbe Jüngling tatsächlich zum Leben erwacht.

Der Anblick war so bizarr, zugleich fremd und seltsam vertraut, daß Timo, als er nach der Skulptur griff, eine Welle der Scham durchlief.

Die Statue fühlte sich eiskalt an – so tödlich kalt wie die Lüsternheit Satans in uralten Sagen, an die er sich aus irgendeinem Grund erinnert fühlte, und so unerwartet leblos, daß ihm erst verspätet auffiel, was mit der Skulptur geschehen war.

„Alex“, flüsterte er, „sieh dir das an.“

Die Bernsteinskulptur funkelte, Glanz erfüllt von einem Feuer, das aus ihrem Innern hervorzubrechen schien. Es ist unbegreiflich, dachte Timo, eine unheilvolle Wandlung und doch auch tröstlich, wie eine Botschaft von Margot, ein Zeichen, daß weder Trowal noch die in diesem Wolf verkörperte Bedrohung ihr und uns etwas anhaben kann.

Margot ist nicht tot. Sie kann nicht, sie darf nicht tot sein, Alex muß sich geirrt haben.

Er starrte die Statue in seiner Hand an und fürchtete, jeden Moment den Verstand zu verlieren. Wenn er nicht längst verrückt geworden war, wenn er nicht bloß noch delirierte, daß er zusammen mit Alex über eine westdeutsche Autobahn raste, in seiner Hand die obszöne Skulptur und in seinem Kopf, wie für immer eingebrannt: Margot, die schreiend über Trowal zusammenbrach.

Mit der Bernsteinstatue war eine vollkommen unerklärliche Veränderung vorgegangen: Nicht länger griff der Wolf mit gefletschten Reißzähnen den Jüngling an. Vielmehr saß der Junge nun rittlings auf der Bestie, tief gebeugt über die wehende Mähne, und wie der Rachen des Untiers war der Mund des Reiters geöffnet zu einem triumphalen Schrei.