In der Nacht zum 26. Juni 1992 war der Himmel über Stiegliz sternenklar, die Luft warm, wenn auch stickig, seit der Oststurm, die Wolken vor sich herjagend, westwärts davongestoben war. Starr standen die Birken und Lärchen in den Wäldern rings um Stiegliz, jedes einzelne Blatt silbrig glitzernd wie Schuppen polierter Panzerhemden, die das Sternenfunkeln einfingen und tausendfach in den Nachthimmel zurückwarfen.
Doch nicht das Flirren der Lichter, nicht das Knurren der Nachttiere, das Winseln und Fiepen ihrer Opfer in den Wäldern raubten Knut Lauber in dieser Nacht den Schlaf. Elf Uhr war vorüber, eben hatte er sich zu Bett begeben, an die Seite seiner grauhaarigen Therese, die in ihrer Betthälfte seit Stunden schlief. Aber kaum versuchte er die Augen zu schließen, da projizierte seine Erinnerung das überscharfe Bild des verstümmelten Karoly Zigorsky, und Lauber richtete sich mit einem Stöhnen wieder auf.
So ging es ihm nun schon seit mehreren Nächten. Wann immer er sich dem Schlaf anvertrauen wollte, peinigte ihn sein Gedächtnis mit gräßlichen Bildern, die wie für immer in die Ränder seines Bewußtseins eingeätzt schienen:
Der junge Pole, sein Leichnam von Messern zerfetzt, sein Gesicht eine rohfleischerne, von Säure zerfressene Scheibe, seine Haut auf teuflischste Weise mit Morast geschminkt. Und dann wieder, ebenso unabweisbar, Bilder des jungen Deutschen Ralf Horn, den Dr. Siebold aus dem Wolfskostüm geschält hatte – ein klapperdürres Bürschlein, übersät mit Wunden, Opfer eines irrwitzigen Kampfes, das Siebold mit all seiner ärztlichen Kunst operiert hatte und das dennoch seinen Kopfverletzungen erlegen war. Dabei war der Arzt nach der Operation so zuversichtlich gewesen, dachte Lauber, mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit starrend, durch die zerstückte Körper, verzerrte Totengesichter trieben. Nach dem Verhör durch Zirfas hatte sich der Zustand des Jungen dramatisch verschlechtert. Noch in Gegenwart des Polizisten mußte er das Bewußtsein verloren haben, und ohne noch einmal zu sich zu kommen, war er in der Nacht darauf gestorben.
Vor Laubers Augen hatte Zirfas die Nachricht gestern entgegengenommen: mit einer Miene, die nicht nur ungerührt, sondern beinahe triumphierend wirkte – und alles andere als überrascht. Wie ist das zu erklären? überlegte der Bürgermeister. Welches Interesse kann Zirfas daran haben, daß diese – –
Doch der Pfad, auf dem seine Gedanken sich nun bewegten, war ebenso mit Beunruhigung gepflastert, von Schrecknissen verfinstert wie die Erinnerung an die verstümmelten Toten, mit denen er in so rascher Folge konfrontiert worden war. Jetzt haben beide Seiten ihre Opfer, dachte er – die Polen die Zigorsky-Brüder, die selbst ernannten deutschen „Grenzwächter“ Ralf Horn. Drei Tote, keiner älter als zwanzig Jahre, drei Leichen, aus denen nicht allein Blut rinnt, sondern zudem ein sinnverwirrender Geruch strömt, der in Köpfen und Körpern Haß und Rachelust schürt.
Wie zur Bestätigung dieser Gedanken, doch auch als willkommene Ausflucht hörte er vom Dorfkrug her ein Gewirr erregter Stimmen, übertönt von einem schütteren Bariton: Karl Cramsen, der zweifellos wieder Geschichten aus alter Zeit zum Besten gab, blutrünstige Mären von „deutschen Rittern, die sich der jagellionischen Horden erwehren“.
Als Bürgermeister bin ich verpflichtet, sagte sich Lauber, dafür zu sorgen, daß nicht auch noch meine Stieglizer den Kopf verlieren. Er stemmte sich aus dem Bett, warf Hemd und Hose über und war kurz darauf schon auf der Straße, in der warmen, wenn auch drückend schwülen Nacht.
Als er jenseits des Dorfteichs in die Schankstube trat, saß Cramsen mit grimmiger Miene in einem Winkel, allein über seinem Schnapsglas. Derweil schwadronierten die Stieglizer Männer am Tresen und am großen Stammtisch durcheinander, jeder versuchte noch lauter als die anderen zu brüllen, so daß niemand auch nur sein eigenes Wort verstand. Schwaden von Pfeifen- und Zigarettenqualm waberten um Köpfe und Lampen und bissen Lauber in die Augen, als er hinter sich die Tür schloß und sich mit einem gedonnerten „Ruhe!“ Gehör verschaffte.
Es dauerte eine Weile, bis er sich die wirren Berichte der Zecher zusammenreimen konnte, doch endlich verstand er: Cramsen hatte soeben eine Schnurre erzählt, die „bewies“, daß die „wehrhaften Stieglizer Bürger“ ihre Verteidigung nicht länger ortsfremden Burschen überlassen durften. „Kurz gesagt“, lallte einer der jüngeren Bauern, den Lauber wie fast jeden in der Schankstube von Geburt an kannte, „wir bilden gerade ‘ne Bürgerwehr. Und der olle Cramsen is’ sauer, weil wir ihn nicht als Führer haben woll’n.“
„Blödsinn“, brummte Lauber, „stinkbesoffen seid ihr! Macht, daß ihr nach Hause zu euren Weibern kommt!“
„Einen Dreck tun wir!“ johlte ein Bauer zurück, kaum älter als Ralf Horn und vor Zorn und Trunkenheit so rotgesichtig, als ob ihm das Blut gleich aus allen Poren spritzen wollte.
„Die Zeiten, als du uns rumkommandieren konntest, sind perdu, Knut“, pflichtete Horst Sorno, der Metzger von Stiegliz, bei. „Ihr hattet eure Chance – jetzt sind die anderen wieder dran!“
„Welche anderen?“ fragte Lauber sanft.
Während die Zecher Blicke wechselten, drang von draußen, durch das weit geöffnete Fenster, ein so fremdartiger Lärm in die Schankstube, daß selbst die berauschtesten Hitzköpfe aufhorchten und Laubers Frage sogleich vergessen war: ein helles, langgezogenes Keckern, Gelächter vielleicht, doch kein Lachen, das Menschenkehlen je zustande brächten, wie es Lauber schien. Ein höhnisches Meckern und Gackern, herbeitönend aus unbestimmter Ferne, schütter und wie von Winden hin und her gejagt – als säße das Wesen, das diese Laute erzeugte, selbst auf einer Wolke, die der Sturm in wildem Wirbel über Fluß und Wälder, über Schloß und Dorf Stiegliz blies. Dabei bewegte die Nachtluft, wie sich Lauber, rasch ans Fenster tretend, vergewisserte, noch immer nicht der matteste Hauch.
Die Zecher am Stammtisch und am Tresen waren allesamt verstummt. Ratlos die einen, mit trunkenem Grinsen die anderen, glotzten sie zum Fenster hin, als wären sie darauf gefaßt, daß sogleich ein Gespenst in die Schankstube wehte. Lauber als einziger im Raum war stocknüchtern, und er nutzte seinen Verstand nach Kräften, indem er sich einschärfte, daß es für die foppenden Klänge zweifellos eine vernünftige Erklärung gab. Doch noch während er seinen Kopf zermarterte, erklang abermals das keckernde Lachen in der Nacht, näher diesmal und eindeutig vom Schloßpark her. Kaum hatte er diese Einzelheit registriert, da sträubte sich in seinem Nacken und auf den Armen jedes einzelne Härchen und ein seit Kinderzeiten nie mehr gespürter Schauer lief seinen Rücken hinab.
In die Stille hinein, die auf das neuerliche Keckern folgte, sagte der alte Cramsen: „Ist niemand als die Hexe Stasy, deren Jubeltag sich immer am 26. Junius jährt.“
Ein wahres Crescendo lösten diese Worte aus, doch diesmal ein Wiehern und Prusten aus menschlichen Kehlen, trunkener Jubel über Cramsens, wie die Zecher wähnten, boshaften Spott.
„Die Hexe ...“, japste Sorno, der Schlächter mit dem so sonderbaren Namen, dabei glänzte kein Scheitel blonder, blitzte kein Auge blauer weit und breit – „... Stasi?“
„Hat was Geheimes auf sich mit der Stasy“, ertönte Cramsens Bariton schütter, doch unbeirrbar durch den Raum. „Könnt’ ich euch viel von erzählen, lohnt aber die Mühe kaum, geht in euch grobe Schädel doch nicht rein.“
Ohne ein weiteres Wort erhob sich der Alte aus seinem Winkel und schob sich durch die Menge der Zecher, die verstummt war und wie scheu vor ihm zurückwich. Im Vorbeigehen zerrte er seinen Armeemantel vom Haken und nickte, auffordernd oder Abschied nehmend, Lauber zu. Noch ehe der Bürgermeister reagieren konnte, erschallte draußen neuerlich keckerndes Gelächter, und Cramsen drückte die Tür auf und verschwand in der Schwüle der Nacht.
Die Hexe Stasy ...
Abscheu erfüllte Lauber angesichts der abgeschmackten Verrücktheit Cramsens, die mehr und mehr jedes erträgliche Maß überstieg. Stärker als sein Widerwille aber waren der Zorn, den er beim Klang des keckernden Gelächters verspürte, und seine Entschlossenheit, dem Spuk noch in dieser Nacht ein Ende zu bereiten.
Ohne auf seine Frage zurückzukommen, wandte er sich um und stürmte hinter dem Alten her.
Hier draußen, auf der holprigen Straße neben dem Weiher, war das Keckern noch deutlicher zu hören, und wieder sträubten sich Lauber die Härchen im Nacken, ein Schauder, der die Wirbelsäule hinablief wie bei starker Gänsehaut. Doch der Bürgermeister war durchaus nicht bereit, sich durch solche Spukspiele ins Bockshorn jagen zu lassen: Wer immer hinter dem Schabernack stecken mochte, er würde die Drahtzieher zur Rechenschaft ziehen.
Keuchend eilte er hinter Cramsen auf das Schloß zu, dessen ungeheure Gesteinsmasse hinter den Bäumen aufragte. Ihre Schritte hallten im Dunkeln, viel lauter als das ferne Keckern, das in Laubers Ohren gleichwohl alle anderen Geräusche übertönte. Beinahe im Laufschritt ließen sie die Häuser hinter sich, in denen nicht ein Licht mehr brannte, nicht eine menschliche Stimme zu hören war. Auch die Wachhunde in den Höfen schwiegen; selbst der Wald empfing sie starr und schweigend: versteinert in der flehenden oder drohenden Geste von tausend Armen, die sich nach den hastenden Gestalten reckten. Obwohl vertraut aus ungezählten Sommernächten, kam Lauber das Lichterflirren auf Lärchen- und Birkenblättern, die tausendfach das Sterngefunkel reflektierten, auf einmal unheimlich vor. Nur die Ruhe, mahnte er sich.
Da er annahm, daß das Schloßtor noch immer versiegelt war, hatte er ihre Schritte gleich zum unteren Parktor unweit der Orangerie gelenkt. Über Steintrümmer groß wie Kinderköpfe stolpernd, unter gemurmelten Flüchen ihre Füße aus Schlaglöchern, Wurzelschlingen zerrend, folgten sie längs dem Schloßwall der alten Allee. Obwohl dem Bürgermeister das Blut in den Ohren rauschte, hörte er, als gäbe es kein anderes Geräusch auf der Welt mehr, immer nur das Keckern vom Park her: ein so höhnischer, dabei fremdartiger Klang, daß ihm einfach keine vernünftige Erklärung dafür einfiel.
Längst hatte Cramsen einen Vorsprung von mehreren Metern, im wehenden Mantel hetzte er vor Lauber durch die Nacht. Als der Bürgermeister das Parktor erreichte, hatte der Alte schon an der Klinke gerüttelt und das Tor verschlossen gefunden. Eben setzte er einen klobigen Stiefel auf die unterste Quersprosse, die mit einem Knirschen nachgab und wie ein morscher Ast zerbrach.
Im selben Moment erstarb das Keckern, das eben noch dreist aus der Tiefe des Parks geschallt war, und Lauber glaubte Schritte zu hören, ein Rauschen und Rascheln, als haste dort jemand durch die Wiese davon.
Wieder stieß Cramsen mit dem Stiefelabsatz zu, weitere Sprossen des rostigen Gitters zerbrachen. Als ihm die Bresche breit genug schien, raffte der Alte seinen Mantel und schlüpfte in den Park. „Nu’ komm schon, Knut. Willst doch die Hexe Stasy suchen.“
Lauber hielt die Luft an, um sein rasendes Herz zu beruhigen. Wehe dem, sagte er sich nochmals, der es wagt, mit diesem Spuk meinen Stieglizern die Köpfe zu verdrehen. So gut es ging, zog er den Bauch ein und quetschte sich durch das Torloch.
Drinnen im Park schien es ihm viel düsterer als draußen, die Luft nicht mehr von geisterhaftem Flirren, sondern von einem schwarzroten Funkeln erfüllt. Dieser Lichtwechsel, sagte sich Lauber, erklärte sich ganz einfach damit, daß hier im Park überwiegend Rotbuchen wuchsen, deren Laub auch dem Sternenlicht einen düsteren Ton verlieh. Doch obwohl er zumindest in diesem Fall eine natürliche, den Verstand befriedigende Erklärung gefunden hatte, wurde ihm immer beklommener zumute, während er neben Cramsen hügelan stapfte, durch die kniehohe Wiese auf das Schloß zu.
Das wuchtige Gebäude wirkte verfallener und verlassener denn je, eine schwarze Gesteinsmasse, dutzendfach durchbrochen von Fensterluken, in denen nicht das winzigste Lichtlein glomm. Im Gehen wandte sich Lauber um: Auch die Orangerie in der Senke war unbeleuchtet, ein gläserner Würfel, der schiere Finsternis zu spiegeln schien.
„Dort oben, bei den fünf Blutbuchen“, sagte der Alte in unangebrachtem Wisperton, „feiert die Stasy alljährlich Hochzeitsnacht mit ihrem Buhlen. Immer zum 26. Junius, dem Tag ihrer Ankunft in der Altmark, der sich heute wieder jährt.“
Nun fang nicht wieder damit an, Karl, wollte Lauber dazwischenfahren. Doch da hatte ihn der Alte schon bei der Schulter gepackt und neben die schrundigen Stämme der Blutbuchen gezogen.
Es war derselbe, wenngleich gealterte Blutbuchen-Fünfling, den Kai und Timo Prohn in ihrer Kindheit „rote, tote Hand“ zu nennen pflegten, da sie fanden, daß er der aus der Erde gereckten Hand eines verscharrten Riesen ähnelte; doch davon wußte Lauber nichts. Stockdunkel war es unter dem Dach der wohl tausendjährigen Buchen. Lauber, der mit zurückgelegtem Kopf hinauf zu den Wipfeln spähte, gewann den Eindruck, in einen schwarzrot verfinsterten Schacht zu blicken, allerdings von unten, als stünden sie selbst am Grund dieses urzeitlichen Brunnens, umgeben von Finsternis, die nur weit oben in den Wipfeln, wo das Sternenlicht auf Laub und Zweige traf, dunkelrot funkelte und flirrte. Er schrak zusammen, als er neben sich ein metallisches Klicken hörte – Cramsen hatte eine Stablampe aus dem Mantel gezogen, deren Lichtstrahl sich durch die Dunkelheit fraß.
Angesichts dieser so nüchtern und zweckmäßig wirkenden, wenn auch aus Kriegszeiten geretteten Lampe durchzuckte Lauber die Frage, ob Cramsen tatsächlich so verrückt war, wie sie alle sich angewöhnt hatten zu glauben.
„Hier hat sie gesessen“, ließ sich der Alte im Flüsterton vernehmen, „und auf ihren Buhlen gewartet.“ Der Lichtstrahl schwenkte über eine Mulde vor einem der Buchenstämme, wo zerdrückte Gräser und Blumen in der Tat die Konturen einer sitzenden Gestalt erahnen ließen. „Und da drüben“ – der Lichtkegel hüpfte durch die Wiese, tiefer in die Finsternis zwischen den Buchen – „hat sich die Stasy mit ihrem Gemahl aufs Moosbett geworfen, wie seit damals in der Nacht zum 26. Junius Jahr für Jahr.“
Hör doch auf, Karl, wollte Lauber wieder sagen. Aber er verschluckte seinen Einwand, als sein Blick dem Lichtkegel folgte: Langsam strich er an den Rändern des schwarzgrünen Moosbetts entlang und kam endlich in der Mitte des Lagers zur Ruhe. Und auch wenn, wie Lauber sich sagte, dort selbstverständlich nicht eine mittelalterliche Hexe sich mit ihrem gespenstischen Buhlen gewälzt hatte, wies das Moosbett doch unzweideutige Spuren auf: die Abdrücke zweier Hände mit gespreizten Fingern, tief in den dunklen Samt gedrückt, darunter zwei rundere Mulden, und diese Spuren so frisch, die Anordnung so unmißverständlich, daß Lauber auch ohne den gewisperten Kommentar des Alten begriffen hätte:
„Hier hat sie gekauert, auf Händen und Knien, als ihr Buhle sie wie jedesmal – –“
„Was ist das?“ fuhr Lauber dazwischen. Verärgert, da auch er in Cramsens Flüsterton verfallen war, kniete er sich neben das Moosbett, um etwas aufzuklauben, das er für einen Papierfetzen hielt. Doch kaum hielt er das Ding in der Hand, da wich sein Ärger einer Mischung aus Entsetzen und Ekel.
Zumal just in diesem Moment aus großer Höhe, anscheinend von der Zinne des östlichen Schloßturms her, abermals keckerndes Gelächter durch die Nacht schallte.
„Gib her“, sagte Lauber, seinen Leib hochstemmend. Er nahm dem Alten die Lampe ab und richtete sie auf das Schloß. Der Lichtstrahl huschte an Mauern und Fensterhöhlen empor, höhnisch begrüßt von neuerlichem Geckern und Gackern Doch das Licht war zu schwach, um die Turmzinnen in ihrer ungeheuren Höhe zu erreichen: Auf halbem Weg verlor sich der Strahl zwischen Gemäuer und Dunkelheit.
Und ich krieg’ dich trotzdem, dachte Lauber zornig. Er ließ die Hand mit der Lampe sinken und lenkte sie auf seine Linke, in der er das abscheuliche Fundstück vom Mooslager hielt: einen Streifen groben Sackleinens, an den Rändern zerfasert wie durch rohe Gewalt. Ursprünglich mußte der Stoff weiß gewesen sein, doch schimmerte das Weiße nur hier und dort noch durch. Denn fast das ganze Fetzlein war getränkt mit Blut.
Die Schreckbilder zerfielen im gleichen Moment, als Timo zu sich kam. Doch während er sich aufrichtete und benommen um sich sah, spürte er noch mit jeder Faser seines Körpers das Grauen und die Todesangst, die der Traum ihm eingeflößt hatte.
„Willkommen in der Außenwelt“, sagte Alex. „Weißt du eigentlich, wie lange du weg warst, Mensch?“
Timo hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er sich befand und wie er hierher geraten war. Aber trotz seiner Verwirrung spürte er, daß Alex’ munterer Ton nicht zu dem düsteren Ausdruck seiner Augen paßte, die ihn im Rückspiegel beobachteten.
Vor den Fenstern huschten Wälder, Wiesen vorbei, zuweilen auch, schroff aus dem flachen Land aufragend, die Ruine eines alten Gutshofs. Nur hin und wieder gleißten Scheinwerfer im Finstern auf, wenn ein schnelleres Auto an ihnen vorüberzog.
Es ist Nacht, dachte Timo. Wir sind auf der Autobahn. Ich habe geschlafen, auf der Rückbank von Alex’ Wagen ... Aber wie er sich auch den Kopf zerbrach, er hätte nicht sagen können, wohin sie fuhren oder seit wann sie unterwegs waren. „Weg?“ wiederholte er. „Was meinst du damit?“
„Einen Moment“, sagte Alex. „Gleich reden wir.“
Wie durch einen Schleier registrierte Timo, daß Alex abbremste und einen Parkplatz am Rand der Schnellstraße ansteuerte. Schon rumpelten sie über Katzenkopfpflaster in ein gewundenes Seitensträßchen. Hier war es noch dunkler als auf der Autobahn. Die Bäume am Straßenrand schienen Finsternis zu verströmen, regelrechte Kaskaden schwarzen Lichts, in dessen Bannkreis alles Hellere erlosch.
„Du hast im Schlaf geschrien“, sagte Alex und schaltete den Motor aus.
In der plötzlichen Stille glaubte sich Timo für Momente in seinen Traum zurückgeworfen. Auch dort war es still gewesen, totenstill sogar, abgesehen von den Schreien, die er ausgestoßen hatte – aber was hatte er geschrien und weshalb?
„Ein furchtbarer Traum“, murmelte er und versuchte noch einmal, die schauerlichen Szenen in sein Gedächtnis zurückzurufen. Aber vergeblich, selbst das Grauen, an dem er eben noch zu ersticken glaubte, war wieder in den Ritzen seines Bewußtseins versickert. Zurückgeblieben waren nur Beklommenheit und eine geisterhafte Ahnung, eher körperliche Erinnerung als ein Gedankenbild: als schaukelte er mit emporgereckten Armen über einem Abgrund hin und her ... hin und her. Und dort unten lauerte etwas: gelbe Augen, mitleidlos und gierig ... Timo starrte in die Dunkelheit vor dem Wagenfenster und versuchte vergeblich, die innere Finsternis zu durchdringen, die jenes Etwas, das lauernde Traumwesen, vor ihm verbarg.
„Es ist zwei Uhr nachts“, sagte Alex. Er schaltete mehrere kleine Lichter im Wageninnern ein, dann wandte er sich auf dem Fahrersitz zu Timo um. „Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, daß du endlich wieder zu dir gekommen bist. Erinnerst du dich, Timo, wie wir gestern in Wilhelmsbad in meinen Wagen gestiegen und Hals über Kopf davongerast sind?“
„Wilhelmsbad.“ Bevor Timo auch nur nicken konnte, hatte der Name bereits ein reales Schreckbild in sein Bewußtsein projiziert: Margot, die schreiend über Trowal zusammenbrach.
„Du hast die ganze Zeit über die Figur in der Hand gehalten, Timo, und die beiden, den Wolf und seinen Reiter, angestarrt.“
Die Wolfsfigur. Auch sie sah er sogleich wieder vor sich: den Bernsteinjüngling, der sich auf den Rücken des Wolfs geschwungen hatte, und sein Mund war geöffnet zu einem schier endlosen Schrei.
Einem Triumphschrei, wie er anfangs geglaubt hatte – oder einem Schrei aus Todesangst?
„Mir kam es fast so vor“, sagte Alex, „als ob die Figur dich hypnotisiert hätte. Das ist natürlich Unsinn, eher war es wohl ein Schock – jedenfalls hast du auf einmal das Bewußtsein verloren, keine halbe Stunde, nachdem wir vom Tatort abgehauen waren.“
Tatort – – Das Wort hallte in Timos Kopf, doch fürs erste lenkte es seine Gedanken zu einem ganz anderen Schauplatz: „Vielleicht hat mich der Bernsteinwolf doch hypnotisiert“, sagte er leise. „Auch in meinem Traum ging es um einen solchen Wolf, nur ins Riesenhafte vergrößert – er lauerte in einem Abgrund, den ich ... Nein, ich bekomm’s nicht mehr zusammen.“
Er schloß die Augen und spürte aufs neue jenes geisterhafte Schaukeln. Aus der Tiefe seines Traums glaubte er das Quietschen einer Winde zu hören. Beide Hände über seinen Kopf erhoben, schaukelte er über dem Abgrund, in dem die gigantischen Wolfsaugen lauerten ...
„Wie auch immer“, sagte Alex, in dessen Stimme Timo nun einen gereizten Beiklang hörte. „Du bist eingeschlafen und hast deshalb einen Teil unserer tollen Kriminalstory verpaßt. Also kurz und gut: Wir beide, mein Lieber, werden von der Kripo gesucht, und zwar unter dem dringenden Verdacht, in die Schießerei verwickelt zu sein, die sich gestern mittag in Wilhelmsbad abgespielt hat.“
Timo riß die Augen auf.
„Der Fahndungsaufruf kam zum ersten Mal im Radio durch, als ich mit dir nach Frankfurt – um genau zu sein: nach Frankfurt West – zurückfahren wollte. Man verdächtigt uns des versuchten Mordes an einem Mann unbekannter Identität, der verletzt im Haus deiner Frau Wegener aufgefunden wurde.“
„Trowal.“
„Vermutlich ja. Er scheint also überlebt zu haben, allerdings mit einer Schußwunde und einem schweren Schock. Wie es im Radio hieß, konnte er bisher nicht vernommen werden, und da er keine Papiere bei sich hatte, kennt die Polizei nicht einmal seinen Namen.“
„Und ... Margot?“ Kaum hatte Timo ihren Namen ausgesprochen, da begann sein Herz wie rasend zu klopfen. „Was ist mit ihr? Hat man sie auch verhaftet?“
Alex zuckte mit den Schultern. „Sieht nicht so aus. Als die Polizei am Tatort eintraf, hatte sich dein Fräulein Wegener anscheinend schon aus dem Staub gemacht. Wenn du mich fragst, ist das zwar so ziemlich unmöglich: Immerhin habe ich mit eigenen Augen gesehen, daß sie genau hier“ – er wandte sich noch weiter zu Timo um und schlug sich mit der Faust auf seine linke Brustseite – „eine gräßlich blutende Schußwunde hatte. Aber für deine Margot scheint das eine Kleinigkeit zu sein: sich eben mal eine Kugel aus dem Herzen zu hexen und dann in aller Ruhe, vielleicht mit einer Tarnkappe auf den Rauschehaaren, davonzuspazieren.“
„Margot lebt.“ Mehr hatte Timo von Alex’ sarkastischem Bericht gar nicht mitbekommen, und fürs erste war er auch außerstande, weitere Fakten zur Kenntnis zu nehmen.
Margot, wer bist du, was spielst du für ein Spiel?
Ihre Absichten und Pläne wurden ihm immer rätselhafter, ja, ihr eigentliches Wesen schien ihm mehr denn je unergründlich zu sein. Meine Zauberin, mein Verhängnis ...
„He, aufwachen“, befahl Alex. „Ich schwöre dir, Timo, wenn ich auch nur die leisesten Anzeichen entdecke, daß du wieder anfängst zu träumen, drehe ich auf der Stelle um und liefere dich bei der Kripo in Hanau ab.“
„Umdrehen?“ echote Timo. „Wohin fahren wir überhaupt?“
„Nach Frankfurt. Um auch jetzt wieder genau zu sein: Frankfurt Ost. Höchste Zeit, daß wir uns auf deinem Spukschloß etwas gründlicher umsehen.“
„Wieso in Stiegliz?“ fragte Timo. „Ich habe doch, was ich – –“
„Gar nichts hast du. Diese Margot hat dir anscheinend total den Kopf verdreht. Begreifst du denn wirklich nicht?“ Und dann zählte er Timo die Einzelheiten ihres Desasters an den Fingern her: „Deinen Kontaktmann zu Lisas Entführern hat die Polizei verhaftet. Wir beide werden wegen versuchten Mordes gesucht. Und zu allem Überfluß haben wir offenbar die falsche Figur aus Margots Haus geklaut!“
„Die falsche – –?“
„Warum läßt du mich nicht einfach zu Ende reden, Timo, und sparst dir deine Kommentare für nachher auf?“
Timo fühlte sich zu erschöpft und durcheinander, um mit mehr als einem Kopfnicken zu antworten. Alex warf ihm noch einen düsteren Blick zu, dann wandte er sich wieder um, ließ den Motor an und steuerte zurück auf die Autobahn.
Entgegen seiner Ankündigung blieb er längere Zeit schweigsam, und Timo versuchte nicht, ihn zum Weitersprechen zu drängen. Benommen lehnte er sich auf dem Ledersitz zurück und sah an Alex’ Silhouette vorbei aus dem Fenster, wo am Horizont schon der Morgen dämmerte. Sie überholten eine endlose Kolonne polnischer Lastwagen und buntscheckiger Schrottautos mit bulgarischen, polnischen, rumänischen Kennzeichen, die auf baufälligen Anhängern weitere Schrottautos hinter sich herzogen. Kein Zweifel, sie fuhren geradewegs gen Osten, und jetzt erkannte er auch, eine wie große Strecke Alex bereits zurückgelegt hatte, während er selbst in Wolfsträumen gefangen gewesen war: höchstens noch eine Stunde bis Frankfurt (Oder).
Warum nur war Alex so wütend auf ihn? Nachher, beschloß Timo, würde er darüber nachdenken – später, wenn sein Kopf wieder klarer war. Im Moment aber schob sich, wann immer er über irgend etwas ernsthafter nachzudenken versuchte, sofort die Traumerinnerung in sein Bewußtsein, weniger Bild als körperliches Gedenken an jene so sanfte wie grauenhafte Bewegung.
Er zwang sich tief durchzuatmen und fing im Rückspiegel einen Blick von Alex auf. „Entschuldige“, sagte er, „ich weiß auch nicht, was mit mir los ist – dieser Alptraum ...“
„Schon okay. Aber jetzt hör dir den Rest meiner – unserer – Kriminalstory an, damit wir anschließend entscheiden können, wie wir weiter vorgehen.“
Timo nickte den düsteren Augen im Rückspiegel zu, worauf Alex fortfuhr: „Gestern nachmittag waren wir kaum wieder auf der Autobahn in Richtung Frankfurt/Main, da brauste uns schon ein ganzer Polizeikonvoi mit Blaulicht entgegen. Zuerst kam ich gar nicht auf die Idee, daß diese Hundertschaft zu ‚unserem‘ Tatort fahren könnte. Aber dann hörte ich die Meldung im Radio: Die Kripo hatte das ganze Gelände um Margots Haus abgeriegelt. Warum dieses massive Aufgebot? Angeblich ging es doch nur um eine kleine Schießerei, bei der ein einziger Mann verletzt worden war. Aber eine halbe Stunde später brachten sie schon den ersten Fahndungsaufruf im Radio. Findest du das nicht auch etwas ungewöhnlich, Timo? Und verstehst du jetzt, warum ich es vorgezogen habe, nicht zu meiner Wohnung zurückzufahren?“
Timo nickte mechanisch; dabei war er weit davon entfernt, die Bedeutung von Alex’ Worten zu verstehen.
Zeugen aus der Nachbarschaft, fuhr Alex fort, hatten sie beide vor der Schießerei zu Margots Villa rennen, hineinstürmen und unmittelbar danach wieder davonlaufen sehen. „Von mir“, sagte er, „gibt es bisher nur eine vage Personenbeschreibung, im wesentlichen eine Aufzählung der Kleidungsstücke, die ich gestern am Leib hatte. Glücklicherweise habe ich im Kofferraum immer ein paar Sachen zum Wechseln dabei“, fügte er hinzu und strich seine Krawatte glatt, die er zum stahlblauen Bankeranzug trug. „Aber was dich betrifft, mein Lieber – dich haben die Zeugen aus der Nachbarschaft in den letzten Tagen mehrfach gesehen, wie du vor Margots Haus vorfuhrst. Offenbar haben sie dich ziemlich genau beschrieben, und nicht nur das: Die Polizei weiß auch, daß du einen Geländewagen mit dem Kennzeichen FF fährst. Was glaubst du, wie lange es da noch dauert, bis sie deinen Namen herausfinden, deine Adresse und damit auch – –“
„Lisa!“ flüsterte er.
Alex nickte, und seine Miene verdüsterte sich abermals. „Die Polizisten werden sich fragen, warum du die Entführung deiner Frau nicht angezeigt hast. Und ich fürchte, sie werden zu dem Schluß kommen, daß du selbst in diese Entführung verwickelt bist – zusammen mit deiner Geliebten Margot Wegener, die gleichfalls seit gestern untergetaucht ist.“
In Timos Kopf wirbelten Gedanken und Bilder, dazwischen immer wieder Fetzen aus seinem Traum. Er mußte sich konzentrieren – irgend etwas stimmte nicht in Alex’ Überlegungen, aber was? „Die Wolfsfigur“, fiel ihm ein, „weshalb um Himmels willen glaubst du, daß es die falsche ist?“
Natürlich hatte er nicht im Ernst – oder höchstens im allerersten Moment – geglaubt, daß sich die Skulptur wie etwas Lebendiges von selbst verwandelt hatte. Aber er war sicher gewesen, daß sie einen verborgenen Mechanismus besaß, mit dem man Position und Gebärden der beiden Bernsteingestalten verändern konnte.
„Es gibt keine versteckten Hebel oder Gelenke“, sagte Alex. „Sieh selbst nach, wenn du mir nicht glaubst.“ Seine rechte Hand löste sich vom Steuer und zog die „Wolfsritt“-Skulptur aus seiner Jackentasche; er winkelte seinen Arm an und setzte sie auf seine Schulter, wo er die Figur mit Daumen und Zeigefinger an den Hinterläufen des Bernsteinwolfs hielt.
Sekundenlang starrte Timo auf die Statue, direkt in die glimmend gelben Wolfsaugen, dann wandte er sich ab. „Tu sie weg – bitte“, sagte er, und seine Kehle zog sich zusammen.
„Ich habe das Ding von allen Seiten untersucht“, fuhr Alex fort, nachdem er die Skulptur wieder in seiner Tasche verstaut hatte. Seine Augenpartie im Rückspiegel drückte Erstaunen aus, jedoch nichts von jener heiteren Distanz, die sonst so typisch für ihn war. „Das ist definitiv nicht dieselbe Figur, die Trowal dir in Ratzeburg gegeben hat. Es gibt also mindestens zwei davon, vielleicht sogar eine ganze Serie. Aber wie auch immer – mir wurde gestern nachmittag, während ich noch ziellos im Großraum Frankfurt herumfuhr, Verschiedenes klar.
Erstens: Wir haben zwar eine Statue, aber es ist die falsche – also kannst du Lisas Entführern nach wie vor nicht liefern, was sie haben wollen. Zweitens: Die Kidnapper werden annehmen, daß du und Margot zusammen ihren Gefolgsmann Trowal in Wilhelmsbad fertiggemacht habt – also sind sie jetzt noch wütender auf dich und noch sicherer, daß du ein doppeltes Spiel spielst. Vor allem aber: Wenn wir uns jetzt der Polizei stellen oder uns schnappen lassen, dann verliert Lisa ihre letzte Chance, wieder freizukommen. Und deshalb, Timo“, schloß er, wobei sein Tonfall fast drohend wurde, „nur deshalb habe ich gestern nachmittag beschlossen, mit dir zusammen zu deinem Schloß zu fahren, das ja die Quelle all dieser mörderischen Geheimnisse zu sein scheint. Viel Zeit wird uns nicht bleiben, bis die Polizei auch in Stiegliz nach dir sucht – und bis dahin müssen wir herausgefunden haben, worum es bei alledem überhaupt geht, wer diese Entführer sind und wie wir Lisa freibekommen können.“
Wieder nickte Timo. Alex hat recht, dachte er, ich bin schuld, allein ich bin schuld an dem, was Lisa durchmachen muss. „Danke“, sagte er endlich; aber Alex schüttelte den Kopf und gab zurück:
„Ich tu’s für Lisa, verstanden? Und jetzt sag mir gefälligst, wo ich mein Auto unterstellen kann und wie wir von dort aus unbemerkt in dein Schloß gelangen.“
Eingeschüchtert dirigierte Timo ihn bei der Abfahrt Frankfurt (Oder) von der Autobahn und sodann auf menschenleeren Seitenwegen zum Flußufer nahe Lebus. Auf einem Grundstück, das einst zu den gräflichen Liegenschaften gehört hatte, stand eine halb verfallene Scheune, verdeckt durch Schilf und Trauerweiden.
Der Morgen graute schon, als Alex seinen Mercedes in dem Schuppen unterstellte. Sie verriegelten das baufällige Holztor, dann marschierten sie in völligem Schweigen durch den Oderwald auf Schloß Stiegliz zu. Währenddessen versuchte Timo seine Gedanken zu ordnen und die neue Lage zu überdenken, die durch Trowals Verhaftung und Margots abermaliges Verschwinden entstanden war.
Noch immer wehten Fetzen seines Traums durch sein Bewußtsein; er war nicht einmal sicher, ob es ihm tatsächlich gelungen war, aus diesem grauenvollen Traum zu erwachen. Hatte er womöglich nur geträumt, daß er aufgewacht sei, und befand sich in Wahrheit in einem noch tieferen, noch auswegloseren Traum? Wie sonst ließ sich erklären, was sie gestern in Margots Villa gesehen hatten? Weshalb um Himmels willen hatte Margot die Wolfsfigur an ihre Lippen gehalten? Hatte sie den jaulenden Ton erzeugt, indem sie ihren Mund an die bernsteinkühlen Lippen des Jünglings drückte und ihren Atem in ihn hineinblies?
Schon gestern, zu Beginn ihrer Flucht aus Wilhelmsbad, hatte Timo festgestellt, daß die Statue teilweise hohl war, aber er hatte es nicht über sich gebracht zu prüfen, ob die Bernsteinlippen in der Tat wie das Mundstück einer Flöte funktionierten. Und selbst wenn, dachte er: Wie konnten die Töne einer noch so ungewöhnlichen Flöte bewirken, daß Trowal zu Boden fiel und wie erstarrt liegenblieb? Wie sollte das alles möglich sein? Sogar wenn man annahm, sie beide, Margot ebenso wie Trowal, hätten geglaubt, daß von der Skulptur eine übernatürliche Wirkung ausging: Konnte blanke Suggestion einen solchen Zauber bewirken?
Alles erschien ihm mit einem Mal ins Unheimliche umgewandelt. Es drängte ihn, mit Alex zu sprechen, die Gelassenheit seines Freundes als Gegenzauber einzusetzen, doch selbst der sonst so unbekümmerte Alex schien nicht mehr ganz er selbst zu sein. Die Hände in den Taschen, stapfte Alex an Timos Seite durch Sand und Birkenlaub, mit finsterer Miene und wie für immer verstummt.
War Alex wirklich nur deshalb so wütend, weil er sich um Lisa sorgte, weil er Timo vorwarf, sie im Stich gelassen zu haben? Oder gab es da noch etwas anderes – ein weiteres beunruhigendes Detail, das Alex in Erfahrung gebracht hatte?
Erst als hinter Birken und Gestrüpp schon die westliche Parkmauer von Schloß Stiegliz vor ihnen auftauchte, wurde Timo bewußt, daß Alex ihm eine Erklärung noch schuldig war. „Eins verstehe ich nicht“, sagte er. „Warum dieses massive Polizeiaufgebot in Wilhelmsbad? Was kann die Kripo in Margots Haus gefunden haben, das eine so große Aktion rechtfertigen würde?“
„Habe ich das nicht erwähnt?“ Alex stoppte neben einer abgestorbenen Birke.
Auch Timo blieb stehen und sah Alex beunruhigt an. Zehn Schritte vor ihnen ragte die doppelt mannshohe Parkmauer auf, die an dieser Stelle mit Efeu überwuchert war. Die Pflanzen verbargen eine Bresche im Mauerwerk, durch die man sich hindurchzwängen konnte – ein von außen gut getarnter Zugang zum Schloßgelände, den Karoly ihm einmal gezeigt hatte.
„Schon bei der ersten Durchsuchung des Hauses“, sagte Alex. „als die Polizisten eigentlich nur nach weiteren Verletzten suchten, fanden sie in Margots Keller unzählige Knochen von menschlichen Skeletten – Kinderknochen, um genau zu sein.“
„Kinderknochen?“
„Außerdem eine ganze Hexenküche mit rußigen Feuerstellen, die offenbar kürzlich noch in Gebrauch waren.“
Timo starrte ihn an, doch sein Blick ging durch Alex hindurch. Kinderknochen, hallte es in seinem Kopf. Alles in ihm sträubte sich, die grausigen Funde mit Margot in Verbindung zu bringen, ja, sie zur Kenntnis zu nehmen: Während das schaurige Wort noch in ihm widerhallte, suchte er schon nach einem Ort in seinem Innern, wo sich die Knochen gleichsam von neuem verscharren ließen – –
– – und stürzte abermals zurück in seinen Traum und sah sich selbst, nein, fühlte sich, wie er über jenem Abgrund schaukelte, und tief unter ihm lauerten die riesenhaften Wolfslichter, mitleidlos und gierig ... Der Bernsteinjunge, dachte er wieder, er schreit nicht aus Triumph, sondern in Todesangst ... Und dann, wie ein Donnerschlag in den Gewölben seines Bewußtseins: Das war mehr als nur ein Traum – über dem Abgrund vor vielen, vielen Jahren – und in der Tiefe lauerten die Augen, gelb und mitleidlos ...
Aber das ist unmöglich, beschwor sich Timo, ich verliere den Verstand! An Alex vorbei starrte er gegen die mit Efeu überwucherte Parkmauer, und er empfand einen heftigen Widerwillen dagegen, noch einmal in seine Kindheitswelt zurückzukehren: als ob dort unter jedem Gesteinsbrocken, jedem Wiesenstück jene Wolfsaugen lauerten.
„Was ist los mit dir, Timo?“ Alex packte ihn wie ein furchtsames Kind bei den Schultern und schob ihn der Bresche in der Schloßmauer entgegen.
Seit der Graf „auf Reisen“ war, sah es Karl Cramsen als seine Pflicht an, sich allmorgendlich auf einen ausgedehnten Kontrollgang durch den Schloßpark von Stiegliz zu begeben. Bis vor kurzem hatte er jedesmal auch das Herrenhaus und die Nebengebäude inspiziert, doch seit Türen und Tore auf gerichtliche Anordnung hin versiegelt worden waren, begnügte sich der Alte meist damit zu prüfen, ob die Siegel unversehrt waren.
Gegen Mitternacht, als der Bürgermeister, erschreckt durch das blutige Hexenfetzlein, fluchtartig davongelaufen war, hatte Cramsen ihn bis zum Dorf zurückverfolgt, aber vergeblich: Lauber weigerte sich, auch nur ein Wort von der „greulichen Hexenmär“ noch anzuhören. Zornig war Cramsen hinab zur Oder getrottet, wo die selbsternannten Grenzwächter ihr Wesen trieben. Wieder einmal floh ihn der Schlaf, wie seit Jahren, seit Jahrzehnten beinahe Nacht für Nacht. Manchmal war dem Alten, als seien die Grenzen auch zwischen Traum und Wachen in alter Zeit sicherer gewesen, aber das mochte Täuschung sein.
Mittlerweile war es halb fünf in der Frühe. Soeben hatte er die Orangerie kontrolliert, die seit der überstürzten Abreise des Herrn Timotheus vor zwei Tagen verwaist war. In seinem schlotternden Armeemantel, das dünne weiße Haar aus der Stirn gestrichen, trottete Cramsen hügelan auf das Schloß zu, durch Wolken dampfenden Taus, der aus der Wiese aufstieg, von der Morgensonne blaßrosa verfärbt. Auf halber Höhe zwischen Orangerie und Schloß blieb er stehen und lauschte zur westlichen Parkmauer hin: Obwohl die Vögel mit betäubendem Gesang die aufsteigende Sonne begrüßten, war ihm, als habe er dort unten ein verdächtiges Geräusch gehört – ein Rascheln und Knacken, als ob sich auf der Waldseite mehrere größere Lebewesen durchs Unterholz bewegten. Menschen, dachte Cramsen, oder womöglich gar Wölfe? Er verfluchte die Polizisten, die nach dem Zwischenfall auf der Lichtung seinen Wehrmachtsrevolver einbehalten hatten. Währenddessen trabte er schon der Westmauer entgegen, von wo er nun abermals ein Rascheln vernahm.
An dieser Stelle bestand die Mauer aus uralten, etwa kinderkopfgroßen verwitterten Findlingen, die mehr als drei Meter hoch übereinander getürmt waren. Wie oft hatte Cramsen den Grafen beschworen, dieses noch aus Burgzeiten stammende Mauerstück einreißen und neu aufmauern zu lassen, aber der Graf hatte ausgerechnet an den schrundigen Findlingsköpfen einen Narren gefressen. So genau, als wäre es gestern erst gewesen, glaubte der Alte noch den Befehl zu hören, den ihm Heribert Graf Prohn zu Stiegliz vor fast sechs Jahrzehnten gegeben hatte:
„Selbst wenn die Mauer an dieser Stelle einstürzt, Cramsen – die Findlinge werden mir nicht angerührt! Wir lassen das Ganze von der Waldseite her mit Efeu zuwachsen, dann sieht von außen kein Mensch, daß die Mauer schadhaft ist.“
Befehl war Befehl, und so hatte Cramsen das Mauerstück niemals erneuern oder auch nur ausbessern lassen, obwohl es eines heiteren Abends im Sommer 1942 tatsächlich in einer Breite von fast einem Meter eingestürzt war.
Unter diesen Gedanken war der Alte in den Schatten der Mauer gelangt, die im Lauf der Jahrzehnte immer baufälliger geworden war. Beiderseits der mit Efeu zugewucherten Bresche hatten sich Dutzende weiterer Findlinge gelöst und waren, unregelmäßige Scharten hinterlassend, ins Gras hinabgestürzt. Cramsen trat vor die Bresche und hob eben eine Hand, um das Efeu auseinanderzuziehen – da peitschte ihm eine knorrige Ranke ins Gesicht, er prallte zurück und stolperte über einen Steinbrocken im Gras. Und während er sich noch aufzurappeln versuchte, zwängte sich ein großgewachsener blondlockiger Mann durch die Bresche – gefolgt von niemand anderem als dem Herrn Timotheus! – –
Starr vor Verblüffung blieb Timo im Schatten der Mauer stehen. Was hatte das zu bedeuten? Daß sich vor ihnen ein alter Mann aus dem Gras aufrappelte, war sonderbar genug. Noch viel seltsamer aber war die ungläubige Freude, die für einen Moment im Gesicht des Alten aufzuleuchten schien. Alex’ breiter Rücken verdeckte ihn zur Hälfte, daher erhaschte Timo nur Bruchstücke einer Szene, die so keinen Sinn ergab. Denn warum hätte der Alte Anstalten machen sollen, Alex’ Hand zu schütteln?
Unsinn, sagte sich Timo, das alles bildete er sich nur ein. Er gab sich einen Ruck und trat neben Alex, um den weißhaarigen Alten prüfend zu betrachten. Erleichtert stellte er fest, daß der Greis Alex überhaupt nicht beachtete, vielmehr unverwandt nur ihn selbst ansah.
„Wer sind Sie, und was haben Sie hier zu suchen?“ fragte Timo, indem er den Alten noch eindringlicher musterte. Der öffnete den Mund, doch im selben Moment gab Timos Gedächtnis die Antwort preis: „Cramsen!“ rief er. „Karl Cramsen, der Verwalter meines Vaters, habe ich recht?“
Cramsen, das Faktotum, ergänzte er in Gedanken, der engste, ja der einzige Vertraute unseres Vaters, damals schon weißhaarig und hager, immer in wichtigen, streng geheimen Geschäften, vom Herrenhaus zu einem der Nebengebäude eilend oder im wehenden Armeemantel durch den Park. Cramsen, der Schweigsame, dachte er, dann wieder maßlos Redselige, in jedem Fall Unheimliche, der mich und Kai mehr als einmal verschreckt hat durch schauerliche Mären aus alter Zeit.
Mit wehmütigem Lächeln senkte der alte Mann den Kopf. Er muß uralt sein, fuhr es Timo durch den Sinn, älter als jeder Mensch, den ich je zuvor gesehen habe. War Cramsen nicht damals schon, als wir Stiegliz verließen, in fortgeschrittenem Alter gewesen? Eigentlich kann er gar nicht mehr am Leben sein, dachte Timo und korrigierte sich sofort: Da Cramsen ja offensichtlich noch unter den Lebenden weilte, mußte eben seine Erinnerung ihn trügen – so wie ihn zweifellos auch seine Augen und Ohren getäuscht hatten, als er vorhin geglaubt hatte, Zeuge einer rätselhaft vertraulichen Begrüßung zwischen Cramsen und Alex zu sein. Alex war ganz bestimmt noch nie zuvor hier in Stiegliz gewesen, und ebenso war es praktisch unmöglich, daß Cramsen hier vor ihnen im Gras stünde, wenn er in der Tat schon hundertzwanzig Jahre zählte. Also Schluß mit diesen Hirngespinsten! befahl sich Timo, setzte seinerseits ein Lächeln auf und reichte dem Alten seine Hand.
„Cramsen!“ sagte er. „Wie schön, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen.“
„War all die Jahre hier“, gab der Alte zurück, dessen Miene sich jäh verdüsterte. „Hab’ immer nur gewartet, daß der Herr Graf wiederkommt und mich zu sich ruft – oder wenigstens Sie, Herr Timotheus.“
„Mein Vater ist tot“, sagte Timo sanft, ohne auf die kränkende Einschränkung einzugehen. „Auch meine Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben. Wußten Sie das nicht?“
Die Brauen störrisch zusammengezogen, schüttelte Cramsen den Kopf. Noch immer vermied er es, Alex auch nur beiläufig anzusehen. Selbst als Timo die beiden miteinander bekannt machte, beeilte sich Cramsen, seine gesamte Aufmerksamkeit gleich wieder Timo zuzuwenden – aus Hochachtung, dachte der, gegenüber dem Sohn des Grafen, den Cramsen anscheinend mehr als jeden anderen Menschen verehrt hat. Die altertümliche Treue des Greises rührte ihn, und aus dieser Stimmung heraus sagte er:
„Die Zeiten des Grafen sind vorbei, Cramsen, das mußte auch ich in den letzten Jahren schmerzlich lernen. Wir können nun einmal die Uhr nicht zurückdrehen; was vergangen ist, ist aus und vorbei.“
Ihm war bewußt, daß er nur Phrasen von sich gab. Um so erstaunter war er, als der Alte ihn mit einer sägenden Handbewegung unterbrach und ausrief:
„Das ist Unsinn – mit Verlaub, Herr Timotheus! Sehen Sie nur dorthin!“ Er wandte sich um und deutete mit ausgestrecktem Arm zum Schloß hinauf, das sich schwarz und brockenhaft vom Morgenhimmel abhob. „Sieht so etwas aus, das ein für alle Mal tot und vorbei ist?“
„Gegenfrage“, sagte Alex, der bis dahin schweigend zugehört hatte, „haben Sie dieses Ding hier schon mal gesehen?“
Als Cramsen sich wieder zu ihnen umwandte, blickte er in die Augen des Bernsteinwolfs und seines schreienden Reiters, die Alex in Augenhöhe vor ihn hielt. „Um Himmels will... zum Teufel“, wisperte der Alte, „tun Sie das weg – sofort!“
Cramsens Gesicht verzerrte sich, und Timo dachte, daß er nie zuvor – außer auf Höllenbildern alter Meister – einen so tödlich erschrockenen Menschen gesehen hatte. Auch Alex war blass geworden. Entgeistert starrte er erst den Alten, dann die Wolfsfigur an.
„Wegtun!“ wiederholte Cramsen flüsternd.
Alex’ unsicherer Blick verriet, daß er im Begriff war, diesen Befehl zu befolgen. Doch noch ehe er die Skulptur sinken lassen konnte, war Timo bei ihm und nahm sie ihm aus der Hand. Der Bernstein glühte in der Morgensonne – wie gestern in Wilhelmsbad, dachte Timo, als die Figur wie eine Fackel in Margots Hand zu leuchten schien.
Er stellte sie in Brusthöhe auf seine flache Hand, so daß Cramsen Wolf und Reiter im Profil sah. „Warum jagt dieses Ding Ihnen solche Angst ein? Erklären Sie es mir, dann lasse ich die Figur sofort verschwinden.“
Der Alte wirkte noch immer tief erschrocken. Doch er schüttelte nur den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust, dabei ließ er Timo und die Skulptur nicht eine Sekunde aus den Augen.
„Warum haben Sie eben geflüstert“, fragte Timo, „als Sie plötzlich das aufgerissene Wolfsmaul vor sich sahen?“ Mit der linken Hand umfaßte er die Hinterläufe des Bernsteinwolfs und hob die Vorderseite der Skulptur langsam zu seinem Mund empor. Dabei blickte er starr in Cramsens Gesicht, um den hypnotischen Augen des Wolfs auszuweichen, der sich von unten an ihn heranzuschleichen schien. „Warum haben Sie nicht vor Schreck aufgeschrien – obwohl der Anblick der Skulptur Sie doch offenbar fast zu Tode erschreckt hat?“
Die Figur schwebte jetzt so nah vor seinem Gesicht, daß seine Lippen fast den kühlen Bernstein berührten. Noch immer zwang er sich, seinen Blick allein auf den Alten zu richten, der die Augen wieder weit aufgerissen und sogar eine Hand auf seinen Mund gepreßt hatte.
Auch Timo hob jetzt seine Linke und umschloß mit ihr den klaffenden Mund des Reiters und zugleich das aufgerissene Wolfsmaul. Sein Herz pochte, und als er Alex einen raschen Blick zuwarf, las er auch in dessen Gesicht Anspannung, ja Angst.
Selbstverständlich, beschwor sich Timo, geht von dieser Skulptur keinerlei übernatürliche Kraft aus. Nur dieser alte Mann hier scheint, ebenso wie Margot und Trowal, an solchen Mummenschanz zu glauben – also muß ich weiter bluffen, damit er die Nerven verliert und endlich verrät, was er von den Wolfsskulpturen weiß. „Entweder“, sagte er zu Cramsen, „Sie erzählen mir jetzt alles, was Sie jemals über Bernstein und Wolfsfiguren wie diese hier gehört haben – oder ich spiele Ihnen mit dieser Flöte ein kleines Liedchen vor.“
Noch immer stand Cramsen wie erstarrt vor ihm und beobachtete ihn lauernd.
„Also?“ Timo atmete tief ein und nahm seine Hand von der Statue. Was auch immer er damit auslösen würde – Zauber, Suggestion oder einfach einen winselnden Mißton –, er war entschlossen, nun in den Mund des bernsteinernen Reiters zu blasen, wie es gestern (höchstwahrscheinlich!) auch Margot getan hatte.
Als er die Skulptur mit seinem Mund berührte, stöhnte Cramsen leise auf. Timo spitzte die Lippen und ließ sich auch nicht beirren, als der Alte wie flehend beide Arme hob. Doch ein unerklärliches Grauen zwang ihn im allerletzten Moment, dem Mund des Bernsteinjünglings auszuweichen, und so blies er seinen Atem – – in das aufgerissene Wolfsmaul hinein.
Anstelle des hohen, winselnden Pfeiftons, der gestern in Margots Haus erklungen war, entstand ein unerwartet dumpfer, fauchender Laut. Die Skulptur begann in Timos Hand, an seinem Mund zu vibrieren. Wie ist das möglich? fragte er sich. Da erklang hinter ihm, von der Parkmauer her, leises Knirschen und Malmen, wie wenn Stein über Stein reibt.
Er fuhr herum: Hoch über seinem Kopf löste sich ein Findling aus der Mauer, ein gewaltiger Steinkoloß, und schoß geradewegs auf ihn zu. Ein schier endloser Augenblick des Entsetzens – dann gelang es Timo, die Erstarrung abzuschütteln: Er warf sich zur Seite, und die Riesenkugel schlug krachend in der Wiese auf.
Für einen langen Augenblick herrschte Schweigen.
Alex fand als erster die Sprache wieder. „Das hast doch nicht du gemacht, Timo?“ Er musterte das Loch in der Parkmauer und danach den gewaltigen Findling, der wie eine archaische Kanonenkugel vor ihnen im Gras lag. „Mit dieser ... Wolfsflöte?“
Timo zuckte mit den Schultern. „Na ja, die Mauer ist baufällig, da löst sich wohl öfter mal so ein Brocken und fällt zu Boden – hier liegen ja überall Steintrümmer im Gras.“ Er deutete auf mehrere mit Moos überzogene Findlinge, die sich tatsächlich in der Wiese abzeichneten. Dabei war er keineswegs sicher, ob er selbst dieser harmlosen Erklärung traute. Behutsam schob er die Wolfsfigur in seine Jackentasche. „Cra...“, begann er und mußte sich erst räuspern. „Erzählen Sie uns jetzt, Cramsen, was Sie von diesem Bernsteinspuk wissen? Oder würden Sie es lieber sehen, wenn wir weitere Experimente anstellen?“
Cramsen war auf einen bemoosten Steinbrocken gesackt, der sich wie ein grünes Riesenknie aus der Wiese wölbte. „Ich befürchte seit langem“, murmelte er, „daß wir das Geheimnis nicht für allezeit bewahren könnten.“ Er erhob sich und raffte fröstelnd seinen Mantel über der Brust zusammen. „Aber Ihr Herr Vater befahl mir, jenen Ort für immer zu verschließen.“
„Mein Vater wußte also davon?“ Ein Schauder lief Timo über Rücken und Arme. „Ich bin der rechtmäßige Erbe meines Vaters, Cramsen, und ich befehle Ihnen: Zeigen und berichten Sie mir auf der Stelle alles, was Sie und mein Vater über dieses Geheimnis in Erfahrung gebracht haben.“
Der Alte senkte den Kopf. „Gehen wir zum Herrenhaus hoch.“
Schon eilte er, mit überraschend schnellen Schritten, den Schloßhügel hinauf. An seiner Seite ging Alex, und wieder schien es Timo, als blicke der Alte sonderbar vertraut zu seinem Begleiter auf. Unsinn, tadelte er sich, durch die Wildwiese hinter den beiden her hastend, und aus dem Geruch der Gräser und Blüten erstand ihm die Gestalt Margots so bezwingend, daß er für Augenblicke alles andere vergaß.
Trotz der frühen Morgenstunde warf es bereits wieder stickig warm, aber Cramsen schien, je näher sie dem Schloß kamen, desto ärger zu frieren. Auf ihrem Weg durch den Park hatte Timo ihm zu erklären versucht, warum sie sich für das Geheimnis so dringend interessierten: „Vor vier Tagen wurde meine Frau entführt. Die Kidnapper verlangen, daß ich ihnen eine Statue ähnlich wie diese beschaffe, die angeblich ihnen gehört.“
Er hatte gehofft, den Alten durch diese Erklärung zu beruhigen, womöglich sein Vertrauen zu gewinnen, aber seine Worte hatten wohl das Gegenteil bewirkt: Noch entsetzter hatte Cramsen ihn angesehen, sich dann schweigend abgewandt. Seitdem hatten sie alle drei geschwiegen, auch Alex, der sich immer nur mit großen Augen umsah, dann wieder Timo musterte, wie man einen scheinbar Vertrauten ansehen mochte, von dem man auf einmal merkte, daß es ein Fremder war.
In seinen Wehrmachtsmantel verkrochen, brachte Cramsen sie zur Westseite des Herrenhauses, wo zerbröckelnde Stufen geradewegs unter die Erde führten. Die kleine Treppe endete vor einer breiten, massiv wirkenden Tür. Wie bei allen Zugängen zum Herrenhaus und zu den Nebengebäuden klebte ein amtliches Siegel auf der Kante von Tür und Rahmen.
Ohne dem brandenburgischen Wappen die geringste Beachtung zu schenken, zog Cramsen eine kleine Eisenstange aus der Tasche und ging in die Knie. Stumm beobachteten Timo und Alex, wie sich der Alte an den unteren Beschlägen der Tür zu schaffen machte, die zu einem komplizierten Muster durchbrochen waren. Anscheinend nach vorgeschriebener Reihenfolge schob er seinen Eisenstab in verschiedene Löcher, drehte hier, stocherte dort und legte mehrfach sein Ohr an die Tür, offenbar um zu prüfen, ob verborgene Hebel und Scharniere sich wie gewünscht bewegten.
Schließlich erhob sich der Alte ächzend und ließ die Eisenstange zurück in seinen Mantel gleiten. Die Tür wirkte so massiv wie zuvor, doch als er mit beiden Händen gegen das Holz drückte, schwang inmitten des Türblatts eine schmale Pforte auf. Cramsen schlüpfte hindurch, Timo und Alex folgten. Noch immer sprach keiner von ihnen ein Wort.
Sie gelangten in einen Kellergang. Cramsen zog eine Stablampe aus seinem Mantel, der mit den wichtigsten Einbruchutensilien ausgestattet schien. Doch zu Timos Überraschung drangen sie nicht tiefer in das Kellergewölbe ein, wo er den „Ort des Geheimnisses“ vermutet hatte. Statt dessen schwenkte der Alte den Lichtkegel seiner Lampe zu einer Wendeltreppe hin, die sich wenige Schritte neben ihnen in die Höhe schraubte.
Beim Anblick der ausgetretenen Stufen wurde Timo klar, wo sie sich befanden: Die Treppe führte in die Schloßhalle hinauf. Oben stieß Cramsen die knarrende Tür auf, und Timo drängte sich an dem Alten vorbei in die Halle, in der er zuletzt im vergangenen Winter gewesen war.
Mit einer Mischung aus Wehmut und Grauen nahm er den Anblick des einst pompösen, nun so hoffnungslos heruntergekommenen Raumes in sich auf: die stockfleckigen Halbsäulen, von denen der Putz bröckelte, die Ölschicht der verblaßten Ritterbilder blätterte; der Marmorboden, übersät mit Vogelkot, Gewölle, winzigen Tierskeletten; dazwischen Fußspuren im Staub, auch sie seit langem vertraut: Abdrücke (nicht allein) von den Schritten der polnischen Schmuggler, zu denen einst auch Karoly gehörte.
Timo wandte sich um. Neben ihm stand Alex, der tief beeindruckt um sich sah. Cramsen schlang den Wehrmachtsmantel um seinen klapperdürren Leib, deutete tiefer in die Halle und sagte:
„Dorthin – zur Bibliothek!“
Worte, bei denen Timo abermals ein Frösteln überlief: als bewiesen sie endgültig, daß längst jede Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit gefallen war. Oder war es die Grenze, von der einer der Lieblingssprüche Lisas kündete: die Grenze zwischen der Tag- und der Nachtseite unserer Wirklichkeit? Stumm wandte er sich um und ging zwischen den ionischen Halbsäulen auf die Flügeltür zu, die soeben Cramsen ihm gewiesen hatte – wie Tage vor ihm Karoly im Traum.
Wie sonst sollte es möglich sein, fragte er sich, daß ein Toter mir im Traum den Weg zu einem Geheimnis zeigt, dessen Ort ich selbst nicht kenne? Auf einmal war ihm, als bewegten sich mit ihm nicht nur Alex im nüchternen blauen Anzug und Cramsen im verblichenen Wehrmachtsmantel, sondern auch unzählige schattenhafte Gestalten auf die Bibliothekstür zu: wispernde, raschelnde, klagende Schemen, ein Gehusche von Geistern und Erscheinungen, dazwischen der geträumte Tote: Karoly – –
So wie heute, dachte er, seine Hand auf die Türklinke legend, bin ich auch im Alter von vier oder fünf Jahren vor diese Tür getreten. Im Sprung mußte ich damals die Klinke ergreifen und herunterdrücken, und noch bevor die Tür aufglitt, erschallte von drinnen schon die Stimme meines Vaters: „Keine Störung, habe ich gesagt!“
Keine Störung wobei? fragte er sich nun. Weshalb hatte sein Vater so viele Stunden in der Bibliothek verbracht? Hatte er sich in die gräfliche Chronik Derer von Prohn zu Stiegliz vertieft, die in Hunderten handgeschriebener Bände in den Büchersälen lagerte? Oder hatte auch er schon damals versucht, das Geheimnis der Wolfsskulpturen zu enträtseln?
O wie ich deine Geheimnisse hasse, dachte Timo aus tiefstem Herzen, wie sie mich jetzt schon anwidern, Vater! Er holte tief Luft, drückte die Klinke herunter und trat in die Bibliothek von Schloß Stiegliz ein.
Im Gegensatz zu Kai, den es immer nur zum Fluß zog, in die Wälder drängte, hatte Timo als Kind schon die Bibliothek geliebt, ihre düstere Atmosphäre allerdings auch gefürchtet. Zwischen wuchtigen, damals weiß gekalkten Säulen erhoben sich bis zur Decke Regale aus altersgeschwärztem Holz, Reihe um Reihe, mit Folianten, speckigen Lederbänden, zerfledderten Quartheften vollgepfercht. Ganz am Ende der zwölf Gänge drang Sonnenlicht durch die hohen Südfenster, gebrochen in Schwaden flimmernden Staubs. Nur mit Hilfe wackliger Leitern, die hier und dort an den Säulen lehnten, gelangte man zu den in höheren Reihen verstauten Büchern, die gravitätisch unter der Decke thronten.
Aber das war damals, dachte Timo, während er sich mit angehaltenem Atem zu Alex und Cramsen umwandte. Der stechende, zugleich süßliche Geruch nach Moder und Schimmel war kaum zu ertragen. Dennoch schloß Cramsen, kaum war er als letzter eingetreten, die Tür.
„Gehen wir vor zu den Fenstern“, sagte Timo und eilte, ohne auf eine Antwort zu warten, auf den Hauptgang zwischen den Bücherreihen zu.
Mehr als ein Jahr war es her, daß er zuletzt die Bibliothek betreten, einen flüchtigen Blick auf die Bücher geworfen hatte, nur um von dieser Stätte schaurigen Verfalls gleich wieder zu fliehen. Vor vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten mochte ein Herbstturm im einstigen Silbersalon über der Bibliothek die Fenster aufgedrückt und wahre Sturzbäche hineingeschwemmt haben. Das Regenwasser war in den Parkettboden gesickert, hatte sich durch Bohlen und Dielen gefressen, Mäander der Fäulnis hinterlassend. Auch wenn die Flut längst versiegt war, die Fenster notdürftig instandgesetzt worden waren, zeugten Schlieren und Risse in der Decke von dem nie wiedergutzumachenden Zerstörungswerk.
Timo trat in den Hauptgang, zwischen die wohl sieben Meter hohen Bücherwände, die so eng nebeneinander verliefen, daß er sie mit den Schultern beinahe streifte. Unter seinen Füßen knarrte der Boden, und die Regale antworteten mit einem Ächzen, das für die Statik des ganzen Büchergebäudes das Übelste befürchten ließ. Unwillkürlich sah er wieder nach oben, darauf gefaßt, daß die Bretter zu schwanken begännen, die Folianten wie tausend schwarze Vögel mit flatternden Flügeln auf ihn herabstießen. Doch die Lederrücken überlief nur ein leises Beben, als er einen weiteren Schritt in den Tunnel machte.
Weit oben, in Höhe der Decke, erspähte er abscheuliche Gebilde, teils bläulich schimmernd, teils von sahnigem Weiß. Aus zerfallenen Folianten wucherten dort zopfartig verschlungene Wülste, bizarre Schlangen mit schillernder Schimmelhaut über einem Brei aus Wasser, verwesendem Zellstoff und Druckerblei.
Endlich erreichte Timo die Fensterwand, riß eines der morschen Fenster auf, die auf den Park hinaus gingen, und lehnte sich aufatmend hinaus. Als er sich wieder umwandte, traten eben Alex und Cramsen zwischen den Bücherreihen hervor.
„Machen Sie das zu“, sagte der Alte barsch. Mit unerwarteter Kraft schob Cramsen ihn beiseite und verriegelte das Fenster.
„Aber ich ersticke!“, protestierte Timo.
„Dann, Herr Timotheus“, murmelte Cramsen und kroch noch tiefer in seinen Mantel, „sollten Sie jetzt besser umkehren. Dort, wo Sie hinwollen, gibt es nämlich keine Fenster. Und erst recht keine frische Luft.“
„Was soll das heißen?“ rief Alex. „Warum schleppen Sie uns hierher, in diese stinkende Bücherhalde, wenn das gar nicht der richtige Ort ist?“
Cramsen warf ihm einen erstaunten Blick zu und wandte sich wieder Timo zu. „Der Zugang befindet sich hier in der Bibliothek“, erklärte er. „Der Ort selbst aber ...“ Mit einer Spiralbewegung, die gewaltige Abgründe anzudeuten schien, wies er auf den Boden zu ihren Füßen. „Das Geheimnis ist dort, im unteren Kellergewölbe – wo anno ‘38 der Boden einbrach und der junge Alfons Sorno ...“
Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. Alex und Timo wechselten einen Blick.
„Hier in der Bibliothek“, setzte der Alte neu an, „hat der Herr Graf in den Bänden der Schloßchronik nach Erklärungen gesucht, jahrelang und ohne Ergebnis, soweit ich weiß.“ Er hob den Kopf und sah Timo eindringlich an. „Ich beschwöre Sie, Herr Timotheus, noch können Sie zurück!“
„Das kann ich nicht“, sagte Timo. „Es geht um das Leben meiner Frau, Cramsen, das habe ich Ihnen doch erklärt. Also bringen Sie uns endlich dorthin.“
„Wie Sie befehlen.“ Der Alte wandte sich um und trottete an den Fenstern entlang auf die westliche Wand des Büchersaals zu. „Aber Sie werden sich wünschen, niemals dort unten gewesen zu sein.“
Timo und Alex wechselten erneut einen Blick, dann eilten sie hinter Cramsen her. Sie fanden ihn auf halber Höhe vor der Westwand stehend, das Gesicht der Mauer zugewandt. Die Wand war in voller Breite mit verblichenen Schlachtszenen ausgemalt, und Cramsen fixierte anscheinend den Schild eines lebensgroß gemalten Ritters, der einen weißen Mantel mit achtzackigem Kreuz trug – das Zeichen der Deutschordensritter, wie Timo sich erinnerte.
„Was macht der verrückte Kerl?“ flüsterte Alex.
Timo zuckte mit den Schultern. Im gleichen Moment fiel ihm ein weiteres Detail aus seinem Traum ein, geträumt in den Sekunden der Ohnmacht, nachdem Trowal ihn niedergeschlagen hatte:
Karoly – vor seinen Augen war er in die Bibliothek geschwebt und durch eine Wand verschwunden, und zwar genau dort, wo auf dem Boden ein weißer Mantel mit achtzackigem Kreuz lag ... Unmöglich, dachte Timo wieder, so etwas gibt es nicht, jedenfalls heutzutage nicht mehr: daß ein Toter im Traum erscheint und geheime Wege weist. Und doch war er fast schon überzeugt, daß es sich auch diesmal genauso verhielt. Mit leichtem Schwindelgefühl, vielleicht nur eine Folge des Schimmelgeruchs aus den Folianten, trat er neben Cramsen, und ohne sich auch nur einen Moment zu besinnen, hob er die Hand und versetzte dem Schild des gemalten Ritters einen Faustschlag.
Befriedigt vernahm er, daß im Innern der Wand ein rasselndes Geräusch erklang. Und mindestens ebenso sehr befriedigte es ihn, daß der Alte ihn von der Seite her maßlos überrascht anglotzte.
„Sie wußten –?“
Erst jetzt bemerkte Timo, daß er seine Faust genau auf ein handtellergroßes Bildnis der heiligen Maria geschlagen hatte, das auf dem Ritterschild prangte. „Eine Geheimtür, natürlich“, gab er scheinbar gleichgültig zurück, dabei klopfte ihm das Herz längst wieder bis zum Hals. „Versuchen Sie besser nicht, uns hinzuhalten oder in die Irre zu führen, Cramsen“, sagte er. „Und machen Sie jetzt diese Tür auf!“
Der Alte starrte ihn an, und Timo glaubte ein höhnisches Funkeln in seinen Augen zu sehen. Aber dann murmelte Cramsen nur einen unverständlichen Fluch und beugte sich über das Bildnis Mariä. Er drückte seinen Daumen auf das Antlitz der Gottesmutter und machte eine drehende Bewegung, gegen den Uhrzeigersinn, woraufhin die handtellergroße Heilige, oder doch der hinter ihr versteckte Mechanismus, leise aufzuseufzen schien.
Noch mehrfach drehte Cramsen die Heilige um ihre Achse, als wäre zwischen Gottes- und Schraubenmutter kein wesentlicher Unterschied. Mit jeder Drehung wölbte sich der jungfräuliche Leib etwas weiter aus dem Gemälde hervor; in der Lücke wurde stückweise eine Metallstange sichtbar, die waagrecht aus der Wand ragte und um deren Ende sich die Füße der nun schwebenden, immer rascher im Kreis wirbelnden Maria schmiegten.
Endlich hörte Cramsen auf, an der Heiligen zu schrauben, und Maria kam in seitlich liegender, wenig respektabler Haltung vor dem Ritterschild zur Ruhe. So rasch, als fürchte er, eine verborgene Kraft entfesselt zu haben, zog er seinen Daumen zurück, keinen Wimpernschlag zu früh: Mit schnalzendem Geräusch sprang die Gottesmutter handbreit aus der Wand hervor.
Der Alte umfaßte den Leib der Heiligen und drückte ihn wie eine profane Klinke nieder. „Bitte einzutreten, Herr Timotheus.“
Knirschend öffnete sich die Steintür zu einem Gelaß, aus dem ihnen dicke Dunkelheit entgegenquollen.
Erneut zückte Cramsen seine Stablampe und schaltete sie ein. Der Lichtkegel erhellte einen kleinen, fensterlosen Raum, nicht mehr als drei mal drei Meter. Die Luft, die ihnen entgegenschlug, war noch betäubender als der Modergeruch im Büchersaal. Aber sein Vater, dachte Timo, hatte diese Kammer anscheinend als Studierzimmer genutzt.
An der Wand gegenüber unterschied er einen stählernen Spind, mit offenen Türen und offenbar leer, daneben einen Holzschemel. Auf der linken Seite stand, frei in den Raum gerückt, ein Studierpult mit geneigter Schreibfläche: eines jener altertümlichen Möbel, an denen man wie ein mittelalterlicher Magister im Stehen schrieb. Was sich in der rechten Hälfte der Kammer befinden mochte, war von der Schwelle aus nicht zu sehen, verdeckt durch die Steintür, die nach innen aufgeschwungen war.
„Das hier soll der Zugang zum Keller sein?“ Alex, der hinter Timo getreten war, warf einen argwöhnischen Blick in das Gelaß. „Mir kommt es eher wie eine Mausefalle vor – oder wie ein Kerkerloch, in dem man unerwünschte Personen verschwinden läßt. Damit Sie nicht auf dumme Gedanken kommen“, sagte er, sich zu Cramsen umwendend, „zum Beispiel auf die Idee, uns da drinnen lebendig einzumauern, schlage ich vor, daß Sie weiterhin vorangehen.“
Er trat zur Seite und machte eine einladende Bewegung zum Gelaß hin. Cramsen kniff die Augen zusammen und schlurfte, die Lampe wie einen Revolver auf die Türöffnung richtend, über die Schwelle zwischen Licht und Finsternis.
„Und diese Tür mit dem erstaunlichen Marien-Mechanismus lassen wir hübsch offen.“ Alex, dessen Stimmung sich aus irgendeinem Grund zu heben schien, legte Timo die flache Hand auf den Rücken und schob ihn in die gräfliche Studierkammer. Dort blieb er nahe der Schwelle stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Diese Kammer“, sagte der Alte unvermittelt zu Timo, „habe ich auf Befehl Ihres Vater anno ‘38 eigenhändig gemauert. War eine elende Arbeit, aber das Gerede unter den Leuten wollte einfach nicht aufhören, seit der kleine Sorno da unten eingebrochen war. Der Junge war tot, und es gab keinen Leichnam. Die Eltern Sorno – sie Köchin, er Gärtner, beide in gräflichen Diensten – verlangten, wenigstens die Stelle sehen zu dürfen, wo ihr Sohn von der Erde verschlungen worden war. Aber auch das konnte der Graf ihnen nicht zugestehen. Daher schwirrte bald das ganze Schloß vor Höllengerüchten.“
Der Alte trat so dicht vor Timo, daß dem der Atem des Erzählers ins Gesicht blies. Da Cramsen die Stablampe nun wie eine Kerze in der hohlen Hand hielt, schien das Licht ihn von unten an, sein Kinn noch gerippehafter modellierend, während der Schatten seines Schädels in grotesker Vergrößerung über ihnen an der Decke schwankte.
Timo wich vor ihm zurück und stieß mit dem Rücken gegen das Stehpult. Sofort war der Alte wieder bei ihm, die Erinnerungen brachen nun aus ihm hervor. „Trotz strengem Verbot versuchten Wagemutige aus dem Gesinde immer wieder zum Unglücksort vorzudringen“, sagte er keuchend. „Zuerst hatten wir dort nur provisorisch abgesperrt, aber so konnte es nicht weitergehen. Also befahl mir der Herr Graf schon wenige Tage nach dem Begräbnis, mit den Arbeiten zu beginnen – vor allem mit dem Schacht.“
Er wandte sich zur Seite und richtete seine Lampe in den Winkel hinter der Tür. Das Licht war zu schwach, um die Dunkelheit wirklich zu durchdringen, die sich gerade dort in der Ecke zu klumpen schien. Dennoch glaubte Timo hinter der Tür ein Rechteck im Boden auszumachen, das sich grau von der umgebenden Schwärze abhob.
„Niemand durfte mir helfen“, sagte Cramsen, „als ich nach den Anweisungen Ihres Herrn Vaters die Unglücksstelle einzumauern begann. Dieser Schacht da“ – abermals schwenkte der Lichtkegel zum Winkel hinter der Tür hin – „führt geradewegs ins untere Kellergewölbe hinab.“ Mit einem Keuchen, das wie atemloses Gelächter klang, schob er sich noch näher an Timo heran. „Glücklichen Abstieg wünsche ich! Der Schacht endet genau über dem Höllenloch – wie Ihr Herr Vater es befohlen hat!“
Die Kante des Stehpults, gegen das Cramsen ihn zurückgedrängt hatte, drückte sich schmerzhaft zwischen Timos Schultern. Behutsam schob er den Alten von sich weg und trat hinter das Möbel, so daß Cramsen nicht ohne weiteres nachrücken konnte.
„Viele Stunden, oft ganze Tage hat der Herr Graf hier verbracht.“ Von seiner Seite aus beugte sich Cramsen über die Pultplatte. „Hier hat er gestanden und in den Bänden der Schloßchronik nach Erklärungen gesucht.“ Er schlug mit der Faust auf die Platte, und Timo, der ihm mechanisch mit den Augen gefolgt war, registrierte beiläufig, daß die Platte mit Intarsien verziert war. „Damit ihn nichts von seiner Suche ablenkte, schloß er sich oftmals hier ein. Ich mußte für Beleuchtung sorgen, die Belüftung verbessern ...“
Er unterbrach sich und fasste sich an den Kopf. Dann wandte er sich um und eilte an Alex vorbei zur rechten Wand, die hinter der Tür halb verborgen war. Von dorther hörten sie gleich darauf ein Kratzen von Stein auf Stein: Cramsen schob eine Bodenplatte zur Seite, und augenblicklich strömte kühle, wenngleich nach Keller und Staub riechende Luft in das Gelaß ein.
„Gott sei Dank“, sagte Timo. Seine unruhig umhertastenden Finger stießen auf ein offenes Fach unter der Pultplatte. Darin lag anscheinend ein dünnes Heft, dessen Einband sich glatt anfühlte wie Wachspapier.
„Danken Sie lieber dem Teufel, Herr Timotheus“, empfahl Cramsen. „Die Luft kommt direkt aus dem Abgrund.“ Er eilte von Zimmerecke zu Zimmerecke, überall kleine Öllampen entflammend, die den Raum in gelben Schein tauchten.
Timos linke Hand lag auf dem Wachsheft. Als er es hervorzog, fiel sein Blick erneut auf die Intarsien in der Pultplatte vor ihm, die im Licht der Öllampen nun deutlich zu erkennen waren. Vor Verblüffung hätte er beinahe aufgeschrien, doch er riss sich zusammen und starrte wortlos auf das Bild:
Der Jüngling und der Wolf! In mattem Gelbton hoben sich die Intarsien von der schwarzen Holzfläche ab. Trowals Worte fielen ihm ein, mit denen er die Skulptur angepriesen hatte: „Das Hauptmotiv des alten Schloßwappens – wer im Besitz dieser Statue ist, gilt seit jeher als Herr über Schloß Stiegliz ...“
Ohne Zweifel waren die beiden traurig bekannten Gestalten hier in heraldischer Tradition dargestellt. Eine kühn geschwungene, an ein Wappenschild gemahnende Linie umschloß den Jüngling und die Bestie, doch die Anordnung erinnerte weder an die erste Bernsteinstatue, die Trowal ihm mit dem Koffer übergeben hatte, noch an die zweite Skulptur, mit der sie aus Margots Haus geflohen waren. Das Wappenbild zeigte Wolf und Jüngling in schockierender Umschlingung: Brust an Brust liegend, das Gesicht des jungen Mannes in die zottige Halsbeuge vergraben, seine Arme um den Wolfsrumpf mit einer Geste gewunden, die beides bedeuten konnte: abscheuliche Vertrautheit oder erbarmungslosen Kampf. Oder stellte sie unentwirrbar das eine und zugleich das andere dar?
„Alex“, sagte er, „sieh dir das an.“ Er deutete auf das Wappenbild und merkte, daß er das Wachsheft noch in der Hand hielt. Er blies den Staub vom Einband, hob es vor seine Augen, und sein Herz machte einen kleinen Satz.
Beobachtungen und Mutmaßungen 1938. Ein charakteristisch nüchterner Titel, geschrieben in der schnörkellosen Schrift seines Vaters.
„Komm her, Alex, das mußt du sehen!“
Nach Aussehen und Umfang ähnelte das Heft der Kladde aus Trowals Koffer, deren Seiten mit unverständlichen Chiffren bedeckt waren. Aber als Timo es aufblätterte, stellte er fest, daß dieses Heft klarschriftliche Aufzeichnungen enthielt.
Alex trat neben ihn und beugte sich über das Pult.
„Das ist die Handschrift meines Vaters“, sagte Timo, „und sieh dir dieses Wap... He, Cramsen, wohin so eilig?“
Doch der Alte war schon über die Schwelle gehuscht. In Timons Frage hinein fiel mit einem Kreischen die Tür ins Schloß. Unter hellem Singen des blasphemischen Gewindes drehte sich die Gottesmutter auf der anderen Mauerseite zurück in den Ritterschild, dann kehrte tödliche Stille ein.
„Verdammt“, sagte Alex, „hat uns der alte Fuchs doch noch reingelegt.“ Scheinbar gelassen sah er sich um: das altertümliche Stehpult, die blakenden Öllampen; dann deutete er zu dem fahlen Fleck, der sich auf dem Boden in der Zimmerecke abzeichnete. „Bleibt also nur der Notausgang.“
„Notausgang? Laut Cramsen führt er direkt in die Hölle!“
„Und laut deinem Vater?“
„Wir sind hier eingemauert, Alex, und du willst erst mal in aller Ruhe lesen, was mein Vater in dieses Heft geschrieben hat?“
„Vielleicht nicht in aller Ruhe“, berichtigte Alex, während er wieder neben Timo ans Pult trat. „Aber da uns Cramsen in diesem Mausoleum anscheinend verdorren lassen will, bleibt uns nichts anderes übrig als nachzusehen, wohin der Schacht wirklich führt. Bevor ich aber da runterklettere, will ich schon ganz gerne wissen, was mich laut deinem Vater dort unten erwartet.“
Beobachtungen und Mutmaßungen 1938
Schloß Stiegliz, den 13ten III. 38
Haben einen Toten zu beklagen, der erste unnatürliche Todesfall seit Jahren. Die Sache ist zu seltsam: daher mein Entschluß, diese Aufzeichnungen vorerst von der allgemeinen Schloßchronik zu separieren.
Der Verunfallte, Alfons mit Namen, war kaum heraus aus den Kinderschuhen. Armer Teufel, tut auch mir leid um den Kerl. Tiefe Trauer der Eltern Sorno, bestürzte Mienen in der Arbeiterschaft. Trug sofort Sorge, daß die näheren Umstände nicht bekannt würden.
Anlaß: Ordnete Ausbesserungsarbeiten im zweiten Kellergeschoß unter dem Bibliothekssaal an. Risse dort im Gewölbeboden, die sich stetig verbreiterten. Hatte die Sache längere Zeit vor mir hergeschoben, duldete nun keinen Aufschub mehr. Nahm an, daß unter dem Fundament Erdreich weggesackt sei, durch Grundwasser ausgewaschen. Die Schloßchronik ist voll von Schadensberichten, auch Unglücksmeldungen dieser Art.
Mein treuer Cramsen u. Alfons machten sich mit Spitzhacken über den Gewölbeboden her. Hackten den halben Vormittag, daß es überall im Schloß nur so hallte. Auf einmal muß unter Alfons‘ Füßen der Boden weggebrochen sein: eine kreisrunde Gesteinsplatte, die zu Brocken zerberstend mitsamt dem Sohn Sornos in der Tiefe verschwand.
Cramsen schwört, daß wenigstens eine halbe Minute verging, bis die Steinbrocken unten aufschlugen, u. habe auch der anfangs gellende Schrei des Verunglückten immer ferner zu ihm heraufgetönt. Sei erst nach unerträglich sich dehnenden Sekunden u. gespenstisch leisem Aufprall plötzlich verstummt.
Wies Cramsen an, Stillschweigen über die Sache zu bewahren. Ließen im Gesinde verbreiten, Alfons sei in einen Brunnenschacht gestürzt, zu eng u. tief, um seinen Leichnam zu bergen. Wenn es doch so wäre! Was immer dort unter dem Schloßkeller sein mag, ein Brunnen ist es nicht.
Zogen sogleich die Baupläne zu Rate. Stießen einmal mehr auf die alte Schwierigkeit: Unvollständigkeit u. Ungenauigkeit aller vorhandenen Pläne. Burg, später Schloß Stiegliz wurde seit dem 12ten Jahrhundert von beinahe jeder Generation umgebaut. Teilabrisse, Erweiterungsbauten, Errichtung neuer Gebäude überwiegend auf alten Fundamenten. Nicht in jedem Fall wurden die Pläne den Veränderungen angepaßt, welches die Pflicht meiner jeweiligen Ahnen gewesen wäre. Überdies scheinen schon die ältesten Mauern von Burg Stiegliz auf noch älteren Fundamenten errichtet worden zu sein u. weiß kein Plan u. keine Chronik irgend etwas von deren Herkunft, Bestimmung u. Ausmaß.
Dabei kennt die Schloßchronik viele Beispiele für die Folgen solcher Nachlässigkeit. Die meisten Fälle, zumindest im Rückblick, eher erheiternd als tragisch. Zugemauerte Säle, welche Jahrhunderte später durch Zufall wiederentdeckt werden, Museen einer versunkenen Zeit. Grabungen im Park, bei welchen man auf uralte Fundamente stößt: Niemand weiß, was sie einst trugen. Die Chronik berichtet sogar von einem gemauerten Geheimgang, mutmaßlich aus dem 15ten Jahrhundert. Soll unter dem Schloßpark hindurchführen u. das Herrenhaus mit der heutigen Orangerie verbinden, wo einst der südliche Wehrturm stand. Mein Urgroßvater ließ einmal den halben Park aufgraben, vergeblich, der Geheimgang war wohl eine romantische Mär.
Hatten uns alle angewöhnt, solche Geschichten als heitere Anekdoten anzusehen. Aber der gestrige Zwischenfall zeigt, daß womöglich das ganze Schloß auf ungewissem Untergrund erbaut ist. Schon Anfang des 18ten Jahrhunderts wurde, wieder durch Zufall, unter dem Ostflügel des Wirtschaftsgebäudes ein zweites Kellergewölbe entdeckt. Auch damals, wie in der Chronik verzeichnet, Einsturz des Kellerbodens, glücklicherweise ohne Todesopfer. Trotzdem einige Aufregung unter den Altvordern: Was man für das Fundament hielt, war nur eine Zwischendecke über tieferen, bis dato unbekannten Untergeschossen.
Mein Vorfahr wollte zuerst Nachforschungen anstellen, doch die Sache schlief rasch wieder ein. Geht in der Tat etwas Unbehagliches aus von dieser versunkenen Welt unter der Erde: Unwillkürlich drängt man zurück ins Sonnenlicht. Hat dort unten nichts eigentlich Unheimliches gesehen, was denn auch? Richtet sich gleichwohl mit einem Schauder u. desto größerem Behagen in der hellen, oberirdischen Welt wieder ein. Menschlich-allzumenschlich: die Sache der Vergessenheit übereignen, bis wieder irgendwo der Boden einbricht.
Schloß Stiegliz, den 14ten III. 38, abends
Der jüngste Zwischenfall ist ernster als alle Vorfälle dieser Art, derer ich mich aus den Chronikbänden entsinne. Besichtigte in aller Frühe mit Cramsen noch einmal den Unglücksort. Tief erschüttert, noch immer, auch beunruhigt. Mehr noch: Ein unbestimmtes Grauen geht von jenem Ort aus.
Wies Cramsen an, den Keller im gesamten südlichen Trakt unter dem Herrenhaus für jedermann zu sperren. Ließ harte Strafen bei Zuwiderhandlung androhen, auch auf die Gefahr hin, so erst recht Neugierde u. Argwohn zu erregen. Die Sache ist einfach zu abgründig, im wahrsten Sinn.
Kehrte am Nachmittag allein an jene Stätte zurück, mit einem Seil u. einer starken Lampe von Cramsen. Schob mich bäuchlings bis zum Rand des Schlundes vor, hielt die Lampe über die kreisrunde Öffnung (Ø ca. 1,2 m) u. spähte. Der Schacht ist trichterförmig gemauert: die Wände gerundet, aber nicht ganz lotrecht, ringsum wie bei einer steilen Rampe abgeschrägt. Uraltes Gemäuer, wie alt, vermag ich nicht einmal grob zu schätzen. Der Schacht führt wenigstens 20 m in die Tiefe, verjüngt sich dabei stetig, so daß weit unten die Mündung kaum mehr Ø 60 cm mißt. Ein erwachsener Mann wäre dort wohl stecken geblieben, doch der junge Sorno, ohnehin von schlaksiger Statur, glitt unbehindert durch das Öhr aus Stein.
Knüpfte endlich Cramsens Lampe an das Seil u. ließ sie hinab, Meter um Meter, bis sie mit kratzendem Geräusch an die Mündung in der Tiefe stieß. Das Scheppern der Lampe im Trichter rief hallende Echos hervor, die sich dort unten fortpflanzten, verstärkten, erst nach Minuten wieder beruhigten. Obwohl ich im Grunde nichts wirklich erblickte, sah ich auf einmal vor mir, durch den Nachhall beschworen: unter dem Trichter einen ungeheuer großen, tiefen u. weitläufigen Raum.
Wozu diente er? Wann wurde er erbaut? Von wem u. wozu genutzt? Bin ratlos. Wüßte nicht einmal einen Namen für dies unterirdische Gebäude. Bunker? Dom? Jedenfalls ganz gewiß kein Brunnenschacht. Erinnert eher an „Höllentrichter“ aus alten Gemälden.
Mache gewöhnlich nicht viel Aufhebens um meine Constitution. War diesmal aber dankbar für die robuste Natur Derer v. St. Dabei ließ sich dort unten durchaus nichts eigentlich Gräßliches sehen.
Zog die Lampe wieder empor, löschte sie u. verharrte am Schachtrand im Finstern. Nahm auf einmal ein schwer zu erklärendes gelbliches Glimmen in der Tiefe wahr, unheimlich auch deshalb, weil nun zudem leises Stöhnen aus dem Abgrund drang. Kein menschliches Stöhnen, dessen bin ich gewiß, u. ist es ausgeschlossen, daß der Unglückliche seinen Sturz überlebt habe. Nein, es tönte aus der Tiefe „etwas“ herauf, für das ich keinen Namen weiß, sowenig wie für den Raum, aus dem es aufstieg. Wechselnd in Klang u. Tonhöhe, mal hell u. sirrend, dann wieder heulend u. dumpf.
Ließ Seil u. Lampe zurück u. machte, daß ich hinauf in meine vertraute Bibliothek kam. Erkannte schon auf der Kellertreppe, daß ich durchaus ein Wort weiß, um jene Klänge zu bezeichnen. Sträubte mich gegen das Wort, wehrte mich die ganze Zeit, während ich brütete, u. selbst dann noch, als ich diese Notiz schrieb. Machte wohl nur deshalb so viele Umschweife u. kann zuletzt doch nicht umhin, es einzugestehen: Was ich dort unten vernahm, war abscheuliche u. doch seltsam ergreifende – – Musik. Sozusagen unerlaubte Melodien, mit verbotenen Instrumenten gespielt.
Fange an, Unsinn zu kritzeln. Steigende Unruhe. Muß mich nochmals mit Cramsen besprechen. Zutiefst aufgewühlt.
Schloß Stiegliz, den 15ten III. 38
Hockte die halbe Nacht am „Trichter“, in die „Musik“ versunken, sonst tatenlos. Vorher mehrfach versucht, mit stärkerer Lampe an längerem Seil das Loch auszuleuchten: vergeblich. Im Licht nur das gelbe Glimmen in der Tiefe intensiver, u. verfiel nun auch Cramsen auf die naheliegende Deutung: Gold.
Sind wir durch Zufall auf eine Schatzkammer aus den Frühzeiten von Burg Stiegliz gestoßen? Aber wieso hätten die Altvordern ihre Schätze auf so absonderliche Art verbergen sollen? Was einmal durch diesen Trichter in die Tiefe gestürzt ist, vermöchte niemand mehr zurückzuholen, es sei denn, er wäre von kindlicher Statur: schmal genug, an einem Seil in dem engen Schacht auf u. ab zu klettern. Unsere ehrwürdigen Ahnen dagegen waren bärenstarke Männer, mit Leibern wie Eichenstämme, muskelstrotzend und nicht selten wohlbeleibt.
Item: Welcher „Schatz“ wäre imstande, derartige Klänge zu erzeugen? Unablässig, wenn auch sehr leise, dringen die widrigen Töne seit gestern aus der Grube: ein Stöhnen u. Heulen, ein Zirpen u. Winseln; habe niemals in meinem Leben Vergleichbares gehört. Sehr fern, sehr leise, u. doch dringen die Töne tief in den Zuhörer ein. Aufwühlend, fremdartiges Empfinden beschwörend wie durch Bann.
Habe beschlossen, den treuen Cramsen erstmals bei einer Schloßsache nur begrenzt ins Vertrauen zu ziehen. Äußerst unbehagliches Gefühl, je länger ich drüber nachdenke.
Viele Stunden über der Schloßchronik: nichts. In welchem Band ich auch blättere, nirgends auch nur die leiseste Anspielung. Wie ist das möglich? Beinahe in jedem Jahresband berichten die Chronisten von Ausbesserungsarbeiten, Umbauten u.s.f. Doch der massiv gemauerte Schacht soll in der bald TAUSENDjährigen Geschichte von Burg, später Schloß Stiegliz niemals bemerkt worden sein? Zu schweigen von dem unterirdischen Raum, zu dem der steinerne Trichter hinabführt: Dem Echohall nach zu urteilen, den das kleine Scheppern der Lampe hervorrief, muß es ein Gewölbe von gewaltigen Ausmaßen sein.
Selbstverständlich ist es unmöglich, daß all das so lange unbemerkt geblieben, u. stieß ich in Band MCDLXXX der Chronik in der Tat auf einen Eintrag, welcher sinngemäß lautet: „Erneuerung sämtlicher Fundamente unter dem Herrenhaus beendet.“ Man tauschte also im Jahre 1480 sämtliche Bodenplatten im zweiten Kellergewölbe aus, ohne zu bemerken, daß sich unter einer von ihnen dieser Schlund befand? Oder was sonst könnte den Chronisten bewogen haben – –
Meine Feder sträubt sich. Muß in der Eile die betreffende Nachricht überlesen haben. Weigere mich zu schlußfolgern, daß man absichtlich etwas verschwieg. Dabei handele ich selbst nicht anders: Hatten womöglich auch frühere Skribenten beschlossen, solcherlei Beobachtungen u. Mutmaßungen der Chronik nicht anzuvertrauen?
Unruhe steigend. Ertappe mich immer öfter, wie ich ins Leere starre: vor meinem geistigen Auge das Glimmen in der Tiefe, u. ist mir immer häufiger, als dränge das Stöhnen u. Heulen bis hierher, in die Bibliothek hinauf. Verfluchter Unfug!
Muß methodisch vorgehen u. darf auf keinen Fall vor der Zeit etwas ruchbar werden. Brauche Anhaltspunkte, greifbare Beweise: was es mit Schacht u. Gewölbe, mit dem Funkeln u. Heulen dort unten in Tat u. Wahrheit auf sich hat.
Beschluß: Werde kommende Nacht einen Korb in den Trichter hinablassen, ohne irgendwen in die Sache einzuweihen. Will sehen, ob ich, mit dem Korb über den Grund der Grube kratzend, „etwas“ einfangen und hinaufziehen kann. Wird sich so vielleicht rasch erweisen, ob es dort von Golde glimmt oder von altem Kupfertrödel.
So oder so werde ich die natürliche Erklärung finden, die Seele u. Verstand beruhigt. Was immer ich in dieser Nacht aus schwindelnder, winselnder, glimmender Tiefe bergen werde: Nicht ruhen will ich, bis aus sämtlichen Bänden der Chronik Derer von Stiegliz zusammengetragen, was die Altvordern über Herkunft u. Bestimmung dieser Fundstücke melden. Auch für die höllische Musik muß es eine vernünftige Ursache geben: wird bloß ein Luftzug in unterirdischen Kanälen sein. Was sonst!
Bei dem Wort Musik setzte für einen Moment Timos Herzschlag aus, und seine Hand, die das Blatt zu wenden versuchte, zitterte. Er starrte auf die nächste Eintragung, aber die Zeichen wirbelten vor seinen Augen wie Insekten.
„O verdammt“, hörte er Alex sagen, „kannst du dieses Zeug lesen, Timo?“
„Welches Zeug?“ Er brauchte eine Weile, bis er verstand, was Alex meinte: Mit der vierten Eintragung war sein Vater unvermittelt in eine Geheimschrift übergewechselt, die ausschließlich aus Versalien und römischen Zahlen bestand. „Nein“, sagte er enttäuscht, „ich glaube nicht.“
Alex blätterte das Heft bis zum Ende durch. „Kein einziges unverschlüsseltes Wort mehr.“ Er warf die Kladde vor Timo auf das Pult, wo sie neben dem eingearbeiteten Wolfswappen zu liegen kam. „Wäre auch zu schön gewesen, wenn dieser alte Geheimniskrämer – Verzeihung: dein Herr Vater – uns einfach so eingeweiht hätte.“ Er sah sich in der Studierkammer um. „Was jetzt? Hast du irgendeine Idee, wie wir den Code knacken können?“
„Das nicht.“ Timo schob das Wachsheft in die Mitte des Pults, so daß es die Intarsien nahezu verdeckte und nur eine zottige Wolfspranke noch hervorsah. „Aber dieses Durcheinander aus Versalien und römischen Zahlen kommt mir bekannt vor. Erinnerst du dich an den Koffer mit den aufgesprengten Schnallen, von dem ich dir erzählt habe? Trowal hat ihn mir in Ratzeburg gegeben. In dem Koffer waren außer der Wolfsbißskulptur verschiedene Papiere, darunter ein Wachsheft wie dieses – und soweit ich mich erinnere, war es von vorn bis hinten mit solchen Zeichen vollgeschrieben. Aber das hilft uns jetzt leider auch keinen Schritt weiter, denn es liegt mitsamt Trowals Koffer –“
„– in deinem erstaunlichen Geländewagen, wolltest du sagen, in Frankfurt am Main?“ Alex grinste ihn an. „Gestern früh, als ich deinen russischen Knochenschüttler in meine Tiefgarage fuhr ... Du hattest mich gebeten, deine Reisetasche mit nach oben zu bringen, und da fiel mir der Koffer auf, von dem du mir ja vorher erzählt hattest. Ich weiß auch nicht genau, warum, aber ich hielt es für eine gute Idee, den Koffer in meinen Wagen umzuladen, und kurz und gut ...“
Sein Grinsen war immer breiter, seine Rede immer verworrener geworden, und nun gab er es auf, mit Worten zu erklären, was sich mit einem Handgriff sehr viel rascher erläutern ließ: Alex packte in die Innentasche seiner Anzugjacke, zog ein zusammengerolltes Quartheft hervor und warf es neben seinen wächsernen Zwilling auf die Pultplatte.
„Das nenne ich einen guten Riecher“, sagte Timo. Aber noch während er zusah, wie Alex die Eintragungen in beiden Heften miteinander verglich, kamen ihm Zweifel: Wieso hatte es Alex für eine „gute Idee“ gehalten, Trowals Koffer in seinen eigenen Wagen umzuladen? Warum hatte er eben so nervös herumgestottert? Hatte Alex etwa schon gestern früh vorgehabt, mit ihm zusammen nach Stiegliz zu fahren? Hatte er womöglich sogar irgend etwas von dem vorausgesehen, was dann in Margots Haus passiert war?
Unsinn, dachte Timo, das ergibt doch alles keinen Sinn. Schließlich konnte Alex bis gestern von der ganzen Geschichte überhaupt nichts gewußt haben – oder etwa doch?
„In beiden Heften dieselbe Handschrift“, hörte er Alex sagen, „und die gleichen Zeichen. Hier zum Beispiel, in dem Heft aus Trowals Koffer, die Chiffre A-XIII, und hier, in der anderen Kladde, auch.“
Nun fiel Timo auch wieder ein, wie Cramsens Gesicht in ungläubiger Freude aufgeleuchtet hatte, als Alex vor ihm durch die Mauerbresche getreten war. Vielleicht habe ich mir doch nicht nur eingebildet, überlegte er, daß Cramsen und Alex sich zu kennen scheinen? Ist es nicht ein sonderbarer Zufall, daß Alex auch diesen Söllner persönlich kennt? Hat Alex mich etwa in Söllners Auftrag hierher gebracht? Ja, das ergibt Sinn, sagte sich Timo. Deshalb hat er auch so gelassen reagiert, als Cramsen abgehauen ist und uns hier eingesperrt hat!
„... ich den Koffer mitgenommen habe“, sagte Alex, „ist im Grunde klar: Ich habe mich gefragt, warum Trowal dir die Dokumente zusammen mit der Wolfsfigur gegeben hat, aber nur die Skulptur selbst unbedingt zurückhaben will. Warum hat er die Papiere danach nie mehr erwähnt? Leider habe ich auf diese Frage bisher keine Antwort gefunden – es sei denn ... Nein, das ist wirklich zu unsinnig ... Hörst du mir überhaupt zu, Timo?“
„Nicht so richtig.“ Timo wich gegen den stählernen Spind zurück. „Weißt du, Alex, mich beschäftigt auch eine Frage, auf die ich dringend eine Antwort suche.“
„Und die wäre?“ Alex hob beide Augenbrauen, bis sie unter seinen Locken fast verschwanden.
Die Öllampen in den Wandnischen blakten immer stärker; es war abzusehen, daß sie schon bald wieder verlöschen würden. Und dann, dachte Timo, sitzen wir hier im Stockdunkeln fest.
„Ist dir nicht auch aufgefallen“, fragte er, „wie seltsam Cramsen dich angesehen hat? Er scheint sich einzubilden, daß er dich kennt!“
„Klar hab’ ich das gemerkt.“ Alex grinste unbekümmert. „Hat mich auch erst gewundert, aber die Erklärung liegt ja auf der Hand: Würde dein Bruder, wenn er noch lebte, heute nicht ungefähr so wie ich aussehen? Nur vom Typus her, meine ich natürlich: eher breitschultrig als schmal, blonde Locken, allerdings grüne Augen, keine blauen, wenn ich mich richtig an das erinnere, was Lisa mir erzählt hat.“
„Wie Kai? Aber das ... ja, das stimmt!“
„Du sagst das, als wäre es eine Neuigkeit für dich“, stellte Alex sichtlich verwundert fest. „Cramsen jedenfalls hat wohl einfach versucht, mich in seine – oder eure – Welt irgendwie einzuordnen. Wäre er mir allein irgendwo anders begegnet, hätte er mich bestimmt nicht mit Kai verwechselt. So aber lag für ihn der Gedanke nahe, daß die beiden Söhne des Grafen zurückgekehrt seien.“
„Du hast recht ... Kai ... Alex, na klar ...“ Timo war völlig durcheinander. Warum nur war er nicht von selbst darauf gekommen? Die Antwort lag gleichfalls auf der Hand, und sie brachte ihn noch mehr durcheinander: Weil ihm in all den Jahren, die er Alex schon kannte, noch nie bewußt geworden war, wie ähnlich Kai und sein bester Freund sich sahen.
Wie war das möglich? Ende der Fünfziger, dachte er, als ich Alex kennengelernt habe, war Kai erst seit wenigen Jahren verschwunden, und ich habe ihn immer noch furchtbar vermißt. Ohne Kai erschien mir die Welt leer und grau. Damals waren Alex und ich noch keine Zwanzig, und natürlich sah er meinem Bruder so ähnlich, wie zwei nicht verwandte Menschen einander ähneln können. Und wenn Kai heute noch am Leben wäre, sähe er wohl wirklich nicht viel anders aus als Alex ...
Beschämt sah er Alex an, und da erst wurde ihm klar, daß die Sache zumindest ein Gutes hatte: Alex spielte kein falsches Spiel,er machte nicht mit Leuten wie Söllner und Cramsen gegen ihn gemeinsame Sache. Alex war und blieb der einzige Mensch, dem er vollkommen vertrauen konnte.
„Entschuldige“, sagte er und mußte erst einmal schlucken. „Manchmal bin ich so verbohrt, daß ich – –“
„He, Schluß damit.“ Über Alex’ Gesicht flog erneut jenes unbekümmerte Lächeln, das er seit gestern nur noch selten sehen ließ. Dann wurde er wieder ernst und sagte: „Eins ist mir bei dieser Sache allerdings auch nicht klar: Wenn Cramsen mich tatsächlich für deinen Bruder hält – warum hat er im ersten Moment so viel Wiedersehensfreude gezeigt, mich anschließend aber keines Blickes mehr gewürdigt?“
„Das ist mir auch aufgefallen. Vielleicht hat er einfach gemerkt, daß er sich geirrt hatte und du eben nicht mein Bruder bist.“
„Aber wie hätte er das so schnell merken sollen“, wandte Alex ein, „es sei denn, er hätte Kai in letzter Zeit ...“
Sie wechselten einen Blick, und Timo schüttelte ungläubig den Kopf. Minutenlang grübelten sie vor sich hin, dann zuckte Alex mit den Schultern und sagte:
„Immer hübsch eins nach dem anderen. Wenden wir uns also wieder unserem aktuellen Problem zu: dem Geheimcode.“ Er nahm eines der Wachshefte vom Pult und schwenkte es vor Timos Nase. „Mir ist da eine Idee gekommen: Die Zeichenkombinationen in diesen Kladden – Großbuchstaben und römische Zahlen – erinnern mich an die Sigeln, unter denen in altmodischen Bibliotheken Bücher archiviert werden. Könnte es nicht sein, daß sich diese Zeichen auf Jahresbände eurer gräflichen Chronik beziehen? Immerhin hat auch Cramsen gesagt, dein Vater hätte in der Chronik nach Erklärungen gesucht. Vielleicht hat er also jeweils Band-Sigle plus Seitenzahl notiert, wenn er einen Zusammenhang mit den Funden da unten zu erkennen glaubte?“
„Hoffentlich hast du recht.“ Geistesabwesend sah Timo zu der Wand, durch die vorhin Cramsen verschwunden war. „Damit wir das überprüfen können, muß der alte Narr aber erst mal diese Grufttür wieder aufsperren.“ In Gedanken war er noch immer bei Alex‘ unvollendetem Satz: Es sei denn, er hätte Kai in letzter Zeit ...
„Er kommt bestimmt bald zurück“, sagte Alex in zuversichtlichem Ton. „Von Kai scheint er übrigens sehr viel mehr zu halten als von dir.“
Timo spürte eine uralte Traurigkeit. „Wie mein Vater“, sagte er. „Für ihn war ich nur ein schwächlicher Träumer, genau wie unsere Mutter – und Träumer war für ihn eines der übelsten Schimpfwörter. In Kai dagegen hat er sich selbst gesehen – eine Art ritterlichen Helden, der vor keiner Gefahr zurückschreckt.“
„Verstehe“, antwortete Alex. „Und du hast natürlich recht: Mit dem Geheimcode kommen wir nicht weiter, solange wir hier eingesperrt sind.“
Dankbar registrierte Timo, daß Alex so rücksichtsvoll war, das Thema zu wechseln.
„Wie gesagt, ich hätte lieber erst nachgelesen, worauf man sich da unten gefaßt machen muß.“ Alex kam hinter dem Pult hervor und trat in den Winkel, wo sich das fahle Rechteck im Steinboden abzeichnete. Er kniete sich hin, schob zwei Riegel beiseite und klappte die Flügel der Falltür auf. „Aber unter den gegebenen Umständen bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als diesen Notausgang auf eigene Faust auszuprobieren.“
Timo trat neben ihn und beugte sich über den Schachtrand. Doch so angestrengt er in die Tiefe spähte und lauschte, er sah nichts als Finsternis und hörte nur sein eigenes Herz, das ihm bis zum Hals pochte.
Der Schacht enthielt weder Treppe noch Leiter, nicht einmal Steigeisen in den Wänden, soweit das von hier oben zu erkennen war. Er bestand einfach aus einem solide gemauerten Geviert von kaum einem Meter im Quadrat, einem senkrecht in die Tiefe führenden Stollen, der laut Cramsen „genau über der Hölle“ endete.
Alex rappelte sich auf und sah sich tatendurstig um. „Von hier bis zum Boden des zweiten Kellergeschosses dürften es etwa zehn, fünfzehn Meter sein, oder?“
Timo nickte schaudernd – Alex hatte sich in einem Ton erkundigt, als wollte er sagen: Die paar Meter können wir doch springen, oder?
„Die Frage ist nur, wie man ... Ah, da haben wir’s ja!“
Überraschenderweise wies Alex’ ausgestreckter Arm senkrecht nach oben. Timo folgte ihm mit den Augen: Unter der Gelaßdecke, direkt über dem Schacht, war eine gewaltige Stahlwinde angebracht.
Schreie erschallten in seinem Kopf; benommen beobachtete er Alex, der eine an der Wand lehnende Gelenkstange ergriff und über seinen Kopf hob, den Hebel seitlich in die Winde einsetzte und zu drehen begann. Unter greulichem Quietschen setzte sich die Winde in Bewegung, und armdicke Seilenden senkten sich langsam hernieder, schlenkernd wie die Beine einer bleichen Puppe – hin und her – hin und her ...
„Ein Anruf für Sie, Chef, aus Frankfurt West.“
„Sollen durchstellen.“
Ohne sein Studium der labyrinthischen Grundrißpläne zu unterbrechen, griff Zirfas mit der linken Hand über seinen Schreibtisch und schwenkte das Telefon näher zu sich heran. Doch obwohl der Apparat bereits in der Schwenkbewegung zu klingeln begann, nahm Zirfas den Hörer nicht ab.
Noch nicht. Worzak, der wieder auf seinem Holzstuhl nahe der Tür Platz genommen hatte, blinzelte schläfrig. Je nach Laune würde sein Chef den Apparat drei-, vier- oder fünfmal klingeln lassen, und Worzak hätte wetten mögen, daß dieser Anrufer erst beim fünften Klingelton erhört werden würde.
Zwei.
Schließlich kannte Worzak seinen Vorgesetzten seit mehr als fünfzehn Jahren. Und wenn Zirfas’ gewöhnliche Gemütslage als grimmig bis finster bezeichnet werden konnte, so gab es für seine derzeitige Stimmung keine auch nur annähernd zutreffende Vokabel. Zumindest in Worzaks Wortschatz nicht.
Drei.
Aus dem Augenwinkel warf Zirfas dem vor Eifer erbebenden Apparat einen jener Blicke zu, die für Worzak in die Rubrik „ohne Worte“ fiel.
Die schlitzäugige Digitaluhr an der Fensterwand zeigte kurz vor sieben. Seit ein humpelnder Bote den Umschlag mit den Plänen von Schloß Stiegliz überbracht hatte (H. Zirfas – streng vertraulich), mochten drei Stunden vergangen sein, und noch immer saß Zirfas in fast unveränderter Haltung am Schreibtisch, in der rechten Hand einen Bleistift, in Griffnähe den altmodischen Zirkel, seine hagere Gestalt über die Skizzen gebeugt.
Vier.
Was sucht er nur? überlegte Worzak. Vor allem aber: Wie schaffte es sein Chef bloß, daß sein Anzug niemals zerknittert oder gar schmuddelig wirkte? Im Gegensatz zu seiner eigenen Uniform, die sich in hunderterlei Falten zu legen und mit Flecken zu übersäen pflegte, kaum daß er sie am Morgen angezogen hatte.
Fünf.
Worzak blinzelte ungläubig. Zirfas hatte sich aufgerichtet, doch anstatt endlich den Hörer zu ergreifen, ließ er seinen Bleistift auf die verblichenen Schloßpläne fallen und schwenkte seinen Stuhl in Richtung Fenster. Ihr Büro befand sich in Frankfurt (Oder), in einem grauen Gebäude aus Kaiser Wilhelms Zeiten, erster Stock mit Blick auf die Fußgängerzone, die Worzak selten betrachten konnte, ohne sich vorzustellen, wie er die Neonreklamen zu einem bonbonbunten Scherbenregen zerschoß.
Sechs.
Zirfas’ Hand schnellte hoch, packte den Hörer und riß ihn an sein Ohr. „Kripo Frankfurt, ja?“
„Einen schönen Morgen, Herr Kollege, hier spricht auch die Kripo Frankfurt. Allerdings Frankfurt am Main.“
Heiner Siegrist! Die säuselnde Stimme beschwor vor Zirfas’ geistigem Auge mit fotografischer Präzision das Bild des Seminarleiters aus Wendetagen herauf: brauner Krauskopf mit Bartstoppeln. Designerjeans und Turnschuhe aus Übersee. Sommer ‘91, Polizeiakademie Münster-Hiltrup: Damals hatte Siegrist ihn und ein Dutzend Ostkollegen zwei unsäglich lange Wochen mit Vorträgen und Prüfungen zum Thema „Polizei im demokratischen Rechtsstaat“ traktiert.
„Das macht doch nichts“, sagte Zirfas.
Selten hatte er in den letzten Jahren irgendwen so sehr gehaßt wie diesen Westschnösel, der seine südhessisch vernuschelte Rede mit Modewörtern zu spicken liebte: Mündigkeit, Selbstbestimmung, Bürgerrecht. Und selten hatte er seinen Haß und seine Verachtung geschickter verborgen, schließlich hatte er ein Ziel, dem er alles andere unterordnete: mit verwestlichtem Dienstrang an seinen alten Posten zurückzukehren.
„Herr Zirfas, ich erinnere mich gut an Sie: einer meiner gelehrigsten Schüler!“
Zirfas fletschte die Zähne. „Und ich werd’ Sie bestimmt nie vergessen, Siegrist. Phänomenal, wie Sie uns damals den Geist der Demokratie nahegebracht haben.“ Er packte den Zirkel, der auf den Schloßplänen lag, und spreizte die Schenkel des Gerätes, bis sie fast eine Gerade bildeten.
„Sie übertreiben“, säuselte Siegrist. „Um jetzt aber zur Sache zu kommen: Wir brauchen Ihre Hilfe, dringend und diskret.“
Zirfas umschloß den gespreizten Zirkel mit der Faust und rammte die Spitze durch die Schloßskizze hindurch in die Schreibtischplatte.
„Wir ermitteln in einer mysteriösen Geschichte. Einige Spuren scheinen in Ihre Gegend zu führen, nach Frankfurt Ost und in ein Nest namens Stiegliz ... Das ist doch bei Ihnen in der Nähe, oder?“
„Beides“, sagte Zirfas. „In der Nähe und an der Oder.“
Siegrist kicherte – recht geflissentlich, wie Zirfas fand. Ihm wurde behaglich zumute wie schon lange nicht mehr. Während er Siegrists gewundener Rede lauschte, schnipste er mit dem Fingernagel gegen den eingerammten Zirkel, dessen Dorn sich in ein verschnörkeltes V gebohrt hatte.
„Der Mann hat eine Kugel abbekommen, Schulterstreifschuß, eine Bagatelle. Aber er steht unter Schock, wir bringen kein vernünftiges Wort aus ihm heraus. Er muß in diesem Haus irgend etwas erlebt haben, das ihn mehr oder weniger um den Verstand gebracht hat. Was im übrigen kein Wunder wäre, Zirfas, denn wenn ich Ihnen jetzt sage, was wir in diesem schnuckeligen Häuschen in Hanau-Wilhelmsbad außerdem gefunden haben ...“
Unablässig säuselte Siegrist weiter, doch Zirfas hatte Mühe, sich auf seinen Redefluß zu konzentrieren. Ohne seinen Stuhl zum Schreibtisch zurückzuschwenken, beugte er sich, den Hörer am Ohr, seitlich über den Schloßplan von Stiegliz. Das durchbohrte V war das Schmuckinitial eines Wortes, das an dieser Stelle des Plans scheinbar nicht das geringste zu suchen hatte.
Verlies.
Das war höchstwahrscheinlich ein Irrtum. Dem Kopisten, der diesen Plan, wie am Rand säuberlich vermerkt war, Ende des 17. Jahrhunderts von Hand abgezeichnet hatte, mußte ein Fehler unterlaufen sein. Denn das Wort Verlies war mitten in die weite Fläche des Schloßparks eingetragen worden, an einer Stelle, wo sich nach Zirfas’ präziser Erinnerung nicht einmal Nebengebäude befanden – geschweige denn das Herrenhaus selbst, das oben auf dem Hügel stand, fünfzig Meter von diesem Punkt entfernt.
Oder bedeutete das etwa, daß sie endlich doch noch ...?
Zirfas vergegenwärtigte sich die Landschaftsarchitektur des Schloßparks zwischen den Hauptgebäuden und der tiefer gelegenen Orangerie. Kein Zweifel, das Wort Verlies stand auf dem Plan just dort, wo in Wirklichkeit eine uralte fünfstämmige Rotbuche aus der verwilderten Wiese wuchs. Er beschloß, noch heute zu überprüfen, was es mit diesem Verlies auf sich hatte, auch wenn sein Auftrag solche Untersuchungen keineswegs vorsah.
Vorläufig aber konnte er diese Spur nicht weiterverfolgen, denn nun endlich gelang es dem Kollegen Siegrist, durch ein einziges Wort seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein Wort, mit dem Zirfas in diesem Zusammenhang so wenig gerechnet hätte, daß er sich einen Augenblick lang fragte, ob er die verhaßte Stimme ganz einfach mißverstanden hatte.
„Ich bitte Sie“, säuselte es aus dem Hörer, „die Sache vollkommen vertraulich zu behandeln. Im Keller des Hauses von Frau Wegener haben wir einen ganzen Haufen davon gefunden. Und das ist noch lange nicht alles – –“
„Nun mal hübsch der Reihe nach“, unterbrach Zirfas in seinem nettesten Tonfall. „Und nur die Ruhe, Kollege, wir werden das Kind schon schaukeln.“
„Das Kind? Na, Sie haben vielleicht einen Humor!“
Sonderbar, dachte Alex, laut Cramsen hatte sich Timos Vater diesen Schacht mauern lassen, damit er jederzeit unbemerkt von der Bibliothek zu dem ominösen Loch dort unten gelangen konnte. Weshalb gab es dann aber keine Treppe darin? Statt dessen hatte der Graf nur diese Winde unter der Decke anbringen lassen, mit altertümlicher Kurbel und einer Strickleiter, die sich umständlich in die Tiefe leiern ließ.
Alex hatte sein Jackett abgestreift und über die offene Tür des Stahlspinds geworfen. Probleme, die sich durch körperlichen Einsatz lösen ließen, munternten ihn seit jeher auf, daher war er für die widerstrebende Kurbel und die kreischende Winde fast dankbar. Dennoch irritierte ihn immer stärker, daß der noble Herr Graf anscheinend auf eine Treppe verzichtet hatte und statt dessen auf dieser Strickleiter durch den Schacht geturnt war.
Weshalb hatte er eine solche Unbequemlichkeit auf sich genommen? Man mußte nur einen Blick in Timos Gesicht werfen, um sich zu vergewissern, daß es praktisch für jedermann – ausgenommen trainierte Sportler – eine haarsträubende Zumutung war, auf einer Strickleiter zehn, fünfzehn Meter in die Tiefe zu balancieren. Oder warum sonst war Timo derart bleich geworden, aus welchem anderen Grund sollte er das vor seinen Augen herabschaukelnde Seil anstarren, als ob er ein Gespenst vor sich sähe?
Die Winde über seinem Kopf kreischte zum Erbarmen, und Alex, der immer noch angestrengt kurbelte, brach allmählich der Schweiß aus. Auch die Falltür, überlegte er weiter, ließ sich natürlich nur dann verschließen, wenn man die Strickleiter vorher wieder aus dem Schacht gezogen hatte. Und er war ziemlich sicher, daß Timos Vater es vorgezogen hatte, sich bei geschlossener Falltür in dieser Studierkammer aufzuhalten. Das war weitaus mehr als eine irrationale Gewißheit: Wer sich eine derart stabile Bodentür – mit massiven Eichenbrettern, fingerdicken Scharnieren und Riegeln – anfertigen ließ, war zweifellos der Ansicht, daß dieses Loch im Boden normalerweise verschlossen gehörte.
Das aber bedeutete, so absurd es klingen mochte: Der Graf mußte jedesmal, wenn er in den Abgrund hinuntersteigen wollte, die Strickleiter mühselig in die Tiefe leiern, und sie jedesmal, wenn er in das Gelaß zurückgeklettert war, aus dem Schacht wieder in die Höhe kurbeln. Selbst wenn man berücksichtigte, daß die Winde vor fünfzig Jahren leichtgängiger gewesen sein mochte, blieb es doch eine beschwerliche Methode, zu der man sich wohl nur aus zwingenden Gründen entschloß.
Schnaufend arretierte Alex die Winde, dann rüttelte er am Seilwerk, um sicherzustellen, daß der Mechanismus sie nicht mitsamt der Leiter in die Tiefe speien würde. Timo sah immer noch aus, als ob abscheuliche Geister vor ihm durch die Lüfte wehten. Er litt seit langem unter Höhenangst, wie Alex sich erinnerte, der nun auch noch seine Krawatte abstreifte und über die Kurbel der Seilwinde warf. Er selbst hatte sich (wenn auch vor etlichen Jahren) mit Begeisterung in Disziplinen wie Bergsteigen und Drachenfliegen versucht. Schon als Kind war er auf die höchsten Bäume geklettert, und daß Timo in regelmäßig wiederkehrenden Träumen von Turmzinnen oder sogar von einem sternenhohen Gerüst im Weltraum zu stürzen pflegte, fand Alex zwar faszinierend, aber im Grunde schwer nachzuvollziehen. Was ihn betraf, er war noch nie von irgend etwas abgestürzt, weder im Traum noch im wirklichen Leben.
„Also“, sagte er, „ich gehe als erster runter.“
Timo nickte nur matt, und Alex fragte sich, ob er ihn überhaupt hier oben allein lassen konnte. Vorsichtshalber nahm er ihn bei der Schulter und führte ihn zwei Schritte vom Schachtrand weg.
„Du schaffst das schon“, sagte er. „Warte hier, bis ich dir von unten ein Zeichen gebe – dann steigst du einfach auf die Leiter und kletterst los.“
Nach einem letzten besorgten Blick in Timos mehlfarbenes Gesicht wandte sich Alex um, zog eine der Öllampen aus ihrer Wandhalterung und kehrte zur Falltür zurück. Behutsam schwang er sich auf die Strickleiter und kletterte abwärts. Über ihm ächzte die Winde, und das Seilwerk knarrte und schwankte unter seinen Tritten, als befände er sich im Segelbaum eines Schoners auf hoher See. Immer wieder versuchte er mit seiner Ölfunzel in die Tiefe zu leuchten, aber das Licht reichte kaum zwei Stufen weit. Wie angestrengt er auch spähte, vom Boden des Schachtes war nichts zu sehen. Das Gemäuer ringsum war so eng, daß er mit Schultern und Armen gegen rauhe Steine streifte, einmal auch gegen einen Stab, der sich ihm schmerzhaft in den Rücken bohrte. Alex wandte sich um und stellte fest, daß es eine Pechfackel war; er zog sie aus ihrer Halterung, klemmte sie unter seinen Arm und kletterte weiter abwärts, während sich der Schacht mit leisen Echos anzufüllen schien: dem Knarren der Seile, seinem keuchenden Atem, dem Fauchen der Lampe in seiner linken Hand.
Während seines Abstiegs blieb er immer wieder kurz stehen, um zu lauschen – in die Höhe, doch von Timo war kein Laut zu hören; dann wieder nach unten, aber jenes „Sirren und Stöhnen“, das Timos Vater in seinem Wachsheft vermerkt hatte, ließ sich glücklicherweise nicht vernehmen. Alex war keineswegs bereit, sich von irgendwelchen Schloßgespenstern oder gar von flöten- oder wolfsförmigen Bernsteinobjekten das Gruseln lehren zu lassen. Was immer sie bisher an scheinbar Unerklärlichem erlebt hatten, würde über kurz oder lang seine natürliche Erklärung finden. Aber er war auch nicht unbedingt versessen darauf, weitere mysteriöse Vorkommnisse wie vorhin den Zwischenfall mit dem wild gewordenen Findling zu erleben. An den natürlichen Erklärungen konnte sich ja nur der erfreuen, dem ein solcher Rätselstein nicht vorher den Kopf einschlug. Und den tunlichst auch jenes Etwas verschonte, das dort unten im „Höllensaal“ angeblich ein „Sirren und Stöhnen“ oder ein „Winseln und Heulen“ hören ließ.
Aus unsichtbaren Quellen erneuert, wurde die Luft im Schacht, je tiefer er stieg, desto frischer, allerdings auch immer kühler. Bald schon umgab ihn Grabeskälte, und Alex begann sich zu ärgern, weil er ohne Jacke, im bloßen Hemd, abgestiegen war. Einer alten Bergsteigerregel folgend, zählte er die Stufen, die er hinter sich ließ. Bei Stufe 17 veränderten sich Farbe und Beschaffenheit des Mauerwerks: Anstelle der hellen, sorgsam gemauerten Quadersteine umgab ihn nun schwarzes Gestein, durchsetzt mit gelblichem Geäder. Erst als nach der zweiundzwanzigsten Stufe das helle Mauerwerk wieder einsetzte, wurde ihm klar, daß er soeben die Decke zwischen dem ersten und dem zweiten Kellergeschoß passiert hatte. Cramsen mußte die massive Steinschicht damals durchstoßen haben, um den Schacht bis hinauf in die Bibliothek verlängern zu können. Mit einem leichten Schauder wurde Alex sich bewußt, daß er Schloß Stiegliz sozusagen verlassen hatte: Nun war er im unteren, noch aus Burgzeiten stammenden Kellergewölbe, viele Meter unter der Erde – und noch weitaus mehr Jahrhunderte von der Gegenwart entfernt.
In Höhe der dreiunddreißigsten Stufe begann sich der Schacht zu verbreitern. Fünf Stufen darauf waren die Mauern ringsum soweit zurückgewichen, daß er sie mit ausgestreckter Hand nicht mehr erreichte. Nach vier weiteren Schritten spürte er festen Boden unter sich; er schwenkte seine Lampe im Kreis, doch der Raum war so groß, daß er in keiner Richtung eine Wand erkennen konnte. Behutsam ließ er die Leiter los, trat mit beiden Füßen auf den Boden und zündete die Fackel an.
Nach den langen Minuten im Halbdunkel brauchten seine Augen einige Momente, bis sie sich an den flackernden Schein gewöhnt hatten. Er fand sich in einem großen Raum, dessen rußschwarze Wände zur Decke hin zeltförmig angeschrägt waren. Hoch oben, im Qualm der Fackel nur unsicher zu erkennen, öffnete sich die Decke zu dem engen Schacht, aus dem die Strickleiter herabhing.
Förmlich niedergedrückt von der Größe des Raums, von seiner düsteren Aura, die an eine fremdartige Kultstätte denken ließ, senkte Alex den Kopf. Erst in diesem Moment fiel sein Blick auf die runde Metallplatte, die vor seinen Füßen in den Boden eingelassen war.
Er ging in die Knie, und sein Herzschlag beschleunigte sich, obwohl er entschlossen war, sich durch keinerlei Wolfsmummenschanz beeindrucken zu lassen. Die Metallplatte war schwarz und wirkte äußerst massiv. Ihr Durchmesser betrug gut einen Meter, plan wie ein Brunnendeckel ruhte sie auf einem fausthohen Steinsims. Während Alex die gewaltigen Stahlscharniere betrachtete, die den Deckel auf dem Sims fixierten, wurde ihm zweierlei klar:
Dies mußte die Stelle sein – „genau über der Hölle“ –, wo Alfons Sorno vor vierundfünfzig Jahren von der Erde verschlungen worden war. Und die Strickleiter ergab auf einmal einen Sinn, wenn auch einen gleichsam spiegelverkehrten: Allem Anschein nach hatten Cramsen und der Graf die Winde mit der einziehbaren Leiter und die Platte mit den stählernen Riegeln angebracht, um Schloß Stiegliz vor einem Angriff aus seiner eigenen Unterwelt zu bewahren.
Als Zirfas gegen halb acht den Hörer auflegte, hatte sich seine Stimmung dramatisch aufgehellt. Er schob Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und stieß einen Pfiff aus, der Worzak aus dem Schlaf und übergangslos in Habachtstellung riß.
„Stillgestanden!“ schnarrte Zirfas und verschärfte den Ernst dieses Befehls durch sein Grinsen, das laut Worzak gleichfalls in die Rubrik „ohne Worte“ gehörte.
Nachdem er dem Zirkel einen letzten Stüber versetzt hatte, schnellte er aus seinem Schreibtischsessel und baute sich vor seinem Gehilfen auf. Sein Anzug, dachte Worzak ergeben, sieht immer noch wie frisch gebügelt aus, dabei sind wir seit gestern früh ununterbrochen im Dienst. Dafür glich Zirfas’ Gesicht mehr denn je einer Kraterlandschaft, zerfurcht von Ingrimm und Hohn.
„Was hältst du davon, Worzak?“ fragte er. „Drüben im Westen scheint eine dreckige Geschichte passiert zu sein. Ist das gut oder schlecht für uns, Genosse?“
Worzak zermarterte sich den Schädel, ohne irgend etwas zu finden, das einer Antwort auch nur ähnlich sah. Doch zu seiner Erleichterung sprach sein Chef bereits weiter:
„... gestern mittag eine Schießerei in einer Villa in Hanau. In dem Haus, das einer Margot Wegener gehört, bleibt ein unbekannter Mann zurück: nur leicht verwundet, aber mit einem schweren Schock. Zeugen aus der Nachbarschaft geben an, daß vor dem Haus ein Kleinbus mit FF-Kennzeichen stand: Farbe dunkelgrau, weitere Einzelheiten unbekannt. Fährt nach der Schießerei fluchtartig davon – aber erst, nachdem der Fahrer den Wagen zweimal abgewürgt hat.“
Verzweifelt versuchte Worzak das Schwindelgefühl zu unterdrücken, das sich seiner zu bemächtigen drohte. Trotz Habachtstellung hatte er den Eindruck, vom Hals abwärts weiterhin im Tiefschlaf zu stecken, während sein Kopf sich abmühte, die Flut unverständlicher Informationen zu verarbeiten. Doch am schlimmsten von allem war, daß Zirfas mit zackigen Schritten auf dem Linoleumboden enge Kreise um ihn beschrieb.
„Die gleichen Zeugen“, fuhr er fort, „haben zwei Männer beobachtet, die direkt nach der Schießerei aus dem Haus stürmten und davonrannten. Von dem einen Mann weiß man nur, daß er groß gewachsen, blond und wie zu einem Bootsausflug gekleidet war. Den zweiten Mann aber hatte ein Nachbar wenige Tage vorher beobachtet, wie er durch ein Kellerfenster in das Haus einstieg. Der Nachbar hat sich die Wagenmarke und sogar das Kennzeichen gemerkt, und nun rate mal, Worzak, wem dieser Lada Niva mit Kennzeichen Frankfurt (Oder) gehört.“
„Prohn!“ stieß Worzak hervor, mit einer Miene, in der sich Ungläubigkeit und Erleichterung, ja Triumphgefühl mischten.
„Aber das“, sagte Zirfas, das westliche Säuseln nachäffend. „ist noch lange nicht alles. Als Kommissar Siegrist unserem Timotheus einen Besuch abstatten will, stellt sich heraus, daß das Haus der Prohns in Frankfurt West von oben bis unten durchwühlt ist. Dort scheint jemand sehr gründlich nach etwas gesucht zu haben – aber welcher Jemand und nach was? Von dem Ehepaar Prohn keine Spur, allerdings gab es auch dort auskunftsfreudige Nachbarn, die übereinstimmend eine seltsame Geschichte erzählten.“
Längst waren Triumph und Erleichterung wieder von Worzak gewichen. Mit zurückkehrendem Schwindelgefühl vernahm er, daß sowohl der dunkelgraue Kleinbus als auch eine rothaarige Frau, höchstwahrscheinlich Margot Wegener, vor dem Haus der Prohns gesehen worden seien, zwei Tage vor der Schießerei.
„Seit gestern mittag sind sie alle von der Bildfläche verschwunden“, fügte Zirfas hinzu, wobei er endlich vor Worzak stehenblieb. „Abgesehen von dem Verletzten aus Wilhelmsbad, der zumindest derzeit kein klares Wort rausbringt.“ Seine weiteren Ausführungen untermalte er, indem er dem Wachtmeister rhythmisch seinen Zeigefinger gegen die Gürtelschnalle stieß. „Erstens Margot Wegener ...“
Vergeblich zog Worzak den Bauch ein.
„... zweitens Timotheus Prohn, drittens dessen Frau, viertens der unbekannte Mann, der mit Prohn aus dem Haus der Wegener geflohen ist. Fünftens der unbekannte Fahrer des Kleinbusses. Wo sind die alle hin?“
„Nach Stiegliz“, ächzte Worzak, „ins Schloß?“
„Dummkopf!“
Worzak zog sich schmollend hinter seinen Fuchsbart zurück. Doch gleich darauf wurde er durch ein einziges Wort aus Schläfrigkeit und Selbstmitleid gerissen – durch dieselben unerwarteten Silben, die vorhin auch Zirfas bewogen hatten, dem Kollegen Siegrist seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.
„Kinderknochen“, sagte Zirfas, der unbemerkt hinter seinen Schreibtisch zurückgekehrt war. „Kannst du mir mal erklären, Worzak, warum Frau Wegener im Keller ihrer noblen Villa einen Haufen alter Kinderknochen gebunkert hat?“
Mit Entschiedenheit schüttelte Worzak den Kopf.
„Abgesehen von einer regelrechten Hexenküche“, fuhr sein Vorgesetzter fort, „die sich gleichfalls im Keller der Wegener fand. Eine Feuerstelle mit einem ganzen Arsenal an Töpfen und Tiegeln, die – wie Siegrist es ausdrückte – ‚benutzt wirkten‘.“
Erschrocken musterte Worzak den bleichen Stab, den Zirfas zwischen seinen Fingern wirbeln ließ. Doch es war nur der Zirkel, den er aus der Tischplatte gezogen hatte und dessen ausgeleierte Schenkel er nun auf- und zuschnellen ließ.
„Kinderknochen“, murmelte Zirfas, „was hältst du davon?“
Noch während sich Worzak eine Antwort zurechtlegte, rammte Zirfas die Zirkelspitze abermals in den Schloßplan, wiederum in das Schmuckinitial des möglicherweise verrutschten Wortes Verlies.
„Scheußlich!“ sagte Worzak aus tiefster Seele.
Auch ihm selbst war keineswegs klar, ob sich sein Kommentar auf die „Kinderknochen“ oder auf den eingerammten Zirkel bezog, dessen Dorn in diesem Moment mit einem trockenen Knackgeräusch zerbrach.
„Ich weiß, das klingt verrückt“, sagte Timo, „aber ich glaube immer mehr, daß ich schon mal hier unten war ... Wann? Keine Ahnung – vielleicht vor fünfzig, vielleicht vor fünfundvierzig Jahren. Aber es ist hier drin“ – er tippte sich gegen die Stirn –, „und ich weiß nur noch nicht, wie ich’s da rauskriegen kann.“
In Wandnischen hatten sie weitere Fackeln entdeckt, die nun das ganze Gewölbe mit tanzendem Licht erfüllten. Der Raum war in der Tat kreisrund, seine Ausdehnung erschreckend: wohl sieben Meter im Durchmesser und vom Boden bis zur Kuppel wenigstens ebenso hoch. Außer den Fackeln hatten sie keinerlei Gegenstände gefunden. Um so riesiger wirkte der schwarze Saal, um so wuchtiger die Metallplatte, die sich in seiner Mitte aus dem Boden erhob. Wie eine Gebetsstätte, dachte Timo, der sich immer noch benommen fühlte, allerdings auch erleichtert, seit er die Kletterpartie hinter sich und wieder festen Boden unter den Füßen hatte – oder was man so festen Boden nannte.
„Auch damals bin ich durch den Schacht dort oben gekommen, und gleichfalls mit einem Seil“, fuhr er fort, mehr zu sich selbst als zu Alex. „In meiner Erinnerung höre ich noch die Winde, die schon damals so abscheulich quietschte, aber irgend etwas war anders.“ Er lauschte in sich hinein und hörte, lauter noch als das Kreischen der Winde, seine eigenen Schreie, heiser vor Tränen. „Ich war noch ein Kind, und ich hatte grauenhafte Angst – aber wovor? Was ist damals passiert? Dieses Loch hier“ – er deutete mit der Schuhspitze auf die Metallplatte zu ihren Füßen – „war offen. In meiner Erinnerung sehe ich von hoch oben, von der Kuppel oder noch vom Schacht aus, direkt in das Loch hinein.“ Wieder überlegte er, dann schüttelte er den Kopf. „Aber was ich dort unten gesehen habe – ich weiß es nicht.“
Und die Frage war nun, ergänzte Alex in Gedanken, ob sie diesen Metalldeckel öffnen sollten – oder ob es nicht doch ratsam war, zunächst auf anderen Wegen nachzuforschen, was sie dort unten erwarten mochte. „Weißt du, wie das alles hier auf mich wirkt?“ Sehr zu seinem Ärger klang seine Stimme belegt. Auch ihn hatte ein leises Grauen befallen. Dabei schärfte er sich andauernd ein, daß dort unten ganz gewiß kein Drache oder Geisterwolf lauern konnte.
„Es ist ungeheuer viel größer“, sagte Timo, „als ich nach Cramsens Worten angenommen hatte. Wenn er und mein Vater dieses Loch einfach nur einmauern wollten, damit niemand mehr in seine Nähe kam – warum dann dieser riesige und mit seiner Kuppel geradezu pathetische Saal? Als ob sie hier unten geheime Rituale zelebriert hätten, mit dieser schwarzen Platte als Altar.“
Zögernd beugte er sich vor und strich mit der Hand über das Metall, das sich kühl und rauh anfühlte. Mit einem Mal erinnerte ihn die wuchtige schwarze Scheibe auf ihrem niederen Sims an eine auf den Boden geduckte Kröte. Die gewaltigen, gleichfalls schwarzen Verschlußbügel an den Seiten wie sprungbereit angewinkelte Beine, dachte Timo, der im selben Moment ein zweites, scheinbar ganz anderes Krötenbild vor seinem geistigen Auge sah: jene Kohlezeichnung von Lisa, auf der das gesamte Schloß Stiegliz einer monströsen, zum Sprung hingeduckten Kröte glich.
„Ein archaischer Tempel, das war auch mein erster Eindruck.“ Fröstelnd verschränkte Alex die Arme vor der Brust. „Aber da gibt es einige Details, die nicht ganz ins Bild passen. Angenommen, hier wären wirklich irgendwelche Götter oder Geister verehrt worden – weshalb erinnert dieser Saal dann auf der anderen Seite sehr viel weniger an eine Kirche als an einen Kerker?“
„Einen Kerker?“
Alex nickte. „Der Schacht mit der einziehbaren Leiter und vor allem diese Metallplatte mit den enormen Stahlverschlüssen – wer so etwas anbringen läßt, muß der nicht eine Höllenangst haben vor dem, was nach seiner Ansicht dort unten lauert?“
Gedankenverloren sah Timo auf die schwarze Platte zu ihren Füßen, dann hob er den Kopf und blickte zu dem Loch in der Kuppel empor: wenigstens sieben senkrechte Meter, die kein Mensch ohne Strickleiter oder ähnliche Hilfsmittel überwinden könnte. „Mein Vater“, sagte er, „war alles andere als ein Phantast, und er litt auch nicht unter Wahnvorstellungen, soweit ich weiß. Wenn er also diese Vorkehrungen getroffen hat, dann sicher nicht aus abergläubischer Angst vor irgendwelchen Dämonen, die nur in seiner Einbildung existierten. Schon die Vorstellung, daß er an unterirdische Geister geglaubt haben könnte, kommt mir absurd vor. Aber selbst wenn, hätte er ganz bestimmt nicht gedacht, daß sich Dämonen durch Metallplatten aufhalten lassen oder auf Strickleitern angewiesen sind.“
Timo versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht war wie erstarrt. „Ich meine also“, setzte er von neuem an, „wir müssen hier zwei Dinge auseinanderhalten. Vielleicht hat dieser Ort irgendwann einmal als Kultstätte gedient, und vielleicht haben Cramsen und mein Vater auf irgendeine Weise die einstige Bedeutung dieses Ortes wiederentdeckt. Wenn mein Vater aber wirklich versucht hat, hier unten jemanden ein- oder auszusperren, Alex, dann ganz bestimmt keine Dämonen, sondern Wesen aus Fleisch und Blut.“
„Wesen?“ erkundigte sich Alex mit flacher Stimme. „Du meinst, daß dort unten ...“ Wieder deutete er mit der Schuhspitze dorthin. „... also, daß lebendige – –“
„Wie gesagt, ich weiß es nicht!“ unterbrach ihn Timo, der wieder jenes Grauen in sich aufsteigen fühlte. „Du hast doch auch gelesen, was mein Vater notiert hat: daß er dort unten ein gelbes Glimmen sah und aus dem Abgrund leises Heulen oder Stöhnen hörte. Und auch ich erinnere mich – wenn auch sonst an fast gar nichts – an dieses gelbe Funkeln und Leuchten, wie von riesigen Wolfsaugen ... Ach, verdammt noch mal, Alex – was machen wir jetzt?“
Für einen langen Moment herrschte Schweigen, eine unterirdische Stille, in der nur das leise Fauchen der Fackeln zu hören war. Sie beide blickten auf die schwarze Metallplatte hinab, und mit einem Mal empfand er – als hätte Lisa selbst ihm dieses Zeichen gegeben – eine unbegründbare Gewißheit: Unter dieser Platte waren die tiefsten und finstersten Geheimnisse von Schloß Stiegliz verborgen. Um Lisa zu befreien, blieb ihnen keine Wahl.
„Wir öffnen den Deckel“, entschied Timo und ging vor der schwarzen Platte in die Knie.
Wie der Deckel eines gigantischen Einweckglases wurde die Metallplatte von den beiden Bügelverschlüssen auf den Mauersims gepreßt. Seltsam, dachte Alex, daß Cramsen gerade solche Riegel gewählt hat, als er auf Befehl des Grafen den Abgrund verschloß. Doch zum Nachdenken blieb keine Zeit mehr; jeder auf seiner Seite den Bügel des Scharniers umfassend, kauerten sie einander gegenüber wie Sprinter vor dem Start.
„Jetzt“, sagte Timo.
Gleichzeitig rissen sie jeder seinen Bügel hoch, und noch während die Scharniere in die Höhe schnellten, hob sich der Deckel aus seiner steinernen Fassung, wie von Riesenfäusten emporgestemmt. Wir müssen wieder zumachen, sofort! dachte Alex, doch es war zu spät: Schon erbebte unter ihnen der Boden, fauchend und zischend schien sich etwas unvorstellbar Kraftvolles von innen gegen das Verliestor zu werfen – eine monströse Kreatur, dachte er, die dort unten jahrzehntelang gefangen war. Die Platte wurde ihnen regelrecht entrissen und meterhoch emporgeschleudert. Wie ein riesiger Diskus rotierte sie durch den Saal und schlug unter furchtbarem Dröhnen auf dem Boden auf. Und während sich Timo und Alex zu Boden warfen, ihre Körper zusammenkrümmten, die Köpfe unter Händen und Armen vergruben, fuhr etwas unsagbar Grauenvolles aus dem Abgrund, alles verfinsternd und doch aus tausend Augen leuchtend, und wirbelte mit vernichtender Gewalt durch den Saal. Die Fackeln in den Wandnischen erloschen bis auf ein kümmerliches Lichtlein. Zugleich erhob sich ein helles Sirren und Schwirren, wie wenn über ihren Köpfen Myriaden von Nadeln durch die Lüfte jagten.
Dann endlich wieder Stille. Vorsichtig hob Alex den Kopf. Der Anblick war so unwirklich, so vollkommen unerwartet, daß er nur stumm, mit weit aufgerissenen Augen, um sich sah.
„Timo“, gelang es ihm zu fragen, „bist du okay?“
Zwei Schritte neben ihm kauerte Timo, die Haare zerzaust und sein Gesichtsausdruck so entgeistert, wie Alex selbst sich fühlte. Im dürftigen Licht der einzigen noch brennenden Fackel irisierte und funkelte der gesamte kreisrunde Saalboden. Wohin man auch blickte, alles war ein gelbes Glimmern und Schimmern, als befänden sie sich im Auge eines monströsen Wolfes, als säßen sie auf seiner riesenhaften Iris, direkt neben der schwarzen Wolfspupille, dem aufgerissenen Abgrund, der die funkelnde Fontäne ausgespien hatte.
„Theaterdonner, oder?“ Gegen seinen Willen war Alex beeindruckt. „Einen Moment lang hab’ ich tatsächlich geglaubt, daß da ein Monster aus dem Loch käme.“
„Und ich glaub’s beinahe jetzt noch“, sagte Timo und atmete vorsichtig aus. Mehrfach sah er sich um, als fürchte er allen Ernstes, daß eine wilde Kreatur aus dem Abgrund geschlüpft sein könnte und sich irgendwo hier im Saal verbarg. „Du meinst, das ist eine Art Sicherungsanlage, um Eindringlinge in die Flucht zu jagen?“ Er nahm eine Handvoll leuchtender Splitter vom Boden und ließ sie durch seine Finger rieseln: Bernsteinsplitter, teilweise so dünn gemahlen, daß es fast nur noch funkelnder Staub war.
„Nein, das meine ich nicht.“ Alex ging in die Knie und beugte sich vorsichtig über den Mauersims. Er spürte einen Luftzug und glaubte fernes Heulen zu hören, wie von Wind, der durch Gemäuer streicht, aber zu sehen war dort unten nichts. „Ich dachte eher an religiöse Theatralik“, sagte er. „Überleg doch mal: Die Kultgemeinde versammelt sich in diesem Raum, der Priester zelebriert die Beschwörung – und dann offenbart sich der angerufene Gott oder Dämon mit einem solchen Knalleffekt! Schon in der alten Zeit, hab’ ich mal gelesen, waren göttliche Wunder ein rares Gut; ergo durfte ein Gott, der mit solchen Mirakeln aufwarten konnte, massenhafter Verehrung sicher sein.“
„Wo hast du das denn her?“ fragte Timo erstaunt.
„Von Pietro Bandini, das ist ein Mythenforscher“, gab Alex mit sichtlichem Stolz zurück. „Wenn ich mich richtig erinnere, war es sogar Lisa, die mir vor Jahren mal ein Buch von ihm geschenkt hat. Aber egal, ob das Spektakel nun religiösen Zwecken oder als profane Sicherungsanlage dient – so oder so beruht es auf simpler Physik. Da unten in der Grube muß sich ein Überdruck aufgebaut haben, und deshalb ist der Deckel, als wir die Bügel geöffnet haben, wie ein Champagnerkorken in die Luft geknallt.“
„Und wodurch entsteht so ein Überdruck?“ fragte Timo, der physikalische Erklärungen seit jeher schnell verstand und noch rascher wieder vergaß.
Alex war aufgestanden und hatte die brennende Fackel aus ihrer Halterung genommen, um auch die anderen Lichter wieder anzuzünden. Die Leuchte in der Hand, wandte er sich um zu Timo und erklärte: „Hauptsächlich durch Gasbildung; zum Beispiel bei ...“
Sein Blick fiel auf einen weißen, leicht gekrümmten Gegenstand, der nahe der Strickleiter auf dem Boden lag, bedeckt von Bernsteinstaub. Er bückte sich, nahm den bleichen Stengel in die Hand und betrachtete ihn prüfend. „Zum Beispiel bei Verwesung“, vollendete er, dabei hatte er an ein ganz anderes, weniger makabres Beispiel gedacht. Aber der fahle Stab in seiner Hand war ohne Zweifel ein Knochen, so charakteristisch gebogen, daß Alex sofort an eine Rippe dachte, und so zierlich, daß sich ein weiterer Gedanke aufdrängte: „Kinderknochen“, sagte er zu Timo, der gleichfalls aufgestanden war und ihm mit offenkundigem Entsetzen den Stab aus der Hand nahm. „Du erinnerst dich doch, daß die Polizei auch bei Margot eine Menge solcher Knochen gefunden hat?“
Timo nickte geistesabwesend, dabei sah er nicht Alex, sondern den zierlichen Knochen in seiner Hand an. Während Alex mit der Fackel von Nische zu Nische ging, um die Lichter wieder anzuzünden, bückte sich Timo, wühlte in der Schicht der Bernsteinsplitter und förderte weitere kleine Knochen und Knochenstücke zutage.
„Bernstein und Kinderknochen“, sagte Alex, „ist es nicht seltsam, daß uns diese beiden Dinge schon zum zweiten Mal zusammen begegnen? Erst bei Margot, die mit gleichem Eifer Gebeine wie Bernsteinstatuen sammelt, und jetzt speit der Dämon dieses Ortes dieselbe Mischung aus seinem Abgrund herauf. Hast du eine Ahnung, Timo, was diese beiden ...?“
Er sah in Timos Gesicht, das aschgrau geworden war, und verstummte: Timo hielt einen ganzen Strauß dünner Knochen in der Rechten, mit der linken Hand reckte er ihm ein gekrümmtes dünnes Stäbchen entgegen, dessen Ende abgesplittert war.
„Er ist hohl“, sagte Timo in ebenso hohlem Tonfall, schob den Strauß Knochen in seine Jackentasche und zog aus derselben Tasche mit demselben Handgriff die Wolfsrittsfigur. „Hohl wie das hier, Alex, verstehst du nicht?“
„Nicht so ganz“, gab Alex zu. „Oder willst du etwa sagen ...?“
Timo nickte, aber noch ehe er antworten konnte, ertönte hoch über ihren Köpfen eine dünne Greisenstimme:
„Unsinn, Herr Timotheus, diese Knochen wurden viel später in das Loch geschüttet – mit dem Geheimnis haben sie nichts zu tun!“
Überraschend geschmeidig turnte Cramsen auf der Strickleiter zu ihnen herab. „Ich war gerade zurückgekommen, da hörte ich einen Knall.“ Es schien ihn Überwindung zu kosten, mit seinen Soldatenstiefeln in den Bernsteinstaub zu treten. „Was zum Teufel ist hier passiert? Es hörte sich an, als ob Sie das ganze Schloß in die Luft gesprengt hätten!“
„Und wenn schon“, gab Timo zurück, „schließlich ist es mein Schloß.“
Cramsen glotzte ihn an. Als Timo das Entsetzen in seinem Gesicht sah, schob er die Statue zurück in seine Tasche. Doch zu seiner Verwunderung schien die Angst des Alten eher noch zu wachsen.
„Wir haben diesen Deckel geöffnet“, sagte er und wies mit dem zersplitterten Knöchlein über seine Schulter, „Sie selbst haben ihn ja dort angebracht.“
„Aber ich hatte keine Ahnung“, flüsterte Cramsen. „Ihr Herr Vater wies mich an, das Loch auf diese Weise zu verschließen. Die Platte ist niemals bewegt worden, all die Jahrzehnte nicht.“
„Und Sie wußten nicht, daß sie wie ein Korken in die Luft fliegt, wenn man die Riegel löst?“
So heftig schüttelte Cramsen den Kopf, daß ihm die spinnbeindünnen Haare um die Schläfen flogen. Sein Entsetzen schien echt, auch seine Unwissenheit nicht gespielt zu sein. Also hat mein Vater, dachte Timo, in dieser Sache nicht einmal seinem treuesten Gehilfen vertraut? Warum nicht? Sicher nicht aus Zartgefühl, das ihm fremd war. Welche Art von Entdeckungen aber hätte er sogar Cramsen verschwiegen? Fieberhaft dachte Timo nach, ohne eine Antwort zu finden, und sagte endlich:
„Sie sehen, Cramsen, mein Vater hat auch Sie nicht in alles eingeweiht – um so weniger hilft es Ihnen, uns zu verschweigen, was Sie vielleicht wissen oder wenigstens ahnen. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, können Sie womöglich neues Unglück verhindern. Wenn nicht, machen Sie sich mitschuldig, falls noch mehr Menschen zu Schaden oder gar zu Tode kommen. Also entscheiden Sie sich: Wollen Sie jetzt endlich reden?“
Düster sah der Alte Timo an, dann huschte sein Blick zu dem klaffenden Loch hin. „Ich weiß so gut wie nichts.“ Wieder zog er seine Stablampe hervor, trat vor den niederen Steinsims und leuchtete in den Abgrund hinein. „Da, sehen Sie: alles genauso, wie es Ihr Herr Vater in seinem Heft beschrieben hat – das heißt, in den allerersten Eintragungen, denn seine Geheimschrift kann auch ich nicht lesen.“
Timo wollte sich neben ihn stellen, um sich wie Cramsen über das Loch im Boden zu beugen, da fing er einen Blick von Alex auf, der warnend den Kopf schüttelte. Soviel Vorsicht kam ihm übertrieben vor, schließlich konnte ihn der gebrechliche Alte nicht einfach in den Abgrund schubsen. Dennoch sagte er zu Cramsen: „Geben Sie mir die Lampe, und dann halten Sie ein paar Schritte Abstand. Aber kommen Sie nicht auf die Idee, sich wieder davonzuschleichen – was haben Sie sich überhaupt dabei gedacht, uns hier einzusperren?“
„Einsperren?“ wiederholte Cramsen und glotzte wieder so verständnislos, daß Timo nur mit den Schultern zuckte: Auf diesen Punkt würden sie später zurückkommen. Wichtiger als alles andere war jetzt das geheimnisvolle Loch im Boden, die Wolfspupille, wie er es in Gedanken nannte, obwohl bisher nichts eigentlich Wölfisches von dort heraufgedrungen war. Er nahm dem Alten die Lampe aus der Hand und befahl ihm nochmals, Abstand zu halten, dann kniete er sich am Rand des Abgrunds hin und leuchtete hinab.
Was hatte er erwartet? Daß dort unten die riesigen Wolfslichter aus seiner Traumerinnerung lauerten, gierig und mitleidlos? Statt dessen erblickte er – auf den ersten Metern deutlich zu erkennen, nach unten zu in Finsternis verschwimmend – den in rätselhafte Unterwelt führenden Trichter, wie sein Vater ihn beschrieben hatte: Unsagbar alt wirkte das Gemäuer, zugleich wundersam intakt und mit meisterlichem Geschick erbaut. Eine sorgsam gemauerte, nach unten stetig sich verjüngende Röhre, stark angeschrägt, so daß in der Tat der Eindruck einer Rampe oder eines Trichters entstand. Die untere Tunnelmündung, deutlich schmaler als das obere Ende, konnte Timo eben noch in der Tiefe erspähen; doch von dem Raum darunter war nichts zu erkennen, nur Grabesschwärze.
Alex war neben ihn getreten. Im Stehen, ohne den Alten aus dem Blick zu lassen, spähte er in den Abgrund hinab.
„Wie mein Vater schreibt“, sagte Timo, „sah er es dort unten gelblich schimmern und funkeln. Außerdem hörte er jene Töne, die er gegen seinen Willen als teuflische Musik empfand. Auch ich erinnere mich – zwar nicht an Geräusche, aber an ein intensives gelbes Leuchten, das damals aus diesem Loch drang.“
Weder er noch Alex bemerkten, daß Cramsens Gesicht sich bei den Worten ich erinnere mich in hellem Entsetzen verzerrte. Enttäuschung stieg in Timo auf, absurd, dachte er: als sehnte ich mich danach, meine grauenvollsten Alpträume verwirklicht zu sehen. Dennoch klang seine Stimme fast anklagend, als er Alex fragte: „Warum ist heute von alledem nichts mehr zu hören und zu sehen?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt“, sagte Alex, indem er wieder einen Schritt zurücktrat. Durch einen Wink bedeutete er dem Alten, sich auch von der Strickleiter fernzuhalten, was Timo nun wirklich übertrieben schien. „Und die Antwort ist vermutlich die gleiche wie vorhin: Überdruck. Wozu immer diese Röhre und der Raum darunter gut sein mögen, im Prinzip funktioniert das Ganze wie eine Champagnerflasche: Wenn sie nicht fest verschlossen ist, tritt zischend und heulend Gas aus. Wenn du sie schüttelst und dann aufmachst, schießt der ganze Inhalt heraus. Und logischerweise siehst du danach in der Flasche nichts mehr funkeln, denn der Champagner ist ja rausgespritzt, und hörst auch nichts mehr zischen oder winseln, da ja das ganze Gas entwichen ist. Nicht anders dürfte es sich bei dieser unterirdischen Riesenbuddel verhalten. Fragt sich nur, wie sich die Bernsteinmassen da unten überhaupt ansammeln konn– –“
Alex unterbrach sich und lauschte, Verblüffung malte sich in seinem Gesicht. Auch Timo, der noch am Rand des Abgrunds kauerte, horchte in die Tiefe, und sein Magen verkrampfte sich: Dort unten, sehr fern und leise noch, aber stetig anschwellend, erklang ein Heulen und Winseln, ein Stöhnen und Jaulen wie aus Dutzenden von Kehlen. Wolfskehlen, dachte er, denn nicht anders klang es, wenn die Wölfe nachts in den Wäldern ihre Lieder voll gieriger Klage sangen: die Oktaven emporschleifend, dann jäh abbrechend auf dem höchsten Ton.
„Ich fürchte, Alex“, sagte er, „das hier ist doch etwas komplizierter.“
Er hatte versucht, gelassen zu klingen; auch jetzt ermahnte er sich wieder, nicht die Nerven zu verlieren, nur weil das Heulen in der Tiefe immer greulicher anschwoll. Schauer liefen ihm den Rücken hinab, auf seiner Wange begann ein Nerv zu zucken, und seine Hand zitterte mit einem Mal so sehr, daß der Lichtkegel wild durch den Abgrund tanzte. Timo schaltete die Lampe aus und legte sie beiseite, und da traf ihn der Blick aus der Tiefe, die riesigen Wolfslichter, gierig und mitleidlos – –
Mit einem Schrei sprang er auf und wich gegen die Wand zurück. „Alex, mach das zu!“
Die Wölfe in der Tiefe (natürlich wußte er, daß es keine Wölfe sein konnten, aber was sonst?) heulten und sangen immer lauter, immer schauriger. Eine Melodie, die alle Nerven vibrieren, jede einzelne Körperzelle erbeben ließ. Noch immer glaubte Timo die riesigen Wolfsaugen vor sich zu sehen, die ihn anstarrten, glimmend und funkelnd. Dabei drückte er sich mit dem Rücken gegen die Mauer, drei Schritte vom Abgrund entfernt.
„Hätten Sie auf meine Warnung gehört!“ Cramsen sah mit wilden Blicken um sich, dann deutete er in den Hintergrund des Saals, wo die schwarze Metallplatte zu Boden geschleudert worden war. „Na los, verschließen Sie den Abgrund!“
„Und wenn nicht?“ Alex sah den Alten demonstrativ gelassen an. Aber Cramsen starrte nur, schieres Grauen in den Augen, an ihm vorbei. Alex war keineswegs überzeugt, daß dieser Abgrund sie verschlingen oder tausend Teufel aus der Tiefe kriechen würden, wenn sie das Höllentor nicht sofort wieder verrammelten. Was immer dort unten heulen und funkeln mochte, es mußte eine natürliche Erklärung für dieses Phänomen geben – und ein Rudel Wölfe, das in dreißig Meter Tiefe hauste, kam als Erklärung definitiv nicht in Betracht.
Doch bevor er diese Einwände vorbringen konnte, war Timo schon an ihm vorbeigestürzt, hatte die Metallplatte seitlich hochgewuchtet und rollte sie wie ein Rad auf den Abgrund zu. Na, meinetwegen, dachte Alex und half ihm, die Platte wieder auf ihren Sims zu heben und die stählernen Scharniere zu schließen, worauf das Winseln in der Tiefe erstarb.
„So laut war es noch nie gewesen!“ Über die Strickleiter waren sie alle drei in die geheime Studierkammer des Grafen zurückgeklettert, und Cramsen spürte jetzt, stärker noch als Zorn und Entsetzen, die Müdigkeit in seinen Beinen. Er trat hinter das gräfliche Stehpult, stützte sich mit beiden Händen auf und sagte: „Manchmal war tagelang nichts zu hören, dann wieder heulte und winselte es Tag und Nacht. Aber es war immer nur so leise, daß man es gerade so hörte, wenn man nahe beim Loch saß und scharf aufmerkte.“
„Es?“ fragte Timo. „Was glauben Sie denn, Cramsen, wie diese Laute entstehen?“
„Wölfe, was sonst!“ Er winkte zornig ab, sowie Timo den Mund aufmachte. „Wandte auch der Herr Graf immer ein: Wölfe tief unter der Erde, das gibt’s nicht. Aber was anders es sein könnte, hat er, soweit ich weiß, nie herausgebracht.“
Zu Alex’ Verwunderung war die Geheimtür mit dem Marienmechanismus wieder verschlossen. Also gab es noch einen zweiten Zugang oder die Steintür ließ sich, dem Anschein der glatten Mauer zum Trotz, auch von innen öffnen. Er forderte Cramsen auf, den Weg zur Bibliothek freizugeben, und in seiner üblichen Art starrte der Alte ihn lange aus zusammengekniffenen Augen an, ehe er sich murmelnd an der Mauer zu schaffen machte. Was genau er dort anstellte, konnte Alex nicht erkennen, da Cramsen ihm den Rücken zuwandte und so geheimnisvoll wie nur möglich tat. Aber nicht lange, da hörte er, wie sich auf der anderen Mauerseite das Bildnis Mariä wieder sirrend aus dem Ritterschild drehte, und kurz darauf sprang die Mauer auf und gab den Weg zum Büchersaal frei.
Währenddessen hatte Timo mit – wie Alex fand – erheiterndem Eifer die Kurbel an der kreischenden Winde bedient, um die Strickleiter wieder einzuziehen. Was immer dort unten im Abgrund hausen mag, dachte Alex, am Seil klettert es bestimmt nicht hier herauf. Aber er verkniff sich jeden Kommentar, während Timo schwitzend und schnaufend die Seile einholte und schließlich sogar die Falltür verriegelte.
„Also“, sagte Timo zu Cramsen, „jetzt erzählen Sie uns alles, was Sie wissen, und zwar von Anfang an.“
Mit zwei Schritten war der Alte aus der Tür. Alex stürzte hinter ihm her, aber Cramsen machte keine Anstalten, wieder das Weite zu suchen. Auf der anderen Seite der Wand trottete er auf die Fensterfront zu, blinzelnd im hellen Vormittagslicht, das vom Park her in den Büchersaal brach. Timo und Alex folgten ihm. Nach den langen Stunden im Düsteren mußten auch ihre Augen sich an die Sonne erst wieder gewöhnen.
Cramsen führte sie zu einem Regalgang nahe der Flügeltür, durch die sie heute in der Frühe gekommen waren. „Die neunhundert Bände der gräflichen Chronik“, sagte er. „Wenn Sie wirklich alles von Anfang an wissen wollen, Herr Timo, fangen Sie am besten beim ersten Band Ihres ältesten Urahnen an.“
„Sie haben ja Humor!“ lobte Alex und erntete einen weiteren langen Blick. Dann endlich holte der Alte Luft und erstattete, indem er sich ausschließlich an Timo wandte, unter häufigem Ächzen und eingeschaltetem Murmeln folgenden Bericht:
Es war ein Dienstag im März gewesen, das wisse er noch so genau, als liege der Tod des jungen Sorno nicht vierundfünfzig Jahre, sondern erst ein paar Wochen zurück. Wie Herr Timotheus dies im Heft seines Herrn Vater ja bereits lesen konnte, standen Ausbesserungsarbeiten im zweiten Kellergewölbe unter dem Herrenhaus an: Risse im Fundament, die Cramsen so bedenklich schienen, daß er sich zu einer gründlicheren Untersuchung entschloß. Also befahl er dem Alfons Sorno, einem Bürschlein von vierzehn Jahren, die Spitzhacke zu schultern und ihm ins tiefe Gewölbe zu folgen, über das mancherlei Legenden kursierten. Schließlich stammten diese Katakomben noch aus den Zeiten von Burg Stiegliz, als die ritterlichen Ahnen des Grafen durch heilige Schlachtfeste Ruhm und Reichtum erlangten.
Den düsteren Ort, wohin sich der Schloßverwalter an jenem Morgen mit dem Jungen verfügte, hatte Herr Timotheus ja soeben mit eigenen Augen gesehen. Cramsen zeigte Alfons, wo er die Hacke ansetzen sollte, um auf zwei Meter Breite den Erdboden freizuschlagen. Er selbst vertiefte sich derweil in einen mitgebrachten Ordner voll architektonischer Pläne von Schloß Stiegliz, die aber, wie im Heft des Herrn Grafen geschildert, allesamt lückenhaft waren. Eine Erklärung für die Risse im Fundament, gar einen Hinweis auf weitere Tiefgeschosse erbrachte das Studium der Grundrißskizzen nicht, im Gegenteil: Da das Herrenhaus von Schloß Stiegliz auf einem massiven Felsbrocken errichtet war, konnten sie gerade hier mit unterirdischen Überraschungen am wenigsten rechnen.
Plötzlich ein Rumpeln im Grund, ein heller Schrei, und wie Cramsen herumfährt, bricht vor seinen Augen der kleine Sorno ein: die Arme emporgestreckt, mit einer Gebärde insgesamt, als halte etwas ihn an den Füßen gepackt und reiße ihn mit großer Kraft in die Erde hinein. Klirrend fällt die Spitzhacke zu Boden; nackt bis zum Gürtel fährt der Junge in die Tiefe; zurück bleibt nur sein Hemd, das er abgestreift hatte, da ihm beim Hacken heiß geworden war.
Im Fundament, wie ausgestanzt, das kreisrunde Loch. Unter Alfons’ Schlägen war das Gestein dort zu Brocken geborsten, die nun mit ihm in die Tiefe polterten. Bäuchlings hatte sich Cramsen auf den Boden geworfen und spähte, in der Hand eine Petroleumlampe, in das vollkommen unglaubliche Loch hinein. Sornos Schrei, sagte er, höre er noch heute in mancher Nacht, wenn er schlaflos liege: den hallenden Schrei des Jungen, der, während er schrie, immer tiefer in die Erde hineinfiel, dazu das schleifende Geräusch, mit dem er auf der rauhen Rampe in den Abgrund fuhr.
Erst nach grauenvoll sich dehnenden Sekunden vernahm Cramsen den Aufprall des Körpers, gespenstisch leise, wie vom Herrn Grafen zutreffend notiert. Alfons? rief er in den Abgrund. Alfons, hörst du mich? Keine Antwort, wie auch: Nach so einer teuflischen Rutschpartie, dreißig Meter fast lotrecht in die Erde, muß jedem das Hören und Reden vergehen. Und selbst das Schreien; auch der Schrei des Jungen, so lange hallend, immer ferner, immer verwehter, war im Moment des Aufpralls verstummt. Cramsen wurde kalt, wie er so auf dem Kellerboden lag: fünfzehn Meter unter der Erde und trotzdem unter sich dreißig Meter leeren Raum.
Endlich schleppte er sich hinauf zum Grafen, damals noch über die gewöhnlichen Treppen: hinauf ins erste Gewölbe, dann weiter hoch in die Halle und von dort in den Büchersaal. Und würde es nie vergessen, wie der Schloßherr die furchtbare Meldung entgegennahm: förmlich erstarrend hinter seinem Stehpult, leichenfahl von einem Augenblick zum andern, als habe der Graf sofort begriffen, daß dies Unglück weit Schlimmeres nach sich ziehen würde als nur Kummer und Schmerz der Eltern Sorno. So langwierig die auch trauern mochten um ihren Sohn, der von der Erde unter Schloß Stiegliz verschlungen worden war.
Die Bestürzung im gräflichen Gesinde, ja in ganz Stiegliz, fuhr Cramsen fort, sei die allergrößte gewesen, dabei habe man auf Befehl des Herrn Grafen die Wahrheit soweit als möglich geschönt. Ein Brunnenschacht, behauptete der Graf, wie Herr Timotheus ja bereits lesen konnte; ein vergessener Brunnenschacht unter dem Schloßkeller, log er den Eltern Sorno ins Gesicht, und niemand glaubte ihm. Es gab ein tödliches Unglück, aber keinen Toten, eine Leichenfeier, aber keinen Leichnam, eine gräfliche Totenrede über dem leeren Sarg und viel pastorales Geklingel in der Aussegnungskapelle, aber keine wirkliche Erklärung für den Abgrund unter dem Burggestein. Und so wollte das Geflüster in der Dienerschaft, das Rumoren unter den gräflichen Arbeitern einfach nicht aufhören, auch dann nicht, als die ersten Blumen auf Alfons’ leerem Grab schon verwelkt waren.
Ein verschwundenes Kind, das rührte an einen empfindlichen Nerv. Tatsächlich erinnerten sich viele Leute im Schloß und im Dorf auf einmal an alte Mären von Kindern, die urplötzlich verschwunden und nie mehr aufgetaucht waren: hier ein Knäblein, das angeblich der „Oderwolf“ gefressen hatte, dort eine Maid, die sollte zu Palmsonntag, wie sie bloßfüßig auf die alte Lände von Stiegliz zuschritt, mit einem Mal in Flammen aufgegangen sein – übrigens an der gleichen Stelle, wo vor acht Tagen der junge Pole, den Herr Timo ja gekannt hatte, ans Ufer getrieben war.
„Langsam“, sagte Alex, „ich verliere den Faden: Wer ist – –?“
„Karoly“, antwortete Timo, für Momente wieder von Trauer verdüstert, „Lisa hat dir vielleicht von ihm erzählt.“ Er blickte an Alex vorbei, an den endlos aufgereihten Bänden der gräflichen Chronik entlang und sah abermals Karoly vor sich, seine zwei Gesichter, wie sie auf den Fotos des Polizeioffiziers Zirfas abgebildet waren: hier jung, hell, lachend, dort verstümmelt und mit Flußschlamm zum teuflischen Wiedergänger geschminkt. „Aber mit dieser Geschichte hier“, fügte er hinzu, da Alex und der Alte ihn erwartungsvoll ansahen, „hat Karolys Tod nichts zu tun.“
Damals jedoch, fiel Cramsen wie aufs Stichwort wieder ein, brachten die Leute alles mit allem zusammen und rührten, wie Herr Timo bereits hörte, vor allem eine Unzahl älterer Geschichten wieder auf, in denen es auch um verschwundene Kinder, vermißte Halbwüchsige ging. Ammenmärchen, abergläubischer Unsinn, zürnte der Alte und tadelte sich insgeheim, daß er die Mären überhaupt erwähnt hatte, die Herrn Timos Augenmerk doch gewiß nicht verdienten. Der Herr Graf und er selbst also blieben bei ihrer Version des Geschehens: ein Brunnenschacht unter dem Herrenhaus, zu eng und zu tief, als daß man hinabsteigen könne, um den Leichnam zu bergen. Das entsprach im großen und ganzen sogar der Wahrheit, wenn man davon absah, daß jene Rampe über dem Abgrund ganz gewiß kein Brunnenschacht war.
Sondern?
Schweigen, Ratlosigkeit, erklärte Cramsen, der fröstelnd noch tiefer in seinen Wehrmachtsmantel kroch, dabei herrschte in der Bibliothek längst wieder stickige Schwüle. Damit der Abgrund keine weiteren Opfer verschlang, ließ er den Ort auf Befehl des Grafen absperren. Und als einige Burschen aus der Waldarbeiterschaft nächtens ins untere Kellergewölbe einzudringen versuchten, ordnete der Herr Graf an, den Unglücksort eilends einmauern zu lassen, wie Herr Timo bereits vernommen und mit eigenen Augen gesehen hatte.
„Seit er das Winseln in der Tiefe zum ersten Mal gehört, das gelbe Funkeln dort unten gesehen hatte“, sagte Cramsen, „fand Ihr Herr Vater keine Ruhe mehr. Ich begreife einfach nicht, Cramsen, hat er mehr als einmal zu mir gesagt, wieso diese Anlage dort unten nirgendwo in der Chronik erwähnt wird! Das Geheimnis ließ ihn nicht mehr los, so daß er oft ganze Tage unten am Abgrund verbrachte, dann wieder die Nächte hier in der Bibliothek, über dem Studium der Chronik Derer von Prohn.“
„Aber auf irgend etwas“, warf Timo ein, „muß mein Vater doch ziemlich schnell gestoßen sein. Wie sonst hätte er auf die Idee kommen sollen, diesen unterirdischen Kuppelsaal zu errichten?“
So genau wisse er das auch nicht, gab Cramsen zurück, indem er sich über Stirn und Augen fuhr: Auf einmal hatte der Herr Graf Pläne zur Hand, vergilbtes Pergament, zerrissen und zerfetzt, die er höchstpersönlich für Cramsen kopierte. Anhand dieser Pläne legte der Schloßverwalter im untersten wie auch im ersten Kellergewölbe mehrere vermauerte Hohlräume in elender, einsamer Arbeit frei. Letzten Endes, sagte er, bestand seine Aufgabe weniger darin, Mauern zu errichten, als darin, Mauern einzureißen, hinter denen die weitaus älteren Wände des runden Kuppelsaals zum Vorschein kamen. Auf Befehl des Herrn Grafen durchbrach er schließlich auch die Kuppel und mauerte den Verbindungsschacht zur geheimen gräflichen Studierkammer, damit der Schloßherr bei Tag und Nacht unbemerkt in die Tiefe gelangen konnte.
Aber an das eigentliche Geheimnis war der Herr Graf, soweit Cramsen wußte, niemals herangekommen. Natürlich hatten sie damals als erstes und mit allergrößter Vorsicht die Beschaffenheit des Bodens im näheren und ferneren Umkreis des fatalen Lochs untersucht. Jedoch mit negativem Ergebnis: Wo auch immer sich Cramsen vom untersten Kellergewölbe aus in die Tiefe zu bohren, zu hacken oder zu schaufeln versuchte, stieß er sogleich auf massives Felsgestein. Der Trichter bildete die einzige Verbindung zu jener Unterwelt, aus der mißliche Melodien emporwinselten und gelbe Lichter in die Höhe funkelten, als hausten dort drunten tausend Wölfe und sängen bei Tag und Nacht ihr schauriges Lied. Und wie Herr Timo ja mit eigenen Augen gesehen hatte, war die Rampe oder Röhre in der Tat zu eng, als daß ein erwachsener Mann wie er selbst oder gar der stattliche Herr Graf sich dort hätte in die Tiefe abseilen können. Mehrfach hatte der Graf sogar Sprengung erwogen, diese Lösung aber aus Sorge um die Statik von Schloß Stiegliz stets wieder verworfen.
„Und so blieb uns nichts anderes übrig“, sagte der Alte, wobei er sich erschöpft am Bücherregel abstützte, „als uns mit einem blechernen Förderkorb zu behelfen, den wir an einem Seil in die Tiefe ließen. Mit pendelnden Bewegungen ließ der Herr Graf den Korb durch den Abgrund scharren und förderte mit der Zeit große Mengen an Bernsteintrümmern zutage.“
An dieser Stelle ging seine Rede in kraftloses Murmeln über. Gleich darauf verebbte sie gänzlich, und Cramsen sah mit leerem Blick zu Timo auf. „Später will ich Ihnen gern mehr erzählen, aber jetzt muß ich mich erholen.“
„Eine Pause, einverstanden“, stimmte Timo zu, der sich von dem Redeschwall des Alten selbst schon etwas schwindlig fühlte. Bereitwillig führte er den alten Mann zurück zur geheimen Studierkammer, wo Cramsen auf den Schemel sank.
Alex war ihnen schweigend gefolgt. Dem scheinbaren Sinneswandel des auf einmal so redseligen Alten traute er durchaus nicht. Die Frage war eigentlich nur, dachte er, ob Cramsen ihnen offen ins Gesicht log oder durch subtileres Ausklammern und Verdrehen von Fakten eine falsche Fährte zu legen versuchte. „Daß dein Vater dort unten im Keller kein Dynamit einsetzen wollte, leuchtet mir ja ein“, sagte er zu Timo, als er über die Schwelle der Geheimtür trat. „Aber warum hat er nicht versucht, vom Park aus einen Stollen zu dieser Unterwelt zu treiben? Da draußen hätte er nach Herzenslust sprengen, bohren oder graben lassen können und in kürzester Zeit gewußt, was es mit dem Spuk dort unten auf sich hat. Warum hat er das nicht gemacht?“ wiederholte er und sah den Alten an, der nahe der Falltür zusammengesunken auf seinem Schemel saß.
Minutenlang starrte Cramsen nur schweigend an ihm vorbei. Alex glaubte schon nicht mehr, daß sie eine Antwort auf seine Frage bekommen würden, da hörte er den Alten in seinem Winkel wispern:
„Görsmann. Keine zwei Wochen nach Alfons’ Tod nahm er mit seinen Leuten im Schloß Quartier.“
„Lassen Sie uns im Vertrauen sprechen, Doktor. Wir kennen uns aus alten Zeiten, in denen andere Werte galten, zum Beispiel: Ehrlichkeit.“
Dr. Siebold zwinkerte ungläubig. Doch ehe er protestieren konnte, hatte der Bürgermeister von Stiegliz eine Hand gehoben und redete weiter:
„Natürlich gab es auch schwarze Schafe, bedauerliche Fälle von Machtmißbrauch. Gerade darauf will ich hinaus: Ich fürchte, daß gewisse Personen, die unser Land zerstört und ausgeplündert haben, längst wieder die Fäden in der Hand halten und ihre alten Marionettenspiele spielen. Wenn Sie verstehen, was ich meine, Doktor.“
Vergeblich wartete Lauber auf eine Antwort. Der Arzt schnaufte lediglich leise und rupfte mit rhythmischen Bewegungen an seinem Schnauzbart. Es war sieben Uhr früh, für den Chirurgen das Ende einer ruhigen Nachtschicht ohne schwerverletzte Opfer von Prügeleien und Messerstechereien, an die man sich hierzulande fast schon zu gewöhnen begann. Oder waren die Opfer der vergangenen Nacht nur noch nicht aufgefunden worden? Lagen sie blutüberströmt in einem Winkel von Schloss Stiegliz, von dem Lauber ihm soeben einen schier unglaublichen Hexenspuk berichtet hatte?
Arzt und Bürgermeister saßen in Siebolds winzigem Sprechzimmer im Stadtkrankenhaus Frankfurt (Oder). Obwohl Tür und Fenster geschlossen waren, sprach Lauber mit gedämpfter Stimme – aus alter Gewohnheit und weil die Wände trotz neuem Anstrich immer noch hellhörig waren. Traue niemandem, gegen den du nichts in der Hand hast. Und dem Bürgermeister war nur allzu bewußt, daß er so gut wie gar nichts in Händen hielt, abgesehen von einem Fetzen Sackleinen, das mit rotem Pflanzensaft getränkt sein mochte – oder doch mit Menschenblut?
„Ich bin sicher, Doktor, daß Sie erkennen, warum ich diesen ... nun ja, ungewöhnlichen Weg wählen mußte.“
Noch in der Nacht waren Lauber Zweifel gekommen: Was denn, wenn er und Cramsen doch auf die Spuren eines echten Verbrechens gestoßen waren? Wenn „skrupellose Marionettenspieler“ uralten Aberglauben absichtsvoll wiederbelebten, um die ohnehin schon aufgehetzten jungen Horden von beiden Seiten der Oder zu weiteren Bluttaten anzustacheln? Wer sonst sollte ein Interesse daran haben, diesen Hexenspuk in Szene zu setzen? Worauf genau die Greuelmär um die „Hexe Stasy“ hinauslief, hatte sich Lauber trotz Cramsens bruchstückhaften Erläuterungen nicht erschlossen. Doch soviel war ihm klar geworden: Zur rechten Zeit in die rechten Köpfe eingeimpft, war eine Schauergeschichte wie diese – je dunkler und blutrünstiger, desto wirkungsvoller – nur allzu geeignet, den Verstand zu vernebeln. An historischen Beispielen herrschte gerade in dieser Weltgegend beileibe kein Mangel: Willst du die Massen für deine Sache gewinnen, dann appelliere nicht an Geist oder gar an Tugend, sondern kitzle Blutdurst und Verfolgungswahn.
„Wenn ich Sie recht verstehe“, sagte endlich Siebold, „spielen Sie auf die eventuell bestehende Möglichkeit an, daß ... gewisse staatliche Organe ihre Pflichten vernachlässigen könnten.“
Nicht anders als Lauber wählte er seine Worte mit eingefleischter Vorsicht und sprach so gedämpft, daß eventuelle Lauscher hinter den Wänden allenfalls ein Summen vernehmen mochten. Doch der Bürgermeister war erleichtert, daß Siebold überhaupt sein Schweigen gebrochen und nicht zu der altbewährten Ausflucht gegriffen hatte: vorzugeben, daß man die Anspielungen seines Gegenübers nicht verstand.
Lauber nickte und versuchte zugleich ermutigend zu lächeln. Natürlich wußte er so gut wie der Arzt, daß sie beide im Begriff waren, sich strafbar zu machen. Genauer besehen hatte er selbst sich bereits der Unterschlagung eines Beweisstücks schuldig gemacht, wenn auch nicht in der Absicht, ein Verbrechen zu vertuschen, im Gegenteil.
„Glauben Sie mir, Doktor“, sagte er noch leiser, wobei er mit dem Finger auf den rot verfärbten Fetzen deutete, der vor Siebold auf der Schreibtischplatte lag. „Ich habe die halbe Nacht mit mir gerungen. Als ich von ... dort zurückkam, war ich noch entschlossen, mit der betreffenden Stelle über die ganze Sache zu reden. Aber je länger ich darüber nachdachte – –“
Siebold schüttelte den Kopf, eine Gebärde der Empörung, die Lauber zugleich Schweigen gebot. In tannengrüner Chirurgenkluft saß er hinter seinem Schreibtisch, so eng eingepfercht, daß sich sein Bauch gegen die Tischkante drückte, als er sich nun vorbeugte, um den Bürgermeister eindringlich anzusehen. Weder er noch Lauber hatten diesen Punkt berührt, doch ihnen beiden war bewußt, daß sie in diesem Moment an denselben empörenden Vorfall dachten: Durch Siebolds ärztliche Kunst schon gerettet, war der junge Ralf Horn seinen Verletzungen überraschend doch noch erlegen – und zwar nach dem Besuch eines gewissen Polizeioffiziers.
„Ich könnte mir vorstellen, daß er auf Eskalation aus ist“, murmelte Lauber und beugte sich seinerseits so weit über den Schreibtisch, daß ihre Köpfe sich fast berührten. „Die Gründe – –“
Der Arzt hob ruckartig beide Hände und setzte sich wieder aufrecht hin. „Schon gut“, sagte er, „jedes weitere Wort ist überflüssig.“ Einen langen Moment noch blickte er schweigend ins Leere, dann endlich flüsterte er fast unhörbar: „Bringen wir’s hinter uns.“
„Falls sich mein Verdacht bestätigt, müssen wir natürlich ...“ Ein weiterer Satz Laubers, der nicht beendet wurde, doch diesmal verstummte der Bürgermeister aus eigenem Entschluß. An wen sollten, an wen konnten sie sich wenden, falls sich erwies, daß tatsächlich Blut an diesem Lappen klebte? Darüber konnte man sich dann immer noch den Kopf zerbrechen, beschloß er, wohl wissend, daß dies nur eine lahme Ausflucht war. Schon letzte Nacht hatte er sein Gehirn mit dieser Frage gemartert, ergebnislos und mit steigender Nervosität, die ihn lange vor Morgengrauen endgültig aus dem Bett getrieben hatte.
Im Schlafanzug hatte er sich ins „Bürgermeisteramt“ begeben, sein winziges Dienstzimmer, wo er in Erwartung des Morgenlichts auf seinen Schreibtischstuhl gesunken war. Eine Hand schon auf dem Telefonhörer, die geheime dreizehnstellige Nummer repetierend wie eine Zauberformel, die ungewisse Kräfte entfesseln würde, hatte er im allerletzten Moment beschlossen, sich abseits des Dienstwegs auf verschwiegene Pfade zu begeben. Auf den Pfad des Verrats, dachte er jetzt pathetisch, eines Verrats allerdings, zu dem man gezwungen wurde, wenn dieses Land sich seinerseits, ob nun blind oder willig, von Verschwörern und Verrätern nasführen ließ.
Durch diese Gedanken gekräftigt, beobachtete er, wie Dr. Siebold das Fetzlein Sackleinen mit einer Pinzette vom Tisch aufklaubte und in eine sterile Plastiktüte schob.
Als sich der Arzt hinter seinem Schreibtisch erhob, war seine Miene angespannt. „Bitte warten Sie hier“, sagte er. „Oder, noch besser, fahren Sie zurück nach Stiegliz – ich rufe Sie an, sobald ich das Ergebnis habe.“
Zwei Minuten darauf war Lauber draußen auf der Straße, in der schon wieder heißen Morgensonne, die ein neues Graffito auf der Fassade vis à vis beschien: Die Hexe Stasy lebt!
Nichts lag dem Bürgermeister ferner, als die wirkliche Wiederkehr mittelalterlicher Hexen auch nur in Erwägung zu ziehen. Dennoch überlief ihn beim Anblick dieses wüst hingekrakelten Schriftzugs neuerlich ein Schauder, und in seinem Kopf erschallte abermals das keckernde Gelächter der letzten Nacht.
Zirfas hält mich für einen feigen Opportunisten, dachte er, seinen currygelben Wartburg startend, und ich kann nicht leugnen, daß er im Grunde recht hat. Aber was in Stiegliz vorging, überlegte er weiter, sprengte längst jedes erträgliche Maß. Seit Jahren verfolgte er seinen Wunschtraum, dessen Erfüllung ihm in der so abrupt gewendeten Welt zum Lebenssinn geworden war: Hotel Schloß Stiegliz, nach erfolgreichem Umbau eröffnet von Bürgermeister Knut Lauber, der seiner Gemeinde Hoffnung und Wohlstand geschenkt hat ... Er würde nicht dulden, daß die „Marionettenspieler“ seinen Stieglizern länger die Köpfe verdrehten, und noch weniger würde er hinnehmen, daß sie ihm Schloß Stiegliz doch noch entrissen – jetzt, da der Prozeß auf der Kippe stand und nach Ansicht seiner Anwälte der Sieg zum Greifen nahe war.
Mehr und mehr von Ahnungen geplagt, fuhr Lauber längs der Oder nach Stiegliz zurück. In ihrem penibel gepflegten Gärtchen frühstückte er ausgiebig mit seiner Gattin Therese, doch nicht einmal der Räucherschinken aus Sornos eigener Schlachtung vermochte ihn von seinen Sorgen abzulenken.
Endlich erklang drinnen in seinem Dienstzimmer das gleichermaßen ersehnte und gefürchtete Läuten. Lauber wuchtete sich aus dem Gartenstuhl und griff durch das offene Fenster nach dem Telefon.
„Bürgermeisteramt Stiegliz.“
„Sie hatten recht.“
„Also ist es wirklich –?“
„– die vermutete Substanz, ja“, fiel Siebold ihm ins Wort. „Aber eines ist seltsam, Genosse: Das Zeug ist mindestens vierundzwanzig Stunden alt.“
Bei dem Namen Görsmann war Timo zusammengefahren, dabei hätte er nicht einmal sagen können, woran genau ihn dieses Wort erinnerte. Im Moment wollte er es auch gar nicht wissen: Statt weiterer schauriger Enthüllungen wünschte er sich nur etwas frische Luft und einige Augenblicke für sich allein, um seine Gedanken zu ordnen und seine Nerven zu beruhigen. Also hatte er sich rasch mit Alex abgesprochen, der darauf brannte, in den Chronikbänden zu stöbern. Im übrigen würde Alex ein Auge auf den Alten haben, während er selbst auf dem gleichen Weg, auf dem Cramsen sie hereingeführt hatte, in den Park zurückkehrte.
Wo Cramsen vorhin gewesen war, als er sie in der Studierkammer eingesperrt hatte, war ihm nicht zu entlocken gewesen, dachte Timo, während er auf dem Kiesweg um das Herrenhaus herumging. Es war erst neun Uhr in der Frühe, und doch stach die Morgensonne schon wieder so giftig vom Himmel, daß er auf die Wiese wechselte, wo eine Buchengruppe Schatten warf. Noch immer erschien ihm, was sie in den letzten Stunden erlebt hatten, wie ein böser Traum, und doch wußte er, daß alles wirklich so geschehen war.
Geistesabwesend stapfte er durch die Wildwiese. Noch immer spukte ihm auch der Name Görsmann durch den Kopf, Unbehagen erregend, sogar leichte Übelkeit. Unweit der Bresche in der Westmauer, wo der Findling herabgekollert war, blieb er stehen, schlagartig aus seinen Gedanken gerissen, als er weit unten im Park, fast noch auf Höhe der Orangerie, eine hagere Gestalt entdeckte: Zirfas! Mit federnden Schritten strebte der Kriminalpolizist hügelan, augenscheinlich auf das Schloß zu, gefolgt von Wachtmeister Worzak, der seltsamerweise eine Schaufel geschultert trug.
Was hatte das zu bedeuten? Timo tastete nach der Skulptur in seiner Jackentasche, während er einige Schritte zur Seite trat, hinter eine Brombeerhecke, die ihm Sichtschutz bot. Mittlerweile hatten die Polizisten die „rote, tote Hand“ erreicht, das Quintett der Blutbuchen, die sich riesenhaft vor dem Morgenhimmel erhoben. Zirfas zog ein Papier aus der Jackentasche, das er mit einer schüttelnden Bewegung entfaltete – offenbar ein Lageplan. Er studierte kurz sein Papier, blickte sich um und deutete dann auf einen Fleck in der Wiese, wenige Schritte unterhalb des Baumriesen. Daraufhin nahm Worzak seinen Spaten von der Schulter und begann sich mit berserkerhafter Kraft in die Erde zu wühlen.
Was immer sie dort suchen mochten, dachte Timo verwundert, seinen Segen hatten sie, solange sie ihre Schnüffelei nicht auf das Schloß ausdehnten. Ihm erschien es sonderbar, daß Worzak dort unten in der Wiese ein Loch aushob, während tief unter dem Herrenhaus, fünfzig Schritte nördlich, seit Jahrhunderten der erstaunlichste Abgrund klaffte. Einen Moment lang sah er beide Bilder zugleich vor sich: den in die Wiese stoßenden Spaten und den Krater unter dem Schloßgewölbe, dann verschwammen sie zu einem dritten, ganz unerwarteten Bild: Mit einem Mal erblickte er, überscharf vor sein geistiges Auge projiziert, jenen wackligen Marmoraltar, der seit Jahr und Tag unten in der Orangerie stand, darauf die beiden urnengroßen Glasgefäße, die er selbst vor vielen Jahrzehnten dort hingestellt hatte.
Warum mußte er ausgerechnet jetzt an diese bauchigen Gläser denken? Im Alter von fünf, höchstens sechs Jahren hatte er sie aus der Schloßküche entwendet und mit sandiger Parkerde gefüllt. Aber nicht allein mit Sand – unvermittelt gab seine Erinnerung preis, was vor fast fünfzig Jahren geschehen war, an einem ansonsten vergessenen Frühlingstag gegen Ende des Krieges:
Er saß am Rand der Wiese, nahe einer Weide im Park. Versunken in ein Spiel, grub er mit beiden Händen im Sandboden, als er mit den Fingern auf etwas Glattes, Schlankes stieß. Er wühlte das Ding frei und zerrte daran, bis die Erde es endlich hergab. Sein Herz begann heftig zu klopfen, verstohlen sah er sich um, aber niemand beobachtete ihn. Eine verbotene Stätte, doch er war absichtslos dorthin geraten, in den Schatten der Weide, in diesen entlegenen Winkel unweit der östlichen Parkmauer, und er hatte wirklich nicht vorgehabt, dort nach gottvergessenen Dingen wie jenem zu graben, das nun neben ihm im Gras lag. Wie von einem Rausch erfaßt, begann er mit beiden Händen im Boden zu wühlen. Besinnungslos buddelte und grub er, ohne sich auch nur einen Moment zu fragen, was er da ans Licht zog. Tatsache war, daß es unter einer dünnen Schicht sandiger Erde von jenen gelben, ein wenig gekrümmten Stäben nur so wimmelte – auch wenn wimmeln gewiß nicht das richtige Wort war für die der Tiefe entrissenen Dinge, von denen eine eigentümliche Stille ausging. –
Rhythmisch stieß Worzak seinen Spaten in die Wiese, und Timo, der ihn gebannt beobachtete, erblickte zugleich sich selbst, wie er damals gewesen war: ein Knirps in kurzer Lederhose, der fiebrig in der Erde wühlte und immer weitere jener durchscheinend goldgelben Stengel hervorzog. Wohl erst nach Stunden war seine Erregung abgeklungen; er glättete den Boden, so gut es gehen mochte, und verbarg seine Beute unter einem Busch. Noch am selben Tag aber kehrte er mit den beiden urnengroßen Einweckgläsern zurück, die er zuvor an einem erlaubten Ort nahe der Orangerie mit Sand gefüllt hatte. Keuchend schob er sie unter den Busch, kroch selbst hinterher und stieß seine namenlosen Beutestücke Stäbchen um Stäbchen in die gläsernen Bäuche voller Sand.
Wie zufrieden ich an jenem Abend war, dachte Timo, hinter das Brombeergestrüpp geduckt, als ich die beiden Kübel zwischen Blumentöpfen und Gießkannen in der Orangerie verstaute: so zufrieden, als hätte nun auch er an einem der Geheimnisse von Schloß Stiegliz teil, aber auf so verschwiegene Weise, daß niemand ihn deshalb beschuldigen konnte. Denn er bewahrte das Geheimnis gleichsam auch vor sich selbst. Niemals hatte er sich gefragt, was es mit den gelben Stäben auf sich haben mochte, nie war er zu jenen Gläsern zurückgekehrt, um ihren Inhalt wieder hervorzuziehen. Statt dessen hatte er den ganzen Vorfall mit rätselhafter Raschheit vergessen – als hätte das Verbot, jene Dinge auszugraben, sich in das ebenso eherne Gebot umgewandelt, das Gesehene für immer aus seinem Bewußtsein zu tilgen.
Am Rand der Grube ging Zirfas in die Knie, worauf Worzak ihm von unten irgend etwas reichte. Gleich darauf federte der hagere Offizier wieder hoch und stieß einen Pfiff aus. Was hält er in der Hand? überlegte Timo, und im selben Atemzug: Was habe damals ich aus der Erde gegraben? Es waren Bernsteinstücke gewesen, soviel schien ihm sicher, denn jene Stäbe hatten ebenso gelb geleuchtet wie die Wolfsstatuen oder wie die Bernsteintrümmer unten im schwarzen Saal. Aber warum diese sonderbare Stabform? überlegte er, von plötzlichem Grauen erfaßt; vor allem aber: Weshalb waren diese Dinge damals im Park vergraben, und dazu noch an einem Ort, der uns, den Söhnen des Grafen, streng verboten worden war? Fieberhaft dachte Timo nach, und während er noch überlegte, erklang, fern, leise und doch durchdringend, ein vertrauter Dreiton:
Mein Telefon, dachte er, erstaunt zur Orangerie schauend, es gibt also doch wieder Strom?
Auch Zirfas war auf das Signal aufmerksam geworden. Er winkte den schlammbedeckten Wachtmeister aus seiner Grube, kurz darauf eilten beide auf die Orangerie zu. Unten rüttelte Zirfas an der Tür und spähte durch die Glasfassade, doch das Telefon war verstummt. Zirfas zuckte mit den Schultern und wandte sich zackig ab, gefolgt von Worzak, der den Spaten mit schepperndem Geräusch über den Magmaplatz schleifen ließ. Wenig später startete der Polizeiwagen vor dem Parktor, und Timo verharrte noch immer hinter dem Brombeergestrüpp.
Was habe ich damals aus der Erde gegraben? Es war gelb und durchsichtig wie Bernstein, dabei schlank und länglich, ein wenig gekrümmt wie ... Und warum waren diese Stäbe im Park verscharrt? Je länger er überlegte, desto banger wurde ihm, desto weniger fühlte er sich imstande, hinab zur Orangerie zu gehen und mit eigenen Augen nachzusehen, was es mit jenen leuchtend gelben Stäben auf sich hatte.
Bis endlich das Telefon in der Senke von neuem zu klingeln begann: Timo sprang auf und rannte, getrieben von jäher Hoffnung, hinab zur Orangerie.
„Schloß Stiegliz.“
„Herr Prohn? Timo Prohn?“ Die Stimme klang jung und atemlos, und sie kam Timo bekannt vor. Aber woher?
„Allerdings. Und mit wem – –?“
„Ich rufe im Auftrag von Herrn Trowal an.“
Trowal. In seinem Magen begann es zu flattern: Lisa – sie lebt ...
„Sie sollen noch eine allerletzte Chance bekommen: Austausch der Skulptur, die Sie uns gestohlen haben, gegen Ihre Frau.“
Im Hintergrund ein Plätschern und Rauschen, als befinde sich der Sprecher an Bord eines Schiffes oder am Ufer eines Stroms. Oder war es nur sein eigenes Blut, das Timo in seinen Ohren tosen hörte?
„Er läßt Ihnen ausrichten ...“
Auf einmal Schweigen. Der junge Mann – der Stimme nach eher noch Junge als Mann – atmete gepreßt in den Hörer, und es dauerte einige Momente, bis Timo begriff, warum er verstummt war.
„Hallo?“ sagte er. „Reden Sie doch bitte weiter.“
„Ihre Frau – Lisa ... Sie sollen wissen, daß es ihr gutgeht.“
Er weint, dachte Timo. Erstaunt ließ er das Telefon sinken und sah ihn im selben Augenblick vor sich: den blonden Jungen aus dem Hotel in Ratzeburg. Er mußte es sein, kein Zweifel, derselbe Junge, dem dreizehn-, vierzehnjährigen Kai so bestürzend ähnlich, der auf dem Autobahnparkplatz über Trowal hergefallen war. Aber wenn er Trowals Spießgeselle war, warum rief er hier an und schluchzte in den Hörer? Nein, dachte Timo, seine überreizten Nerven mußten ihn getäuscht haben.
„Wir setzen Ihnen eine letzte Frist.“ Tatsächlich klang die Stimme nun ziemlich beherrscht. „Bis morgen, zwölf Uhr mittags. Wenn Sie die Figur bis dahin – –“
„Ich habe eine solche Bernsteinfigur in meinem Besitz“, unterbrach ihn Timo, der aufgesprungen war und in der Orangerie auf und ab ging. „Richten Sie Herrn Trowal folgendes aus: Die Statue ist weitgehend mit dem Objekt identisch, das er mir vergangene Woche ausgehändigt hat. Ich bin bereit, ihm diese Figur im Austausch gegen meine Frau zu übergeben. Sagen Sie ihm das, und rufen Sie mich dann wieder an.“ – –
Beide Ellbogen auf dem Steuer des aschgrauen Van aufgestützt, schüttelte er wütend den Kopf: Was für ein hirnrissiger Vorschlag: ausgerechnet diese zweite Statue, die Trowal fast das Leben gekostet hätte, als Tauschobjekt anzubieten! „Das wird nicht – –“, setzte er an. Doch wieder unterbrach ihn der Mann am anderen Ende der Leitung, diesmal mit einer Frage, die ihn vor Entgeisterung aufjapsen ließ:
„Georg?“
Woher zum Teufel kennt er meinen Namen?
„Warum hast du eben geweint?“
Wieder schossen ihm Tränen in die Augen – ich habe alles falsch gemacht, dachte er, und ihm war klar, daß er längst hätte auflegen sollen. Doch statt dessen atmete er in den Hörer und hoffte auf weitere Worte, gesprochen von der wundersam vertrauten Stimme – und da hob sie von neuem an:
„Wer ist dein Vater, Georg? Erinnerst du dich: Vorgestern nacht auf dem Autobahnparkplatz hast du Vater gerufen.“
Trowals Funktelefon an sein Ohr gepreßt, öffnete Georg die Lippen und schloß sie sehr langsam wieder: eine lange, helle Silbe, aber stumm, so daß die Antwort nicht zu verstehen war. Um so weniger, als er im selben Moment ein gewaltiges Scheppern und Klirren im Hörer vernahm: als würden dort drüben in der Orangerie von Schloß Stiegliz sämtliche Glaswände zertrümmert. – –
„Berichte Trowal von meinem Angebot“, sagte Timo, klappte sein Telefon zu und schob es in die Jackentasche. Er war noch immer ziemlich perplex: Diese Stimme ...
Benommen sah er um sich: Die Sonnenstrahlen tänzelten durch das Gewirr der Blätter und Ranken, die sich um die Wendeltreppe in die Höhe wanden. Das Licht flirrte und flimmerte in dem Schwenkspiegel neben der schrundigen Ledercouch, in dem sich Margot vor einer Woche betrachtet hatte (aber davon wußte Timo nichts). Gleißend reflektierte und brach sich die Sommersonne in den Scherben und Splittern, die von der Orangerietür aus strahlenförmig den Steinboden bedeckten. Während er telefonierte, hatte er behutsam, mit zwei Fingern nur, über eines der beiden Gläser getastet, die seit jeher neben der Eingangstür standen, auf ihrem improvisierten Altar aus Marmorplatte und rostigem Eisenfuß. Als hätte die bauchige Urne fünfzig Jahre lang auf diese Berührung gewartet, war sie vornübergekippt, auf dem Steinboden aufgeschlagen und zu einer Fontäne aus Sand und Scherben zerplatzt.
Ohne recht zu merken, was er da machte, kniete Timo sich hin und begann mit beiden Händen in Sandkrumen und Glassplittern zu wühlen. Fluchend, da die Scherben ihm Knie und Hände zerschnitten, wühlte und suchte er immer weiter, bis er endlich ein halbes Dutzend jener Stäbe in der Hand hielt, die er damals aus dem verbotenen Boden gegraben hatte. Er erhob sich, das Bündel dünner Stäbe in seiner Linken, und betrachtete sie mit ungläubigem Erstaunen:
Sie waren viel kleiner als in seiner Erinnerung, aber das allein war es nicht. Auch das frische, hellrote Blut irritierte ihn nur kurz; es tropfte aus seiner Hand, da die Scherben seine Haut zerschnitten hatten. Aber diese Stäblein ... Er trug sie zu seinem Schreibtisch, wo der dünne Stapel der Manuskriptblätter, seit Tagen mißachtet, neben den Kartons voller Fotos lag.
Das Telefon, schon wieder. Timo zog es aus der Tasche, legte mit der anderen Hand die dürren Stengel auf dem Schreibtisch ab. „Schloß Ste– –“
„Es bleibt bei unserer Forderung: die Originalstatue, die Sie entwendet haben, nicht irgendwelche Kopien – bis morgen, Samstag, zwölf Uhr mittags, sonst sehen Sie Ihre Frau – –“
„Ich verlange ein Lebenszeichen von Lisa“, sagte Timo, auf die Stäbe starrend.
„Morgen“, sagte der Junge und schien auf eine Antwort zu warten; aber Timo war immer noch viel zu entgeistert:
Die blanken, schlanken Stäbe, die vor ihm auf dem Tisch lagen, die zierlichen Stengel, die er vor fast fünfzig Jahren aus- und in fliegender Hast wieder eingegraben hatte – sie schimmerten wie in seiner Erinnerung, aber nur noch wenig. Ihre einst intensiv gelbe Farbe war verblichen bis auf einige funkelnde Punkte hier und dort. Eine Handvoll fahler Stengel, dachte Timo, dabei war ich so sicher, daß sie damals, als ich sie aus- und wieder eingrub, bernsteingelb geleuchtet hatten.
Oder hatte er sich das vorhin nur eingeredet, hinter der Brombeerhecke hockend seine Erinnerung hastig umgefälscht?
„Knochen“, flüsterte er, „zu klein, um von ausgewachsenen Men– –“
„Was sagen Sie?“ Eine Stimme an seinem Ohr, auch sie wispernd vor Entsetzen, und erst in diesem Moment wurde ihm bewußt:
Das Telefon – noch immer hielt er es an sein Ohr gedrückt, und als er es sinken ließ, glaubte er wieder das Schluchzen zu hören: ersterbend, als er den Apparat zuklappte, in seinem Kopf nachhallend, in seiner eigenen Kehle sich verdoppelnd, während er das Telefon neben die Stenglein legte, auf denen nur hier und dort ein bernsteingelbes Pünktchen kümmerlich glomm.
„Nur die Ruhe“, sagte Alex und tätschelte Timos Schulter. „Daß die Entführer sich überhaupt wieder gemeldet haben, ist doch eine gute Neuigkeit.“
Wie von Geistern gejagt war Timo eben in die Studierkammer gestürzt: mit blutigen Händen und mit einem halben Dutzend abscheulicher Knochen, die in seiner Hemdtasche rasselten. Atemlos hatte er Alex berichtet, was im Park und in der Orangerie vorgefallen war, und Alex fühlte sich mehr und mehr überfordert bei dem Versuch, seinen Freund zugleich zu verstehen und zu beruhigen.
„Was soll denn daran gut sein?“ protestierte Timo. „Sie geben mir eine ‚allerletzte Chance‘, die tausendmal verfluchte Skulptur bis morgen mittag wieder zu beschaffen, und dabei –“
„– wissen sie genau, daß du diese Forderung überhaupt nicht erfüllen kannst.“
„Das wissen sie?“
„Meiner Meinung nach ja.“ Alex legte ihm einen Arm um die Schultern und führte Timo hinaus in den Büchersaal, wo sie ungestört reden konnten. Seit wenigstens einer Stunde hockte Cramsen zusammengesunken auf dem Schemel neben der Falltür und schien wie ein Toter zu schlafen; aber Alex war die ganze Zeit den Verdacht nicht losgeworden, daß der Alte ihn insgeheim beobachtete.
„Wenn du mich fragst – sie wissen alles“, fuhr er fort, auf die Fensterfront zusteuernd, wo er allerdings für einen Moment den Faden verlor: Der Ausblick auf den grandios verwilderten Schloßpark war atemberaubend unwirklich, selbst wenn man außer acht ließ, was für seltsame Dinge andauernd in Schloß und Park Stiegliz geschahen. „Sie wissen, daß du hier bist, und ihnen ist natürlich auch bewußt, was in Wilhelmsbad passiert ist. Offenbar ist Trowal wieder auf freiem Fuß. So oder so wissen sie jedenfalls, daß du ihre Statue erstens nicht hast und zweitens nicht nach ihr suchen kannst, solange die Polizei hinter dir her ist. Denn daß die Polizei dich schnappt, kann ja wohl kaum in ihrem Interesse sein – was immer sie in Wirklichkeit von dir wollen, Timo.“
„In Wirklichkeit? Was meinst du damit?“
„Das weiß ich auch noch nicht so genau.“ Alex lehnte sich gegen das Mauerstück zwischen zwei Fenstern und verschränkte die Arme. „Aber eines wird mir immer klarer, mein Lieber: Hinter dieser Entführung steckt etwas ganz anderes, als wir bisher angenommen haben. Was auch immer die Kidnapper von dir wollen, es befindet sich hier, in Schloß Stiegliz. Wenn ich mich nicht sehr irre, war die erste Wolfsfigur, die sie dir zugespielt haben, nur eine Art Köder. Dann allerdings ist ihnen, bevor du anbeißen konntest, Margot in die Quere gekommen, und die ganze Angelegenheit ist ziemlich eskaliert. Daraufhin haben Trowal und seine Leute aber nur die Methode gewechselt – ihr Ziel ist immer noch das gleiche wie von Anfang an.“
„Und was für ein Ziel wäre das?“
„Ganz einfach: Sie wollen brennend gern wissen, was es mit dem Geheimnis von Schloß Stiegliz auf sich hat. Und aus irgendeinem Grund scheinen sie überzeugt zu sein, daß niemand das besser herausfinden kann als du.“
„Aber warum ich?“
„Gegenfrage: Was haben deiner Ansicht nach die beiden Polizisten da unten im Park gesucht?“
„Keine Ahnung. Vielleicht so etwas hier?“ Er deutete auf die Knöchelchen, die aus seiner Hemdtasche lugten. „Ich glaube, du verstehst immer noch nicht, Alex: Ich bin todsicher, daß diese Dinger hier, als ich sie damals aus der Erde gegraben habe, von der gleichen bernsteingelben Farbe waren wie die Statue ...“
„Ja, das hast du eben schon gesagt, und ich kann nur wiederholen: Du wirst dich eben getäuscht haben. Du warst noch ein Kind, Timo, und das Ganze ist fast fünfzig Jahre her. Vor allem aber: Was haben diese Knochen, die damals irgendwo im Park verbuddelt waren, mit unserer Sache hier zu tun?“
Schon zweimal hatte Timo ihm zu erklären versucht, weshalb ihn die bleichen Knochenstäbe derart aus der Fassung brachten; es machte ihn wütend, daß Alex den entscheidenden Punkt nicht zu begreifen schien. „Jetzt hör mir doch zu“, sagte er, „und schau dir die Dinger endlich an!“ Er hielt Alex eines der schlanken Stäbchen unter die Nase. „Siehst du nicht die gelben Punkte darauf? Das sind Bernsteinreste, jede Wette, und damals, als ich diese Knochen aus der Erde gegraben habe, schienen sie vollständig aus Bernstein zu sein. Verstehst du jetzt?“
Zögernd nahm ihm Alex den fahlen Stengel aus der Hand. „Immer noch nicht so ganz“, sagte er. „Also gut, ich sehe die paar leuchtenden Punkte, auf die du so großen Wert legst. Aber was willst du damit beweisen? Höchstens könnte man vermuten, daß auch diese Knochen aus dem Abgrund unter dem schwarzen Saal stammen. Vielleicht haben Cramsen und dein Vater sie irgendwann dort unten herausgeholt, und ein wenig von dem Bernsteinstaub ist darauf haften geblieben.“
Während er sprach, rieb er mit dem Finger über die funkelnden Pünktchen, überzeugt, daß sie sich sofort von dem Knochen lösen würden. Erstaunt stellte er fest, daß sie wie angewachsen auf der Oberfläche festsaßen. Was Timo aber mit alledem beweisen wollte, war ihm weiterhin nicht klar.
Und er begriff es immer noch nicht, als Timo die „Wolfsritt“-Statue aus seiner Tasche zog: Sorgsam verschloß er mit einer Hand den Mund des Reiters und das Maul der Bestie; dann hielt er mit der Linken einige der funkelnd gepunkteten Knochen, mit der Rechten die Skulptur in die Höhe.
„Du meinst –?“ Abwechselnd starrte Alex auf Timos linke und rechte Hand.
„Ganz genau“, vollendete Timo, „ich bin ziemlich sicher, daß auch diese Figur innen drin aus Knochen besteht.“
Gegen Mittag saß Hans Zirfas längst wieder hinter seinem Schreibtisch in dem alten kaiserlichen Gebäude nahe der Fußgängerzone von Frankfurt (Oder). Beide Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, musterte er seit einer Viertelstunde die goldgelben Bröckchen, die er vor sich auf den Stapel vergilbter Schloßpläne gelegt hatte.
„Juwelen“, hatte Worzak ausgerufen, als er ihm eine schlammige Faust voll aus der Grube gereicht hatte. Tatsächlich schimmerten sie, als ob in jedem dieser Bröckchen eine Träne versteinert wäre. Sie leuchteten wie Honig in der Sonne und funkelten geradezu grauenvoll, wie Zirfas fand.
Es hatte nicht lange gedauert, bis sie aus dem Labor die ernüchternde Meldung erhielten, die Zirfas allerdings nicht erstaunte: Bernstein, wenn auch von außergewöhnlicher Reinheit. Sofern erste, noch provisorische Untersuchungen nicht täuschten, ging von den Klümpchen, die Worzak aus der Parkerde von Schloß Stiegliz gebuddelt hatte, eine elektrische Strahlung aus, die deutlich über den Werten gewöhnlichen Bernsteins lag.
Zirfas sammelte die Bernsteinbröckchen, ein knappes Dutzend leuchtend gelber Bruchstücke, von der Tischplatte auf und ließ sie über seine Handfläche rollen. Er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, daß Worzak mit seinem Spaten tatsächlich gleich ein geheimes Verlies freilegen oder auf einen Haufen Kinderknochen wie jene stoßen würde, die Siegrist im Keller von Margot Wegener entdeckt hatte. Genau besehen hatte er sogar die strikte Order, in Schloß Stiegliz keinerlei Nachforschungen anzustellen: Timotheus Prohn neutralisieren – ja, das Schloß selbst unter die Lupe nehmen – entschieden nein; so lautete seine Order, die natürlich nicht von seinen offiziellen Vorgesetzten stammte, sondern von einer denkbar inoffiziellen, ausgesprochen herrischen Instanz, mit der er stets nur telefonisch in Kontakt trat. Und deren wirklichen Namen nicht einmal in Gedanken zu nennen er unbedingt vorzog.
Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend griff Zirfas zum Hörer und wählte die Geheimnummer der so gebieterischen wie reizbaren Instanz. Noch immer schrieb man den 26. Juni, und das erste Klingelzeichen ertönte exakt um zwölf Uhr dreißig mittags, auf die Minute genau zur befohlenen Zeit. Wie jedesmal signalisierte nur ein ungeduldiges Räuspern, daß man am anderen Ende bereit war, seinen Bericht entgegenzunehmen. Zirfas atmete durch und begann:
„Gute Neuigkeiten: Offenbar ist Prohn in Frankfurt/Main in eine Kriminalaffäre verwickelt. Er wird im Zusammenhang mit einer Schießerei – –“
„Das ist keine Neuigkeit. Und alles andere als gut.“
„Aber – –“
„Sie erhalten hiermit neue Order: Prohn darf auf keinen Fall – ich wiederhole: auf keinen Fall – polizeilich befragt oder gar festgenommen werden. Teilen Sie der Kripo in Frankfurt/Main mit: Er ist nicht nach Stiegliz zurückgekehrt. Und ihm selbst machen Sie klar, daß er sofort verhaftet wird, wenn er das Schloßgelände verläßt.“
„Mit anderen Worten: Ich soll – –?“
„Setzen Sie ihn im Schloß fest. Lassen Sie ihn nicht raus und niemand anderen rein – schon gar keine Polizisten aus dem Westen. Beobachten Sie ihn, aber diskret. Und kommen Sie nicht auf die Idee, auf eigene Faust dort im Gelände rumzuschnüffeln.“
Die Bernsteinbröckchen, durchfuhr es Zirfas, worauf sich das ungute Gefühl in seiner Magengegend zu einem schmerzhaften Ziehen verstärkte. Er schloß die Faust um die honigfarbenen Steinchen und preßte sie so fest zusammen, daß es knirschte. „Natürlich nicht“, sagte er und legte auf.
„Sie wollten uns von einem gewissen Görsmann erzählen. Aber eines noch vorher, Cramsen“, sagte Timo, indem er in die geheime Studierkammer zurückkehrte. „Vorhin war die Polizei unten im Park – haben Sie etwa Zirfas informiert, daß ich wieder in Stiegliz bin?“
Der Alte erhob sich von seinem Schemel und fletschte nur stumm die Zähne, doch sein Gesicht verzerrte sich in solcher Verachtung, daß es Timo Antwort genug schien. „Kommen Sie mit ins Licht“, sagte er und winkte Cramsen, ihm aus der Kammer in die Bibliothek zu folgen, wo die Mittagssonne durch die Fenster schien.
Währenddessen hatte Alex das gräfliche Studierpult bereits an den Beinen gepackt und vor eines der Fenster im Büchersaal getragen, ein knarrendes Oberlicht aufgezogen und drei Dutzend gräflicher Chronikbände neben dem Stehpult aufgestapelt. Glücklicherweise schien der Wassereinbruch, dem so viele Bücher in der Bibliothek zum Opfer gefallen waren, zumindest die Schloßchronik verschont zu haben. Alex zog die beiden Wachshefte aus dem Pultfach und vertiefte sich von neuem in die gräfliche Geheimschrift.
Von Kälteschauern gepeinigt, hüllte sich der Alte derweil noch fester in seinen Wehrmachtsmantel und schlurfte, vorbei an der Parade gemalter Ritter, neben Timo zur Fensterwand des Büchersaals. Empört äugte er zu dem klaffenden Oberlicht empor, schluckte aber seinen Protest herunter und lehnte sich gegen die Fensterbank. Er war müde, mit einem Mal so unsäglich müde wie vielleicht noch nie in seinem Leben. Begonnen hatte es, dachte Cramsen, heute in der Frühe, als Herr Timotheus durch die Bresche in der Westmauer getreten war und die Wolfspfeife an seine Lippen gesetzt hatte. Es bläst das Leben aus dir heraus, das hatte auch der Graf stets gesagt, dachte er, strich sich das dünne Haar aus der Stirn und erstattete unter häufigem Ächzen und eingeschaltetem Seufzen folgenden Bericht:
Das Rumoren im Gesinde über den Tod von Alfons Sorno war noch lange nicht verklungen, als Görsmann mit seinen Schwarzröcken auf Stiegliz Quartier nahm. Das war Ende März ‘38, und Herr Timo konnte sich schwerlich daran erinnern, da er erst im Jahr darauf zur Welt kam. Eine grobschlächtige Erscheinung, dieser Görsmann: von der Statur eines Stiers, wie der Graf zu sagen pflegte, und im Kopfe so dürftig, daß es ein Jammer war. Ein Jammer allerdings nicht für den Hünen selbst oder für seine Männer in den tintenschwarzen Uniformen; eine Qual nur für all jene, die auf Görsmanns Gunst angewiesen waren. Wie hatte es ihn und sein Fähnlein flachsblonder Recken nach Stiegliz verschlagen? Das blieb im dunkeln, oder doch im Halbdunkel der weitläufigen Nebengebäude, die Hagen Görsmann auf allerhöchsten Befehl requirierte.
„Dieser primitive Dummkopf“, so der Graf zu Cramsen, „schwadroniert mir andauernd was von heidnischer Kraft, von Wotan und Runen vor. Dabei hindert gerade er mich mit seinem Gefasel von heidnischen Mythen, endlich dem Geheimnis unter Schloß Stiegliz auf den Grund zu gehen!“
Denn Görsmann war mißtrauisch geworden, schon wenige Tage nach seiner Ankunft auf Schloß Stiegliz. Hatte seine schwarzberockten Männer ausschwärmen lassen und gleich von dem rätselhaften Schacht gehört, der unter dem Herrenhaus aufgesprungen war.
„Vielleicht ist es ein Fehler, Cramsen“, sprach der Graf, „aber ich kann mich nicht überwinden, diesen Parvenü in das Gewölbe, gar in den Schwarzen Saal zu lassen. Denn ich ahne, daß dort unten eine ungeheure Macht haust, und es graut mir bei der Vorstellung, daß ein Mann wie Görsmann in die Lage kommen könnte, diese dunkle Kraft für seine Zwecke zu mißbrauchen.“
Daher wagte es der Herr Graf nicht, den Schloßberg unter einem Vorwand aufgraben zu lassen, um sich von außen dem Abgrund zu nähern. Ohnehin kam Görsmann immer wieder auf den Todesfall im untersten Kellergewölbe zurück, und da Cramsen als einziger das Unglück mitangesehen hatte, bedrängte Görsmann vor allem den Alten wieder und wieder zu schildern, was genau dort unten vorgefallen war:
„Der Boden unter seinen Füßen zersprang, und der Junge stürzte in die Tiefe – einfach so?“ Cramsen bejahte. „Dreißig Meter, sagen Sie? Und niemand kommt dort unten heran, weil der Schacht zu eng ist? Aber das ist – das finde ich ja ...“ An dieser Stelle unterbrach er sich jedesmal, doch Cramsen wunderte sich stets aufs neue über die heitere Miene des Hünen, den die ganze finstere Affäre immer heller zu entzücken schien.
Aber der Graf, wie gesagt, verwehrte Görsmann den Zutritt zu den Gewölben unter Schloß Stiegliz, um den Preis allerdings, daß er selbst nur heimlich und bei Nacht noch in den Schwarzen Saal hinabstieg. Dort saß er dann Stunde um Stunde am Rand des Trichters, in dem es meist nur leise pfiff und winselte, oft auch tagelang still blieb. Seinen blechernen Förderkorb ließ er am dreißig Meter langen Seil die Rampe hinabgleiten und durch die untere Öffnung in den Abgrund schwingen; hoffte wohl immer wieder, daß ihm noch einmal ein solcher Fund gelänge wie gleich in der ersten Nacht: Da zog der Graf einen faustgroßen, aufs kunstvollste zum Wolfskopf geformten Bernsteinbrocken im Blechkorb empor. Aber wie er seither auch über den Boden in schwindelnder Tiefe scharrte, nach jener ersten Nacht förderte er nur noch Schutt zutage: kiloweise Bernsteinbröckchen und leuchtend gelben Staub. Bis etwa vier Wochen nach dem Tod Alfons Sornos eine seltsame Änderung eintrat ...
Unvermittelt verstummte Cramsen, und sein Blick verschwamm. Timo sah ihn an, gespannt zwar, aber bereit, dem Alten eine weitere Pause zuzugestehen. Er sieht erschöpft aus, dachte er – so unerwartet geschmeidig Cramsen in der Frühe noch die Strickleiter hinabgeturnt war, so schwer fiel es ihm anscheinend jetzt, sich auch nur auf den Beinen zu halten.
Alex, der mit einem Ohr zugehört, dabei unablässig Chiffren und Sigeln in den Heften und in der gräflichen Chronik verglichen hatte, sagte in die Stille hinein leise: „Ich glaube, jetzt hab’ ich’s.“
„Der Herr Graf“, fuhr Cramsen im selben Moment gesenkten Kopfes fort, „hat mir in dieser Sache nur Weniges anvertraut. Trotzdem habe ich selbst mit eigenen Augen die Veränderung gesehen: Abgesehen von dem faustgroßen Wolfskopf gleich zu Anfang zog er im ersten Monat nach Sornos Tod immer nur körbeweise Staub und Bernsteinbröckchen aus dem Abgrund; plötzlich aber fischte er wieder kunstvoll geformte Trümmer aus dem Trichter, und das von da an Nacht für Nacht. Waren viel größer und leuchteten auch viel stärker als vorher der zerstückte Krümelkram. Lange rätselten wir herum, was es damit auf sich haben mochte – bis eines Tages die gewaltig große, leuchtend gelbe Flöte im Blechkorb lag: mit einem kunstvollen Wolfskopf wie der frühe Fund des Grafen, zudem aber mit ellenlangem stämmigem Flötenleib. Da endlich begriffen wir, Herr Timo: Alle diese Bernsteintrümmer waren Bruchstücke wundersamer Musiziergeräte aus der alten Zeit.“
Seit altersher geht im Lande um Lebus die sonderbare Sage, jetziges, prachtvoll auf dem Hügel sich erhebende Schloß Stiegliz „sei gar nicht der echte Sitz Derer von Prohn“. Wär’ vielmehr so, daß die alte Burg, darinnen einst die Ritter gefochten u. geschmauset, in mondloser Nacht im Schloßberge versunken sei: dergestalt, daß der Berg aufsprang u. das ganze Gehäuse mit allen Wehrtürmen, Mauern u.s.f. verschlang. Hätten Die v. Prohn z. St. mit äußerster Raschheit das heutige Schloß hochmauern lassen, um die Schande zu verbergen. Sei nämlich Schande u. Gottesstrafe, wenn eine Ritterburg von der Erde verschluckt wird: Geschehe dies nur als Sühne für greuliche Verbrechen u. sei der betreffende Hügel oder Berg fortan verwunschen bis zur dereinstigen Erlösung der Verschlungenen, die bis St. Nimmerlein untot spukten durch die Unterwelt – – (S-CXXII = MDCCCLI, p. CIX)
Schl. St., d. 17.III.38
Arbeite mich wie rasend durch die Chronikbände: nichts, nichts! Nur solche törichten Schnurren wie op. cit., die gewißlich gar nichts bedeuten. Warum aber hat der Ahn im 19ten Jhndt. diese alte Mär der Chronik anvertraut? Etwa doch, weil er Anlaß hatte, Unterweltliches unter Schloß St. zu vermuten?
Alex ließ das Blatt sinken, von dem er den entschlüsselten Text abgelesen hatte, legte es neben seiner improvisierten Schablone auf das Stehpult und strahlte Timo an. „Soweit dein hochwohlgeborener Vater.“
„Du hast es wirklich geschafft, Alex“, sagte Timo, der mit wachsender Verblüffung zugehört hatte. „Aber weshalb hat er dieses Ammenmärchen nicht nur überhaupt aufgeschrieben, sondern auch noch in Geheimschrift notiert? Er wird doch nicht im Ernst – –“
„Gegenfrage“, fiel ihm Alex ins Wort, „wie wär’s mit etwas Lob? Da muß man ja erst mal drauf kommen: daß dein Vater die Buchstaben des Alphabets gegen die Signaturen bestimmter Chronikbände vertauscht hat. Schau hier“, erläuterte er mit ungemein selbstzufriedenem Lächeln, „statt ‘A’ schreibt er ‘B-LXIV’; statt ‘B’ – –“
„Du bist ein Genie, Alex, wirklich, aber –“
„– dafür zweifelst du jetzt am Verstand deines Herrn Vater? Ich denke, dazu besteht kein Anlaß: Wer einen solchen Code austüftelt, muß geistig noch einigermaßen bei Kräften sein. Schau her“, beharrte er und zog Timo am Arm neben sich, „die einzelnen Zeichen der gräflichen Geheimschrift bestehen jeweils aus einer Versalie plus römischer Zahl, und die entsprechen, wie ich gleich vermutet hatte, tatsächlich den Signaturen einzelner Bände eurer Chronik. Allerdings stimmen die römischen Zahlen auf den Büchern“ – er deutete auf die Lederkladden, die sich neben dem Pult auf dem Boden stapelten – „nicht etwa mit der Zahl des Jahres überein, von denen der betreffende Band handelt; ohne Geheimniskrämerei kommen deine werten Vorfahren anscheinend nicht einmal beim Archivieren von Büchern aus. Aus unerfindlichen Gründen trägt also Band I der Chronik, obwohl er aus dem Jahr 1084 stammt, die Signatur A-DCVI; Band II von 1085 dagegen ist unter der Sigle Y-MDCI archiviert – und so weiter nach einem krausen System, das zumindest einen Vorteil hat: Man kann mühelos einen ziemlich komplizierten Geheimcode daraus entwickeln.“
Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, fuhr Alex fort, das Chiffrengewirr in den Wachsheften zu entschlüsseln, war er schließlich auf eine simple Idee verfallen: Er hatte festgestellt, daß die Geheimschrift aus sechsundzwanzig verschiedenen Kombinationen von Versalien und römischen Zahlen bestand; das legte die Vermutung nahe, daß jede dieser Sigeln einen Buchstaben des Alphabets repräsentierte. Da die gleichen Zeichen außerdem als Chroniksignaturen dienten, hatte er in den betreffenden sechsundzwanzig Chronikbänden nachgeschlagen, auf welche Jahre sie sich bezogen, und die Signaturen entsprechend dieser Chronologie geordnet. So erhielt er eine zweispaltige Liste und mußte nur noch hoffen, daß – und überprüfen, ob – diese Ordnung der Signaturen tatsächlich der Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet entsprach.
Frustrierenderweise war diese Prüfung allerdings negativ verlaufen. „Ich wollte schon aufgeben und die Wachshefte mitsamt diesen schimmligen Chronikbänden in den hintersten Winkel der Bibliothek verbannen, da kam mir doch noch die rettende Idee: Dein Vater hat die Zeichen seiner Geheimschrift in der Tat nach der verborgenen Chronologie der Signaturen geordnet; aber er hat eine weitere Sicherung eingebaut.“
Obwohl Timos leerer Blick an seiner Aufmerksamkeit zweifeln ließ, brachte Alex seine Ausführungen entschlossen zu Ende. Offenbar, fuhr er fort, hatte der „väterliche Geheimgraf“ die beiden Systeme, Chronologie und Alphabet, gegenläufig miteinander kombiniert. Also korrigierte Alex seine Schablone entsprechend und verfügte nun über eine dreispaltige Liste, mit der sich die Eintragungen in den Wachsheften tatsächlich fehlerfrei lesen ließen – zumindest diejenigen Einträge, die er bislang probeweise oder vollständig entschlüsselt hatte.
„Ein ziemlich harter Brocken“ sagte er abschließend, „um den Verstand deines alten Herrn brauchst du dir also wirklich keine Sorgen zu machen. – Apropos alter Herr“, fügte er hinzu, ehe Timo etwas erwidern konnte, und deutete mit dem Kinn zu Cramsen, der an der Wand lehnte und anscheinend im Stehen eingeschlafen war. „Falls es in deinem Spukschloß etwas so Profanes wie ein Bett gibt, sollte Cramsen sich ein wenig aufs Ohr legen. Ich könnte übrigens eine Kleinigkeit zu essen vertragen, aber vermutlich kennt die gräfliche Küche nur Alraungemüse und Tollkirschensorbet?“
„Du weißt, Alex, daß ich deinen Humor normalerweise liebe – –“
„Geschenkt. Was hältst du also davon, wenn du deinen aufopferungsvollen Herrn Schloßverwalter in das nächstgelegene Himmelbett verfrachtest, während ich schon mal versuche, weitere Eintragungen zu entschlüsseln?“
Schl. St., d. 22. III.38
Sah in den letzten Tagen meine Nerven- u. Seelenruhe unaufhaltsam schwinden: erst der Fund in der Tiefe; am Morgen darauf die fatale Nachricht: der Trupp Schwarzuniformierter, dessen Kommen ich schon abgewendet wähnte, nun definitiv für Ende März annonciert! Daher mein Beschluß, augenblicklich zur Geheimschrift überzuwechseln, u. die bange Ahnung: Wenn diese Leute von dem Schacht, gar von meinem Fund erfahren – – Doch der Reihe nach; vielleicht, daß die Notizen, ihre mühselige Codierung, meinen Geist ein wenig beruhigen.
Machte also meinen Plan wahr u. ließ vor 5 Nächten einen Blechkorb in den Schacht hinab. Setzte hierfür ein Seil von 30 m Länge ein, u. reichte der Strick mit genauer Not bis zum Grund. Ergo: Vom unteren Trichterende geht es nochmals gegen 10 m in noch unerhörtere Tiefe –
Ließ den Korb dort unten über den Grund scharren u. tanzen, stundenlang. Kein Winseln, kein Heulen in jener Nacht: als ob auch „die Wölfe“ im Abgrund angespannt auf meine Angelkünste lauerten u. lauschten – –
Spürte am Seil reißend mit einem Mal, daß sich das Gewicht beträchtlich vermehrt hatte: Irgend etwas war mir ins Netz gegangen! Ungeheure Aufregung; zwang mich zur Ruhe u. zog wie der sonderbarste Fischer mein Seil behutsam wieder ein – – –
Schon während der Korb langsam im Trichterrohr nach oben schrammte, schimmerte die geheimnisvolle Last mir aus der Tiefe entgegen, mit jedem Meter heller funkelnd u. irisierend, wie weder Gold noch Kupfer dies vermögen. U. noch während ich den Korb aus dem Trichter hievte, die plötzliche Erleuchtung: Bernstein!
Überlegte in totaler Verblüffung, ob massenhafte Ablagerung fossiler Substanz in solcher Tiefe geologisch überhaupt möglich; wühlte währenddessen mit beiden Händen in den leuchtenden Bröckchen, mit denen der Korb bis zur Hälfte gefüllt. Da spürte ich mit einem Mal einen weit größeren Brocken unter meiner Linken, zog ihn aus dem Geröll hervor – – u. hielt das faustgroße Bruchstück einer vollendet modellierten Figur in der Hand!
Eine Skulptur, ganz aus Bernstein, ein Wolfskopf, kein Zweifel: das Maul aufgerissen, die Augen desgleichen; überaus kunstvoll gefertigt, wie es kein heutiger Meister genauer vermöchte; – – u. wirkt dennoch unsäglich alt. Düster; archaisch; wie aus namenloser Vorzeit, da ein längst versunkenes Geschlecht sich vor grausamen Göttern in den Staub warf.
Schäme mich noch immer des nervlichen Versagens, will es in diesen Blättern dennoch nicht verschweigen: Starrte im ungewissen Schein der Pechfackeln gegen 10 Min. den Wolfskopf an; da spürte ich aus unerfindlichen Gründen ein Würgen in der Kehle – – u. brach in Tränen aus!
Auf einmal auch wieder das Heulen u. Winseln in der Tiefe: sehr leise, sehr intensiv. Fast war mir, als ob der Wolfskopf in meiner Linken in den schaurigen Gesang einstimmen wollte; ein Beben u. Knistern sein leuchtend gelbes Fell überliefe; seine Augen sich zusammenzögen, noch durchdringender funkelnd u. glimmend, während aus seiner Kehle das widrige Winseln drang – – Unsinn! U. sei es nur deshalb, weil die Kehle dieser Bestie u. alles andere in der Tiefe geblieben: Nur der Kopf stieg im Korb aus der Tiefe empor.
Zutiefst aufgewühlt, als ich im Morgengrauen auf der Strickleiter wieder nach oben hangelte. In der Studierkammer noch viele weitere Stunden im Banne des Wolfskopfs: hypnotisch! U. als ich gegen 6 Uhr in die Halle trete: ein Krad-Melder direkt aus Berlin – –
Brauchte das Siegel nicht einmal zu brechen, um die Kunde zu erfahren: Alle meine Versuche, durch diplomat. Interventionen das Heranrücken der Schwarzröcke doch noch zu vereiteln, sind gescheitert; Eintreffen der Staffel bereits am 27. März. Muß auf allerhöchsten Befehl diverse Nebengebäude räumen u. der fatalen Truppe bedingungslos überlassen. Ihre Absichten: ungewiß; die Folgen für meine Forschungen im Gewölbe: wie ich jetzt schon ahne, katastrophal!
Schl. St., d. 28. III. 38
Starker Impuls, diesen Görsmann mit dem Bajonett zu züchtigen, wann immer er mich in pöbelhafter Weise – schulterklopfend, nahezu duzend – angeht: „Schon mal von rassischer Auslese gehört, Graf?“ Hat sich in sicherer Erwartung des Kriegsausbruchs wie ein Blutegel hier festgesetzt.
Mußten ihm u. seinen Schwarzröcken die alte Bräuhalle u. den nördlichen Wirtschaftsflügel überlassen. Was treiben sie dort? Vor allem aber: Wie schaffe ich mir Görsmann wieder vom Hals? Neben allem anderen ist der Mann auch noch grauenvoll neugierig: Hat sofort von Sorno u.s.f. Wind bekommen u. versucht abwechselnd mich u. den guten Cramsen auszufragen.
Schl. St., d. 29. III. 38
Die Rasse zu schützen, ihre Macht zu sichern, das Deutschtum auch, wie man heute sagt, „aufzunorden“: alles legitim. Argwöhne allerdings, daß Görsmann sein eigenes fatales Spiel spielt. Sein Interesse am Tod des bedauernswerten Alfons Sorno, den Umständen seines Ablebens u.s.f.: warum diese heiße Anteilnahme? Wie seine wäßrig blauen Augen zu leuchten beginnen, wenn er vom „Brunnen ohne Wiederkehr“ faselt!
Dagegen seine Aufgabe, offiziell: im Wirtschaftsflügel von Schloß St. vorübergehend Prüfstelle u. Sammellager einzurichten. Die ganze Schwarzrock-Rotte, darunter Mediziner, Psychologen u.s.f., darauf geeicht, angebliche „Waisenkinder“ einzusammeln u. auf rassische Anlagen zu untersuchen. Die Prüflinge erhalten Noten: Die Guten = Blonden u.s.f. kommen ins Kröpfchen der Staatspartei; die Schlechten = Slawischen u.s.f. ins Töpfchen, i.e. in eines der Lager, die anscheinend im ganzen Land eingerichtet werden.
Schl. St., d. 30. III. 38
Stundenlang in meditativer Betrachtung des Wolfskopfs: Wer hat dies düstere Kunstwerk gefertigt, wann? Wozu diente es: Bannzauber, Beschwörung, Kult? Ahne Ungeheures dort unten: dunkle, urgewaltige Macht. Muß um jeden Preis verhindern, daß Görsmann jemals davon erfährt; ergo: Solange er hier in Stiegliz sitzt, ist an Grabungen im Schloßhügel nicht zu denken.
Schl. St., d. 1. IV. 38
BERNSTEIN, lt. diversen Enzyklopädien, die ich in diesen Tagen befragte: fossiles Harz, auch Succinit oder Amber. – Ansonsten ärgerlich wenig Einigkeit unter den Herren Naturforschern: B. sei „hellgelb bis schwarzbraun u. durchsichtig bis undurchsichtig“; lädt sich beim Reiben negativ elektrisch auf; schmelze bei 290–380°C (!).
Entstehung: Erhärtetes Harz von Nadelbäumen aus Kreide bis Tertiär; aber wie in solchen Mengen entstanden? Auch hier Zwietracht der Enzyklopädisten: durch klimatische Veränderungen od. durch pathologische Transmutationen, die förmlich zur Verflüssigung, Verharzung, „Selbstergießung“ der vorzeitlichen Bäume geführt hätten. Auch die vermutete riesenhafte Größe damaliger Bäume wird ins Feld geführt; Eindruck insgesamt: B. ein rätselhafter Stoff.
Vorkommen: Meist durch Wasser, Eis od. Brandung an heutige sekundäre od. tertiäre Lagerstätte verfrachtet; dort in Schichten von Kreide bis heute gelagert. Bekannte Vorkommen mit Abbau im Samland; kleinere auch in Schlesien, Sachsen u.s.f.
Geschichte: Als Perlen u. Anhänger schon in späteiszeitl. Fundstätten; in der Mittel- u. Jungsteinzeit häufig anzutreffen in Form von Tier- u. Menschenskulpturen (v.a. Ostseeländer). Fernhandel mit B. seit der Bronzezeit; wichtigste Fundstätte schon damals: neben Jütland das Samland. Durch Auffindung von B.-Lagern (sic!) konnte früheisenzeitl. B.-Straße nachgewiesen werden. – Ab dem 13ten Jhndt.: Herausbildung des B.-Regals = Eigentumsrecht an B., das von den Herzogen von Pomerellen (f. Westpreußen u. Pommern) auf den Dt. Orden (auch f. Ostpreußen) überging; u.s.w. – –
Schl. St., d. 3. IV.38
Wieder in S-CXXII gestöbert: Jahresband MDCCCLI. Gibt gewiß keinen Grund, den Nachrichten dieses romantischen Ahnen ohne weiteres zu trauen: Mitte 19tes Jahrhundert, die hohe Zeit der Volksmärchensammler u.s.f. Kopiere seine Schnurren wohl nur aus steigender Verzweiflung: weil mir die Hände gebunden sind u. in den Chronikbänden nichts Handfesteres zu finden. Auffällig allerdings, daß Ahn Friedebert (mein Ururgroßvater) gerade auf diese Mär vom Heulen u. Stöhnen unter dem Schloßberg nochmals zurückkommt – u. zwar nicht irgendeinem Berg, sondern just dem Hügel, auf dem Schl. St. sich erhebt!
Friedebert v. Prohn z. St. also schreibt (S-CXXII: MDCCCLI, p. CLI):
Von L., einem hiesigen Volkskundler, gestern ein Seitenstück jener alten Mär erfahren, deren Korpus oben zitieret: Wer bei nächtlichem Sturmwinde durch den Park von Schloß St. promeniere, vernehme unfehlbar lautes Stöhnen u. Heulen aus dem Innern des Schloßberges – ungewiß, ob von den sündigen Rittern, die dort Höllenqualen erlitten, oder von den Opfern, welche weiterhin greulich geschunden würden. Sollen auch stets dann, wenn Vollmond u. Sturmwind zusammentreffen, ganze Heerscharen nackter Mahren durch den Park geistern, klagend u. wispernd, daß sie ihre Gottesäcker nicht wiederfänden u.s.f. – – Was aber die Mahren in dieser Rittersage zu suchen haben, vermochte auch L. mir nicht zu melden: Gehören, soweit ich weiß, eher ans Frische Haff, weiter östlich gar, als gerade hierher ins märkische Stiegliz. Wandte L. indessen als Märenkenner ein, selbst die Legendenhexe Stasy hätt’s auf wunderlichen Wegen ins Land von Lebus verschlagen. Dabei heiße die Vettel ursprünglich Saskia u. wisse heute niemand mehr zu sagen, was es mit ihr auf sich habe: allein, daß wilde Winde auch sie westwärts gerissen, wohl vor Jahrhunderten schon. – –
Verdrießt mich bei L. nur jedesmal, daß der gute Mann bei aller Kennerschaft nicht im mindesten an seine Geistlein, Hexen u. spukenden Ritter glaubt. „Was, Herr“, ging ich ihn darob an, „wenn ich jenes Knirschen unter dem Schloßhügel schon in mehr als einer Sturmnacht gehöret?“ – „Immer zum Scherzen aufgelegt, Euer Gnaden“, wollt’ der L. sich herauswinden, aber ich ließ ihn nicht: „Auch die Mahren hab’ ich geradezu in Dutzenden brausender Sommernächte schon gesehen; wobei sie zu sehen noch das Wenigste war.“ – Da wurde mir der liebe Herr L. aber ernstlich böse, drohte mit der Meerschaumpfeife u. wollte kein Wort mehr von heulenden Hügeln oder nackenden Mahren hören.
Schl. St., d. 5. IV. 38
Nun schon in 3ter Woche tags rasendes Stöbern in Chronik: noch immer fast nichts; nachts Scharren im Abgrund: nach dem grandiosen Fund der ersten Tage nur noch Geröll u. funkelnder Staub. Dazu aber wieder die Höllenmusik in der Tiefe, wölfisch winselnd, u. ein Glimmen wie von lauerndem Wolfsgelichter – –
Wie schaffe ich mir Gö. vom Halse?
Schlafe kaum mehr, u. wenn: Albträume; krieche dort unten im Felsensaal herum, in Erwartung ehrfurchterweckender Wunder; aber dann stürzen sich die Wölfe auf mich, ein dutzendköpfiges Rudel, das mich in gespenstischer Stille zerfleischt – –
Schl. St., d. 7. IV. 38
Bekomme mehr u. mehr Einblick in Görsmanns fatale Spiele: ein Verworfener, übler noch als von Anfang an geahnt. Nutzt seinen Posten für dunkel Persönliches, dessen Kenntnis in Berlin Entsetzen auslösen würde.
Lange darüber nachgedacht, ihn zu denunzieren. Die Partie wäre aber im voraus verloren: Landjunker ohne Parteibuch vs. Bonze in schwarzer Uniform. Auch würde Görsmann unfehlbar Rache üben, indem er sein geringes Wissen um die Dinge unter Schl. St. offenbarte. Die Folgen: unabsehbar; kommt unter keinen Umständen in Betracht.
Erwäge nun, ihn statt dessen durch Andeutungen unter Druck zu setzen. Könnte durchblicken lassen, was ich so mitbekommen habe; ihm nahelegen, seine „Prüfstelle“ unter einem leicht zu findenden Vorwand weiß die Hölle wohin zu verlegen. Noch haben sie dort gar nicht richtig zu arbeiten begonnen; warten noch, wie Görsmann mir im Vertrauen mitteilte, auf die offizielle Kriegserklärung, zu der man Warschau zu triezen versucht. Sammeln derweil nur hier in der Altmark ab u. zu „Waisenkinder“ ein: viele im Säuglingsalter noch, schreien zum Erbarmen. Die bei den langwierigen Prüfungen durchfallen, werden in die alten Stallungen gepfercht, bis ein LKW kommt u. das jämmerliche Trüppchen zum Bahnhof karrt.
Mag das alles immerhin noch Recht u. Gesetz sein, so geht Görsmann bei gewissen anderen Prüfungen anscheinend auf eigene Hand vor. Ob man in Berlin weiß, was er im Lagerraum der alten Bräuhalle privatim „sammelt u. prüft“? Nach Cramsens Zählung ein halbes Dutzend junger Slaven, die schon nach erstem Augenschein zum Aufnorden deutscher Rasse durchaus nicht taugen: breite Polengesichter, dunkle Augen, tiefschwarzes Haar. Schwadroniert G. aber nicht unablässig, ihr Himmelsborn nehme (da sich bei älteren die Erinnerung an die erste Heimat nie mehr gänzlich verlöre) nur Kinder von allenfalls vier Jahren auf? Die Kandidaten im Lagerraum dagegen, so Cramsen, auch in solcher Hinsicht aussichtslos. Wozu also diese speziellen Untersuchungen, die Görsmann übrigens stets allein durchführt?
Abgesehen davon, daß Einschreiten durch Moral u. Menschlichkeit geboten: Bin mehr denn je versucht, ihn mit diesen Heimlichkeiten unter Druck zu setzen. Fürchte den Verstand zu verlieren, wenn er nicht bald verschwindet u. ich endlich meine Forschungen unterm Schwarzen Saal vorantreiben kann. Muß aber auch die Gefahren bedenken: wenn der Stier Gö., in die Enge getrieben, blindlings ausbricht – –
Schl. St., d. 8. IV. 38
Im Jahresband des Ururgroßvaters fand ich heute einen weiteren Eintrag zu obiger Mär. Zitiere ihn hier nur der Vollständigkeit halber u. mangels besserer Neuigkeiten (in Sachen Gö. noch unentschlossen: fürchte, daß er unter kleinstem Druck die Nerven verliert):
S-CXXII: MDCCCLI, p. CCXII
MAHREN, lt. diverser Idiotika u.s.w., die ich in den letzten Tagen konsultieret: altpreußische Albenart; setzen sich nächtens auf die Brust des Schläfers u. „drücken“, weil eben das ihre Aufgabe sei. Sollen aber nicht Zwerge von Natur, sondern Kinder sein, meist halbwüchsige Knaben: irren durch die Lande, bis es Nacht wird u. sie Schläfer aufspüren, die sich placken lassen. Hocken auf der Brust, daß es die Luft abschnürt; legen sich wohl auch der Länge lang auf die schlafende Person; stecken ihr nach manchen Volkstumsforschern gar „die kalte Zunge in den Mund“: Da wird dem Schläfer das Atmen wohl vollends sauer sein.
Gehören nach neuerer Forschung (v. Harenberg et al.) sog. „Nachtwelt“ an, als welche so wahr und wirklich wie die allseits besser bekannte „Tagwelt“ existire, ja nichts anderes als die „Rückseite unserer Realität“ sei.
Abhilfe gegen Mahren (wie auch wider anderes Nachtvolk) sei nur zu schaffen, indem man sich weit genug aus dem Schlaf herausarbeite, um eine Hand zu regen u. den Mahr damit zu packen. Fängt der Mahr dann zu weinen an u. zu klagen: „Ich bitt’ schön, laß mich los.“ Darf sich der Schläfer indes nicht erweichen lassen: Nur wer unerbittlich festhält, wird ein für allemal seinen Mahr los. Muß der sich dann einen anderen Schläfer suchen, um fortan den zu plagen.
Das Festhalten übrigens soll mühselig sein; bis zum Morgendämmer ist der Mahr unsichtbar. Man spürt nur den Druck, mit dem er auf der Brust lastet; man fühlt es auch, wenn man ihn gepackt hat, „kalt u. fleischig“ in der Hand. Doch den Unsichtbaren Stunde um Stunde gepackt zu halten, kann zur harten Prüfung werden, zumal wenn’s im Finstern immer wieder winselt: „Ich bitt’ schön, laß mich los.“ Daher wohl auch die Empfehlung nüchtern denkender Märenforscher, in der Schlafkammer stets einen Schraubstock bereitzuhalten: Hat man den Mahr z.B. am Finger gepackt, schiebt man selbigen in den Stock u. dreht kräftig zu, wie das Gespenst auch greinen u. kreischen mag.
Hat man den Mahr bis ins Morgenlicht nicht ausgelassen, so soll der Bann gebrochen sein. Nach den verschiedenen Gewährsmännern tragen die Mahren allenfalls Leinen- oder Leichenhemdchen, nachtwandeln meist aber bleich u. bloß. Warum überhaupt sie geistern u. „drücken“ müssen, scheint nicht abschließend entschieden: Nach den einen sind Mahren natürliche Kinder, nur mit aufgewühlten Seelen, die so lange plagen müssen, bis die Seele wieder im Lot ist; nach den anderen sind es kleine Tote, die man nicht recht zu Grabe getragen; wieder andere wissen, daß die Mahren durch frevlerischen Zauber aus der Grube gehext worden seien: müßten nun auf immer placken u. drücken gehen, u. wär’ keine Erlösung für die bleichen Geister bis zum Jüngsten Tag.
Schl. St., d. 9. IV. 38
Meine Nerven seit längerem in kläglicher Verfassung: als ob jenes Winseln u. Heulen längst auch aus der Tiefe meines Innern erklänge bei Nacht u. bei Tag. Gehe durch den Park: überall Schwarzröcke; schleiche durch den Wirtschaftshof: die Stallungen von Schreien widerhallend; u. dann Görsmanns Verschlag in der alten Bräuhalle: unsagbar gräßlich, was Cramsen von dort rapportiert.
Ringe noch immer mit mir: Soll ich Görsmann zur Rede stellen, andeuten, wozu ich imstande wäre; fordern, daß er mit all seinen Schwarzröcken, Auslese- u. anderen Kandidaten sich trollt?
Schl. St., d. 10.IV.38
Vermag kaum zu glauben, was Cramsen mir eben zu den „Mahren“ meldete. Frage ihn halb scherzhaft, ob ihm solche je untergekommen – starrt mich der Alte aus weiten Augen an: „Herr Graf kennen doch sicher die Sage.“ – Ich schüttle den Kopf. – „Hier ist sie“, sagt er u. berichtet die Mär, wie nur er das vermag: genau im Wortlaut u. raunenden Tonfall, in dem er sie vor langen Jahren u. Jahrzehnten gehört haben mag.
Plagten die Mahren in alter Zeit keinen Weiler ärger als gerade Stiegliz. Im ganzen Lande um Lebus ging die Sage: Drückender bei Nacht ist’s nirgendwo als dort; so arg, daß kein Christenmensch in Stiegliz gelinden Schlaf finden mag. Ihre bleiche Haut, ihr helles Haar im Mondlicht flirrend wie Birkenblätter: So geistern sie durch die Stieglizer Wälder, wispernd u. klagend, in endlosen Reihen, zahlreicher als Birken u. Lärchen selbst. Lassen vom Wind sich hinein in den Weiler wehen, rütteln an jeder Tür, an jedem Tor u. finden nicht ein Haus verriegelt: Denn in Stiegliz, anders als überall sonst im Lande, läßt man die Mahren bereitwillig ein.
Hockt sich der Mahr dann auf die Brust des Schläfers u. gelingt es dem, ein Stück vom Mahr zu packen, ohne ihn auszulassen, bis der Morgen dämmert: so darf der Fänger seit altersher das Gespenst aufs Schloß hochschleppen u. erhält reichen Lohn. Und der Graf schnürt den Mahr dann zusammen auf alte Weise u. wirft ihn ins Verlies unter dem Schloßgewölbe hinab. Soll aber in Wahrheit ein schwarzes Erdloch sein, das tief hinunter in den Schloßhügel reicht: bis hinab zur versunkenen Burg, wo die sündigen Ritter sitzen u. tausend Jahre lang Mahren zu Grabe tragen müssen als Buße für die unsäglichen Greuel, so sie in alter Zeit getan – –
Laut Cramsen ohne Zweifel eine uralte Sage, die man sich seit jeher hier in der Gegend erzähle: Bin fassungslos. Die versunkene Burg, die sündigen Ritter, die in die Tiefe fahrenden Mahren: alles Unsinn, was sonst! Aber wie ihr Götter kommt’s, daß die Mär so viel u. so Seltsames von dem Loch unterm Schloß zu melden weiß, die gräfliche Chronik aber, wie ich auch brüte u. blättere, augenscheinlich nichts?
„Was für eine Frage, Hans! Natürlich weiß ich, was Bernstein ist: fossiles Harz, versteinert – und der Lieblingsschmuck meiner Frau.“ Lauber verzog das Gesicht und zerrte sein Taschentuch hervor, um sich den Schweiß von Stirn und Nacken zu wischen. „Warum fragst du?“
„Spielt jetzt keine Rolle.“ Dabei ließ Zirfas aber ein Dutzend Bernsteinkügelchen provozierend in seiner halb geschlossenen Faust klicken und funkeln. „Was ganz anderes, Knut: Hast du in den letzten Tagen diesen Prohn gesehen?“ Mit dem Kinn wies er zur östlichen Schloßmauer, die sich nur undeutlich hinter Birken und Lärchen abzeichnete: Der Tag neigte sich, und die sinkende Sonne hüllte Gestrüpp und Unterholz in Schatten ein.
Lauber schnaufte, eingeschüchtert durch Zirfas’ grimmige Laune, aber auch über seine Willkür empört: Vor wenigen Minuten waren der Kommissar und Worzak vor seinem Bürgermeisteramt vorgefahren, hatten ihn umstandslos auf den Rücksitz ihres Wagens verfrachtet und hier heraufgekarrt, zur Waldlichtung über Schloß Stiegliz, wo Horn und der ältere Zigorsky-Bruder vor zwei Tagen zu schaurigem Tanz ums Feuer geschwankt waren.
„Nein, hab’ ich nicht“, knurrte der Bürgermeister, entschlossen, sich wortkarg zu geben; dann aber brach’s doch aus ihm heraus: „Was wird hier gespielt, Hans – und auf welcher Seite stehst du? Wer sind diese Horden, die sich seit Tagen rings um Lebus und Stiegliz in den Wäldern sammeln? Warum unternehmt ihr nichts dagegen: ihr, die deutsche demokratische Polizei?“
Zirfas bleckte die Zähne, doch Lauber war, einmal in Fahrt, nicht so leicht zu bremsen – auch nicht durch die Stimme in seinem Innern, die zur Vorsicht riet:
„Wie viele Verletzte, Verstümmelte, Tote sollen wir noch aus der Oder holen, unter Gebüschen hervorziehen, mit blutigen Köpfen in den Straßen von Frankfurt oder Lebus auflesen – bis ihr endlich einschreitet? Hast du nichts davon gehört, Hans: daß sich auch auf der anderen Oderseite die Horden sammeln; daß auf beiden Seiten zum großen Kampf geblasen wird, zur Schlacht um Stiegliz, wie es sogar schon in Wandparolen heißt? Auf einmal erinnern sich die Leute im Dorf wieder an verstaubte Geschichten um Schloß Stiegliz: Von Geistern wird geraunt, die klagend durch die Wälder zögen – dabei weißt du so gut wie ich, daß diese Geister aus Fleisch und Blut sind – ihre Haare geschoren und die jungen Köpfe vernebelt vom alten Haß.“
„Hübsch reden kann er ja“, sagte Zirfas über die Schulter zu Worzak, der zwei Schritte hinter ihnen mit Lärchenzapfen jonglierte. „Aber er vergeudet seine Energie: Bis zur nächsten Bürgermeisterwahl ist es noch ‘ne Weile hin, außerdem darf ich in Stiegliz überhaupt nicht abstimmen.“
Abrupt war Lauber verstummt. Zirfas schien vor Hohn zu funkeln wie die Bröckchen in seiner Hand. Bernstein? Vergeblich versuchte er sich einen Reim auf diese jüngste Finte seines Gegenübers zu machen, der wie sprungbereit vor ihm auf der Lichtung stand. „Was willst du von mir, Hans?“ fragte er, wieder kleinlaut geworden. „Warum hast du mich hierher geschleppt?“
„Und warum versuchst du, angebliche Beweisstücke vor mir zu verbergen?“
Neuerlich brach Lauber der Schweiß aus; sprachlos starrte er den hageren Polizisten an.
„Du warst letzte Nacht dort drinnen“ – wieder deutete Zirfas mit dem Kinn zur Schloßmauer –, „weshalb, Knut? Um einer Handvoll junger Liebesleute zuzusehen, die einander mit kindsköpfigem Hexenkram einheizen?“