In der Nacht zum 28. Juni 1992 grollte Donner über Stiegliz, doch das in Schloß und Dorf gleichermaßen ersehnte Gewitter blieb abermals aus. Seit die Dunkelheit herabgesunken war, glich der Himmel über der Oder einem gewaltigen Gewölbe, gemauert aus schwarzen Steinen, oder einem riesenhaften Sargdeckel – je nachdem, wessen Blick sich über Dächer und Baumkronen erhob.
Karoly Zigorskys Blick war zu diesem Zeitpunkt längst (und unwiderruflich) gebrochen, aber vielleicht sah gerade er anstelle des Sargdeckels aus billigem Weichholz, der fünf Zentimeter über seiner Stirn verschraubt war, den offenen Himmel, weit und sternenübersät. Währenddessen war der Blick Margot Wegeners, die nackt und am ganzen Körper schwitzend auf ihrem Bett lag, verschwommen von Bernsteindämpfen, die sie soeben inhaliert hatte; und derweil vor ihrem mit Preßspan vernagelten Mansardenfenster die Nacht herabfiel, fuhr sie mit der „Wolfsbiß“-Statue über die entzündete Wunde an ihrer linken Achsel – den Mund der Saskia, der immer gebieterischer verlangte, daß sie die Wolfsflöte (mit dem Jünglingskopf voran) in ihn hineinstieß. Währenddessen sah Lisa Prohn klaren Blicks (mit jener Klarheit, die sich bei fortschreitender Verzweiflung einstellt) gegen die massive Steindecke, die sich tatsächlich zwei Meter über ihrer Lagerstatt erstreckte. Sie fror noch immer, und ihre Hände fühlten sich immer noch taub an, obwohl Georg Wilko ihr vorhin seinen schwarzen Pullover gebracht, ihre Fesseln an Händen und Füßen gelöst und ihr sogar geholfen hatte, den Pullover überzuziehen; und sie dachte an Alex (wie er lächelte, sie in den Arm nahm, sie ganz sachte küßte) und an Timo (wie er sich abwandte und davonging), an die Bilder, die sie noch hatte malen oder zeichnen wollen, und an den Tod. Währenddessen kniete Kai Wilko immer noch auf dem nackten Boden, mehr ohnmächtig als schlafend, an den Schemelrand geklammert und seine Stirn in die Armbeuge gebettet, so daß auch sein Blick, selbst wenn er irgendwann in der Nacht zu sich käme, nicht etwa den Himmel berühren, sondern gegen Schemelholz stoßen würde.
Währenddessen war Alex Gertens Blick geradewegs zum Himmel gerichtet, wenn auch zum inneren Firmament seiner Besorgnis und seines Zorns. Nach einer zuletzt lautstarken Auseinandersetzung mit Timo (die Himmel und Erde ihrer Freundschaft heftig erschüttert hatte), war er nach draußen gestürmt und hatte die Orangerietür so wütend ins Schloß geworfen, daß das ganze Glashaus klirrend erbebt war.
Seither lief er durch den Park, bestürzt über ihr Zerwürfnis, das sich indessen seit längerem angebahnt hatte: Er verstand einfach nicht mehr, was in Timo vorging, oder vielmehr: Mehr und mehr erging es ihm wie Lisa, die eines Tages erkannt hatte, daß der Mann, den sie vor zehn Jahren geheiratet hatte, nur eine Fassade aus Floskeln und Gewohnheiten gewesen war, hinter der mehr und mehr der wirkliche Timo hervorkam – ein verblendeter, ganz und gar selbstbezogener Timo, der von seinen kindischen Wunschbildern wie von einem Spiegelkabinett umschlossen schien.
Am allerwenigsten konnte Alex begreifen, daß Timo keine Skrupel hatte, den von Söllner angebotenen Vertrag zu unterschreiben. Im Stockfinstern stolperte er über einen Steinbrocken, der sich nahe der Westwand aus der Wiese wölbte, und hörte zugleich aufs neue, wie Timo in höhnischem Tonfall zurückgab: „Und das sagst gerade du, der tagaus, tagein mit Finstermännern wie Carl Söllner Geschäfte macht?“
Der Vorwurf schmerzte Alex gleich zweifach – weil er nicht ganz unberechtigt und weil er dennoch ganz und gar ungerecht war. Natürlich konnte man nicht im gehobenen Management einer Großbank in Frankfurt (West oder Ost) arbeiten und sich gleichzeitig die Unschuld eines Eremitenmönchs bewahren, und er hatte auch nie behauptet – oder gar angestrebt –, wie ein Moralapostel zu leben. Dafür liebte er die Großzügigkeit seines Appartements und die Sicherheit seiner wohlgefüllten Bankkonten, den törichten Luxus seines Acht-Zylinder-Daimlers und vor allem seine meist kostspieligen Affären viel zu sehr. Aber immerhin hatte er in seinem Beruf einige spürbare Nachteile in Kauf genommen, damit seine Weste und sein Gewissen halbwegs sauber blieben. Mehrfach hatte er lukrative Beförderungen ausgeschlagen und sich letzten Endes mit einer mittelprächtigen Karriere beschieden, weil ihm natürlich bewußt war, daß man ab einer gewissen Etage nicht mehr nur gelegentlich mit dreckigem Geld zu tun hatte, mit skrupellosen Geschäftemachern, deren Vermögen auf tausendfachem Leid und Tod begründet war.
„Und was Carl Söllner angeht“ (so Alex zu Timo, bereits mit erhobener Stimme, während sie beide erregt in der Orangerie auf und ab marschierten), „was Söllner betrifft, weißt du so gut wie ich – oder könntest es jedenfalls wissen –, daß man ihm bisher kein einziges der Vergehen und Verbrechen nachweisen konnte, mit denen er immer wieder in Verbindung gebracht wurde: weder eine Vergangenheit bei der SS, von der seit langem gemunkelt wird, noch irgendwelche Kontakte zu dem sogenannten ‚Neuen Bund’, den er angeblich vor Jahren selbst gegründet hat und auf dunklen Wegen finanziert. Mir ist der Mann persönlich zwar äußerst unsympathisch – genauso übrigens wie sein schneidiger Gehilfe Harding –, aber bisher hatte ich zumindest keinen Anlaß und schon gar keine Handhabe, Söllner als Kunden meiner Bank abzulehnen. Bei dir aber und bei diesem Vertrag, den er dir anbietet“ – er deutete auf Timos Schreibtisch, wo die fatalen Blätter neben Kartons voll alter Fotos lagen –, „bei dir sieht die Sache völlig anders aus, Timo: Wie wir inzwischen wissen, ist Söllner alias Görsmann ein Massenmörder, der vor fünfzig Jahren mindestens dreißig oder vierzig polnische Kinder zu Tode geschunden hat. Wenn er jetzt versucht, dieses Schloß um jeden Preis in seinen Besitz zu bringen, beabsichtigt er entweder, die Spuren seiner damaligen Untaten zu vertuschen, bevor man ihm doch noch auf die Schliche kommt – oder er hat sogar vor, weitere Verbrechen im damaligen Stil zu begehen. So oder so würdest du dich in jeder Hinsicht mitschuldig machen, wenn du ihm und seinen Schergen hier das Feld überläßt.“
„Ich mach’s doch nur für Lisa“, hatte Timo eingewendet, mit dünner Stimme und ohne ihn anzusehen. Da aber war Alex vollends explodiert und hatte zu schreien begonnen und sich zusammenreißen müssen, damit er Timo nicht ins Gesicht schlug:
„Du tust es nicht für Lisa, verdammt noch mal, sondern einzig und allein, weil du hoffst, dich auf einen Schlag von allem loskaufen zu können – von Lisa, von Kai, von deinen unerfreulichen Erinnerungen und eurer ganzen Vergangenheit –, um mit dieser Margot durchzubrennen wie ein verknallter Primaner! Wach endlich auf, Timo!“ hatte er geschrien (in der Pause zwischen zwei Donnerstößen). „Du glaubst doch nicht im Ernst, daß dein Bruder den ganzen Zauber mit der Entführung und diesen Bernsteinsachen angezettelt hat, nur um dir ein paar Millionen abzupressen? Was immer er von dir will, was immer er mit dir noch abzurechnen hat – um Geld geht es ihm bestimmt nicht, und schon gar nicht um Görsmanns dreckige Millionen!“
Aber Timo hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört, offenbar längst entschlossen, den Vertrag abzuschließen (und damit auch – wie eine Tresortür – seine Vergangenheit): „Trowal selbst hat diese Alternative schließlich ins Spiel gebracht – eine siebenstellige Summe, falls ich die Figur nicht wieder herbeischaffen kann. Und da mir das Glück jetzt einen solchen Betrag in die Hand spielt, müßte ich ja verrückt sein, diese Chance auszuschlagen.“ Er war vor Alex stehengeblieben, scheinbar gelassen (aber es war die Ruhe eines Schlafwandlers, dachte Alex, die trügerische Sicherheit kurz vor dem Absturz). „Und noch eins, nur zur Klarstellung: Das alles ist sowieso allein meine Sache – meine Entscheidung, mein Leben –, obwohl du natürlich recht hast: Ich will von Kai nichts wissen, falls er tatsächlich noch am Leben sein sollte – ihn nicht sehen, nichts von ihm hören, mich schon gar nicht vor ihm rechtfertigen müssen: Er hat mich damals im Stich gelassen, jetzt kann er mir gestohlen bleiben. Und auch darin gebe ich dir recht: Zu Lisa, in mein altes Leben, will ich nicht zurück; aber auch das geht nur mich etwas an – mich und Margot.“
Diese letzten Worte hatte Timo schon mehr gemurmelt als laut ausgesprochen, wie etwas Banales, das sowieso auf der Hand lag; dann war er an seinen Schreibtisch getreten und hatte nach dem bereitliegenden Kugelschreiber gegriffen.
Und daraufhin Alex’ allerletzter Versuch, ihn umzustimmen, zumindest aufzurütteln: „Ich habe mir mein Leben genauso eingerichtet, wie ich es mir schon mit zwanzig vorgestellt hatte“ („mit genügend Frauen, Freizeit und Finanzen“, wie er an dieser Stelle zu präzisieren pflegte) – „und du, Timo? Hast du damals nicht davon geträumt, der Welt mit deiner Fotokunst einen Spiegel vorzuhalten – und gerade den Leuten, die immer glauben, daß sich durch Geld – vor allem durch altes Geld – jedes Problem wegzaubern ließe?“
Timo hatte, schon mit dem Rücken zu ihm, ganz kurz innegehalten, wie jemand, den ein kalter Schreck durchfährt. Dann hatte er sich über die Verträge gebeugt und beide Exemplare rasch und schwunglos unterzeichnet: Schloß Stiegliz, den 28.6.1992 – Timotheus Prohn.
Am frühen Abend des 20. September 1953, als Heribert und Gesine Prohn, Graf und Gräfin zu Stiegliz, mit ihren beiden Söhnen Timotheus und Kai im sogenannten Grenzdurchgangslager Friedland (Niedersachsen) eintrafen, waren die umgewidmeten Stallungen des vormaligen Versuchsguts für Zuchtexperimente ebenso wie die sogenannten Nissenhütten (gedrängte Reihen von Blechbaracken, die seit 1949 auf den stillgelegten Feldern errichtet worden waren) mit Übersiedlern und Flüchtlingen aus den „zur Zeit besetzten Ostgebieten“ überfüllt. Man wies der erschöpften Familie, die offiziell als „Flüchtlinge“ registriert wurde, eine winzige Wellblechbaracke an, mit zwei mal zwei eisernen Etagenbetten nebst zweiflügeligem Blechspind für ihre Habseligkeiten, die lediglich vier Handkoffer umfaßten. Der ominöse „Kleinkindsarg“ ruhte zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Erdloch, das Heribert Prohn im Waldstück knapp hinter der Grenze zwischen Deut- und -schland hastig freigescharrt hatte, nachdem es ihm gelungen war, den Zug auf offener Strecke zum Stehen zu bringen, wenige Kilometer vor ihrem Ziel.
Wie Kai annahm (der auch über diesen Punkt seitdem immer wieder nachgegrübelt hatte), war ihre gesamte „Flucht“ eine wohlgeordnete und von väterlicher Hand sorgsam vorbereitete Übersiedlung gewesen, so daß sie schließlich, obwohl im Personenzug (ehemals) zweiter Klasse reisend, weniger auf Schienen als auf dem Schmiermittel üppig ausgeschütteter Bestechungsgelder dahinglitten, von ihrer schäbigen Holzbaracke am Rand von Dorf Stiegliz bis zur sogar noch schäbigeren Nissenhütte in Friedland, wo Heribert Prohn seine Frau und seine beiden Söhne mit hölzerner Feierlichkeit umarmte. Auch der kurze Stop auf offener Strecke, an einer für Vergrabungszwecke wohlgeeigneten Stelle, war zweifellos von der entengrünen Holzbaracke aus vorbereitet worden; jedenfalls kehrte der Vater bereits nach wenigen Minuten in ihren Waggon zurück, mit erdgeschwärzten Händen, wie Kai registrierte, und mit siegesgewisser, wenn auch weiterhin angespannter Miene.
Timo dagegen und wohl auch seine Mutter Gesine schienen nicht einmal bemerkt zu haben, daß der Vater zwischenzeitlich ihr Abteil verlassen hatte, geschweige denn, daß er den „Kleinkindsarg“ aus dem Gepäckgitter gewuchtet hatte und wenig später ohne die schwarze Kiste (dafür mit schwarz geränderten Fingernägeln, mit Erdbrocken und Laubfragmenten an Ärmeln und Knien) zurückgekehrt war. Wie Heribert Prohn sie zu Beginn ihrer „Flucht“ angewiesen hatte (als sie alle vier vor der Holzbaracke standen, in Erwartung des Erntewagens, der sie mitsamt ihren Gepäckstücken zum Bahnhof von Frankfurt (Oder) karren sollte), hatten Gesine und Timo ihre Blicke während der gesamten Zugfahrt kaum jemals von den dickleibigen Büchern in ihren Schößen gelöst: Der damals vierzehnjährige Timo las Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ (wie Kai sich mit Bestimmtheit erinnerte); seine Mutter dagegen folgte mit erschrockener Miene dem vorhersehbaren Auf und Ab „irgendeiner Kitschromanze, die unser Vater für sie ausgesucht hatte“ (so Kai zu Lisa, die schweigend seinen nächtlichen Betrachtungen lauschte, in Georgs schwarzem Pullover fröstelnd, halb hypnotisiert vom Blitzen und Funkeln des bernsteinbesetzten Dolchs in Kais Hand).
In Friedland, wo die Zeit zu Tagen, Wochen zähen Wartens eingebrockt schien, verbrachte Kai unzählige Stunden damit, über den Inhalt des „Kleinkindsargs“ zu rätseln: Geheimakten? Gold? Mehrmals versuchte er auch, Timo in seine phantastischen Spekulationen hineinzuziehen – ein Schatz? ein mumifizierter Leichnam? Aber der Bruder wies ihn jedesmal zurück, meist mehr mit Blicken und Schulterzucken als mit Worten; nur einmal fuhr er ihn an: „Was scheren dich Vaters Angelegenheiten?“ Danach versuchte Kai lange Zeit nicht mehr, Timo wegen des „Kleinkindsargs“ ins Vertrauen zu ziehen.
Ihre brüderliche Beziehung war schon in den Jahren davor immer brüchiger geworden. In Friedland schien sie vollends zu zerschellen – „an Timos Hochmut“ (so Kai zu Lisa) und an den Selbstzweifeln, die sich seit langem in Kais Innerem voranfraßen. Offenkundig sahen der Vater und sein „Stammhalter“ ihn, den Zweitgeborenen, Grünäugigen, als Geschöpf minderen Ranges an, als jemanden, der „wild und stark“ war, „geschickt und unbekümmert“, den sie jedoch niemals ins Vertrauen zogen, der nie ernstlich in Betracht kam, vor dem sie alle wichtigen Dinge ganz selbstverständlich geheimhielten. Nur warum dies alles so war, hatte Kai nie verstanden, nicht in seinen ersten Jahren, als sie im Herrenhaus lebten, nicht in der Holzbaracke und auch nicht in ihrer Nissenhütte im Lager Friedland, wo sie auf engstem Raum hausten und wo doch der Abstand zwischen ihm und den anderen auf rätselhafte, ganz und gar unheimliche Weise wuchs.
Bis der Vater eines Tages Besuch erhielt: von einem Fremden namens Heinrich Porstner, „einem Herrn in elegantem Ledermantel“ laut Timo, der Heribert Prohn zu diesem Treffen begleiten durfte (so Kai zu Lisa) oder mußte (so anschließend Timo). Inzwischen war es Winter geworden; seit über zwei Monaten hausten sie in der Nissenhütte, und das Lager und die umliegenden Felder waren meterhoch verschneit. Auf knirschendem Pfad, zwischen den aufgehäuften Schneewällen, gingen Vater und Sohn davon (beide schmal und wenig über mittelgroß, beide sehr aufrecht, mit abgetragenen Mänteln und scharf gescheiteltem sandbraunem Haar), unter dem blendend blauen Dezemberhimmel auf das Steinhaus neben dem Lagereingang zu, wo jener Herr Porstner im Besucherraum wartete.
Wie gerne wäre Kai mit den beiden mitgegangen – oder, noch sehr viel lieber, allein mit dem Vater, anstelle von Timo, der dieses ungeheure Privileg ohnehin nur lästig fand. Aber er mußte zurückbleiben, wie immer – er stand in der Tür ihrer Blechhütte, den beiden hinterherschauend, indem er seine Augen gegen die Schneesonne beschirmte, als er auf einmal ihre Hände auf seinen Schultern fühlte – „die Hände der Mutter“, wie er sie für sich benannte. Schon damals brachte er es seit langem nicht mehr über sich, Gesine auch nur in Gedanken als „meine Mutter“ zu bezeichnen:
„Sie ist nicht meine Mutter, das hatte ich schon als ganz kleines Kind gespürt; dieses Gefühl war mit den Jahren immer stärker, immer deutlicher geworden, und an jenem Sonntag vormittag in Friedland, als Vater und Timo davongingen und sie mir ihre weichen, fast gewichtlosen Hände auf die Schultern legte, mußte ich mich beherrschen, um nicht herumzufahren und sie zurückzustoßen, ihre Hände von mir abzuschütteln, ihr meine Faust ins Gesicht zu schlagen und sie anzuschreien: Laß mich zufrieden, ich hasse dich und euch alle drei!“ (Diese Worte stieß Kai mit erhobener Stimme und in abgehacktem Tonfall hervor, wobei sein Blick durch Lisa und selbst durch die massive Steinwand ihres Gelasses hindurchzugehen schien – und Lisa verschränkte fröstelnd die Arme vor ihrer Brust und hörte weiterhin wortlos zu, wie unter ihnen der „Wolfsgott“ heulte und winselte und wie zwei Schritte rechterhand der wuchtige Mann auf dem Schemel, den Bernsteindolch in seiner verstümmelten Rechten, immer tiefer in seinen Erinnerungen versank.)
„Glatzkopf, eleganter, dunkelgrauer Ledermantel – wie oft soll ich’s denn noch sagen!“ (So Timo unmittelbar nach jenem Treffen zu Kai, der ihn vor der Nissenhütte abgepaßt und geschickt hinter einen meterhohen Schneehaufen manövriert hatte.) „Meine Güte, natürlich hab’ ich nicht die ganze Zeit zugehört, was die beiden da zu besprechen hatten; aber wenn es dich beruhigt, Kleiner: Vater hat das Nötige in die Wege geleitet. Dieser Herr Porstner, ein Unternehmer aus der Gegend von Frankfurt-West – hier ist übrigens seine Karte –, wird ihm irgend etwas abkaufen, und danach kommen wir hier raus und ziehen in eine Villa, die unserem Stand angemessen ist.“
„Etwas – aus dem Kleinkindsarg?“ Während er fragte, schielte Kai nach der Visitenkarte, die Timo vor seinen Augen schwenkte: H. Porstner – Unternehmungen – Buchhain bei Fr.a.M. – Bornstraße 3.
Anstelle einer Antwort sah Timo ihn nur mürrisch an – ungewiß, ob er überhaupt verstanden hatte, worauf Kai hinauswollte; jedenfalls schien er nicht gewillt, sich auch nur einen Moment länger ausfragen zu lassen. Nachlässig schob er die Visitenkarte zurück in seine Manteltasche, aus der eine Ecke des Romans ragte, an dem er gerade las („Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ – immer noch Dostojewskij); und als Kai das Buch sah, war ihm klar, daß Timo von dem Treffen zwischen ihrem Vater und Porstner wohl tatsächlich kaum mehr mitbekommen hatte als die wenigen Bruchstücke, die er mühsam genug seinem Gedächtnis abgepreßt hatte.
(„Schon in unserer Kindheit hatte Timo dieses Talent, alles gleich wieder zu vergessen, was ihm aus irgendwelchen Gründen lästig oder unbehaglich war. In Friedland und danach hat er diese Fähigkeit zur Meisterschaft entwickelt“, so Kai zu Lisa, „was ich mir damals so erklärte: Der Widerspruch zwischen der Rolle, die er unserem Vater nachspielte, und der Wirklichkeit, in der er lebte – oder eben so wenig wie möglich lebte –, ließ ihm keine andere Wahl als alles, was ihn auf diesen Widerspruch stoßen könnte, gleich wieder zu vergessen oder gar nicht erst wahrzunehmen.“ – Lisa wandte sich ab, damit er die Tränen in ihren Augen nicht bemerkte; aber sein Blick ging ohnehin weit an ihr vorbei, in die Vergangenheit.)
Ihre brüderliche Abmachung, die noch aus der Stieglizer Zeit stammte, sah vor, daß Kai für derlei Befragungen bezahlen mußte, während Timo die Beantwortung jeder beliebigen Frage verweigern und die Befragung jederzeit und ohne Angabe von Gründen abbrechen durfte. Für Kai war es die einzige Möglichkeit, zumindest ein paar verfälschte und verstümmelte Bruchstücke von den Geheimnissen zu erhaschen, die sonst methodisch vor ihm verborgen wurden. Daher blieb ihm keine andere Wahl, als die von Timo aufgestellten Spielregeln zu akzeptieren. Als Gegenleistung für die mehr oder minder wertlosen Happen, die er seinem Bruder jeweils hinwarf, konnte Timo nahezu alles von Kai verlangen – jede Narretei, jede haarsträubende Mutprobe, was immer ihm in den Sinn kam.
An jenem klirrend kalten Wintertag in Friedland, nach der Unterredung zwischen ihrem Vater und „Heinrich Porstner, dem Glatzkopf im eleganten Ledermantel“, befahl Timo seinem Bruder, sich bis aufs Hemd auszuziehen und eigenhändig in eine Schneewehe einzugraben. Kai unterzog sich noch am gleichen Tag, an einer entlegenen Stelle am Rand des Lagers, der geforderten Tortur, und wie jedesmal, wenn er solche „Gegenleistungen“ erbrachte, schien Timo wenig interessiert: Er „überwachte den Vorgang“, doch er schien sich an Kais Gänsehaut, seinen blauen Lippen, seinem rasenden Zittern nicht zu weiden, im Gegenteil: „Er machte immer den Eindruck, als ob ihm derlei Prozeduren notwendig erschienen, aber mehr noch unangenehm seien – weshalb er auch das wohl gleich wieder vergaß“ (so Kai zu Lisa, die ihn ansah und doch nur das gräßliche Bild vor sich sah: wie der eine Bruder sich halbnackt und zitternd in einen Schneehaufen eingrub und der andere ihn dabei „überwachte“, in seinen Wintermantel gehüllt). Während Kai damals eine Erkältung mit hartnäckigem Husten und bedrohlichen Fieberschüben davontrug, die er vielleicht nicht einmal überlebt hätte ohne jene körperliche Kraft und Zähigkeit, die ihm mit auf die Welt gegeben worden waren – „das Erbteil der wilden Wilka, das Männer wie Timo seit alter Zeit mir und meinesgleichen neiden und das sie gleichzeitig an uns hassen; weshalb sie uns immer schon nachgeahmt und gejagt, bewundert und totgeschlagen haben, ohne diesen Widerspruch jemals zuzugeben.“
(Aber sie waren Kinder, dachte Lisa wieder, auch damals immer noch Kinder: Kai dreizehn, Timo vierzehn Jahre; verstörte, entwurzelte Kinder, dachte sie und versuchte wieder und wieder, sich mit derlei Wortgeklingel zu trösten.)
Wie wenig Alex mich doch kennt und versteht, dachte Timo, als er die unterzeichneten Verträge vom Schreibtisch in der Orangerie nahm, beide Exemplare vierfach faltete und in die linke Gesäßtasche seiner Jeans steckte. Und wie boshaft, mich ausgerechnet jetzt mit meinen alten Künstlerträumen zu konfrontieren: als ob ich diese Träume jemals vergessen hätte und als ob ich nicht auch deshalb ein neues Leben anfangen will – ohne Lisa und ohne mein verfluchtes Werbeatelier: um endlich die radikale fotografische Kunst zu verwirklichen, die mir seit Jahren und Jahrzehnten durch den Kopf spukt!
Tatsächlich hatte er Alex Mitte der sechziger Jahre durch seine Annonce in einem Kunstmagazin kennengelernt, mit der er selbst sich als „künstlerischer Fotograf“ anpries, der „traditionsreiche Intérieurs für unkonventionelle Foto-Sessions“ suchte. Alex war sofort von seiner Idee entflammt; nur verfügte auch er weder über „traditionsreiche Intérieurs“ noch über nennenswerte Beziehungen zum „altdeutschen Geldadel“, auf den die Annonce eigentlich gemünzt war. Allerdings hatte Timo mit Alex zumindest einen Mitstreiter gewonnen, einen jungen Mann wie er selbst, der am Beginn einer Finanzkarriere stand und sich gleichwohl für Timos künstlerische Ideen begeisterte:
„Ich will die wirklich Reichen in ihren herrschaftlichen Villen und prunkvollen Anwesen fotografieren“, so Timo mit sechs- und noch mit achtundzwanzig Jahren, „in ihren Herrenzimmern und Salons und vergoldeten Bädern und in ihren Jahrhunderte alten Parks und Renaissance-Lusthäusern; die Sippen, die seit vielen Generationen reich und mächtig sind und deren Nachkommen ganz selbstverständlich wieder in die vorderen Machtpositionen gelangen. Aber ich will diese ehrwürdigen Schauplätze, diese geschmackvollen Traditionskulissen durch kleine, gezielte Verfremdungen zur Kenntlichkeit entstellen“ (so Timo weiter, mit Anleihen beim philosophisch-revolutionären Jargon jener Zeit).
Durch Alex’ Interesse und Lob ermutigt, entwickelte er eine Reihe minimalistischer Ideen, um die traditionsreichen Intérieurs mit maximaler Wirkung zu verfremden: Schlafzimmer eines Präsidenten und seiner Gattin (Stricke und Handschellen an der weiblichen Seite des Ehebetts); herrschaftlicher Steingarten (die Felsbrocken sind gebeugte Rücken eingegrabener Figuren); Schreibtisch eines Vorstandsvorsitzenden (zwischen Schreibgeräten, Aktenordnern und ähnlichen Büro-Utensilien liegen Daumenschrauben und Mundbirnen, säuberlich eingeordnet); und so weiter. Timo besaß damals lange Listen solcher Foto-Ideen, und wo er ging und stand, kamen ihm weitere effektvolle Arrangements in den Sinn, die er in genialischer Manier auf Servietten, Zeitungsränder, sogar auf seine Hemdmanschetten notierte.
Unglücklicherweise stieß seine Konzeption jedoch beim „uralten Finanzadel“ auf keinerlei Gegenliebe. Mit Alex’ Hilfe gelang es ihm immerhin, bei zwei oder drei Nachkommen „einflußreicher Geldsippen“ vorzusprechen; aber sobald er sein Konzept der „künstlerischen Verfremdung“ zu erläutern begann und die vorgesehenen, überwiegend ritterzeitlichen Requisiten ins Spiel brachte, versteinerten die Mienen seiner Gesprächspartner, und gleich darauf fand sich Timo vor dem Tor des betreffenden Anwesens wieder, das sich nie mehr für ihn öffnen sollte.
Dabei hatte er seine kühnste und konsequenteste Foto-Idee vor seinen hochwohlgeborenen Gegenübern nicht einmal erwähnt: „Das ganze Mittelalter-Brimborium mit Mundbirnen und Bleikugeln, mit Streckbetten und Daumenschrauben“ (so Timo damals zu Alex, während einer ihrer hitzigen Debatten, die selten vor dem Morgengrauen endeten), „können wir uns natürlich schenken, wenn wir die Leute dazu bringen, sich in ihren Häusern und Zimmern nackt fotografieren zu lassen: Ihre deformierten Körper und die starre Pracht der Kulissen, das kaputte Fleisch und die formvollendete Architektur würden einen viel aufschlußreicheren Kontrast ergeben als jedes Arrangement, das wir uns ausdenken könnten.“ –
Über diesen unerwarteten Erinnerungen war Timo heiß und beinahe heiligmäßig zumute geworden: O ja, dachte er, das alles steckt immer noch in mir; diese Schöpferkraft und diese Unerbittlichkeit warten nur darauf, endlich verwirklicht zu werden! Mit einem Mal schien es ihm, als hätte nur Lisa ihn immer daran gehindert, seine radikale Fotokunst umzusetzen (und als würde ausgerechnet Margot sein verkümmertes Künstlertum wieder beflügeln) – Lisa mit ihrer leisen, ängstlichen Art, dachte er, mit ihren bürgerlichen Bedürfnissen und ihren halbherzig gestrichelten Illustrationen, mit ihrem letzten Endes doch nur beschönigenden Kinderbildgekritzel; Lisa, die sich selbst den Titel Künstlerin zugelegt hatte, während er mehr und mehr in seine Werbefoto-Wüstenei abgedrängt worden war, wo er für ihre Bequemlichkeit schuften und sich von stumpfsinnigen Werbekunden beschimpfen lassen mußte („Was glauben Sie, wen unsere Modekollektion ansprechen soll, Herr Prohn – transsylvanische Vampire?“)
Aber damit würde nun Schluß sein, schwor sich Timo, indem er schnaufend und schwitzend in der Orangerie auf und ab ging, bei anhaltendem Donnergrollen und dürftigem Kerzenlicht, da wieder einmal der Strom ausgefallen war. Heute noch würde er dafür sorgen, daß diese heuchlerische Schmierenkomödie vom Spielplan seines Lebens abgesetzt würde, indem er den Vertrag mit Söllner abschloß, den Millionenbetrag entgegennahm und Lisa selbstverständlich freikaufte. Aber höchstwahrscheinlich würde er hierfür nicht einmal die gesamten drei Millionen benötigen, sondern vielleicht eine Million oder wenigstens fünfhunderttausend Mark zurückbehalten, die er in seine Taschen stopfen würde, um ohne einen Blick zurück, ohne das kleinste Gepäckstück auf- und davonzugehen, Hand in Hand mit Margot.
Er sah auf seine Armbanduhr, ein Geschenk von Lisa: noch zwei Stunden, bis Carl Söllner (laut Zirfas) eintreffen würde, just zur Mitternacht, theatralischerweise. Aber wenn der Herr dramatische Auftritte liebte, warum nicht, dachte Timo, unser Abgang wird um so heiterer sein, nicht schicksalsschwer, romantisch, tränenselig, sondern von komödiantischer Leichtigkeit.
Während er dies dachte, erschien Margots Abbild immer deutlicher, immer bedrängender vor ihm: Wer weiß, sagte sich Timo, vielleicht wartet sie längst auf mich, draußen im Park. Mit einem Mal begann sein Herz wieder hart und hämmernd zu schlagen, und er roch den Duft ihres Haars (das von Natur aus braun war und das sie seit dem Tod ihres Vaters kupferrot färbte, aber das wußte Timo nicht) und sah in ihre ein wenig schräg geschnittenen Katzenaugen. Ohne sich länger zu besinnen, eilte er zur Glastür und lief (wie Alex eine halbe Stunde vorher) hinaus in den Park, wo immer noch der Donner grollte, als wäre nicht nur Wolfsgott Patollo, sondern auch der prussische Himmels- und Donnergott Perkunos vor siebenhundert Jahren mit Supplit und Saskia nach Burg Stiegliz geflohen.
Als Heribert und Gesine Prohn am Dienstag, dem 22. Dezember 1953, zu ihrer letzten Reise aufbrachen, lag Kai immer noch darnieder, von Fieber und rauhem Husten malträtiert. Mit ihren russischen Fellmützen und den abgetragenen Pelzmänteln „aus besserer Zeit“ traten sein Vater und die Mutter an sein Bett. Gesine strich ihm übers Haar, und sein Vater schüttelte ihm die Hand, mit ernster Miene wie immer („Höre auf Timo und den Arzt; ich bin heute abend zurück“). Als die Mutter sich über ihn beugte, um ihn zaghaft auf die Wange zu küssen, wandte sich Kai (der in diesem Moment bereute, Timo das untere Etagenbett abgebettelt zu haben, bis er wieder bei Kräften wäre) ab und sah aus dem schmalen Fenster ihrer Nissenhütte, vor dem unablässig Schnee fiel, wie seit Tagen und Wochen. Kurz darauf gingen die Mutter und sein Vater schon vor dem Fenster vorbei, Mäntel und Mützen mit Schneeflocken getüpfelt, ihre Atemwölkchen vor ihnen in der bleifarbenen Winterluft tanzend; und das war das letzte Mal, daß er die beiden sah.
Es sollte das entscheidende Treffen mit „Heinrich Porstner“ werden, jedenfalls laut Timo: Der Vater hatte alles Erforderliche geregelt, Fahrkarten besorgt, Reisegenehmigungen für sich und seine Frau erhalten. Jetzt ging es nur noch darum, mit Porstner am vereinbarten Ort zusammenzutreffen und den Handel abzuschließen. „Wenn alles gutgeht, kaufen sie heute noch das Anwesen, das Porstner für uns ausgesucht hat“, so Timo mit gedämpfter Stimme in ihrer Nissenhütte, „und dann ist dieser Alptraum hier noch vor Neujahr vorbei!“
Kai verkroch sich tiefer unter seine Decke, vor Fieber glühend, aber mehr noch vor Neugierde, welcher Art der „Handel“ sein mochte, den ihr Vater und der geheimnisvolle Herr Porstner abschließen wollten. Überraschenderweise hatte Timo diese Informationen ohne „Gegenleistung“ preisgegeben, was immerhin auf einen Anflug von schlechtem Gewissen schließen ließ. Nun aber verzog er sich mit seiner jüngsten Lektüre („Der Spieler“) auf das obere Etagenbett und überließ Kai seinen Fieberträumen, in denen der „Kleinkindsarg“ und ein gesichtsloser Glatzkopf in elegantem Ledermantel so dämonische wie rätselhafte Rollen spielten. (Würde der Vater vorher zu jenem Versteck fahren und die schwarze Kiste wieder ausgraben? Eine Möglichkeit, die Kai in seinen fiebrigen Phantasien so sehr beunruhigte, daß er dem Vater im Halbschlaf zurief: „Tu’s nicht!“)
Tatsächlich (so jedenfalls die kriminalpolizeiliche Rekonstruktion der Ereignisse) reisten Heribert und Gesine Prohn an jenem Dienstag, zwei Tage vor Heiligabend 1953, mit der Bahn geradewegs von Friedland nach Kassel (Hauptbahnhof), wo sie am frühen Nachmittag fahrplangemäß eintrafen. Bei weiterhin kräftigem Schneefall nahmen sie die Tram durch die damals noch stark kriegszerstörte Fürstenresidenz, bis hinauf zu Schloß und Park Wilhelmshöhe, die wundersamerweise von den „Terrorbomben“ der Alliierten verschont worden waren. Nach Aussagen mehrerer Zeugen, die nachher von der Kriminalpolizei ausfindig gemacht wurden oder sich aus freien Stücken meldeten, irrte das (übereinstimmend als „absonderlich“, „fremdartig“, „anrührend“ geschilderte) Paar einige Zeit im Schneegestöber durch den Park (der Graf mit silbern beschlagenem Spazierstock, den er taktmäßig in den Boden stieß, Gesine rotnasig, leise jammernd, an seinen Arm geklammert), bis sie den Aufgang zum sogenannten Herkules-Denkmal fanden, einem wuchtigen Monument weit oberhalb der Stadt. Ungeachtet ihrer fortgeschrittenen Erschöpfung stapften Heribert und Gesine Prohn den schlüpfrigen, etwa zwei Kilometer steil bergan führenden Pfad hinauf und dann ohne Rast gleich weiter, nochmals fünf Kilometer tief in den ausgedehnten Nadelwald hinein, der sich (damals wie heute) jenseits des Denkmals erstreckte. Dort fanden Spaziergänger am zweiten Weihnachtstag das kalte Paar, nebeneinander auf einer Lichtung liegend und meterhoch zugeschneit, so daß die Passanten erst durch ihren Schäferhund, der sich knurrend in den Schneehügel hineinwühlte, auf die beiden Leichname aufmerksam wurden.
„Timo und ich warteten vier Tage lang“, sagte Kai zu Lisa. „Nachdem der Lagerleiter unseren Vater und die Mutter als vermißt gemeldet hatte, kamen mehrfach Polizisten in unsere Baracke, um uns zu befragen, aber wir wiederholten nur immer wieder, daß wir nichts wüßten und unser Vater lediglich erklärt habe, daß sie noch am gleichen Tag zurückkehren würden, der nun allerdings längst verstrichen sei.“
Lisa sah ihn an, wie er auf seinem Schemel hockte, und einen Moment lang erwog sie, von ihrer Pritsche aufzustehen und zu ihm hinüberzugehen. Doch obwohl Kai ja sehen mußte, daß sie nicht mehr gefesselt war, wagte sie nicht, sich vor seinen Augen zu erheben. Geh endlich, durchfuhr es sie, laß mich zufrieden mit eurer Vergangenheit! Mit einem Mal schien es ihr unmöglich, das alles auch nur eine Minute länger zu ertragen – das Verlies, das Heulen aus der Tiefe, die grauenvollen Geschichten, die Kai unablässig erzählte (wenn die goldgelben Dämpfe aus seiner Schale ihm nicht gerade die Zunge lähmten), das Messer in seiner Hand, ihr Mitgefühl, ihre Angst; und Kai fuhr fort:
„Als sie uns schließlich sagten, daß unser Vater und die Mutter gefunden worden seien – beide tot, erfroren –, sah ich Timo an, sein urplötzlich zerfallendes Gesicht, seine Augen, die auf einmal leer wurden, und ich erkannte, daß er durch diese Nachricht vollkommen zerstört worden war. Ich spürte so deutlich wie einen Windstoß, daß er nie mehr der sein würde, der er in den Augen unseres Vaters und auch in seinen eigenen Augen immer noch gewesen war, selbst in der Ärmlichkeit dieser Nissenhütte: der Stammhalter, der Erstgeborene mit dem gräflichen Blut; das alles war von einem Moment zum anderen (während die beiden Polizisten uns mitleidig ansahen und biedere Trostfloskeln murmelten) nur noch Gespenster, Worthülsen, Phantasmagorien. Unsere und vor allem seine gesamte Vergangenheit wurde in diesem Augenblick zu einer verrückten Einbildung, irgendeinem abgeschmackten Wahnsinn sehr viel ähnlicher als der Wirklichkeit.“
Keiner der Polizisten oder sonstigen Beamten, die sie in jener Zeit befragten, interessierte sich jemals für einen Heinrich Porstner oder für einen vergrabenen oder ausgegrabenen „Kleinkindsarg“. Nach Ansicht der zuständigen Ermittler waren Heribert und Gesine Prohn noch in der Nacht zum 23. Dezember, bei Vollmond und zwanzig Minusgraden, „im Schlaf erfroren“, nachdem sie sich möglicherweise im Wald verirrt und bis zur totalen Erschöpfung vergeblich nach einem Ausweg oder rettenden Unterschlupf gesucht hatten. Bereits in den ersten Wochen des Jahres 1954 wurde ihre Akte geschlossen: „Heribert und Gesine Prohn – ein tragisches Flüchtlingsschicksal“; und auch wenn niemals geklärt wurde, ob „das verzweifelte Adelspaar“ Opfer eines Unglücksfalls geworden oder freiwillig dahingegangen war, schloß die Kriminalpolizei „in Ermangelung von Beweggründen und Tatverdächtigen“ jegliches Fremdverschulden aus.
Mit seiner Voraussage, daß ihr „Friedländer Alptraum“ noch im alten Jahr enden würde, sollte Timo trotz allem recht behalten. Am Silvestermorgen 1953, einen Tag nach der Bestattung von Heribert und Gesine, die auf dem Friedhof des ehemaligen Versuchsguts für Zuchtexperimente ihre letzte Ruhe fanden, wurden die beiden Jungen ins Waisenheim der Stadt Northeim (Niedersachsen) überführt.
Viele seiner abgelegten Geliebten hielten ihn für einen „Herzenskuppler“ (dachte Alex unter dem weiterhin grollenden Nachthimmel von Stiegliz) – für einen „Ehestifter aus Angst, sich selbst zu binden“, und obwohl er es niemals zugegeben hatte, wußte er seit langem, daß diese Charakterisierung ins Schwarze seines eigenen Herzens traf: Höchstwahrscheinlich hatte der alltägliche Ehe-Irrsinn seiner Eltern ihn für die Wonnen der Zweisamkeit ein für allemal verdorben – seiner Eltern, die einander gehaßt und verachtet und schließlich in wundgeriebener Reizbarkeit nur noch ertragen und sich doch zeitlebens aneinander geklammert hatten; die Mutter aus Angst vor dem Alleinsein, der Vater aus Gewohnheit und Bequemlichkeit, wie Alex vermutete; aber im Grunde hatte er niemals verstanden, warum Menschen einander und sich selbst derlei antaten: beharrlich, sturzunglücklich, ein Leben lang.
Doch als er damals Lisa kennenlernte, im Herbst 1981, und sich augenblicklich in sie verliebte, da begann er an seiner junggesellischen Abneigung gegen feste Bindungen zu zweifeln: Immer häufiger ertappte er sich bei Tagträumen, in denen er und Lisa gemeinsam eine Wohnung einrichteten – mit einem Malatelier für sie und einer Dachterrasse für die Feste, die sie zusammen feiern würden –, oder sogar bei dem Gedanken, wie wundervoll es wäre, mit Lisa zusammen alt zu werden: sie beide als zufriedenes silberlockiges Paar, Hand in Hand durch öffentliche Grünanlagen schlendernd oder nebeneinander auf einer Bergterrasse liegend, unter der milden Sonne des Tessins. Es waren ganz und gar ungewohnte Wunschbilder, die niemals vorher oder nachher eine Frau in ihm erweckt hatte (überlegte Alex, während er unweit der „roten, toten Hand“ auf einem moosbedeckten Steinbrocken Platz nahm und sein Hemd bis zum Gürtel aufknöpfte, denn noch immer war es fürchterlich schwül). Daß er Lisa kurz darauf dennoch verließ, war mehr oder weniger ein Akt der Panik gewesen – der Angst allerdings, daß sie ihn verlassen würde, wenn er ihr nicht zuvorkam. Denn Lisa war auch die erste und einzige Frau, der Alex sich in mancherlei Hinsicht unterlegen fühlte. Vor allem neben der Künstlerin Lisa kam er sich seit jeher wie ein schlecht gedrillter Orang-Utan vor – oder allenfalls wie der „liebenswerte Banause“, der er auch in ihren Augen tatsächlich war.
Bei ihrer Trennung aber wendete sich seine vielfach bewährte List gegen ihn selbst: Sie traf ihn so schwer, als ob dennoch er der Verlassene wäre (von allen guten Geistern verlassen, das zumindest – warum sonst lief jemand vor der Liebe seines Lebens davon?). Noch Wochen danach kam es vor, daß er morgens im Bett nach Lisa tastete und dann minutenlang wie erstarrt dalag, überschwemmt von Bestürzung, Selbstvorwürfen und ganz und gar außerstande, sich vorzustellen, wie er ohne sie weiterleben sollte. Ebensowenig kam es für ihn aber in Frage, Lisa um einen neuen Anfang, eine zweite Chance zu bitten. Sie brauchte einen künstlerisch interessierten und empfindsamen Partner, mit dem sie über ihre Zeichnungen und Aquarelle, über die Symbolik der Märchen und die „Konnotationscodes frühromantischer Ruinensemiotik“ diskutieren konnte. Um keinen Preis wollte Alex den ehelichen Irrsinn seiner Eltern imitieren, sich an einen Partner zu klammern, aus Angst oder Bequemlichkeit, jedenfalls zum beiderseitigen Unglück.
Also machte er kurz vor Weihnachten 1981 Timo mit Lisa bekannt: seinen besten Freund mit der Liebe seines Lebens. Timo Prohn, der sich damals noch immer als „fotografischen Künstler“ bezeichnete, obwohl er Jahre zuvor sein „Atelier für adelnde Werbe-Ästhetik“ eröffnet und seine früheren rebellischen Kunstkonzepte niemals verwirklicht hatte – und Lisa Sievener, deren Ruf als romantische Zeichnerin sich damals bereits zu verbreiten begann. Tatsächlich verwickelten die beiden sich sogleich in lebhafte Debatten über die erhellende Obszönität Hieronymus Boschs (den Alex immerhin dem Namen nach kannte) und die Ruinenfragmente Piranesis (die ihn unangenehm an die Risiken des von seiner Bank propagierten Immobilienfonds erinnerten), und als Timo und Lisa das neue Jahr auf seiner Dachterrasse mit einem langen, wildromantischen Kuß begrüßten, sagte sich Alex, daß er auf diese Weise Lisa zumindest in guten Händen wußte und sie sich weiterhin ab und an sehen würden; aber tröstlich war dieser Gedanke keineswegs.
Dabei hatten Lisas Bilder ihn immer schon ganz unmittelbar angesprochen. Es war keineswegs so, daß er ihre Kunst nicht „verstanden“ hätte (dachte er nun, indem er sich von seinem Steinbrocken erhob und zum Herrenhaus hinaufsah): Ihre Tuschezeichnungen und Kohleskizzen hatten ihn angezogen und allerdings mehr noch abgestoßen, buchstäblich abprallen lassen durch ihren unbedingten Ernst. Von der Wahrhaftigkeit dieser Bilder ging eine Bedrohung aus, sie untergruben die Bühnenwelt geistreichen Amüsements, in der er selbst sich mit Vorliebe und Geschmeidigkeit bewegte. Vielleicht hatte er Lisa damals nur deshalb verlassen, sagte sich Alex: weil ihr Blick die Oberfläche durchlöcherte und er es nicht ertragen hätte, so unerbittlich und unablässig wie Lisa hinter die Kulissen und Masken der menschlichen Existenz zu sehen.
Das Schloß über ihm lag in völliger Dunkelheit. Diese Bedrohung, die ihre Bilder ausstrahlten, dachte er, hatte er ja erst vor kurzem aufs neue empfunden, in ihrem Haus in Frankfurt/Main, vor ihrer Wand voller Zeichnungen, die sie hier in Stiegliz angefertigt hatte. Noch immer sah er zu dem Brocken des nächtlichen Schlosses hinauf, und auf einmal erblickte er die Ruine dort oben mit Lisas Augen, genau so, wie sie das Herrenhaus auf ihren Bildern immer wieder dargestellt hatte: die schadhaften Kuppeln der Treppentürme wie ausgerenkte Schulterkugeln, das ganze grandios zerfallende Gebäude wie ein zerstörter Leib, über dem Park hingeworfen und schmerzhaft verkrümmt ...
Als hätte sie es gesehen, dachte Alex, den urplötzlich ein Schauer überlief: Zweifellos hatte Lisa nichts von den Teufeleien wissen können, die Timos Vater und jener Görsmann (Söllner!) hier jahrelang verübt hatten, oder gar von den Menschenopfern, die schon in alter Zeit dem prussischen Wolfsgötzen in Burg Stiegliz dargebracht wurden – und doch hatte sie dieses Schloß so gemalt, als ob all der Schmerz und all die zu Tode geschundenen Leiber auch die Gestalt des Gemäuers verkrümmt und verkrüppelt hätten – jedenfalls auf der „Nachtseite unserer Wirklichkeit“.
Er stand in der Dunkelheit des nächtlichen Parks und sah doch nur noch Lisa vor sich, ihre schlanke Gestalt, ihr schmales Gesicht, umrahmt von glattem braunem Haar, das sie meist sportlich kurz trug. Auf einmal glaubte er sogar, ihre Lippen wieder auf seinem Mund zu schmecken und ihre Brüste an seinem Körper, als sie sich an ihn gedrückt und „Küß mich, Dummkopf“ gemurmelt hatte, und da erst wurde Alex bewußt, welcher ganz und gar törichte Gedanke seit mehreren Minuten in seinem Hinterkopf wisperte (wenn Timo sie verläßt, bekommst du nochmal eine Chance). Sein Herz begann heftiger zu schlagen, und während der Gewitterhimmel über ihm abermals grollte, kam Alex unversehens in den Sinn, daß Lisas Entführer sich zuletzt von einem Fluß aus gemeldet hatten: von einem Boot oder vom Ufer dieses Stroms. Jedenfalls hat Timo durchs Telefon deutlich das Gurgeln der Strömung gehört, dachte Alex, indem er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug: Vielleicht sind sie die ganze Zeit schon hier, da draußen im Wald, in unmittelbarer Nähe. Er wandte sich um und eilte auf die Ostmauer des Parks zu, hinter der schon der Oderwald begann.
Am Ostersonntag des Jahres 1954 herrschte im Grenzgebiet zwischen Deut- (West) und -schland (Ost) ungewöhnlich milde Witterung. Um die Mittagsstunde stieg das Quecksilber auf fabelhafte siebzehn Grad, und die Singvögel in friedländischen Büschen und Bäumen, deren Knospen unter leisem Knallen tausendfach aufsprangen, tirilierten so inbrünstig, als ob mit der Wiederauferstehung des Christenheilands auch ihrer gefiederten Spezies ein Herzenswunsch erfüllt worden wäre.
Im Städtchen Friedland begaben sich die Bürger in ihren besten Nachkriegsjacken zum Festtagsmahl, und die Bewohner des Grenzdurchgangslagers flanierten in ihren allerbesten Flüchtlingshosen zwischen Nissenhütten und umgewidmeten Stallungen oder erfreuten sich der großzügigen Gaben (Milchpulver und felshartes Doppelbackbrot in panzergrünen Army-Konservendosen), die ihnen zum Gedenken an das berühmteste aller Scheingräber ausgehändigt worden waren („und siehe, die Felshöhle war leer“).
Währenddessen hastete ein athletisch gebauter, allerdings sichtbar unterernährter Junge durch die Waldungen östlich von Friedland – „Name: Kai Prohn, Haarfarbe: weizenblond, Augenfarbe: grün, Größe: einskommazwei’nsiebzich, Alter: vierzehn; der Gesuchte ist mit einer umgeschneiderten Uniformhose und einem schwarzweiß karierten Baumwollhemd bekleidet – Ende“, wie es in einer Funkmeldung für alle örtlichen Streifenwagen hieß. Deren Insassen hielten jedoch vergeblich nach dem minderjährigen Flüchtling Ausschau, denn Kai hatte seine Flucht aus dem Waisenhaus von Northeim sorgsam geplant.
Seit Mitte Februar hatte er ungeduldig auf Anzeichen des näherrückenden Frühlings gewartet und währenddessen ungezählte Stunden über dem Schulatlas und in der Leihbücherei verbracht, um sich den Verlauf von Straßen und Flüssen, die Lage von Wäldern und Bergen, die Anordnung von Städten und Dörfern zwischen Friedland (Niedersachsen) und Buchhain (bei Fr.a.M.) genauestens einzuprägen. Seit damals wußte er auch, daß er ganz auf sich allein gestellt sein würde: Am Morgen seines vierzehnten Geburtstags (der, wie die Geburtstage aller Waisenhäusler, feierlich mit Kürbiskuchen, Malzkaffee und tropfnasigen Talgkerzen begangen worden war; als Geschenk erhielt Kai das karierte Hemd, anhand dessen er mittlerweile gesucht wurde) hatte er Timo in seinen Plan eingeweiht, aber sein Bruder hatte wütend abgelehnt, sich an derlei „verrückten Kindereien“ zu beteiligen. Eine Reaktion, die Kai nicht mehr überrascht und die ihn dennoch schmerzlich getroffen hatte. Es war der endgültige Bruch zwischen den Brüdern; bisher waren sie zumindest noch in die gleiche Richtung gegangen, wenn auch immer widerwilliger und in immer größerem Abstand, nun aber würden ihre Wege sich trennen.
Gegen zwei Uhr nachmittags, als in den Fachwerkhäuslein von Friedland die letzten Osterbratenscheiben verschlungen und in den Nissenhütten die letzten Milchpulverdosen von gierigen Zungen ausgeleckt worden waren, lagen Stadt und Lager bereits hinter Kai, der sich nun im Dickicht rechterhand des Bahndamms ostwärts voranbewegte, zwischen Brombeerbüschen (die ihn an Stiegliz erinnerten), durch kniehoses Gras (das ihn an Stiegliz erinnerte), von der Ostersonne geblendet und vom tausendkehligen Tirilieren nahezu betäubt.
Allmählich gingen ihm die Kräfte aus, denn er hatte die gesamte Strecke von Northeim bis Friedland im Dauerlauf zurückgelegt, immer am Waldrand neben der Landstraße entlang, mehrfach im Graben Deckung suchend, wenn ein Radfahrer auf der menschenleeren Straße auftauchte oder ihm ein nebelgraues Goggomobil mit asthmatischem Röhren von Friedland her entgegenkam. Nun aber konnte die Stelle, wo sein Vater im September 1953 die schwarze Kiste vergraben hatte, nicht mehr weit sein: In einiger Entfernung, vielleicht zwei Kilometer voraus, erkannte er die Umrisse der Talbrücke, die sie damals überquert hatten, kurz bevor der Zug auf offener Strecke stehengeblieben war. Er verharrte kurz und lauschte gen Osten, dann kletterte er über die Böschung auf den Bahndamm hinauf. Während er damals mit seinem Bruder und der Mutter im Abteil ausharrte, hatte er verstohlen aus dem Fenster gesehen, auf der Suche nach einem auffälligen Landschaftsmerkmal, das seinem Vater als Wiedererkennungszeichen dienen könnte. Jetzt stand er im Schotterbett zwischen den Gleisen, weithin sichtbar in der Nachmittagssonne; aufgeregt spähte er nach links und rechts und entdeckte tatsächlich das Zeichen, das ihm schon damals ins Auge gesprungen war: zwei gewaltige Eichbäume, die bis zu einer Höhe von vielleicht fünfzehn Metern gerade und unauffällig nebeneinander emporwuchsen, ehe ihre Kronenäste sich wirr ineinander verschlangen, wie tausendarmige Fabelwesen in verzweifeltem Kampf.
Für Timo, dachte Kai (während er wieder den Bahndamm hinabkletterte, ohne die „kämpfende Doppeleiche“ aus dem Blick zu lassen), war im gleichen Moment, als sie die Todesbotschaft erhielten, klar gewesen, daß „alles aus und vorbei“ sei: „Es ist vorbei“, sagte er an jenem Tag nur immer wieder, „es ist alles zu Ende, Kai – verstehst du das nicht?“ Als ob sein „kleiner Bruder“ (der ihn in Wahrheit um einen halben Kopf überragte) ein begriffsstutziger Tölpel wäre, der einfach nicht einsehen wollte, was ihm selbst so offenkundig schien: „Unser Vater ist für immer weggegangen; was spielt es da noch für eine Rolle, ob er sterben wollte oder durch ein Unglück umgekommen ist – er kommt niemals mehr zurück!“ – Daß auch die Mutter „dahingegangen war: auf dem Weg allen Fleisches“, wie der Pastor dies am offenen Doppelgrab ausgedrückt hatte, schien Timo wenig zu berühren. Dabei hatte er, im Gegensatz zu Kai, sich immer gut mit Gesine verstanden, die ähnlich träumerisch veranlagt war wie er, wenn auch von weitaus ängstlicherem Gemüt.
Kai tauchte in den Mischwald neben dem Bahndamm ein, unter das verworrene Dach der Eichen, Buchen und Fichten, wo es merklich kühler war. Im gleichen Moment, dachte er, da der Tod ihres Vaters zur Gewißheit geworden war, hatte sich Timo von der Außenwelt abgewendet und vollkommen in sich verschlossen; als ob er bis dahin die ganze Welt mit den Augen und Ohren, mit Nase und Händen ihres Vaters wahrgenommen hätte (was nach Kais Ansicht in hohem Maße zutraf) und folglich durch den väterlichen Tod auch seine eigenen Sinnesorgane von einem Moment zum anderen abgestorben wären. Schon in der friedländischen Nissenhütte und bereits während ihrer „Flucht“ in den Westen, ja sogar schon in den Jahren davor, die sie nicht mehr im Herrenhaus (das einige Zeit als Sowjetkaserne diente, danach verrammelt wurde und leerstand), sondern in der entengrünen Holzbaracke am Rand von Dorf Stiegliz verbrachten, hatte Timo mehr und mehr in seinen Phantasiewelten und immer weniger in der Wirklichkeit gelebt. Bereits seit seinem neunten, zehnten Lebensjahr war er ein unersättlicher Leser möglichst dramatischer und düsterer Romane gewesen. In Northeim aber, in ihrem Schlafsaal, wo vierundzwanzig Jungen in zwölf doppelstöckigen Betten auf engstem Raum schliefen, im Traum wimmerten, miteinander balgten oder unter ihren Decken onanierten, wendete Timo seine Aufmerksamkeit so vollständig nach innen, in seine Phantasie- und Bücherwelten, daß er von dem, was um ihn herum vorging, nur noch das Allerlebensnotwendigste mitbekam.
Zwischen aristokratischen Eichen und verkrüppelten Fichten blieb Kai noch einmal stehen, um sich aufs neue zu orientieren. Seine ganze Hoffnung ruhte auf der Annahme, daß sein Vater den „Kleinkindsarg“ in unmittelbarer Nähe der „kämpfenden Doppeleiche“ verborgen hatte, da dieses Zeichen auch ihm ins Auge gesprungen sein mußte. Wenn er sich aber irrte, konnte er allenfalls auf Glück oder Zufall hoffen: Selbst innerhalb der vielleicht zehn Minuten, die ihr Vater damals hier unten gewesen war, konnte er die Kiste in einem Radius von fünfzig oder sogar hundert Metern vergraben haben, an tausenderlei verschiedenen Stellen, in einem Erdloch verscharrt oder einfach in einen hohlen Baumstamm geworfen. Und in dem halben Jahr, das seither vergangen war, konnten sich Laub und Erde, Moos und Unterholz über das Versteck geschoben haben, so daß der Kleinkindsarg für alle Zeiten verschwunden bliebe und mitsamt seinem geheimnisvollen Inhalt vermodern würde (dessen Substanz indessen bereits fünfzig Millionen Jahre alt war und dem Zerfall noch weitere Jahrmillionen trotzen würde, aber das wußte Kai damals noch nicht).
Am Fuß der Doppeleiche, zwischen den beiden Stämmen, befand sich ein Gewirr aus Wurzeln und moosbedeckter Erde, davor ein Felsbrocken vom zweifachen Umfang eines Männerschädels, gleichfalls mit Moos bedeckt. Kai spürte sofort, daß dies der gesuchte Ort sein mußte, und er packte den Felsbrocken, um ihn beiseite zu wuchten. Im gleichen Moment durchfuhr ihn ein kurzer, kalendarisch veranlaßter Schrecken („und siehe, die Felshöhle war leer“); dann rollte er den Stein entschlossen zur Seite, fuhr mit einer Hand ins dahinter klaffende Dunkel und fühlte glattes, kantiges Holz.
Der „Kleinkindsarg“: Während Kai die Kiste aus dem von Heribert Prohn kurzerhand umgewidmeten Fuchsbau zog, schien es ihm mit einem Mal, als ob dieser winzige Sarg ihn selbst enthielte – nicht nur seine eigene Kindheit in einem symbolischen Sinn, sondern seinen eigenen Kindsleichnam, nackt und kalt und starr. Diese Vorstellung hinderte ihn längere Zeit, die Kiste zu öffnen, wie er sich das tausendmal vorgestellt hatte, und endlich nachzusehen, was der ominöse „Kleinkindsarg“ tatsächlich enthielt. Statt dessen kauerte er vor dem Fuchsbau, die Kiste vor sich auf dem wurzeldurchflochtenen Boden, und während er mit einer Hand über die schrundige Oberfläche fuhr, wurde ihm wieder (ungeachtet der österlichen Botschaft) so traurig zumute, daß er längere Zeit nicht die nötige Kraft und Zuversicht fand, um den „Kleinkindsarg“ tatsächlich aufzustemmen.
Als er zum erstenmal hörte, daß ihr Vater umgekommen sei, dachte Kai (noch immer fiebernd in seinem Bett in der Nissenhütte) sofort an jenen Heinrich Porstner, den er nie mit eigenen Augen gesehen hatte: Der mysteriöse Elégant im grauen Ledermantel könnte den Vater absichtlich an eine derart entlegene Stelle gelockt, sich dort des „Kleinkindsargs“ bemächtigt und sein argloses Gegenüber anschließend überwältigt haben.
Diese Hypothese hatte allerdings einen entscheidenden Mangel: Heribert Prohn war alles andere als „arglos“ gewesen. So nüchtern und phantasielos er in allen übrigen Lebensbereichen schien, so einfallsreich war er in seinen Besorgnissen und in seinen vielfältigen Sicherungsmaßnahmen, mit denen er jeden erdenklichen Angriff im voraus unterlief.
Aber warum hatte der Vater dann gerade diesen allerletzten Angriff nicht vorausgesehen oder sich jedenfalls nicht dagegen gewappnet? Und aus welchem Grund hatte er die Mutter auf diese „letzte Reise“ mitgenommen – Gesine Prohn, die er sonst niemals in irgendeinen seiner Pläne eingeweiht und die ihn nie zu irgendeinem Treffen begleitet hatte?
Mehrfach hatte Kai seither versucht, mit seinem Bruder über diese Rätsel zu sprechen, aber Timo hatte ihn immer nur schweigend angesehen, um gleich darauf in seine Bücherwelt zurückzufliehen („Der Idiot“). So blieb Kai nichts anderes übrig, als allein für sich wieder und wieder durchzuspielen, was an jenem 22. Dezember geschehen sein mochte, von der Abreise seines Vaters und der Mutter aus dem Lager Friedland bis zu ihrem Tod in der Nacht darauf, hilflos erfrierend im meterhohen Schnee. In seinem Etagenbett im Schlafsaal des Waisenhauses grübelte er Nacht für Nacht über denselben Fragen: Hatten die Polizisten also doch recht, wenn sie von einem „tragischen Unglücksfall“ sprachen? Unmöglich, sagte er sich jedesmal; ihr Vater war ein erfahrener Jäger und Wanderer, im Wald aufgewachsen, mit dem „Buch der Natur“ seit frühester Kindheit vertraut – niemals würde er sich im Wald verirren, auch nicht in einem fremden Forst und bei meterhohem Schnee. – Und Selbstmord (wie Timo zu glauben schien)? Diese Vorstellung machte Kai immer so tieftraurig, daß seine Kehle sich zusammenzog und ihm Tränen in den Augen brannten. Aber warum nur, warum hätte ihr Vater sich umbringen sollen, warum gerade damals, wenig vor Weihnachten, als seine beharrlich verfolgten Pläne doch allem Anschein nach aufgegangen waren: ihre Ausreise in den Westen geglückt, der entscheidende Handel mit Porstner kurz vor dem Abschluß, ihr Umzug in ein „standesgemäßes Anwesen“ nur noch eine Frage von Tagen? Nein, das ergab erst recht keinen Sinn, grübelte er Nacht für Nacht im bitterkalten Schlafsaal; jedenfalls dann nicht, wenn der „Kleinkindsarg“ tatsächlich etwas derart Kostbares enthielt, wie der Vater anscheinend vorausgesetzt hatte.
Um zu begreifen, was an jenem 22. Dezember wirklich geschehen war, beschloß Kai endlich, mußte er so schnell wie irgend möglich in Erfahrung bringen, ob der „Kleinkindsarg“ noch in seinem Versteck ruhte und, wenn ja, welche Art von Schatz er enthielt. War das Versteck geleert, hatte ihr Vater also seinen Schatz gehoben, ehe er sich mit der Mutter zu jenem Treffpunkt bei Kassel begab, dann sprach alles dafür, daß er dort im verschneiten Wald von seinem geheimnisvollen Geschäftspartner übertölpelt worden war – von dem „Glatzkopf im eleganten Ledermantel“, dessen Visitenkarte Timo längst wieder verloren hatte; aber Kai hatte sich jeden Buchstaben der goldfarben geprägten Zeilen gemerkt: H. Porstner – Unternehmungen – Buchhain bei Fr.a.M. – Bornstraße 3. War die Kiste dagegen noch vorhanden, der „Schatz“ darin tatsächlich von verheißungsvollem Aussehen – dann, aber wirklich erst dann, sagte sich Kai, wäre auch er bereit, an einen tragischen Erfrierungstod oder gar an einen Selbstmord seines Vaters und der Mutter zu glauben. In diesem Fall wäre allerdings auch erhärtet, daß jenen Heinrich Porstner keinerlei Schuld träfe, der elegante Unternehmer womöglich noch immer auf ein Zeichen seines Geschäftspartners wartete, um den für beide Seiten so einträglichen Handel abzuschließen. Und dann wären sie, seine Söhne, dachte Kai, es dem Vater doch schuldig, sein Vermächtnis zu erfüllen und das Geschäft zu vollenden, dem all sein Denken und Streben der letzten Monate gegolten hatte.
Er würde sich also aufmachen, entschied Kai, beim ersten Anzeichen des Frühlings, um ihr väterliches Erbe wieder der Erde zu entreißen. Und er würde allein gehen, notgedrungen, nachdem Timo ihm an seinem vierzehnten Geburtstag ins Gesicht geschrien hatte:
„Was weiß denn ich, was Vater mit diesem Porstner für ein Geschäft abschließen wollte – und was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Er ist tot, tot, tot! Und ich weiß auch nichts von einer verdammten schwarzen Kiste, die Vater irgendwo vergraben haben soll – diese verrückten Kindereien denkst du dir doch nur aus! Von mir aus hau ab, Kleiner – geh doch zu diesem Porstner – na lauf schon, hopp, hopp! Aber laß mich endlich in Ruhe!“
Und genau das werde ich auch tun, dachte Kai damals, indem er in Timos totenbleiches Gesicht sah (das Gesicht unseres toten Vaters, mußte er auf einmal denken) und sich Tränen und Trauer verbiß; –wie er sich, unter der „kämpfenden Doppeleiche“ im österlichen Wald bei Friedland kauernd, auch nun wieder sagte: Dem Vermächtnis unseres Vaters bin ich es schuldig, seinen Plan zu Ende zu führen; und damit schob er die Klinge seines Taschenmessers unter den Deckel, dessen Nägel mit achtfachem Stöhnen aus dem Sargholz fuhren und den sagenhaften Schatz freigaben: ein zerstoßener Lederkoffer, darin zwei spannenlange Bernsteinstatuen, gebettet auf vergilbte Kladden in Quartformat.
Kai nahm eine der Figuren aus dem Koffer (die „Wolfsbiß“-Statue, die er mehr als achtunddreißig Jahre später seinem Bruder Timo schicken würde) und sah sie voller Erstaunen an: den angreifenden Wolf und den fliehenden Jüngling, die im Schein der Ostersonne erglühten, während zehn Schritte linkerhand ein Personenzug vorüberdonnerte, in rasender Fahrt von Deut- nach -schland.
Der Junge, der ihm die Tür öffnete, war etwa in seinem Alter und so hochgewachsen wie Kai selbst. Er hatte weißblondes, streng gescheiteltes Haar und eine sehr helle Haut, deren Blässe durch das Kreuzritterschwarz seines mönchischen Mantels noch betont wurde. Das gleiche fahle Weiß wie die Marmorbüsten in der Schloßhalle von Stiegliz, dachte Kai, während sich die Augen des Jungen zu blaßblauen Schlitzen zusammengezogen, geblendet vom Licht der Nachmittagssonne, dem das Buchenlaub einen echsengrünen Schimmer verlieh.
„Zu Herrn Porstner?“ sagte Kai in fragendem Tonfall und zwang sich, zwei weitere Stufen der von Rissen durchzogenen Freitreppe emporzusteigen. Dabei krampfte sich seit mehreren Minuten sein Magen immer wieder zusammen (seit er in die Bornstraße eingebogen war, eine verwilderte Allee am Waldrand über dem Taunusstädtchen Buchhain, gesäumt von riesenhaften Gründerzeitruinen, deren rußfarbenes Mauerwerk sich wie zerborstene Vorzeittempel aus den Brennessel- und Dornenwüsten ehemals herrschaftlicher Gärten erhob).
Der Junge lupfte seine linke Braue und deutete mit blaßblau geäderter Schläfe zu dem Emailschild neben der Haustür, das in der Tat von keinem Heinrich Porstner wußte (Carl Söllner – Textilien & Lederwaren); zugleich zog er jedoch die Tür weiter auf und machte eine einladende Handbewegung: „Komm rein.“ Er sprach leise, mit angenehm klingender Stimme. Dennoch zögerte Kai, auch die letzte Stufe noch emporzusteigen und in die Dämmerung der Vorhalle einzutreten.
Ich kenne ihn, dachte er auf einmal, und er hat mich genauso erkannt – aber woher? Wieder krampfte sich sein Magen zusammen, und er kämpfte mit dem Drang, sich umzuwenden und im echsengrünen Abendlicht davonzulaufen (weg von diesem bunkerartigen Villenquader, dessen Mauern kreuz und quer von Rissen durchzogen waren; hügelab durch den verwahrlosten Park – der ihn an Stiegliz erinnerte – und wieder die Straße entlang, bis zu dem distelüberwucherten Bombenkrater am Anfang der Allee; dort hatte er vorhin, einem jähen Impuls gehorchend, seinen Koffer mitsamt Dokumenten und „Wolfsritt“-Figur unter einen Steinbrocken geschoben, um auf den letzten Metern nur die „Wolfsbiß“-Statue mitzunehmen, die er ohnehin ständig in der Hosentasche mit sich trug). Einbildung, beschwichtigte er sich, das kommt bloß vom Hunger, genau wie diese Krämpfe, von Hunger und Erschöpfung; schließlich war er nicht deshalb durchs halbe Land gewandert, um in plötzlicher Verzagtheit wieder kehrtzumachen, als ob Gesine ihm doch ihr Erbteil mitgegeben hätte: unbezähmbare Angst.
Der andere nickte ihm zu – auffordernd, beide weißblonden Brauen andeutungsweise runzelnd –, und diesmal machte Kai einen weiteren Schritt und noch einen, bis er in der kühlen Vorhalle stand, neben dem Jungen, der an ihm vorbeigriff und die Tür ins Schloß warf. Dabei löste sich sein Gürtel, und Kai sah in jähem Erschrecken, daß er unter dem Mantel nackt war.
Seltsamerweise fiel ihm just beim Anblick dieses schmalen, alabasterblassen Körpers wieder ein, wie der Junge hieß, zumindest sein ungefährer Name – Torben? Torbi? Dabei hatte er Torbert Harding nie zuvor nackt gesehen, und ohnehin lag ihr letztes Zusammentreffen fast ein Jahrzehnt zurück, als sie beide Knirpse von fünf und sechs Jahren waren. Kurz bevor die Russen kamen, dachte Kai, als die Schwarzhemden in wilder Flucht davonjagten – da klammerte sich dieser Torbi, in einem der allerletzten Kübelwagen, die von unserem Wirtschaftshof fuhren, greinend an die Schulter Görsmanns – –
Görsmann: Er fuhr herum – zur Tür, zurück ins Echsenlicht – sein Herz hämmernd, seine Knie breiig, in seinem Kopf Schreie – Kinderschreie –, helle, dunkle, Dutzende wie in der alten Bräuhalle, damals – schrill und kehlig und auf- und abschwellend und niemals verstummend, bei Tag und bei Nacht nicht; und Kai tastete nach der Tür (mich verraten, in die Falle geschickt, Timo – warum, warum?), und da stand er: schwarz, riesenhaft, und griff nach Kais Hand; und wie seltsam klar der Knackslaut: Krrck; und dann erst der Glutstoß in seinem kleinen Finger, der auf seinem rechten Handrücken aufragte: nackt, senkrecht, feuerrot.
Er sagte: „Herr Porstner?“ Wieder in fragendem Tonfall, allerdings mit gepreßter Stimme, da der Schmerz in seinem Finger pulste, und zog, ohne eine Antwort abzuwarten, die Statuette aus seiner linken Hosentasche und hielt sie dem großen Mann im schwarzen Anzug hin: „Haben Sie Interesse?“ Mit den gleichen Worten, die er sich während seiner achttägigen Wanderung zurechtgelegt hatte. So als wäre der gebrochene Finger (der grotesk von seiner Rechten abstand, egal ob er die Hand senkrecht oder waagrecht hielt) ein bloßes Mißgeschick, über das er höflich hinwegsehen würde; so als wäre Verrat kein Verrat und er nicht dem Schinder in die Falle gegangen und Söllner nicht Görsmann nicht „Porstner“, solange sie nur alle weiter ihre Rollen argloser Betrübtheit spielten. Wie der glatzköpfige Riese zu seiner Rechten, der sich nun zu ihm herunterbeugte, mit einer Miene onkelhafter Besorgnis – Mundwinkel herabgezogen, Augen groß und rund, die schwarzen, strichdünnen Brauen auf seiner Stirn hoch und höher wandernd –, beide Hände ihm entgegenstreckte und mit der Rechten die „Wolfsbiß“-Figur packte, derweil seine Linke blitzschnell auch den zweiten kleinen Finger knackte.
Kai stöhnte auf, die Zähne zusammenbeißend; er spähte nach der Tür, die von Söllner-Görsmann-Porstners wuchtiger Gestalt nahezu verdeckt wurde. Der Schmerz war grauenvoll, er schien nicht verdoppelt, sondern vertausendfacht: als ob seine Hände in Flammen stünden, das Fleisch auf seinen Knochen kochte. Söllner beugte sich mit einem Ausdruck so aufrichtig wirkenden Kummers zu ihm hinab und streckte seine beiden Hände (diese echsenschnellen Hände, die er schon wieder frei hatte, die Statuette irgendwo an seinem Körper verstaut) mit einer so väterlichen Gebärde nach ihm aus, daß Kais Aufmerksamkeit für einen winzigen Moment nachließ; so daß die Hände ihn beim Gürtel packten und seine Kleidungsstücke (das schwarzweiß karierte Geburtstagshemd, die aus Wehrmachtsdrillich geschneiderte Hose) so gewaltsam von ihm herunterrissen, als ob sie auch ihn selbst in Stücke reißen wollten. Kai prallte auf den Boden (ein zertretenes Mosaik, mit Stuckbrocken übersät), schreiend, seine Hände Feuerkugeln, sein Leib schutzsuchend zusammengerollt, zwischen Söllners riesenhaften Lackschuhen, die sein verzerrtes Gesicht spiegelten, und den nackten Waden Torbert Hardings, der nun einen Fuß auf Kais Rücken setzte:
„Der kleine Prohn, ich glaub’s nicht – kommt wie gerufen, um mir diese scheußliche Reise zu ersparen!“
Wenn wir unserer Freiheit beraubt und körperlich gepeinigt werden, neigen wir dazu, in ein kindliches Verhalten zu fliehen – weniger aus Berechnung als aus einer Art fehlgeleitetem Instinkt, in mechanischer Wiederholung des Ohnmachtsmusters unserer frühesten Jahre; fehlgeleitet, da der Peiniger auf diese Weise auch unsere Seele unterwerfen und stückweise zerquetschen kann. – Um wieviel mehr galt diese Weisheit der Marter für Kai, der mit vierzehn Jahren der Kindheit ohnehin kaum entkommen war und, was schwerer wog, sich seit jeher nach einem Vater gesehnt hatte, der ihn überhaupt einmal zur Kenntnis nahm, der ihn ernst nahm, sich für seine Gedanken interessierte, ihn tadelte und lobte: All diese Zuwendung erhielt er nun von Carl Söllner, in überreichem Maß und in höllischer Verkehrung. Und so wurde Söllner für ihn wahrhaftig zum furchtbaren Vater, wie einst die Eisenmänner an den prussischen Heidenkindern zu furchtbaren Vätern geworden waren.
Söllner sagte suppeschlürfend: „Hätte der Graf damals kooperiert, Menschenskind, die beiden wären heute noch bei schönster Gesundheit – im Grunde mochte ich den Kauz.“ Während Kai in einem ehemals herrschaftlichen Salon auf einem großen ovalen Tisch kauerte, auf seinen Unterschenkeln, die Knie auf Bernstein-Intarsien stemmend, den Oberkörper vorgebeugt, einen Arm weit vorgestreckt, damit Söllner bequem seine Hand erreichen konnte. Söllner, der vor ihm auf einem hochlehnigen Stuhl saß, zwischen ihnen ein Teller voll heißer Fleischsuppe, und mit Behagen die fetttriefenden Bröckchen verzehrte, indem er Kais gewölbte Hand am abgespreizten kleinen Finger hielt, eintunkte und zum Mund führte: „Wo also ist die andere Figur?“
Seine Hand schien in Flammen zu stehen; er spürte nichts Einzelnes mehr, keinen lokalisierbaren Schmerz, auch nicht Lippen und Zunge, die über seine Handfläche glitten, ehe Söllner sich wieder aufrichtete, die vor Brühe triefende Hand am kleinen Finger in der Schwebe haltend. Starr sah er in Söllners Gesicht, das in seiner glänzenden, geröteten Prallheit alterslos wirkte, auffällig nackt nicht nur durch die Glatze, die großen, dunklen, immer feuchten Augen oder das wunde Rot seiner Lippen, sondern auch weil in diesem Gesicht jeder Anflug von Bartwuchs fehlte. Selbst seine schwarzen, strichdünnen Augenbrauen erinnerten nicht an Behaarung, sondern wirkten wie aufgemalt.
„Keine Antwort? Sehr schön.“ Söllner beugte sich vor, um auch noch Kais linke Hand zu ergreifen; spielerisch drehte er die kleinen Finger in ihren gebrochenen Gelenken hin und her; und der doppelstrahlige Schmerz wälzte sich durch Kais Arme bis in seinen Kopf hinauf, so daß um ihn herum für Augenblicke alles verschwamm: Söllner in seinem eigentümlichen Anzug, schuppiges Leder, anliegend und doch Falten werfend wie die Haut eines großen, schwarzen Tieres; seine eigenen Hände in Söllners riesigen, rötlichen Pranken, die gebrochenen Finger zu Wülsten angeschwollen und bläulichrot; links neben Söllner stehend der junge Torbert, auf ihre Hände herablächelnd, seine Hüfte an die Tischkante gelehnt; über ihnen schwebend ein Jugendstillüster, der gläserne Korpus in leuchtendem Rot und Grün und Blau, von Rissen durchzogen; die Wände ringsherum bedeckt mit Glasschränken voll schrundiger Lederbände, unkenntlicher Figuren, Waffen, Pokale; der Parkettboden stumpf, teils eingesunken, mit Stuckbrocken von den Deckenfresken übersät; vor dem Fenster mit den vergilbten, halb herabgerissenen Rüschengardinen der vollkommen verwahrloste Park (der ihn an Stiegliz erinnerte) mit den riesenhaften Buchen, die der Luft einen echsengrünen Schimmer verliehen; denn noch immer schien draußen die Sonne, oder war es bereits ein neuer Tag?
Sein Bewußtsein schien sich in Sprüngen zu bewegen oder vorangerissen zu werden, zwischen verschiedenen Abschnitten (Augenblicken, Räumen, Etagen), die untereinander nicht verbunden waren. Er zwang sich, auf die violetten Wülste seiner gebrochenen Finger zu sehen, die Söllner zwischen Daumen und Zeigefinger rieb und drückte. Er versuchte sich einzureden, daß er nichts, nichts dabei empfand, und tatsächlich schien der Schmerz ein wenig nachzulassen, wie wenn man eine Gasflamme herunterdreht. Er haßte sich für seine Unterwürfigkeit, dafür, daß er bereit war, Söllner zu gehorchen, und ihm sogar zu gefallen versuchte, indem er seinen Schmerz nicht herausplärrte, sondern die Zähne zusammenbiß. Wieder und wieder dachte er an Timo, der ihn verraten, ins Verderben geschickt hatte; denn wie wäre es möglich, daß er in jenem „Porstner“, der ihren Vater in Friedland aufgesucht hatte, den Schinder Görsmann nicht wiedererkannt hätte, der in Stiegliz jahrelang im Wirtschaftshof sein Wesen trieb? Warum, Timo, warum, dachte Kai, und diese Frage, vielmehr der Schmerz und Zorn und Haß, den sie auslöste, Schmerz über den Verrat, Zorn und Haß auf den brüderlichen Verräter, waren so stark, daß sie selbst den körperlichen Schmerz, die Erniedrigung und nackte Angst momentweise überdeckten; Momente, die sein Verstand nutzte, um ihm einzuschärfen: Solange du das Versteck nicht preisgibst, bleibst du am Leben.
Sein Bewußtsein wurde rissig, löchrig: Auf einmal kauerte er nicht mehr auf dem Tisch; der gesamte verwahrloste Salon war verschwunden, und statt dessen stand er in einer Art Studierkammer, neben Söllner, der an einem Schreibtisch saß, vor einer rußgeschwärzten Mauer, und im schwachen Lampenlicht die „Wolfsbiß“-Figur betrachtete. Seine gebrochenen Finger waren noch ärger geschwollen, zu prallen, blauvioletten Würsten, die im rechten Winkel von seinen Handrücken abstanden; er zitterte am ganzen Körper, vor Schmerzen und Erschöpfung, aber vor allem vor Angst. Hinter ihm, in seinem Rücken, erklang leises, unablässiges Rascheln und Gurgeln, und er wußte, daß Söllner ihn dort hineinstoßen würde, was immer dort sein mochte: hinter ihm, unter ihm (ein atemabschnürender Geruch von Fäulnis); denn wie in einem Alptraum war er außerstande, sich umzudrehen und nachzusehen. Er schaute an sich hinab und sah, wie seine Beine zitterten, wie sich überall an seinem Körper die feinen Härchen sträubten; aber selbst wenn Söllner ihm dafür die Freiheit versprochen hätte, er hätte es nicht vermocht, auch nur über seine Schulter zurückzusehen.
„Wo die andere Figur ist, wirst du mir ins Ohr flüstern – bald schon.“ Söllner setzte die Statuette behutsam auf den Schreibtisch, der mit Formularen, Reisedokumenten, gestapelten Banknoten (Dollarscheinen, D-Mark, sogar Mark der DDR) bedeckt war – und für einen Moment fielen Kai die rätselhaften Worte wieder ein, mit denen Torbert Harding seine Ankunft begrüßt hatte („wie gerufen, um mir diese scheußliche Reise zu ersparen!“), während Söllner seinen Drehstuhl zu ihm herumschwenkte und ihn zwischen seine gespreizten Beine zog. „Aber das ist nur das eine – deinen Mund zu öffnen –, weißt du? Das andere: deinen Körper.“ Er raunte es, und Kai spürte den Atem, der seitlich über seine Brust strich, und die echsenschnellen, gedankenraschen Hände, die erneut nach seinen Fingern griffen. Seine Blicke fuhren über den Schreibtisch, ziellos (auf einem der Formulare prangten Hammer und Zirkel neben dem Schriftzug Visa); und die Echsenhände rieben und kniffen ihn, und Söllner sagte (mit seiner polternden Baßstimme, die zu metallischem Vibrieren neigte, wenn er sie zu dämpfen versuchte):
„Sieh dir nur diese Figur an – sie ist vollkommen, ein Meisterwerk, aus Knochen gemacht, mit Bernstein überzogen. Das ist das Geheimnis, ich habe lange gebraucht, um es herauszufinden: den Knochen freilegen und aushöhlen, dann mit geschmolzenem Bernstein umgießen – verstehst du? Der Graf wußte es lange vor mir, aber er hat versucht, alles vor mir zu verbergen. Erst ganz zum Schluß war er bereit, mit mir zusammenzuarbeiten – und da war nur noch verflucht wenig Zeit.“ Unvermittelt ließ er die Finger los; seine Hände legten sich um Kais Brustkorb. „Bei dir muß ich ein bißchen aufpassen, Kleiner“, sagte er versonnen, „jedenfalls am Anfang; am besten sagst du gleich, wo die Figur ist – dann können wir richtig loslegen, was?“ Er begann mit beiden Daumen in Kais Seiten zu bohren, wie um ihm seine Finger zwischen die Rippen zu drehen; er kratzte mit den Nägeln, links und rechts und leise schnaufend, während Kai sich zwischen seinen Händen wand.
„Im Grundsatz ist das alles kein Problem“, sagte er, „den Brustkorb freimachen, zumindest eine Handvoll Rippen“ – er legte seine Hand um Kais Rippen und preßte sie zusammen –, „immer eins nach dem andern: die Haut runter, das Fleisch; dann einen feinen Kanal hineinbohren; endlich die ganze Schweinerei mit Bernstein überziehen – und so ein Knöchelchen nach dem anderen – und fertig ist die Amberorgel im lebenden Balg!“ Er schwieg einige Zeit, anscheinend gedankenverloren, während seine Hände weiterhin Kais Brust preßten und seine Daumen wieder und wieder versuchten, einzelne Rippen freizukratzen. „Nase, Finger“, fuhr er endlich fort, „Arme, Schenkel, Becken – was du willst! Damals bei euch in der Bräuhalle hab’ ich auf die Schnelle immerhin noch einiges ausprobiert. Aber es fehlte an Zeit! Material gab’s genug, aber der verdammte Russe kam immer näher, und nach dem Konzert mußte ich dann leider verduften. Aber jetzt, nachdem du mir ins Haus geschneit bist ... Also, wo ist die Figur – der Kerl, der auf dem Wolf reitet? Sag’s schon, Gräflein – was Besseres kann ’nem Bastardknaben wie dir doch gar nicht passieren: von Kopf bis Fuß verwandelt in Bernstein!“
Bastardknabe ... Das Wort dröhnte, höhnte in ihm, so betäubend, daß er kaum mehr wahrnahm, was Söllner weiter zu ihm sagte: Er sah die onkelhaft aufgerissenen Augen, die schmalen, wundroten Lippen, die sich handbreit vor seinem Gesicht öffneten und schlossen. Schmerzhaft spürte er die pressenden Hände und kratzenden Nägel an seinen Rippen; aber weitaus lauter, weit schmerzhafter widerhallte in ihm der „Bastardknabe“ (sie ist nicht meine Mutter, ich hab’s immer gespürt!), dröhnend wie der Aufprall jener Unglücklichen, die Söllner damals, als er noch Görsmann hieß, in die Brautröge mit den vielleicht vier Meter hohen, spiegelglatten Kupferwänden werfen ließ (verborgen hinter einem Holunderbusch im Wirtschaftshof hatte er damals, als Knirps von nicht einmal fünf Jahren, durch die Ritzen einer vernagelten Fensterluke in die Bräuhalle gelugt, fassungslos über das Grauenvolle, das dort drinnen geschah; noch bestürzter nachher, als Timo sich weigerte, mit ihm durch die Luke zu spähen oder auch nur anzuhören, was er dort gesehen hatte – ein verbotener Ort!).
„Aber wieso denn – Bastard?“ Er sagte es schleppend, traurig, mit kindlich klingender Betonung; seine ersten Worte, seit er „Haben Sie Interesse?“ gefragt hatte, zumindest die ersten, an die er sich in diesem Moment erinnerte.
Söllner feixte und rollte mit den Augen. „Daß du eine Frucht gräflicher Rassenschande bist, Bürschlein, sieht wohl ein Blinder. Aber wer wollte es ihm verdenken, bei der nervenkranken Zicke von Gräfin – und bei dem Angebot an verteufelt hübschen Abschaumweibern in eurer Gegend, allesamt brünstig wie die Heidenhur’ Saskia!“ Und während Kai ihn noch anstarrte und aus seiner maßlos heiteren Miene die Bedeutung dieser unbegreiflichen Worte zu enträtseln versuchte: „Aber genug gequatscht – ab mit dir ins Grab!“
Die Hände packten Kai unter den Achseln und drehten ihn um, zu dem „Grauenvollen“, das er die ganze Zeit hinter sich gespürt hatte. Da erst erkannte er, daß die vermeintliche „Studierkammer“, mitsamt Söllners Schreibtisch und Drehstuhl, mit Lampe, gestapelten Banknoten und Formularen, nur aus einem schmalen Mauersims bestand, vier, fünf Meter über einem unabsehbar großen, von Schatten und Fäulnis, von jenem Rascheln und Gurgeln erfüllten Bassin. Söllners Hände preßten sich wie zum Abschied noch einmal um seine Brust und scharrten noch einmal über seine Rippen, dann versetzten sie ihm einen Stoß, und Kai schrie auf (wie damals die Kinder in der Bräuhalle geschrien hatten: kehlig vor Entsetzen) und fiel hinab.
Er war besessen von der Idee, Körper zu öffnen; sie nicht einfach zu penetrieren, sondern Durchlässe, Ein- und Ausschlüpfe zu schaffen: der Leib als Behausung, der Mensch als Herbarium – „wohlgemerkt, der lebende Körper auf dem Gipfel der Vitalität!“ Selten konnte er einen solchen Körper ansehen, ohne ihn aufzukratzen, anzubohren, aufzubrechen, zumindest in Gedanken, in hochpräzisen Phantasmen: „Sexualität ist Sublimation“, wie er zu dozieren pflegte (vor ganz und gar verständnislosen Jüngern); „Geschlechtsverkehr, zu Ende gedacht: die totale Penetration des Morastigen: allmähliches Hineinfaulen – besser gesagt: Zurückmodern – in den Erdmutterbauch!“
Die vielfältigen Praktiken, Körper zu öffnen, faszinierten ihn; aber die Idee betete er an: Wenn er an irgend etwas glaubte, bedingungslos glaubte, dann an das Aufbrechen der Körper, ja an die Heiligkeit dieses Prozesses, der für Carl Söllner „Teilhabe an der Schöpfung“ war.
Vor dem ersten Weltkrieg unweit von Braunschweig geboren (zu Anfang eines Jahrhunderts, das wie kein zweites seine und seinesgleichen Ära werden sollte), hatte Söllner es früh schon verstanden, seine „Faszination zur Profession“ zu machen: als Schlachtviehhändler, wenig später auch als Lederwarenfabrikant, der neue Techniken zur Häutung von Großvieh und zur Weiterverarbeitung von Häuten und Fellen entwickelte (aber das Aufbrechen der weichen, unförmigen Kuhleiber ekelte ihn bald schon an); später dann, in den dreißiger und frühen vierziger Jahren, als er sich von den Sturmwinden der Kriegsgier und der Rassenhysterie nach Osten wehen ließ. Dabei waren ihm rassische Spitzfindigkeiten genauso gleichgültig wie militärische Strategien: Seine Faszination galt dem „lebendoffenen Menschenleib“, den unerschöpflichen Möglichkeiten, Körper zu öffnen, sie anzufressen, aufzubrechen, Durchschlüpfe zu schaffen, Behausungen für Spinnen oder Lurche; wobei er im großen und ganzen Jünglingskörper bevorzugte (da die Weiber meist zu fett waren, die Männer zu fasrig und die Knochen der Greise ihm wie Porzellan zwischen den Händen zersprangen), ihrer Geschmeidigkeit und Glätte halber sowie natürlich wegen ihrer Zähigkeit; denn nur die lebenden Körper zählten: „Wenn mir einer wegstirbt – früher, als es nach meiner Berechnung unvermeidlich war –, habe ich versagt!“
Carl Söllner (der tatsächlich unter diesem Namen zur Welt gekommen war und sich diese bürgerliche Existenz immer offengehalten hatte „wie eine Hundehütte, in die man schwanzwedelnd zurückschlüpft, wenn der Wolf fürs erste sattgefressen ist“), verstand sich in einem durchaus pathetischen, anspruchsvoll überhöhenden Sinn als Künstler, seine Arbeit am Leib als künstlerisches Wirken und die geöffneten, tiefsinnig manipulierten Körper als „Kunstwerke in romantischer, genauer gesagt, in schwarzromantischer Tradition. Höchste Erfüllung: der Tod! Auf ihn sollen wir hinarbeiten, ihn aber auch hinauszögern, wie es die Raffinesse – in der Kunst wie in der Liebe – gebietet!“ Ganz im romantischen Sinn sah er die Natur als seine „Lehrmeisterin“ an; ihr suchte er immer neue Kunstgriffe abzuschauen, von ihr wollte er „ein Leben lang in Demut die Kunst des Körperöffnens lernen“.
Folgerichtig entzückten ihn Wunden aller Art, eitrige Entzündungen, nässende Pustelnester, offene Amputationsstümpfe oder Geschwüre: Für ihn waren es „Pforten ins Paradies“, und es beseligte ihn, „mit einem Finger, mit mehreren Fingern, mit der ganzen Hand hineinzugehen, bis zur Handwurzel, bis zum Ellbogen, weiter, weiter“. Häufig stellte er sich vor, wie er selbst „kopfüber, zur Gänze, in einen genügend großen, gebresthaft geöffneten Körper“ hineinfuhr.
Als Hilfssanitäter hatte Söllner in den zwanziger Jahren unter dem Namen Heinrich Porstner kurzzeitig in Lazaretten gearbeitet, in denen die hunderterlei Schuß- und Bruch-, Stich- und Platzwunden, Früchte der damals verbreiteten Banden-, Saal- und Straßenschlachten, behelfsmäßig behandelt wurden. Dabei war der junge Söllner auf das Phänomen der „großflächigen Dauerwundheit“ gestoßen, „die bei sich hinziehender Bettlägerigkeit im Verein mit zurückgeschraubter Sauberkeit aufblüht“. Die Entdeckung dieser großflächigen Dauerwundheit betrachtete er selbst als seinen „Durchbruch in der romantischen Wissenschaft des Körperöffnens“ (wobei ihm der Doppelsinn des Wortes „Durchbruch“ keineswegs entging). Ein lebender Körper, unbeweglich auf geeigneten Untergrund gebettet, begann „im Stande totaler Vitalität anzufaulen, ist gleich: sich diskret zu öffnen“; das war fabelhaft: „Vom Nacken über die Schulterpartie, die gesamte Hinterfront bis hinunter zu den Waden“ konnten sich derlei diskrete Körperöffnungen erstrecken, wenn der Körper nur hinreichend fixiert wurde und der gewählte Untergrund genügend „fäulnisaktiv“ war.
Mit Schweiß und Fäkalien getränkte Lazarettlaken wiesen hierbei den richtigen Weg. Aber derlei Halbherzigkeiten waren Söllners Sache nicht; er verwarf auch sie als „hasenhafte Sublimation“ und begann noch in den zwanziger Jahren mit „gärigen Untergründen“ zu arbeiten, wenn auch nicht mehr im Lazarett, da er „aus unerfindlichem Grunde“ schon nach wenigen Wochen aus dem Sanitätsdienst entfernt worden war.
Ende März 1938 übertrat er zum ersten Mal „die Schwelle der romantischen Bräuhalle zu Stiegliz“, wo ihn beim Anblick der riesigen, schimmelgrün korrodierten Kupfertröge sogleich sein „persönliches, vielmehr: überpersönliches Heureka“ ereilte: In diesen gegen vier Meter hohen Kesseln, in denen noch während der zwanziger Jahre unter Cramsens Kommando Lagerbier der Marke „Graf zu Stiegliz“ gebraut worden war, hatte sich seither eine „hochfaszinierende Lebens-, das heißt: Fäulniskultur“ gebildet; ein schwarzbrauner Morast, stark gärig riechend, in den Söllner bis zu den Knien einsank, nachdem er höchstpersönlich mit Hilfe einer Leiter „in dieses Vorzimmer des Paradieses“ hinabgestiegen war. Es handelte sich um eine Mischung aus Biermaische-Überresten, Sandstaub, zerfallenen Kleintierkadavern und Regenwasser, das durch Leckstellen im Dach der alten Bräuhalle platschte; in diesem offenkundig „hochaktiven Urzeitschlamm“ hatten sich verschiedene Populationen angesiedelt, Schwanzlurche, Aaskäfer, Würmer sowie achtäugige Wolfsspinnen, die an den höher gelegenen, sukzessive verkarstenden Krustenrändern auf der Lauer lagen.
Es war der ideale Untergrund, warm, feucht und fäulnisaktiv, und Söllner (der sich für seine „Wolfsjahre im Osten“ den Namen „Hagen Görsmann“ zugelegt hatte) ließ bald schon „geeignete Slawenbälger aus den östlichen Weiten herbeischaffen“, um sie im Morast der Brautröge „unbeweglich zu fixieren, zum Zwecke der Herbeiführung und des Studiums der großflächigen Dauerwundheit“, wie er in seinem „romantischen Tag- und Nachtbuch“ notierte.
„Die Ergebnisse übertreffen meine kühnsten Erwartungen: rotbrandige Flächenwunden über die ganze Rücken- und Gesäßpartie schon nach 72 Stunden; rapide Zersetzung der Hautschichten; darunter das Fleisch: mehlfarben mit rosa Schlieren, in milchigen Blasen aufquellend; Milben, Maden u.s.f unter Lupe bereits sichtbar aktiv. – Geruch: Bowiste im ersten Stadium der Fäulnis; drücke meine Nase ins brandige Fleisch, das sich mit nachgiebigem Schmatzlaut öffnet! – Temperatur des Körpers: 39,5°, verflucht!“
Die großflächige Wundheit voranzutreiben und gleichzeitig das „Feuer der Entzündung“ unter Kontrolle zu halten, betrachtete Söllner Ende der dreißiger Jahre als „größte Herausforderung meines Lebens“. Er ordnete an, daß einer der gewaltigen Kupfertröge mitsamt seinem glucksenden und quappenden Inhalt in den Hinterraum der alten Bräuhalle geschafft wurde, den er durch eine Feuertür verrammeln ließ. Zugleich schickte er seine Schwarzrockhorde auf die „Jagd nach mageren, annähernd ausgewachsenen Slawomiren – man bleibe mir nur vom Leib mit dem milchkalbzarten Kindskrimskrams: das stirbt einem ja beim kleinsten Schwupps unter den Händen weg!“
Als Söllner etwa um diese Zeit erstmals von den Mären um den Wolfsgott und dessen unterirdischem Heiligtum hörte, war er naturgemäß „hochgradig fasziniert“: Einerseits hatte er ohnehin begonnen, sich nach einer „Grube für die Ausgebalgten“ umzusehen, und ein unzugängliches Felsloch, in dem die „Zerstückten und Zerfressenen“ auf Nimmerwiedersehen verschwanden, war „wie eigens ersonnen und geschaffen für meine Wissenschaft“, wie er in seinem „Tag- und Nachtbuch“ triumphierte. Höher als diese profane Zweckmäßigkeit stellte er jedoch „die metaphysische Fügung: der Kult um den wölfischen Freßgott, der seine Geschöpfe gemächlich durchkaut, durchdringt sich mit meinem Begriff des heiligen Zerfalls“; – aber von alledem wußte Kai am 29. April 1954 nichts, als er im „Bassin“ hinter der Söllnerschen Villa zu sich kam, am Abend des dritten Tages, nachdem ihm Torbert Harding die Tür geöffnet hatte.
Die Körperwahrnehmung erleidet beängstigende Verrückungen, wenn man längere Zeit unbeweglich daliegt: Hals und Schultern beispielsweise fühlen sich dann übergroß an, während der Rumpf darunter zu schrumpfen scheint; oder man gewinnt den Eindruck, daß Knie und Waden sich aufblähen, daß sie atmen wie Frösche, daß sie pumpen wie ein Herz; und wenn man sich dann auf sein Herz besinnen will, wenn man in seine Brust hineinlauscht, ist da überhaupt nichts – nur ein leerer Hohlraum, während das Herz deutlich spürbar im Knie weiterklopft und der Brustkorb scheinbar immer weiter schrumpft, auf Zwergengröße, zu den kümmerlichen Maßen einer Puppenbrust.
So jedenfalls versuchte Kai späterhin immer wieder zu umschreiben, was er damals empfunden hatte. Dabei waren diese Körperverzerrungen nur ein geringer, allerdings beängstigender Teil seiner Wahrnehmungen im „Bassin“ gewesen, ab einem gewissen Zeitpunkt sogar beunruhigender als seine Schmerzen und alarmierender als seine Angst vor allen weiteren Teufeleien Söllners, der nach einem exakten Plan vorzugehen schien.
Das „Bassin“ hatte einen Umfang von vielleicht fünf auf fünf Metern, und anscheinend war es ganz einfach der Keller einer kleineren Hausruine, von der (zweifellos nach einem Bombentreffer) bloß die Außenmauern und der notdürftig geflickte Dachstuhl stehengeblieben waren. Durch Ritzen und Löcher im Dach (etwa fünf bis sieben Meter über Kai) drang bei Tag ein wenig Sonnenlicht herein. An den Wänden (etwa in Höhe des Mauervorsprungs, der Söllners Studiertisch nebst Formularen etcetera beherbergte) waren elektrische Kellerlampen angebracht, die in den Nachtstunden manchmal für schwächliche Beleuchtung sorgten.
Bereits als er im „Bassin“ zum erstenmal zu sich kam, konnte sich Kai nur mit Mühe bewußt machen, in welcher Körperhaltung er sich befand. Dabei stand ihm sofort nach seinem Erwachen vor Augen, wo er war und wie er dorthin geraten war: Er war von dem Mauersims gefallen, drei oder vier Meter tief, doch unerwarteterweise war er nicht schmerzhaft aufgeprallt, sondern in eine warme, weiche Masse eingesunken, einen nach Fäulnis und Pilzen riechenden Schlamm, der den Boden des „Bassins“ bedeckte. (Er richtete sich auf und watete einige Schritte durch den Morast, der seine Beine im Stehen bis über die Knie umschloß. Rings umher vernahm er leises, unablässiges Glucksen und Quappen und Rascheln, wie von Hunderten kleiner Tiere, und als er im Halbdunkel wieder stehenblieb, begann er sie auch zu spüren: nicht Hunderte, sondern Tausende winziger, wimmelnder Wesen überall auf seiner Haut. Ekel erfaßte ihn, er wollte sie von sich streifen, aber seine Hände fühlten sich taub an. Im kümmerlichen Lampenlicht schienen nicht mehr nur seine gebrochenen Finger, sondern die äußeren Hälften beider Hände angeschwollen und violett verfärbt.
Auf einmal gingen alle Lampen aus; im gleichen Moment wurde er von hinten ins Bein gezwackt – wie von dünnen, nadelspitzen Zähnen, dachte er und wollte davonlaufen, aber etwas hielt ihn fest, an beiden Fußknöcheln, und jetzt schrie er auf, obwohl er sich geschworen hatte, die Zähne zusammenzubeißen, was auch immer ihm widerfahren würde. Er versuchte sich loszutreten, aber sein Widersacher hielt ihn fest, und dann wurden seine beiden Füße gleichzeitig hochgerissen, und er verlor den Halt und fiel abermals der Länge nach in den Schlamm. Kai keuchte und hustete, verzweifelt versuchte er seinen Kopf zu heben, aber sein Verfolger legte eine Hand auf seinen Hinterkopf und drückte ihn immer tiefer in den Morast, während ein Mund über seine Beine, Gesäß, Rücken aufwärtsfuhr und ihm überall, wie spielerisch, kleine Bißwunden beibrachte. Das letzte, was er wahrnahm, waren diese Zähne in seinem Nacken. Noch einmal versuchte er, seine Arme emporzureißen, um sie hinter seinem Kopf um den Hals seines Widersachers zu schlingen, doch da wurde es schwarz um ihn –)
– und obwohl die kümmerlichen Lampen über ihm längst wieder eingeschaltet waren, begriff er nur mit Mühe, in welcher Körperhaltung er sich nun befand. Seine Augen signalisierten ihm, daß er auf dem Rücken lag, in einem sargförmigen Glasbehälter (der bis zur Hälfte mit Schlamm gefüllt und ebenso hoch vom Morast des „Bassins“ umgeben war), Arme und Beine gespreizt und auf den Ecken des Glassargs mit metallenen Spangen fixiert. Doch wenn er die Augen wieder schloß, schrumpfte sein Körper zum bloßen Rumpf zusammen, der, mit vier glühenden Pfeilen fixiert, unter diesen Glutpunkten im Leeren schwebte und um den herum unablässig Sand oder Haare oder feine Blätter wehten – bei geschlossenen Augen spürte er dies alles ganz genau, die vier glühenden Pfeile ebenso wie das fortwährende Huschen und Kitzeln und Prickeln auf seinem Rücken, auf Brust und Bauch. – Vier Pfeile?, durchfuhr es ihn, und er riß die Augen wieder auf, hob den Kopf und sah abwechselnd auf seinen linken und seinen rechten Fuß, deren kleine Zehen nach den Seiten weggeknickt waren, prall geschwollen und krankhaft rot wie Tropfen schierer Glut.
Die Entdeckung der Bernsteinmysterien Ende der dreißiger Jahre hatte seiner „romantischen Kunst des Körperöffnens“ eine neue Richtung gegeben und sie vor allen Dingen „auf ein höchstgradig affizierendes Ziel ausgerichtet“. Aber Carl Söllner hatte niemals auch nur erwogen, um dieses neuen Zieles willen seine älteren Pläne und Praktiken aufzugeben – am allerwenigsten die „zeitliche und räumliche Vervollkommnung der großflächigen Dauerwundheit am lebendoffenen Leib“. In der Bräuhalle zu Stiegliz hatte er beide „Forschungszweige“ mit nie versiegender Energie parallel vorangetrieben, doch seit er „schwanzwedelnd in die Hundehütte der Söllnerschen Existenz zurückgeschlüpft“ war, litt er an einem „jämmerlichen, meiner unwürdigen Mangel an Material“. Selbst wenn er sich in den Ruinenvierteln von Hanau oder Frankfurt/Main stundenlang auf die Lauer legte, glückte es ihm nur hin und wieder, unter größten Gefahren und Mühen, ein „streunendes Gassenkalb“ oder einen „mageren Klapperknaben“ aufzuklauben, die er behelfsmäßig zusammenschnürte und im knatternden VW-Bus nach Hause karrte. Wenn die Beute dann endlich im Bassin war, befiel ihn der große Jammer und ein verzweifelter Zorn: Wie zur Hölle sollte er seine mannigfaltigen Forschungen vorantreiben – mit diesem einen dürren Strolch? Sollte er etwa die großflächige Dauerwundheit perfektionieren und die Bernstein-Knochen-Technik weiter erproben – „nichts in Händen als diesen einen Lederlappen-Knochensack“?
Es war „ein erniedrigender Mangel“, der ihn so sehr ergrimmen konnte, daß der junge Torbert ihn manches Mal zurückhalten mußte, damit Söllner nicht den vor ihm ins Bassin gestreckten „Klapperknaben“ mit nackten Händen auseinanderriß, aus reinem, heiligem Forscher-Ingrimm, aber ohne jeden Zugewinn für seine Kunst und Wissenschaft. So ließ er sich endlich doch wieder besänftigen und griff mit mulmigem Gefühl auf seinen „Notplan für Friedenszeiten“ zurück: „doppelseitige Öffnung des lebenden Einzelleibs“.
Im Fall des Grafenbastards (dessen zerknackte kleine Zehen er, am Fußende des „Salamandersarg“ stehend, versonnen zwischen Daumen und Zeigefinger drehte) verhielt es sich sogar noch ärger. Solange der „grünäugige Saskius“ nicht ausgesungen hatte, wo die fünfte Amberfigur vergraben lag, mußte er, Söllner, sich übermenschliche Beherrschung auferlegen: Da durfte man, nur weil es dem Krummköpfchen so in den Kram paßte, nicht einmal wagen, ihm Schultern und Rücken zügig einzufaulen, geschweige denn, auch nur eine Rippe freizukneifen und mit dem feinen Rippenbohrer ordentlich zu höhlen – aus Sorge, daß einem der Zitterkerl zur Unzeit aus den Händen glitschte und stracks zum Freßgott fuhr!
Deshalb hatte er sich widerwillig dazu durchgerungen, den Grafenbastard „vom Salamanderkasten (Fäulnisschlamm, Rückenlage) in den Spinnensarg (Trockenstaub, Bauchlage) wechseltägig umzubetten“, um dieserart „die beiderseitige Lebendöffnung zumindest hasenhaft zu präparieren“; und deshalb, nur deshalb auch die Kindereien mit den kleinen Fingern, kleinen Zehen, an denen er immer noch aufs Unsinnigste herumquetschte, anstatt zumindest einen jämmerlichen Zehenknochen bloßzulegen. Das alles war doch eines Görsmann in hohem Grade unwürdig – den Klapperknaben zu den Salamandern zu betten, aber dann den Lurchen keinen Einschlupf zu gewähren: nicht in den Brustkorb, nicht in die Bauchhöhle, nirgends; und den angefressenen Körper dann wieder zu den Wolfsspinnen zu werfen, aber auch die achtäugigen Raubspinnen („diese Isegrims der Insektenwelt“) vergebens über den angefressenen Wanst rasen zu lassen. In hohem Maße hasenhaft!, sagte sich Söllner, der in diesem Moment bemerkte, daß der „Saskius“ zu sich gekommen war und ihn anstarrte, aus weit geöffneten Grünaugen, den Kopf ein wenig angehoben, während seine Lippen wie Mottenflügel flatterten und ein winselnder Pfeifton aus seinem Rachen drang.
„Die Figur – jetzt sagst du’s – wo?“ Söllner artikulierte überdeutlich, da der Kleine noch nicht ganz bei Sinnen schien. „Es waren – zwei – wo ist – die – andere?“
Der Kerl starrte ihn nur weiter an, als ob er nichts begriffen hätte. „Nein, du Teufel, dreimal nein!“, spie er auf einmal aus, schwer atmend und doch mit erstaunlich klarer Stimme. „Und wenn du mich in Stücke hackst, ich verrat’ kein Wort!“ –
Kai ließ seinen Kopf zurücksinken und schloß die Augen. Sofort sah er sich selbst wieder vor sich, wie er, an vier glühenden Pfeilen aufgespießt, in der Luft hing, zum kopf- und gliederlosen Rumpf zusammenschrumpfend, und aufs neue wehten und wirbelten jene Haare oder Blätter um ihn herum und kitzelten und stichelten und rieben und huschten an Brust und Rücken und Bauch und Schultern unablässig über seine Haut. Die glühenden Pfeile, das waren die Finger und Zehen, die der Schinder ihm zerbrochen hatte. Aber so gräßlich seine Finger brannten und seine Zehen loderten, die Söllner in den hohlen Händen drückte und trümmerte, weit ärger war das Huschen und Wischen auf seiner Brust, seinem Bauch und das Kratzen und Beißen in seinem Rücken – wie von kleinen, sehr flinken Tieren, durchfuhr es ihn, die über seine Haut quappten und wimmelten. Er riß abermals die Augen auf und stemmte den Kopf handbreit in die Höhe und sah Hunderte und Aberhunderte Salamander: über seine Brust huschend, auf seinem Bauch sich ringelnd, zwischen seinen Schenkeln wimmelnd, fingerlang, schattenhaft, gedankenschnell.
Sein Bewußtsein wurde schlammig – morastig wie das Bassin, das ihn umschloß, seit Tagen, seit Wochen (längst war auch sein Zeitgefühl verschlammt). Der furchtbare Vater wich kaum mehr von seiner Seite: Er tränkte ihn mit Wasser und fütterte ihn mit Brotbrocken, die er einspeichelte und ihm feuchtwarm zwischen die Lippen spie. Ständig schwebte die Scheibe seines Gesichts über ihm, ein sehr nackter, fleischiger Mond, eine Fratze onkelhafter Besorgnis, in der die großen, feuchten Augen rollten und die strichdünnen Brauen auf und nieder tanzten.
Unablässig öffneten und schlossen sich die schmalen, wundroten Lippen; wieder und wieder fragten sie nach der Bernsteinfigur, doch Kai gab keine Antwort, nicht einmal mehr ein Zeichen des Verstehens. Ein ums andere Mal zwang Söllner ihm mit einer Zwinge die Zähne auseinander und ließ Hände voll Salamander in die Höhlung seines Mundes gleiten, wo die Echslein unermüdlich umherstreiften, auf seiner Zunge, über seinen Gaumen, bis die Nervenüberreizung seinen Mund, seinen ganzen Schädel in höllischen Sensationen explodieren ließ. Aber wenn der furchtbare Vater ihn endlich wieder von der Zwinge und den Salamandern befreite und seine Frage immer kürzelhafter wiederholte – „Die Figur: wo?“ –, schwieg Kai so beharrlich wie zuvor.
Und der furchtbare Vater beschwor die Szenen der Holzschnitte und Kupferstiche herauf, die künstlerisch erhitzte Deutschordensbrüder vor siebenhundert Jahren angefertigt hatten und die Söllner seit einem Jahrzehnt mit Leidenschaft, wenn auch ohne jeden Kunstverstand sammelte: Krieger und Bauern, Mägde und Jünglinge drehten sich, einander bei den Händen haltend, auf einem Marktplatz oder einer Waldlichtung oder einem Schlachtfeld im Kreis, lächelnd, mit tänzerischer Leichtigkeit. Ihre Leiber waren von saftiger Frische (ihre Brüste und Gesäßbacken, ihre Wangen oder Waden); gleichzeitig aber sahen unter den zerfetzten Hemden, den hochwehenden Röcken oder zerrissenen Hosen schon angefaulte Fleischpartien und blanke Knochen hervor (der helle Schimmer eines Rippengitters unter schwärzlichen Speckgeschwüren): Dieser Kunst fühle auch er sich mit Leib und Geist, mit Herz und Hand verpflichtet, erklärte der furchtbare Vater, während er wieder einmal die Spangen löste, die Kais Fußknöchel und Handgelenke auf den Ecken des Salamanderkastens fixierten, und ihn fürsorglich unter Achseln und Knien packte, zwei Schritte weiter trug und bäuchlings in den Spinnensarg warf.
Einige Sonnenstrahlen drangen durch den Dachstuhl in die Düsternis des Bassins: ein neuer Tag. Kai wußte nicht, ob es der fünfte, siebte oder fünfzehnte Tag seiner Gefangenschaft war, doch er spürte, daß seine Kräfte zu Ende gingen – daß er die beißende Hitze in seinen Händen und Zehen, den brandigen Schmerz auf seinem Rücken (als ob seine Haut sich einrollte, stückweise ablöste), das Huschen und Schaben der Lurche und nun wieder die hundertfachen Bisse der Wolfsspinnen nicht mehr lange ertragen würde. Bäuchlings lag er im Spinnensarg, die rechte Wange in den Staub gepreßt, wie Söllner ihn hingeworfen hatte, und spürte, wie die Wolfsspinnen, die in der trockenen Erde dieses Glaskastens zu Hunderten und Tausenden hausen mochten, von allen Seiten auf ihn zueilten, sich von unten her seinem Bauch und seinen Beinen entgegengruben, ihre Zähne in seine Haut bohrten, ihr Gift in sein Fleisch spritzten. Während er nicht eine Hand rühren konnte, um sie von seinem Leib zu wischen oder zwischen Daumen und Zeigefinger zu zerquetschen, wie Söllner seine kleinen Finger oder Zehen zu drücken und zu zwirbeln liebte, daß das Blut hervorsprang und Schreie in seinem Schädel explodierten.
Aber er biß die Zähne zusammen – noch immer, für immer. Wieder und wieder sagte er sich, daß ihm nur dann eine Chance, eine allerletzte, lächerlich winzige Chance blieb, wenn er das Versteck der anderen Bernsteinfigur selbst unter der gräßlichsten Marter nicht verriet. Immer wenn er vor Schmerzen, vor Erschöpfung oder ganz einfach vor Angst noch tiefer abzurutschen und im Morast der Bewußtlosigkeit unterzugehen drohte, rief er sich seinen Zorn, seinen Haß ins Gedächtnis, wie eine Zauberformel: Zorn auf Timo, Haß auf den Bruder, der ihn verraten hatte, verraten und ins Verderben geschickt – warum, Bruder, warum? Sein Rücken war ein lodernder Fetzen, in dem er das Wimmeln von Tausenden winziger Tierchen spürte. Aus dem trockenen Dreck unter ihm gruben sich immer mehr Wolfsspinnen empor, um tausend kleine Feuerpfeile in seine Brust und seinen Bauch, seine Schenkel und Hoden zu bohren; und er nährte seinen Haß und zwang sich, auf den Wortwechsel zwischen Söllner und dem jungen Torbert zu lauschen, der sich wieder einmal um eine geplante Reise drehte – zum ungezählten Mal, seit sie ihn gefangenhielten.
Torbert Harding saß oben auf dem Mauersims, mit baumelnden Beinen über dem Bassin. Ab und an rief er seinem Ziehvater Ratschläge zu, wie man den Grafenbastard zum raschen Aussingen seiner Geheimnisse bewegen könne, aber auf derlei ging Söllner nicht ein: Sein Wahnsinn bewies sich gerade in der onkelhaften Zuverlässigkeit, mit der er einen Handgriff nach dem anderen ausführte, konzentriert und ohne tiefere Anteilnahme oder gar jene lüsterne Erregung, die Torbert Hardings Stimme brüchig werden ließ. Auch wenn er nur ein paar rätselhafte Brocken von den „wissenschaftlichen Ausführungen“ seines Peinigers aufgeschnappt hatte, war Kai intuitiv seit langem klar, daß Söllner wahnsinnig sein mußte: Fäulnis als Kunstwerk; Bernstein und Knochen – von alledem begriff er nur, daß der Schinder ihn bei lebendigem Leib verfaulen lassen, Salamander in seinen Brustkorb einschleusen und seine Knochen bei lebendigem Leib freilegen und aushöhlen und auf irgendeine Weise mit Bernstein „umgießen“ wollte. Und solange er beharrlich verschwieg, wo die „Wolfsritt“-Figur versteckt war, die Söllner aus irgendeinem Grund wichtiger als alles auf der Welt schien, würde der „Schinderonkel“ (wie er ihn für sich manchmal nannte) seinen wahnsinnigen Drang zumindest zügeln müssen.
„Zieh ihm den Schwanz lang, häng ihn an seinen Eiern auf“, schlug Harding zum wiederholten Mal vor. Wenn er endlich auskotzt, wo die Figur ist, bleibt mir diese gräßliche Reise erspart!“
„Langsam wird die Zeit knapp“, stimmte Söllner zu, während er die Spangen um Kais Fußknöchel schloß, „morgen abend Punkt sechs steht der Wagen samt Fahrer vor unserer Tür – und wenn der kleine Bastard bis dahin nicht gesungen hat, wirst du nach Stiegliz fahren müssen, mein Alabasteräffchen, wie es seit langem besprochen ist.“
Das Kreischen und Quieken der Ratten beleidigte seine Ohren. Es waren „Feindeslaute: absichtliche Vernichtung einer hochkomplexen Partitur“ (seit jeher hatte er zwischen seiner Kunst und der Musik eine tiefe Wahlverwandtschaft empfunden – lange bevor der Graf und sein Freßgott ihn lehrten, „den lebendoffenen Menschenleib als Klanginstrument zu sehen“). Glücklicherweise lehnte die Schaufel noch an der Bassinmauer, in der Ecke neben dem schadhaften Kanalrohr, aus dem die graurosa Leiber bereits hervorquollen, einander schubsend und beißend und mit ihren nackten Schwänzen den Schlamm zerpeitschend. Im Nu war er heran (er stieß sich mit beiden Füßen vom Boden ab und warf sich im Morast vorwärts, wobei er seine Arme synchron nach vorne schleuderte), packte die Schaufel und hackte mit der Metallkante auf das Gewimmel und Gekreische ein, wieder und wieder, schnaufend und japsend, bis sich das Rohr mit einem Brei aus Fell und Blut und abgeschnappten Schnauzen füllte und die fiependen Nacktviecher, die eben noch nachdrängen wollten, schwanzkehrum die Flucht ergriffen, zurück in ihr Kadaverreich.
(Vor zwei Jahren noch bettete er die gelegentlich eingefangenen Klapperknaben einfach ins Bassin, wo er sie mittels in den Boden eingelassener Ketten an Händen und Füßen fixierte. Aber nach dem ersten Ratteneinbruch hatte er die beiden „Glassärge“ herbeigeschafft: umgewidmete Meeresfischaquarien, die zwar auch keinen wirklichen Schutz vor angreifenden Ratten boten; dennoch beruhigte es ihn, seine fäulnisaktive Salamanderkultur ebenso wie die majestätische Wolfsspinnenwelt durch fingerdicke Glaswände vom umgebenden Morast abgetrennt zu wissen. Ohnehin, dachte er auch jetzt wieder, würde er die Glassärge über kurz oder lang gegen Behältnisse aus reinem Bernstein austauschen –„Bernstein: Transparenz des Leibes: das metaphysische Material!“)
Noch immer heftig schnaufend lehnte Söllner die Schaufel wieder an die Mauer und tastete bloßfüßig nach dem Steinbrocken, mit dem er vor ein paar Wochen erst (nach dem letzten Einbruchsversuch der kreischenden Gesellen) das Loch im Untergrund verkeilt hatte. Wo er den Brocken vermutet hatte, in unmittelbarer Nähe des Kanallochs, war jedoch nur zäher Schlamm zu erfühlen, vermengt mit ein paar Rattenüberresten; und indem er suchend und fluchend nach rechts ausschritt, stieß er sich so gewaltsam seinen Fuß an, daß er aufschrie – vor Wut und mehr noch vor höllischem Schmerz, der in seinem Fuß loderte, als wäre der „große Onkel“ (wie er das angeschlagene Glied grimassierend benannte) buchstäblich wie ein Zunderstück entflammt.
Während er sich bückte, um den vermaledeiten Brocken endlich über die Rohrmündung zu wälzen, tauchte oben auf dem Mauersims Torbert Harding auf, in seinem schwarzen Mönchsmantel, den Söllner ihm geschenkt hatte, da die Kutte ihn an die Tracht der Deutschordensritter erinnerte (auch er selbst hatte sich einen solchen Mantel anfertigen lassen, und manchmal phantasierten sie gemeinsam davon, eines Tages ein zünftiges Ritterturnier auszurichten, im Park hinter ihrer Villa, der weitläufig genug, wenn auch nicht annähernd so eindrucksvoll wie der Schloßpark zu Stiegliz war).
„Was ist denn passiert?“, fragte der Junge, indem er seine Daumen in die Gürtelschärpe einhängte, „hat der Kerl dich gebissen, oder was?“
Söllner richtete sich auf und humpelte, auf die Schaufel gestützt, durch den kniehohen Morast, den Blick zu Torbert erhoben. Als er neben dem Salamandersarg stand, in dem der Grafenbastard ruhte (anscheinend im Faulschlaf, aber keine Sorge, er würde den Klapperkerl gleich aufwecken), zog er seinen rechten Fuß aus dem Schlamm und bewegte probeweise die Zehen. Immer noch glühte der ganze Fuß vor Schmerzen, und Torberts Tonfall ärgerte ihn. „Hab’ mich gestoßen, halb so wild“, knurrte er. „Was hast du hier überhaupt noch zu suchen? Es muß schon nach zwei Uhr sein – keine vier Stunden mehr, bis der Wagen vor der Tür steht, und du mußt noch runter in die Stadt, um dir Klamotten zu besorgen!“
„Muß das wirklich sein“, maulte Torbert; „ich meine – wenn du dir den Kleinen noch mal richtig vornimmst, können wir uns das alles doch schenken: keine Reise, keine Proletenkleider fürs Arbeiterparadies.“
„Wieviel tausendmal soll ich dir’s denn noch erklären!“ Söllner polterte nun, wie ein entnervter Vater, der die Geduld mit seinem verwöhnten Söhnchen verlor. Mit dem Unterschied allerdings, daß dieser Ziehsohn mit theatralischer Gebärde seinen Mönchsmantel aufgleiten ließ und seine mageren Hüften schwenkte:
„Sag ja, und ich komm’ auf der Stelle runter und bring’ den Kleinen zum Reden – willst du, Carli?“
„Kommt nicht in Frage!“ Söllner zwang sich, seinen Blick von dem weißen, glatten Jünglingskörper abzuwenden, der dort oben wie auf einer Bühne stand (dem einzigen Körper, den er ansehen und sogar betasten konnte, ohne den Drang zu verspüren, ihn zu öffnen, anzufressen, aufzubrechen; woraus er vor Jahren die Folgerung gezogen hatte, daß er Torbert Harding liebe). „Ob der Klapperkerl heute noch singt oder nicht – um Punkt sechs steigst du in den Wagen und machst dich auf die Reise! Die ganze Schweinerei hat mich einen Haufen Geld gekostet – und was glaubst du, wie viele Wochen und Monate – wie oft ich telefonieren, mit wie vielen Kommunistengeheimdienstheinis ich tödlich öde Treffen durchstehen mußte – bis ich endlich die ganzen Papiere und Zusagen und Stempel beisammen hatte?“
Das alles hatten sie in der Tat hundertmal durchgesprochen. Wie Söllner vage bewußt war, wiederholte er seine sattsam bekannten Argumente nicht allein für Torbert (der weiterhin seinen Mönchsmantel auf- und zugleiten ließ), sondern insgeheim auch für den „Grafenbastard im Salamandersarg“ (dessen Augen immer noch geschlossen waren): Nie zuvor hatte ihn irgendeine Persönlichkeit derart beeindruckt wie Heribert Graf Prohn zu Stiegliz, der tatsächlich die Kunst beherrscht hatte, die Welt nach seiner Peitsche tanzen zu lassen. Wenn es ihm schon nicht gelungen war, den Grafen von seiner Ebenbürtigkeit zu überzeugen, so würde doch zumindest sein Früchtchen von einem Bastardsohn zur Kenntnis nehmen müssen, daß auch er, Söllner, die Marionettendrähte zu ziehen verstand.
(Seit ihnen der kleine Grafenbastard ins Haus geschneit war, in der Tasche eine der unschätzbaren Wolfsstatuetten, hatte Söllner mehr als einmal seinen Irrtum bedauert: Weihnacht 1954 war auch Heribert Prohn bloß mit einer einzigen seiner Bernsteinfiguren zum vereinbarten Treffpunkt gekommen, nicht mit allen dreien, wie er versprochen hatte, dafür jedoch mit seiner Frau, dieser angstkirren Halbirren, die er ihm allen Ernstes als Pfand anbot. Damals hatte Söllner gefolgert – konsterniert durch das abscheuliche Angebot und jedenfalls höchst voreilig, wie sich nun zeigte –, daß der Graf die beiden anderen Statuetten gar nicht mehr besaß, daß er sie in Stiegliz zurückgelassen oder auf der Flucht verloren hatte und der Dünkelhafte ihn hinzuhalten, zu übertölpeln versuchte. Also hatte er die „Wolfskampf“-Figur an sich genommen und das gräfliche Paar, das zu diesem Zeitpunkt durch Frost und Erschöpfung schon erheblich geschwächt war, zur letzten Ruhe in den Schnee gebettet: ein Mitwisser weniger.)
„Außerdem geht es nicht nur um die fehlende Bernsteinfigur“, fuhr er endlich fort, indem er sich vom patolloschen Pathos jener Waldszene (die weißen Atemwolken, die sich mit dem Goldgelb der einschläfernden Bernsteindämpfe vermischten) mühevoll losriß. „Auch das haben wir weiß die Hölle wie oft durchgesprochen: Wenn unser Kleiner hier die Statue wirklich hat, wird er uns das Versteck verraten, das ist gar keine Frage. Aber du mußt eben auch nachschauen, ob dort alles gesichert und verrammelt ist, damit nicht doch noch einer dieser roten Proletengeneräle nichtsahnend in unsere hübsche Wolfskapelle reinstolpert.“ Er machte einen Schritt zur Seite, lehnte die Rattenschaufel gegen den „Salamandersarg“ und ergriff Kais rechte Hand, die sich heiß anfühlte, der zerknackte kleine Finger ein unförmiger Klumpen, die Haut feucht und zum Platzen gespannt. „Und da mein wichtigster Verbindungsmann drüben bei der Visabehörde nächste Woche in Rente geht“, sagte er in abschließendem Ton, „und es danach mit der diskreten Ein- und Ausreiserei ein für allemal vorbei ist – oder wenigstens für die nächsten Jahre, bis drüben das Knechtsregime zusammenbricht ...“ Er wandte nun doch noch einmal seinen Blick zu Torbert, der mit verkniffenen Augen zu ihm heruntersah, an den Schreibtisch gelehnt, die Arme vor der mageren Brust verschränkt. „Aus allen diesen Gründen, mein Alabasteräffchen, die du genauso wie ich auswendig hersagen könntest, wirst du jetzt geschwind runter nach Buchhain spazieren und dir ein paar zünftige Proletenkleider kaufen, damit du im Arbeiter-und-Bauern-Paradies als klassentreuer Genosse durchgehst.“
„Aber nur wenn du mir versprichst, ihm die Eier abzureißen, falls er nicht auf der Stelle – –“
„Schluß jetzt – und abmarschiert!“
Sein Ärger über Torbi, der grauenvoll ordinär sein konnte, vermischte sich mit dem Schmerz, der unverändert in seinem Fuß pulsierte – wenn er den Fuß einwärts aufzusetzen versuchte, schoß eine Feuergarbe sein Bein hinauf, so daß er die Zähne zusammenbeißen mußte, um nicht vor dem Grafensöhnchen aufzustöhnen.
Er beugte sich über den Salamandersarg, in Gedanken immer noch bei Torberts törichtem Abgang: Im Gegensatz zu Torbi, der sich an derlei nur allzu gern aufspitzte, hatte er selbst sich für klapperknäbisches Schenkelgehänge nie sonderlich erwärmt. Er fand es unbeträchtlich, in mancherlei Hinsicht und insbesondere für seine romantische Kunst des Körperöffnens: quappiger Kram, zur Hälfte weggefault, bevor auch nur ein Fitzelchen vom Schulterblatt oder gar ein Rippenschimmerchen freigeschimmelt war. – Andererseits, dachte er in kuriosem Gedankenübergang – andererseits hatte er für die Spezies der Salamander seit jeher eine große Vorliebe, für ihre knochenlose Geschmeidigkeit, die ledrige Kühle und gedankenschnelle Raschheit der Schwanzlurche, wie die Biologie sie betitelt hatte; besser gesagt, dieser Zungentiere (wie er sie für sich seit langem nannte) mit ihrem instinktiven Drang zu feuchtwarmen, dunkel-modrigen Höhlungen, phantasierte Söllner, indem er zwei echsenschnelle Hände voll Salamander aus dem Glassarg klaubte und auf Kais Brust und Bauch, unter seinen Achseln, zwischen seinen Schenkeln ausstreute.
Die bevorstehende Trennung von Torbi (die allerdings nur zwei Tage dauern sollte) und mehr noch der Schmerz in seinem Fuß versetzten ihn in rührselige Stimmung. Zerstreut strich er mit einer Hand über Kais Seite und raunte: „Damals in der Bräuhalle hab’ ich mal einem Slawomir – ritsch-ratsch! – die ganze Seite aufgemacht – alles für euch, nur für euch! Konnte mir aber solche Verschwendung auch noch leisten – die Seite aufgekeilt – das Nötigste rausgesuppt – und dann mit beiden Händen auseinander und die Zungentierchen rein: zwanzig, dreißig, weiter, weiter, mehr – – Und wie der aufgebrochene Strolch dann in sich reinlauschte – mit einer Miene heiliger Wachsamkeit – und mit leisem, präzise punktiertem Wimmern anzeigte – geradezu mitsang – wie sich die Echslein in seinem Körper bewegten: unter die Rippen – hinter die Lungen – husch – –“
Mit derlei romantischen Improvisationen war es allerdings im März 1943 vorbei, nachdem er den Grafen endlich genötigt hatte, ihn (und den kleinen Torbi) hinunter in die Wolfskapelle zu führen. Stück um Stück hatte der Graf ihn in die Mysterien eingeweiht – ihm Dutzende der fabelhaften Bernsteinflöten gezeigt; ihm schließlich auch die Werke seines Vorfahrs, des „romantischen Friedebert“, zu lesen gegeben (so daß die Mären um den Wolfsgott und die geisternden Mahren oder die Novellen vom „Eisernen Hartbert“ und der „Dame Saskia“ immer wieder aufs neue entdeckt worden waren, ein halbes Dutzend Male und lange vor Alex und Timo, die demnach ihren Entdeckerruhm stark überschätzten, aber das ahnten sie nicht); ihm endlich auch einen Korb voll Bernsteinbrocken für seine wissenschaftlichen Forschungen überlassen, die er daraufhin auf jenes neue, hochgradig affizierende Ziel ausrichtete: Nutzung des lebendoffenen Körpers als Klanginstrument.
„Und zur Hölle“, flüsterte Söllner, indem seine Hände wie große rote Echsen wieder und wieder über Kais Rippen und Seiten fuhren, „werd’ nie vergessen, wie der Graf damals gestaunt hat: Da sind Ihnen aber einige hübsche Kunststückchen geglückt, Görsmann, hat er zu mir gesagt; Respekt, mein Lieber, das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut: wie diese Slawomire wahrhaftig flöten gehen – aus voller Brust, sozusagen – und sind sogar noch halbwegs bei Kräften, die Kerle – also wirklich: meinen Respekt! Erinnerst du dich, Kerlchen“, flüsterte Söllner und packte Kai bei den Schultern, „drei Tage drauf war das große Konzert bei euch im Park!“
Doch der Junge zeigte keine Regung. Er ließ sich schütteln wie ein Lederlappen-Knochensack. seine Augen auf einmal weit offen, aber der Blick glasig. Als Söllner ihn nochmals rüttelte, kollerte der Kopf mit den schlammgesträhnten Locken auf dem Sargrand hin und her.
„Verdammt, verdammt!“ Er war jetzt ernsthaft beunruhigt. „Daß mir der Saskius nicht wegglitscht!“ Abermals fühlte er über seine Wangen, die ausgemergelte Brust. „Heiß wie die Hölle, verflucht! Aber das kriegen wir schon – das wird schon – keine Sorge“, murmelte er und machte sich mit fliegenden Fingern an den Fesseln zu schaffen, ließ die Spangen an den Fußknöcheln des Saskius aufschnappen und war schon bei den knochendürren Handgelenken: klipp und klapp; und kauerte sich neben ihn in den Schlamm, beugte sich vor und faßte ihn fürsorglich unter Achseln und Knien, der furchtbare Vater; und wollte das Knaeppi eben aus dem Salamandersarg heben –
– da packte Kai die Rattenschaufel, die am Sargrand lehnte, und stieß mit aller Kraft, die noch in ihm war, die schartige Kante gegen Söllners Schläfe – einmal, zweimal, weiter, weiter. Und der furchtbare Vater schrie auf, und ein Beben überlief ihn, ehe er vornübersackte und quer über dem Sarg liegenblieb, bewußtlos, jedenfalls reglos, sein Kopf zur Seite gerutscht, und rote Schlieren über die Onkelfratze liefen, kreuz und quer und fein wie Spinnenfäden.
Kai wühlte sich unter dem riesenhaften Echsenlederleib hervor. Das Herz hämmerte ihm in Händen und Füßen, und sein Körper war ein einziger feuerwunder, klapperkalter Schmerz- und Moder- und Entsetzensfetzen, als er durch den Schlamm wankte und endlich auf den eisernen Streben emporkroch, die Beckenmauer hinauf in Söllners „romantische Studierstube“.
Auf dem Mauersims, zur Rechten von Söllners Schreibtisch, stand ein Blecheimer, bis zum Rand mit klarem Wasser gefüllt. Kai fiel auf die Knie, beugte sich hinab und trank, mit läppernder Zunge wie ein Hund. Sein Atem ging keuchend, doch obwohl er sich mehrmals verschluckte und innehalten mußte, bis das Rasseln in seiner Brust verebbt war, schien ihm das eiskalte Wasser köstlicher als alles, was er jemals geschmeckt hatte.
Als sein Durst endlich gestillt war, tauchte er seinen Kopf und die Arme bis zu den Ellbogen ins Wasser. So verharrte er für einen langen Moment, mit angehaltenem Atem, und spürte, wie die herrliche Kälte den Schmerz in seinen Fingern vereiste und seinen fieberheißen Körper kühlte. Doch ihm war bewußt, daß er noch immer in größter Gefahr war – Söllner konnte jederzeit wieder zu sich kommen, und bald schon würde Torbi von seinen Einkäufen zurückkehren. Nachdem er sich das restliche Wasser mit unbeholfenen, schon wieder schmerzhaft klopfenden Händen über Brust, Bauch und Beine gegossen hatte, raffte Kai die auf dem Schreibtisch aufgestapelten Papiere – Banknoten, Visa-Dokumente, den Reisepaß auf den Namen Torbert Harding – zusammen, warf alles in eine speckig braune Ledermappe, die wie zu diesem Zweck schon bereitlag, schob die „Wolfsbiß“-Statue hinterher und humpelte zur Tür am Ende des Mauervorsprungs, die Mappe unter einen Arm gepreßt.
Es drängte ihn, noch ein allerletztes Mal hinab in das Bassin zu sehen, wo er Söllner zurückgelassen hatte: blutüberströmt, der schlaffe Körper über den Salamanderkasten geworfen. Doch er brachte er es nicht über sich, und so drückte er behutsam die Tür auf und spähte nach draußen: der verwilderte Park (der ihn wieder an Stiegliz erinnerte) mit seinen riesenhaften Buchen, die ihre Äste über den Wiesenhügel reckten und dem Abendlicht einen echsengrünen Schimmer verliehen (sechs Uhr konnte nicht mehr fern sein). Kai klammerte sich an den Türrahmen, von Schwindelgefühl gepeinigt: Früher einmal mochte die Tür auf einen Balkon oder eine Balustrade hinausgegangen sein, jetzt öffnete sie sich ins Leere, fünf Meter über dem Boden. Eine Holzleiter lehnte unter dem Türloch, am rauchgeschwärzten Mauerwerk, doch die Streben sahen mürbe aus, und der Mut wollte ihm sinken: Seine zu knochendürren Stelzen abgemagerten Beine und seine unförmig angeschwollenen Füße würden ihn niemals dort hinabtragen – er sah sich schon mitsamt der Leiter zu Boden krachen und zuckend im Gras liegen, während über ihm der erwachte Schinderonkel im Türloch erschien.
Vorsichtig wendete sich Kai um und tastete mit pochendem Fuß nach der obersten Strebe. Obwohl seine Augen weit geöffnet waren, kam es ihm auf einmal wieder vor, als läge er noch dort drinnen, im Salamanderkasten, an Händen und Füßen gefesselt, und die Echsen huschten und quappten zu Hunderten über seine Haut. Sein Herz begann heftig zu schlagen, er vernahm ein Wimmern, während er auf morastweichen Knien Strebe um Strebe abwärts wankte. Erst als er unter seinen Fußsohlen federndes Gras fühlte, dämmerte ihm, daß dieses traumleise, stetig an- und abschwellende Winseln aus seiner eigenen Kehle kam.
Die Beine sackten ihm weg. Minutenlang blieb er liegen, der Länge nach, wie er ins Gras gefallen war, und sah nur fassungslos seinen Körper an: so klapperdürr abgemagert, daß Rippen und Hüften spitz hervorstachen. Umso monströser die violetten Schwellungen an Händen und Füßen; seine Haut mit entzündeten Bissen, brandigen Wunden übersät. Bestie, Teufel, dachte Kai, und er selbst hätte nicht sagen können, auf wen er stärkeren Zorn, wilderen Haß empfand: auf Timo, der ihn verraten, dem „Schinderonkel“ zugetrieben hatte, oder auf Söllner selbst.
Söllner, der allen Ernstes versucht hatte, ihn bei lebendigem Leib verfaulen zu lassen; Söllner, der ihm Finger und Zehen wieder und wieder gebrochen, der seine zertrümmerten Gliedmaßen Tag für Tag immer weiter zerquetscht und zermalmt hatte, bis sie nur noch formlose Wülste waren, zum Platzen angefüllt mit Eiter, Knochenstaub und Blut. Sachte fuhr sich Kai über seine Rippen, mit Zeige- und Mittelfinger, während sein Blick hinter Tränen verschwamm. „Die Haut runter, das Fleisch“, hörte er Söllners Stimme in seinem Innern, „dann mit dem feinen Bohrer die Rippe ausgehöhlt – alles kein Problem!“
Kai wischte sich über die Augen und griff nach der Mappe, die neben ihm ins Gras gefallen war. Er richtete sich auf, versetzte der Leiter einen Stoß, daß sie, an der Hauswand entlangschrammend, seitlich zu Boden fiel, und begann hügelan zu wanken, durch kniehohes Gras auf die verfallene Villa zu.
Auf halber Strecke blieb er stehen, atemlos, das Pochen seines Herzens mit dem Schmerz vermischt zu klopfenden Kakophonien. Er drückte die Fäuste in seine Seiten und sah den Hang empor, um abzuschätzen, wie weit er sich noch schleppen mußte. Da erst wurde ihm bewußt, daß die Söllnersche Villa den höchsten Punkt des Anwesens bildete, genau so, wie das Herrenhaus in Stiegliz auf dem Schloßhügel thronte. Er wandte sich um und sah zu der kleineren Hausruine hinab, in der sie ihn gefangengehalten hatten (zwölf tausendjährige Tage lang, aber das wußte er nicht), und tatsächlich stand das Bauwerk an der tiefsten Stelle des Parks, just dort, wo sich auch in Stiegliz ein zweites Gebäude aus der Senke erhob. Doch anstelle der gläsernen Orangerie befand sich hier schwarzes Gemäuer, und zu seinen Seiten und dahinter, soweit man sehen konnte, drängten sich christliche Kreuze in engen Reihen, schräg in den Boden gesunken, halb überwuchert von Efeu und Gras. Kais Blicke irrten zu dem kahlen Mauerwerk zurück, und da erst bemerkte er das Türmchen zur Linken der kleinen Ruine und das schwarze, klobige Kreuz auf seiner Spitze, und erkannte in jähem, gleichwohl verspätetem Entsetzen, daß er im Keller einer Friedhofskapelle gefangen gewesen war (zwischen Hunderten von Gräbern, im Morast der zerfallenen Leichname). Er fuhr herum, preßte die Mappe unter seine Achsel und taumelte weiter den Hügel empor: nackt, ausgemergelt, schlammverschmiert wie ein Leichnam, der soeben erweckt worden und im Stande fortgeschrittener Fäulnis aus seinem Grab gekrochen war.
Der Fahrer sagte: „Ich kümmere mich um alles, wie mit deinem Vater besprochen – gib die Sachen einfach her.“ Es war Punkt sechs Uhr, und er war tatsächlich erschienen, mit einem nebelgrauen Kleinbus, dessen hintere Scheiben schwarz verhängt waren; ein mittelgroßer Mann in grauem Anzug, mittleren Alters, mit flinken, gleichfalls grauen Augen: „Nenn mich einfach Michael“ (obwohl das sicher nicht sein wahrer Name war). „Und du bist der ...?“
„Torbert.“
Michael riß die hintere Tür auf und sagte: „Steig hier ein – da, ein Klappbett, siehst du? Wenn du willst, kannst du die ganze Nacht schlafen – morgen früh, wenn du aufwachst, sind wir da.“
Der Junge quälte sich in den Wagen, und der Fahrer wußte offenbar nicht, was er von alledem halten sollte: Sein Auftrag lautete, einen Jungen namens Torbert Harding nach Frankfurt (Oder) zu kutschieren, über einen Grenzübergang, der ohne Sondergenehmigung unpassierbar war. Allerdings war nie die Rede davon gewesen, daß dieser Junge aussehen würde, als wäre er eben von den Toten auferstanden: Gesicht und Haare auf groteske Weise mit Schlamm verschmiert; Hände und Füße notdürftig verbunden; sein ausgemergelter Körper in zerfetzten Lumpen: ein schwarzweißes Baumwollhemd ohne Knöpfe, eine umgeschneiderte Wehrmachtshose, die von einem Strick zusammengehalten wurde, dazu ausgelatschte Gummisandalen, aus denen die schwarz bandagierten Zehen hervorsahen wie traurige Zwerge.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Michael in zweifelndem Tonfall, an den Rahmen der Autotür gelehnt. „Oder soll ich erst mal bei deinem Vater ...?“ Er deutete mit der rechten Schläfe, die unter dünnem, mittelblondem Haar hervorsah, zum Söllnerschen Anwesen: hoch oben auf dem Hügel, gesäumt von riesenhaften Buchen, die halb verfallene Villa (hinter der Eingangstür das „Alabasteräffchen“: auf Zehenspitzen stehend, seine blaßblauen Augen aufgerissen vor Anspannung und Angst; und hinter der Villa, auf der anderen Hügelseite: Söllner in der Friedhofskapelle, die erstarrte Onkelfratze, über den Salamandersarg gesunken; aber das alles war von der Bornstraße aus nicht zu sehen).
„Nee – alles gut“, sagte der Junge in wenig überzeugendem Tonfall und versuchte mit seiner bandagierten Linken das zerfetzte Hemd über seiner Brust zusammenzuschieben, die mit ekelhaft aussehenden Wunden bedeckt war. „Wenn Sie nur da vorn noch mal kurz halten könnten – am Ende der Straße?“
Michael sah ihn nachdenklich an, dann endlich schloß er die Tür hinter seinem seltsamen Passagier und fuhr los, mit knatterndem Zweitakt-Motor. Gleich darauf stoppte er schon wieder wie geheißen, um mit mulmiger Miene zuzusehen, wie der Junge sich neuerlich aus dem Wagen quälte, am Rand des Bombenkraters in die Knie ging und einen flachen schwarzen Koffer mit abgestoßenen Beschlägen unter einem Steinbrocken hervorzog.
Mit röhrendem Motor fuhren sie dann den steilen Taunushügel hinab, an dessen Flanke sich das Städtchen Buchhain schmiegte. Allmählich beruhigte sich Michael wieder, indem er den Inhalt der speckig braunen Ledermappe durchging, die der Junge ihm schließlich überlassen hatte – nicht ohne vorher eine seltsame goldgelbe Figur herauszunehmen und in seinen Koffer zu überführen. Aber das störte den Fahrer nicht, denn die Mappe enthielt alle erforderlichen Papiere und weitaus mehr Bargeld, als ihm jemals versprochen worden war: Wenn er diese Mission überstand, sagte sich Michael, war er ein gemachter Mann.
Nachdem sie Buchhain hinter sich hatten, wechselte er in den dritten und endlich in den vierten Gang, im Rückspiegel die versinkende Sonne, im Mundwinkel eine qualmende Roth-Händle, weit vor sich den ominösen Grenzübergang gen Osten (der auf seiner Karte durch ein Totenkopfsymbol markiert war). Währenddessen lag Kai auf dem schmalen, unendlich wunderbar weichen Klappbett, hinter zugezogenen Vorhängen, die das Innere des Wagens in Dämmer hüllten, neben sich den zerstoßenen Lederkoffer mit den beiden Bernsteinstatuen und dem Bernsteindolch. Aber trotz der behaglichen Stimmung im schaukelnden Bus und trotz seiner Erschöpfung fand er lange Zeit keinen Schlaf: Sobald er die Augen schloß, stürzte er zurück ins „Bassin“, das in Wahrheit die Ruine einer Friedhofskapelle war, und spürte wieder Söllners Hände an seinem Körper, das Huschen der Salamander, die haarfeinen Spinnenbeine, das Wimmeln im Morast des Salamandersargs oder Söllners Mund zwischen seinen Schultern – Lippen und Zähne des Schinders, die nach ihm schnappten, um zu prüfen, wie weit die Fäulnis fortgeschritten war.
Dann riß er seine Gedanken von Söllner los und dachte an Harding – und das war allerdings eine weit angenehmere Erinnerung: wie Torbi durch die Eingangstür der Söllnerschen Villa trat, tatsächlich in nagelneuer „Proletarierkluft“ (Drillich, Karohemd, nicht mal die Schiebermütze fehlte), und sogleich nach Söllner rief: „Willst du nicht sehen, was für ’nen phantastischen Proleten ich abgeb’, Carli?“
Das tust du zweifellos, dachte Kai, indem er den Atem anhielt, hinter der Tür, die nun, von Torbis Alabasterwade angeschubst, ins Schloß zurückglitt – und da warf ihm Kai von hinten den Gürtel seines eigenen Kreuzrittermantels über den Kopf und zog die Schlinge mit scharfem Ruck und mit seiner allerletzten Kraft zusammen, so daß Harding nur noch matt die Arme heben konnte, ehe er mit einem säuglingshaften Seufzer zusammensackte.
Kai kauerte sich neben ihm auf das zertretene Bodenmosaik (ein riesenhafter Kreuzritter, der mit einem einzigen waagerechten Schwerthieb einem halben Dutzend am Boden kniender Verdammter die nach oben wegspringenden, auf Blutfontänen tanzenden Köpfe abschlug). Haß quoll in ihm empor, so heiß, so übermächtig, daß er Harding ins Gesicht spie. Nur die Armbanduhr an Torbis linkem Arm, auf die plötzlich sein Blick fiel, bewahrte den bewußtlos Hingestreckten vor Kais maßlosem Zorn: In diesem Augenblick wäre er zu allem fähig gewesen, zu jeder Vergeltung, selbst zu den Teufeleien, die Harding seinem Ziehvater immer wieder empfohlen hatte, in unerschöpflichen Variationen („oder darf ich’s machen – bitte, Carli, ja?“). Aber es war bereits zwanzig vor sechs, und er mußte seine zerfetzten Kleider noch überziehen (die neben ihm am Boden lagen, wo Söllner sie ihm vom Leib gerissen hatte), seine Finger und Zehen bandagieren (mit Stoffstreifen, die er von Hardings Mönchsmantel schneiden würde) und, vor allem, Torbert Harding so verschnüren, daß er und Söllner (falls der Schinderonkel überhaupt noch lebte) nicht die Verfolgung aufnehmen konnten, ehe er außer Reichweite war.
Suchend sah Kai sich um: Über ihnen hing ein kolossaler Kristallüster von der Decke herab, verstaubt und mit Zehntausenden toter Mücken verklebt, der sicherlich wenigstens einen Zentner wog. Kai zog die Schärpe des Kreuzrittermantels so fest um Hardings Hals, daß gerade noch genügend Luft durchkam, dann erhob er sich stöhnend, warf das Ende des Gürtels über einen Lüsterarm, biß die Zähne zusammen und zerrte Harding, der soeben flackernd die Augen öffnete, mit einem Ruck auf die Füße. Ehe der andere richtig zu sich gekommen war, hatte Kai seine Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und die Schärpe so straff gezogen, daß Harding sich auf die Zehenspitzen stellen mußte, um den Zug der Schlinge um seinen Hals zu lindern. „Wenn deine Zehen schlapp machen“, sagte er leise, indem er die Güte der Knoten nochmals prüfte, „hängst du dich entweder selbst an dieser Lampe auf – oder das Kristalltrumm knallt dir auf den Kopf: so oder so keine guten Aussichten.“
Er trat hinter Harding und warf nochmals einen Blick auf seine Armbanduhr – gleich zehn vor sechs. Ohne sich länger um das „Alabasteräffchen“ zu bekümmern, das ihn mit Flüchen übergoß und dann wieder in jämmerlichem Tonfall um Erbarmen flehte, ging Kai zu seinen Sachen und zog mühevoll Hemd und Hose über. Dann humpelte er nochmals in den verwahrlosten Salon zurück, wo er auf dem Tischoval gekniet hatte, seine Hand mit dem gebrochenen Finger als lebender Löffel, mit dem Söllner kochendheiße Fleischsuppe gelöffelt hatte. Er würde nicht darüber nachdenken, beschwor sich Kai, woher die Fleischbröckchen aus dieser Suppe stammten; stattdessen ergriff er den Kreuzrittermantel, den Harding damals hier abgeworfen hatte, und trat vor einen der deckenhohen Glasschränke, die mit alten Büchern, Waffen und Pokalen vollgestopft waren. Ein Dolch mit langer Klinge, der Griff besetzt mit Bernsteinintarsien, sprang ihm ins Auge; er nahm ihn heraus, schnitt vier Streifen von dem Mantel ab und bandagierte sich seine gebrochenen Gliedmaßen, so rasch es irgend gehen mochte, indem er die Streifen straff um seine Finger und Zehen wand.
Kaum war er fertig, als eine Autohupe ertönte, gedämpft von der Straße her. Kai nahm einen rotbackigen Apfel, der in einer Schale auf dem Tisch lag, und steckte ihn in seine Tasche, streifte stöhnend seine Gummisandalen über, nahm den Bernsteindolch in die Rechte, klemmte die Ledermappe unter seine linke Achsel und humpelte zur Haustür zurück.
In der Halle stand Harding, wie er ihn vor Minuten zurückgelassen hatte: auf Zehenspitzen, den Hals emporgereckt, die Augen aufgerissen. Kai blieb neben ihm stehen und hob den Bernsteindolch, doch da ertönte von der Straße her wieder der schüttere Hupton. Also schob er das Messer in seinen Gürtel, zog die Tür auf und machte, daß er wegkam – hügelabwärts humpelnd, so rasch wie irgend möglich, und wo immer er hinsah, huschten (schattenhaft, hurtig wie seine Hände) Salamander durchs Gras.
Der jähe Schmerz hatte Margot zumindest für einige Augenblicke ernüchtert: Sie erhob sich von ihrem Bett und stand schwankend im Dunkel der Schloßmansarde. In ihrem Kopf noch der Schrei, den sie sich soeben verbissen hatte; die Wunde neben ihrer Achselhöhle förmlich kochend; die „Wolfsbiß“-Statue in ihrer Rechten klebrig von ihrem eigenen Blut.
Erneut ging sie in die Knie und schob die Bernsteinfigur in ihr Versteck zurück – das Kostbarste, was sie auf dieser Welt besaß, auch wenn es möglicherweise ein unheilvoller Fehler gewesen war, die Statuette mit dem Jünglingskopf voran in den Mund der Saskia zu stoßen. Der Schmerz war gräßlich, noch immer, und er schien sogar auszustrahlen – es fühlte sich an, als ob die Partie von ihrer linken Achselhöhle bis zu ihrem Herzen hinab in einem höllischen Feuer gesotten würde. Doch weit ärger war, daß die Stimme der Saskia, die sie den ganzen Abend über vernommen hatte, ein bedrängendes Zischeln und Wispern, im selben Moment erstorben war, als sie den Jüngling in die klaffende Wunde gestoßen hatte. Als ob die Saskiakraft mich verlassen hätte: ganz und gar unmöglich, dachte Margot, deren kurzzeitige Ernüchterung bereits wieder ihrer gewöhnlichen Gemütslage wich: Berauschtheit am Rande der Trance.
Wenn der „Amberring“ erst einmal geschlossen wäre, sagte sie sich, die fünf Wolfsfiguren an ihrer heiligen Stätte wieder vereinigt waren, würde etwas ganz und gar Ungeheures geschehen: Den Überlieferungen nach sollte dann Patollo selbst, durch den „Reif der Wölfe“ emporgerufen, den Versammelten als „glosende, tosende Urgewalt“ erscheinen – und danach würde „nichts mehr sein, wie es einmal war“.
Bloßfüßig, ihre Sandalen in der einen Hand, mit der anderen ihre Kupfermähne hinter der Schulter raffend, trat sie hinaus auf den Mansardengang und lauschte. Von unten her war leises, dabei eigentümlich nachhallendes Trappeln zu hören – als ob dort Dutzende Personen durch die Halle schlichen, auf Zehenspitzen und ohne ein Wort. Margot wartete, bis das Trappeln erstorben war (verstummt wie die Stimme der Saskia), dann huschte sie durch den dunklen Gang und die Treppe hinab, durch die Halle, die in vollkommener Stille lag, und hinaus in den nachtschwarzen Park.
Auf einmal stand ihre Aufgabe ihr klar und deutlich vor Augen: Sie alle, die eine oder mehrere der fünf Bernsteinfiguren besaßen – Söllner (und Torbert Harding), Timo Prohn (und jener Alex) sowie sie selbst –, waren durch höhere Fügung auserwählt worden, um den vor langer Zeit zerstückten „Amberring“, den „Reif der Wölfe“, wieder zusammenzufügen. Das aber hieß, daß sie nicht länger versuchen durften, einander die Bernsteinfiguren durch List oder Gewalt abzujagen: Niemand von ihnen, dachte Margot, würde jemals alle fünf Figuren in seinen Besitz bringen – Carl Söllner nicht, der möglicherweise bereits drei Figuren an sich gebracht hatte; ganz zu schweigen von Timo Prohn, der bis heute kaum zu begreifen schien, worum es bei alledem ging. Aber auch sie selbst konnte allein nicht ans Ziel gelangen, sagte sich Margot: Zwar hatte sie Timo die „Wolfsbiß“-Figur abgelistet, dafür aber mit dem Verlust ihrer eigenen Statuette bezahlt – der „Wolfsritt“-Figur, ihrem väterlichen Erbstück, das Prof. Norbert Wegener, seinen Aufzeichnungen zufolge, von einem gewissen „K. Wilko“ erhalten hatte (als Anreiz oder Gegenleistung für ein Forschungsprojekt „über die Duplizität deutscher Ausrottungspolitik in Osteuropa am Beispiel des Grafengeschlechts Prohn zu Stiegliz“, das allerdings nie zustandegekommen war – aber davon wußte Margot nichts). Anstatt weiterhin zu versuchen, Timo ihre Figur wieder abzujagen, beschloß Margot, würde sie künftig die Rolle einer weisen Vermittlerin einnehmen, damit alle Berufenen sich in den Dienst der gemeinsamen heiligen Sache stellten und sich zu einer neuen Priesterschaft des Wolfsgotts vereinigten, die allein imstande wäre, den „Reif der Wölfe“ zusammenzufügen.
Und Margot eilte durch den Park, unter dem weiterhin grollenden Himmel, von einer Woge der Begeisterung ergriffen, die sie förmlich hügelabwärts schwemmte, auf die Orangerie zu: Sie würde Timo aufwecken und ihre heilige Mission verkünden, und wenn jener Alex sich nicht einmischte, mochte er ihrethalben dieser Verkündung beiwohnen; wenn er aber neuerlich versuchte, Timo gegen sie aufzubringen, würde sie dafür sorgen, daß Timo seinen falschen Freund vor die Tür setzte – am besten für immer, zumindest aber für den Rest dieser gewitterschwülen Nacht.
Doch als sie die leise erklirrende Tür aufzog und ins Glasgehäuse huschte, war Timos Bettstatt zerwühlt, kühl und leer. In der ganzen Orangerie, die sie, eine flackernde Kerze beschirmend, rasch durchsuchte, fand sie keine Spur von Timo – nicht im Verschlag hinter dem Vorhang, nicht auf der Wendeltreppe, hinter wucherndem Geschlinge, und ebensowenig oben auf dem Söller (wo Timo vor achtundvierzig Jahren mit seiner zitternden Mutter gestanden hatte, bei jenem „gräßlichen, unvergeßlichen Konzert“, aber auch davon wußte Margot nichts). So blieb ihr nichts anderes übrig, als die Orangerie wieder zu verlassen (vorbei an dem nun kahlen Sockel des überdimensionalen Einmachglases, das Timo vor wenigen Tagen zerschmettert hatte) und an anderen Orten nach ihm zu suchen.
Draußen auf dem Vulkansteinplatz verharrte sie einen Moment, unschlüssig, ob sie sich nach links wenden sollte, zur Westmauer des Parks hin, oder gleich wieder hügelauf und nordwärts zum Herrenhaus zurück, wo sie vorhin das Trappeln von Schritten vernommen hatte (aber es waren zahlreiche Personen gewesen, und mit wem – außer mit jenem lästigen Alex – sollte Timo sich dort herumtreiben?). Während sie noch hin und her überlegte, vernahm Margot von Osten her gedämpfte Rufe, und als sie zum Oderwald hinüberspähte, glaubte sie eine schlanke Gestalt in heller Kleidung zu sehen, die dort drüben durch die Bresche in der Ostmauer schlüpfte. Timo, wer sonst, dachte sie und lief schon hinter dem Schemen her, so rasch, daß der Saskiamund über ihrer Brust schmerzhaft nach Luft zu schnappen schien.
Endlich, endlich ging sein Traum in Erfüllung: Er saß am Ufer der Oder, auf dem moosbedeckten Steinbrocken, neben ihm Margot, an seine Seite geschmiegt. Obwohl es weiterhin verhalten donnerte, begann die Wolkendecke über ihnen rissig zu werden, und in einer Furche zwischen zwei tintenschwarzen Wolkenbergen segelte rund und silberhell der Mond.
Timo hatte seinen Arm um ihre Mitte gelegt. Unter dem dünnen, durchbrochenen Stoff spürte er ihren Körper, und ihr Kopf lag an seiner Schulter, so daß ihre Haare ihn an der Wange kitzelten, wenn er sich zu ihr drehte.
„Söllner kriegt das Schloß mit allem, was dazugehört, und dafür bekomme ich das Geld“, sagte er – zum dritten oder vierten Mal, seit sie auf einmal hier bei ihm aufgetaucht war. Aber jetzt sprach er nur noch leise, raunend wie die Oderströmung oder wie man einen Zauberspruch murmelt: damit endlich doch noch alles gut wird. „Dann müssen sie Lisa freilassen – und wir beide gehen fort von hier: nach Süden – weit weg – wohin du willst.“
Margot gab ihm keine Antwort, aber das störte ihn nicht. Sie hatten gestritten und sich versöhnt, und nun war alles geklärt zwischen ihnen. Er streichelte ihre Seite, und sie schmiegte sich enger an seine Schulter – das war Antwort genug, dachte Timo, jedenfalls für diesen Moment mondversilberter Harmonie.
Nachdem sie ihn – vor wenigen Minuten erst – regelrecht angeschrien hatte, mit verzerrtem Gesicht und einem Kreischen in der Stimme, das ihn erschreckt und befremdet hatte, genoß er den stillen Frieden zwischen ihnen um so mehr. „Mit allem beweglichen und unbeweglichen Inventar“, hatte sie aus seinem Vertrag mit Söllner vorgelesen. „Soll das etwa heißen, daß du ihm auch die Wolfsfigur überlassen willst?“
Darüber waren sie in Streit geraten: „Von welcher Figur redest du überhaupt – von der, die du mir abgeluchst hast?“
„Bestimmt nicht von meiner eigenen, die dein seltsamer Freund Alex aus meinem Haus geklaut hat!“
„Dann laß sie uns doch einfach wieder austauschen!“
„Damit du die ‚Wolfsbiß’-Figur an diesen Trowal zurückgibst – kommt gar nicht in Frage!“
„Aber warum denn nicht, Herrgott noch mal? Wieso versuchst du mit allen Mitteln zu verhindern, daß Trowal diese blödsinnige Figur zurückbekommt?“
„Blödsinnig?“ Sie begann zu zetern: „Du verstehst überhaupt nichts – immer noch nicht – keinen Schimmer, hab’ ich recht?“
„Was gibt’s da schon zu verstehen: ein paar geschmacklose Bernsteinfiguren, mit verworrenen Sagen und verstaubtem Aberglauben interessant gemacht! Du willst mir doch nicht erzählen, Margot, daß du allen Ernstes an diese blutrünstigen Wolfsgott-Mythen glaubst?“
Schon auf diese Frage bekam er seltsamerweise keine Antwort mehr – oder doch: Sie legte ihm eine Hand in den Nacken, zog ihn an sich und küßte ihn. Ihre Zunge schlüpfte in seinen Mund, ihre Zähne stießen gegen seine, und als er nach ihrer Brust tastete, stöhnte sie (allerdings eher schmerzlich als lustvoll) auf.
„Zeig mir den Vertrag“, bat sie ihn auf einmal – es klang beinahe wie ein Befehl. Jedenfalls erhob er sich folgsam von dem Steinbrocken, um die Papiere aus seiner Gesäßtasche zu nesteln.
„Gehören die Figuren nun zum beweglichen Inventar oder nicht?“
„Das ist mir egal!“ Er rief es aus voller Überzeugung und viel zu laut in die grollende Nacht. „Angeblich soll dieser Herr Söllner noch heute nacht hier eintreffen, dann können wir ihn ja fragen: Wenn’s nach mir geht – ich leg’ dir alle nackten Bernsteinrecken dieser Welt zu Füßen!“
„Noch heute nacht? Das ist wunderbar.“ Von einem Moment zum andern schien sie ihren Streit vergessen zu haben. „Und nackte Recken willst du mir schenken?“
„Aber höchstens spannenlange – und möglichst etwas geschmackvollere Exemplare als diese Wolfsfiguren!“
Kichernd schmiegte sie sich an seine Seite; und so saßen sie noch immer, auf dem Steinbrocken am Rand der Oder, gegenüber der Stelle, wo gestern die polnischen Kinder im Ufersand gespielt hatten – und auf einmal sagte Margot:
„Komm, Timo – ich will dich in mir spüren – sofort.“ Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich fort, aber nicht weit, nur zwei Dutzend Schritte die Oder entlang, zu einer sandigen, noch immer regenfeuchten Mulde am Ufer, wo sie ihn umarmte, wie sie Martin Mühlheim an genau dieser Uferstelle vor zehn Tagen umschlungen hatte, bei tosendem Unwetter, aber davon wußte Timo nichts.
Sie biß in seine Unterlippe, so heftig, daß sie beide sein Blut schmeckten. Sie riß und zerrte an seinem Gürtel, mit einer Wildheit, die seine Lust emporlodern ließ. Ihre kundigen Hände zwischen seinen Schenkeln – und dann kniete sie vor ihm im schlammigen Sand – ihre Hände auf seinen Hüften, ihn langsam, rhythmisch, vor und zurück dirigierend, so daß er wieder und wieder in eine enge, weiche, heiße Höhle glitt – hinein, hinaus, hinein; aber irgend etwas stimmte nicht: In der Mulde am Ufer der glucksenden Oder stehend, im ungewissen Mondlicht, mit herabgelassenen Hosen, spähte er zur Zauberin hinab, und ihm war, als ob sie sein amberhart geschwollenes Glied in Richtung ihres Herzens stieße, wieder und wieder, oder vielleicht handbreit darüber. Aber das – aber das (überlegte er, stoßweise atmend) – das mußte – mußte Täuschung sein.
Während er noch nachzusinnen versuchte, zog Margot ihn zu sich hinab, in die schlammige Mulde. Als er vor ihr kniete, wandte sie sich um, nun auf allen vieren vor ihm kauernd, ihr Hintern wie ein zweiter Vollmond vor ihm schwebend, und griff mit einer Hand hinter sich und zog ihn zwischen ihre Schenkel, wobei sie atemlos sagte:
„Hier war er begraben – hier hab’ ich ihn auferweckt – den kleinen – Karo – Karo –: hier!“
Zuerst glaubte Timo, daß er sich verhört hätte, durch das Murmeln der Oder und den weiterhin grollenden Donner getäuscht. Aber während er ihren Worten noch nachsann, stieg Entsetzen in ihm auf. Starr sah er an Margot vorbei, in die Mulde, in der sie vor ihm kauerte, auf Händen und Knien, ihr zuckender, krankhaft bleicher Körper, ihre Mähne, die selbst im Mondlicht rot zu funkeln schien.
„Karoly.“ Nur am Rande spürte er, daß er in ihr erschlafft war, daß sie sich zwischen seinen Schenkeln zu schaffen machte, zornig, vergeblich: Er glitt aus ihr hinaus, wie sein Geist, seine Gefühle ihr bereits vorher entglitten waren, zumindest für diese Augenblicke höllisch erhellender Verstörung. Er sah zu Boden, in die Ufermulde, wo er auf einmal Karolys Gesicht erblickte – sein rundes Jungengesicht unter den störrischen schwarzen Haaren, und wie traurig er dreinsah, wie kummervoll Karolys Blick, sein Mund geöffnet zu einem angstvollen Schrei. Aber wir schänden sein Grab!, dachte Timo und wollte Margot von sich stoßen, die sich immer noch an ihm zu schaffen machte; da verwandelten sich Karolys Züge: Mit einem Sprung wie in Träumen wurde sein Gesicht jünger – hagerer – vervielfacht – und Timo sah zehn, zwanzig, dreißig zerlumpte Kinder vor sich, die unverwandt zu ihm emporschauten (aus Karolys Grab, aus dem Abgrund seiner Erinnerung), tödlich verstört und klapperdürr.
„O mein ... Gott im Himmel ... nein.“ Timo stammelte es, ohne es zu bemerken, ohne irgend etwas anderes wahrzunehmen als die Bilder, die seine Erinnerung auf das zerstampfte Grab Karoly Zigorskys projizierte – Bilder und Laute und Gerüche jener gräßlichen, unvergeßlichen Nacht.
Er stand auf dem Söller der Orangerie, und er war wieder ein kleiner Junge von fünf Jahren. Er trug seine festlichste Kleidung, das gesteifte weiße Hemd und den dunkelblauen Anzug, und er stand so eng gegen die Brüstung gedrängt, daß er noch in der Erinnerung die Stäbe des Balkongitters an seiner Brust spürte und den Körper seiner Mutter, die sich von hinten gegen ihn drückte. Ihre Hände lagen auf seinen Schultern, unablässig zitternd, so daß sich das emotionale Gebrodel in ihrem Innern (Angst und Grauen und der tausendfach gebrochene Wille, stark zu sein) wie eine verworrene Morsebotschaft auf ihn übertrug.
Die Nacht war über Stiegliz herabgesunken, eine kühle Herbstnacht, und der Park, von der Orangerie bis zum Herrenhaus hinauf, war erleuchtet von Hunderten brennender Fackeln, die Görsmanns Schwarzröcke in zwei schnurgeraden Linien in den Boden gerammt hatten. Fern und verweht noch ertönten vom Schloß her die ersten, ganz und gar wunderlichen Klänge des Knaben- und Wolfskonzerts (wie der Vater es damals genannt hatte – selbst diese sonderbare Bezeichnung fiel ihm auf einmal wieder ein). Und Timo sah sie ganz genau vor sich, so wie er den Druck der mütterlichen Hüfte in seinem Rücken wieder spürte und das Beben ihrer Hände, die sich schweißnaß in seine Schultern krampften: Görsmanns Kinder, wie sie im Schein der Fackeln hügelab auf sie zuschritten; die „unseligen Würmer“ (wie seine Mutter sie einmal genannt hatte, erschrocken ihre Hand auf den Mund schlagend – auch daran erinnerte er sich plötzlich wieder); die „positiv Selektierten“, deren Weinen und Schluchzen und Wimmern und Schreien bei Tag und bei Nacht durch die Mauern der alten Bräuhalle sickerte (aber es war ein verbotener Ort, dachte Timo, mit den Zähnen knirschend, und anders als Kai hatte er sich immer an die väterlichen Verbote gehalten).
Während die Kinder langsam näherkamen, unablässig singend und musizierend, an der „roten, toten Hand“ vorbei auf die Orangerie zu, erkannte er, daß sie in zwei Blöcken zu jeweils fünfzehn oder zwanzig Musikanten angeordnet waren: Die Kinder im linken Block sangen, jedenfalls öffneten und schlossen sich ihre Münder im gleichen Rhythmus. Aus ihren Kehlen aber drang nur ein Winseln und mißtönendes Schleifen, an- und abschwellend, leise und doch unaufhörlich, wie ein chorales Heulen und Seufzen in traumschwerem Schlaf. Die Kinder im rechten Block dagegen hielten allesamt Instrumente in den Händen – wundersam gebogene Flöten, in die sie hineinbliesen, oder bauchige Klangkörper, deren Saiten sie schlugen oder zupften. Auch die Töne aus diesen Instrumenten klangen ganz und gar absonderlich: ein vielstimmiges Wimmern und Seufzen und Fauchen, und die Flöten und Lauten glommen und leuchteten honiggelb im Schein der Fackeln, als ob sie aus durchscheinendem Gold gegossen wären oder aus reinem Sonnenlicht.
Endlich hatten die Kinder die Orangerie erreicht und stellten sich, unablässig musizierend, in zwei Blöcken auf dem Vorplatz auf (den sein Vater extra für dieses Konzert mit „nordischem Vulkanstein“ hatte aufpflastern lassen). Da erst erkannte Timo, was es mit den kleinen Sängern und Flötisten (die zwischen vier und vierzehn Jahren alt sein mochten) auf sich hatte – und er wollte aufschreien und herumfahren und davonrennen, weg von diesem Söller, die vibrierende Wendeltreppe hinunter – einfach nur weg, um das Gräßliche nicht länger zu hören und zu sehen. Aber der schweißnasse Körper seiner Mutter preßte sich gegen seinen Rücken und ihre zitternden, gleichfalls schweißnassen Hände legten sich über seinen Mund und drückten seinen Hinterkopf so fest gegen ihren Bauch, daß er sich nicht rühren, nicht schreien, kaum mehr Atem holen konnte, während unter ihnen, wie auf einer Bühne, unablässig das Entsetzliche geschah.
O du Grundgütiger, dachte Timo (der niemals weniger an einen gütigen Gottvater und seinen mitleidigen Erlösersohn geglaubt hatte als in diesem Moment, da er auf Karolys zerstampftes Grab starrte und doch nur die kindlichen Sänger und Musikanten im herbstlichen Schloßpark vor sich sah). Wie kann es nur sein, daß dieses Teufelstheater so lange Zeit aus meinem Gedächtnis gelöscht war? Aber es war niemals gelöscht, es war nur lange, lange Zeit vermauert und verschlossen in den Katakomben seines Innern, aus denen nun Schrecknis um Schrecknis wieder emporstieg:
Ihre Blicke, die zu ihm hinaufflackerten – aber was konnte er denn ausrichten, er, ein fünfjähriges Kind? Wie sie zitterten, nur mit fadenscheinigen Lumpen bekleidet in der kühlen Herbstnacht; wie klapperdürr sie allesamt waren, wie hohläugig, mit eingefallenen Wangen, ihre Körper so ausgemergelt, daß die Knochen unter der Haut hervorstachen. Timo knirschte mit den Zähnen, er kniff die Augen zu und sah sie doch unverändert vor sich: ihre Münder, die sich zum schrecklichen Klagegesang öffneten und schlossen (als ob sie in sich hineinhorchten und ihre Angst, ihre Schmerzen, ihren Kummer seufzerweise aus sich heraussängen); ihre winselnden Flöten und tieftonigen Lauten, in deren honiggelben Leibern sich das Licht der Fackeln bündelte und brach.
Und dann Görsmann, der plötzlich zwischen ihnen stand, ein Riese in knöchellangem schwarzem Mantel, und links und rechts und ritsch und ratsch die Lumpen von den Leibern der kleinen Sänger riß. Timo biß in die Hand seiner Mutter, die immer noch auf seinem Mund lag, als ihre Knochen im Fackellicht zu leuchten begannen: der Brustkorb des einen Jungen, der in der vordersten Reihe der Sänger stand, drei Rippen, vier, honiggelb glosend im Fackelschein; und die Schulter seines kleinen Nebenmannes, eine goldene Halbkugel im Kranz wundroten Fleisches; und hier eine blanke Elle, ambergelb funkelnd, und dort ein Wangenknochen, ein Hüftstück, weitere Rippen, Nasen, Finger: glitzernd wie Gold, glosend wie Honig, glänzend wie Sonnenlicht. Und Görsmann kauerte sich zwischen ihnen nieder, mit spiegelblanker Glatze und einer Miene onkelhafter Besorgnis. Er breitete die Arme aus und drängte sie alle eng vor sich zusammen, dann ruckte sein Kopf mit echsenhafter Raschheit nach vorn: Er drückte seinen Mund (die schmalen, immer wundroten Lippen) auf die Rippe eines Jungen, und ein dünner, ganz und gar grauenvoller Pfeifton erklang, während der Junge erstarrte und mit verengten Augen, zusammengepreßten Lippen in sich hineinzulauschen schien. Görsmann zog die Kinder herbei und stieß sie fort, wie er sie gerade brauchte für seine Teufelstöne, die er mit gespitzten Lippen auf Armknochen, Schulterkugeln, Rippenbögen, auf Ellen, Hüft- und Wangenknochen spielte. Endlich hob er ein winziges Kerlchen auf seinen Arm, und das Kind reichte ihm gleich sein Händchen und sah mit einer Miene fürchterlichen Kummers zu, wie der Höllenmusikant auf den Knöchelchen seiner fünf zu Flöten ausgehöhlten, mit Bernstein umgossenen Finger eine heitere Tonfolge pfiff – –
Timo ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen, doch es half nichts: Unerbittlich entrollte sich die Erinnerung weiter in ihm, vor ihm, auf der schwarzen Leinwand des Grabes von Karoly (wie sie endlich nach rechts schwenkten und weiterwankten, dabei unablässig singend und musizierend, dem Oderwald entgegen, wo sich undeutlich eine große Grube im Dunkeln abzeichnete, unter der Ostmauer – o mein Gott, dachte er wieder: Dort hatte er damals, im letzten Kriegsfrühling, die golden funkelnden Stäbe aus der Erde gescharrt!). Mit unbeherrschter Gewalt krallte er seine Hände in das bleiche Fleisch seiner eigenen Oberschenkel (denn er kauerte noch immer mit herabgelassenen Hosen in der Mulde), und der Schmerz jagte ihn endlich in die Gegenwart zurück. Der Bilderstrom verebbte – wenn auch nicht rasch genug:
Görsmann, dachte Timo, indem er sich vor Scham und Entsetzen krümmte; diese onkelhaften Grimassen; die großen, dunklen Augen, die immer feucht aussehen, die dünnen Lippen, die immer entzündet wirken; die glatzköpfige Riesengestalt: Ganz genauso sah dieser Porstner aus, der damals Vater in Friedland besucht hat – und Kai ist dann zu ihm gegangen – warum habe ich mich nicht erinnert – nicht richtig hingesehen – warum nur habe ich Kai nicht gewarnt?
Er war außer sich, und er wollte eben beginnen, Margot stammelnd seine Schuld und Schande zu gestehen. Doch in diesem Moment waren vom Weg her Schritte zu hören, und Margot (die glaubte, Timo sei von Trauer um Karoly überwältigt worden – so etwas konnte passieren, wenn man nicht achtgab) packte ihn unter der Achsel, zog ihn hoch und half ihm sogar seine Jeans emporzuraffen, das herbstfarbene Seidenhemd hineinzustopfen, Reißverschluß und Gürtel hastig zu schließen.
Noch während sie sich an ihm zu schaffen machte, zwängte sich Alex durchs Gestrüpp. Er maß sie beide mit erstaunten Blicken, und Timo dachte: Um so richtiger ist es, den Vertrag abzuschließen und Lisa mit Söllners Geld freizukaufen – als Entschädigung für Kai!
„Ich schäme mich für Timo und für seinen Vater“, sagte Lisa, „und ich schäme mich für mein – unser – Land, Kai. Du tust mir mehr leid, als ich jemals mit Worten werde sagen können.“ Sie rappelte sich von ihrer Pritsche auf, stellte sich vor ihn und hob beide Arme, wie um ihn anzuflehen oder zu umarmen; aber Kai stand wie ein Felsbrocken in ihrer Zelle: mit versteinerter Miene, in seiner Rechten das Bernsteinmesser, die Arme vor der breiten Brust verschränkt.
Die ganze Zeit über, all die Stunden und Tage, hatte sie sich vor diesem Moment gefürchtet: dem Augenblick, da seine Erzählung beendet wäre; und nun war es soweit. „Warum ich?“ Sie flüsterte es, schluckte und setzte noch einmal an: „Warum gerade ich?“
Die Frage schien ihn zu verwirren, für einen Augenblick wirkte er ratlos. Dann deutete er mit seinem Dolch auf Georgs schwarzen Pullover, den sie immer noch über ihrer zerschnittenen Bluse trug, und sagte: „Zieh das aus.“
Sie begann zu weinen. Ihre Tapferkeit war aufgebraucht, sinnlos, sich noch länger zu belügen: Sie war am Ende, sie hatte keine Kraft mehr, um sich etwas vorzumachen, ihre Tränen zurückzuhalten, ihren Zorn, ihr Selbstmitleid, die nackte, erbärmliche Angst. Fügsam streifte sie die Ärmel ab und zog den Pullover über ihren Kopf. Er riecht nach deinem Sohn, wollte sie sagen, ein angenehmer Geruch: so jung und frisch, wollte sie sagen, und daß sie selbst sich immer ein Kind gewünscht habe, egal ob Junge oder Mädchen, aber Timo wollte nicht, und inzwischen habe ich auch begriffen warum, wollte sie sagen: weil er sich selbst immer schon Kind genug war. Doch sie brachte kein Wort mehr heraus, ihre Kehle war zugeschnürt. Dafür schienen ihre Augen offen wie Quellen, aus denen die Tränen sprangen, während sie den Pullover hinter sich auf die Pritsche fallen ließ. Warum ich, warum nicht er?
Ihre Bluse stand klaffend offen, vom Halsausschnitt bis zur Taille, wie sein Messer sie gestern zerschnitten hatte. Sie atmete ihren eigenen Körpergeruch ein – der ein wenig fade Geruch der mittleren Jahre, vergoren mit tagealtem Schmutz und Schweiß –, und sie zwang sich, ihre Arme nicht vor ihren Brüsten zu verschränken und ihn weiterhin offen anzusehen, wenn auch mit tränenverschleiertem Blick. Wenn du mir Gewalt antust, Schwager, will ich dir dabei in die Augen sehen.
Sie spürte, wie er mit sich rang (während vor ihrer Kerkertür auf einmal Stimmen stritten: Georg, Trowal, dazu die dünne, zeternde Stimme eines alten Mannes); wie ihn der Gedanke zunehmend erregte, daß sie ganz und gar in seiner Hand war, daß er sie erniedrigen, sich an ihr weiden konnte, an ihren Schmerzen, ihrer Angst. So viele Qualen und Niederlagen hatte er erlitten, ein Leben lang – so vieles hatte er heimzuzahlen: In jedem Mann, der nicht wie er selbst an Leib und Seele verstümmelt war, mußte er einen zweiten Söllner oder einen zweiten Timo sehen; in jeder Frau, die er auch nur ein wenig begehrenswert fand, eine Spiegelung seiner Einsamkeit. Von allem Glück und Vertrauen, von aller Liebe und Zärtlichkeit war er für alle Zeiten ausgeschlossen – und daran erinnerte jedes Mädchen, jede Frau ihn durch ihren Anblick, durch ihr bloßes Dasein: Unberührbar war er, im kahlsten, gräßlichsten Sinn des Wortes. Bei der bloßen Vorstellung, daß eine Hand sich auf seinen Arm, auf Brust oder Wange legte – oder daß ein Lippenpaar sich ihm näherte, um einen Kuß auf seine Haut zu hauchen –, krampfte sich sein ganzer Körper schmerzhaft zusammen. Niemals hatte er es über sich gebracht, auch nur in einer halbwegs besetzten Straßenbahn zu fahren – oder durch eine Menschenmenge auf einem belebten Marktplatz zu gehen – niemals, nicht ein Mal, nicht ein einziges Mal in den bald vierzig Jahren, seit er aus der Friedhofskapelle von Buchhain entkommen war.
Und doch hat er geliebt, er selbst hat es mir ja erzählt, dachte Lisa (während draußen das Stimmengewirr lauter wurde, Georg „Ich halt’s nicht mehr aus!“ schrie, eine Tür ins Schloß knallte und Kai mit dem Dolch auf ihre zerschnittene Bluse zeigte: „Zieh das auch aus“) – die anrührende Geschichte, dachte sie, seiner Liebe zu Minka, der Mutter seines Sohnes.
Die „wilde Wilka“ lebte keineswegs so allein und abgeschieden im Wald, wie dies in Stiegliz immer gemunkelt worden war: Schon im Herbst 1954, nachdem sie Kai monatelang gepflegt und soweit wie möglich aufgepäppelt hatte, führte sie ihn mit einigen seiner „Landsleute und Leidensgenossen“ (so Kai gegenüber Lisa) zusammen, die im Umkreis von Stiegliz hausten – viele von ihnen im Untergrund, unter falschen Namen in Frankfurt (Oder) oder Lebus oder buchstäblich im Wald wie Wilka selbst.
Noch zum Ende des Krieges hatten mehrere Dutzend prussischer Familien in entlegenen Höfen entlang der Ostsee gelebt, verstreut zwischen dem Frischen Haff und der Pommerschen Bucht. Obwohl die meisten von ihnen noch die alte Sprache beherrschten und die alten Bräuche pflegten – wenn auch im geheimen –, waren sie in den Wirren nach dem Krieg als sogenannte „Volksdeutsche“ rubriziert und über die Oder abgeschoben worden. Hier waren sie auf ihre Landsleute getroffen, deren Vorfahren im Gefolge von Ritter Hartbert vor siebenhundert Jahren ins Lebuser Land gekommen waren, und bald schon hatten beide Gruppen festgestellt, daß mehr als nur ihre mythische Heimat und die Überreste uralten Brauchtums sie miteinander verbanden. Gerade unter den Nachfahren der alten Prussen hatten Görsmanns Häscher grauenvoll gewütet. Mit teuflischer Hellsichtigkeit waren seine Schwarzröcke just in die Einödhöfe zwischen Danziger Bucht und Stettiner Haff oder in die Fischer-, Förster- oder Bauernhäuser im Lebuser Land vorgedrungen, wo prussische Familien eine Zuflucht gefunden hatten, und hatten alle minderjährigen „Saskiusse“ eingesammelt, deren sie habhaft werden konnten.
So lernte Kai, staunend und nicht ohne Rührung, etliche junge Leute kennen, die offenkundig seinem eigenen Genotyp angehörten: Jungen und Mädchen, Frauen und Männer von kräftiger Gestalt, hochgewachsen und athletisch. Sie alle hatten das weizenblonde Lockenhaar und die grünen Augen ihrer legendären Ahnen, Saskia und Supplit, und die meisten von ihnen waren durch Görsmanns Teufelstaten an Leib und Seele versehrt.
Zu den jungen Männern, die Kai noch im Herbst 1954 kennenlernte, gehörten Robert Trowal und einige andere, die damals schon um die zwanzig waren, aber auch Jungen und Mädchen in seinem eigenen Alter und von offenkundig altprussischer Herkunft, darunter Jelitto und Sude, Glande und Mantot, Söhne von Ostseebauern und Bernsteinfischern, die Görsmann bis zu seiner Flucht gen Westen in der alten Bräuhalle gefangen hielt. Sie alle hatten gräßliche Versehrungen erlitten, weit ärger noch als Kai in der Friedhofskapelle zu Buchhain: Trowal hatte monatelang mit gebrochenen Kniegelenken im Fäulnisschlamm hinter der Feuertür gelegen. Jelitto und Glande waren noch im Frühjahr 1945, unmittelbar nach ihrer Befreiung, von sowjetischen Ärzten notoperiert worden: Glande mußte der rechte Unterschenkel, Jelitto der linke Fuß amputiert werden, da ihre Gliedmaßen bis auf die Knochen zerfault waren. Mantot erhielt Jahre später in der Berliner Charité eine Unterarmprothese, da Görsmann seinen rechten Arm bis zum Ellenbogen immer wieder zerbrochen, zertrümmert, zu Splittern zermalmt hatte.
Minka jedoch war eine entfernte Verwandte der „wilden Wilka“, in deren Waldhütte sie aufgewachsen war. Vom ersten Tag an hatte sie mitgeholfen, Kai zu pflegen, seine Wunden zu heilen, ihn wieder aufzupäppeln, und sie hatte sich in dem Moment, da Wilka ihn zur Tür hineinschleppte, in den gleichaltrigen Jungen verliebt. Tatsächlich wurden die beiden ein Liebespaar, allerdings erst viele Jahre später: Seit Mitte der sechziger Jahre arbeiteten sie als „Spürwölfe“, die Ausreisewillige aus ganz Osteuropa auf verschwiegenen Wegen durch die verminten und scharf bewachten Grenzgebiete gen Westen führten. Meist arbeiteten sie jeder für sich, aber hin und wieder führten sie größere Gruppen gemeinsam durch die Grenzregionen, die „noch immer eine Welt für sich sind“ (so Kai zu Lisa), „ein unerforschter Kontinent aus Wildnis und Zwielicht, Argwohn und Tod“.
So lernten sie einander immer besser kennen und schließlich sogar zu vertrauen. Minka war (neben seiner „Mutter“ Wilka) die einzige Frau, deren Berührungen Kai überhaupt ertragen konnte und nach deren schwermütiger Zärtlichkeit er sich schließlich sogar sehnte. Ab Anfang der Siebziger lebten Kai und sie zusammen in einer Rundhütte altprussischer Bauart, in den (heute polnischen, ehemals prussischen) Urwäldern östlich von Malbork, an deren unwegsamer Dichte schon die Deutschordensritter immer wieder abgeprallt waren. Im Frühjahr 1976 kam ihr gemeinsamer Sohn Georg zur Welt. Fünf Jahre darauf wurde Minka von einer Seemine zerrissen, in den Außendocks der verbotenen Stadt Kaliningrad, wo sie einige Flüchtlinge prussischer Herkunft an Bord ihres Bootes nehmen wollte.
„Mein erster Gedanke war: Da wird es doch noch weitere Seeminen geben“, so Kai zu Lisa. „Aber ich konnte Georg nicht im Stich lassen, wie ich selbst verraten und im Stich gelassen worden war. Und doch ist seit Minkas Tod am 22. März 1981 kein Tag mehr vergangen, an dem ich mir nicht gewünscht hätte, wie sie tot zu sein, zerrissen und zerfetzt und verweht.“
Anstatt sich seiner Geliebten in der Kaliningrader Bucht hinterherzusprengen, packte Kai damals ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, nahm sein fünfjähriges Söhnchen bei der Hand und kehrte abermals nach Stiegliz zurück, jedenfalls ins Lebuser Land, wo er seither unter dem Namen Kai Wilko lebte. Auch die wilde Wilka war längst nicht mehr am Leben, doch seine alten Genossen traf er hier allesamt wieder: Trowal und Mantot, Jelitto und Glande und einige andere, die, verstört und schwermütig wie er selbst, in Kellerwohnungen oder baufälligen Datschen dahinvegetierten. Nachdem der reichlich verrostete Eiserne Vorhang praktisch über Nacht abgerissen, Deut- und -schland hastig zusammengestöpselt worden waren, heckten sie gemeinsam jenen Plan aus, den sie „Patollos Rache“ nannten.
„Von den zahllosen Verbrechen, die ihr Deutschen an uns Prussen verübt habt“, sagte Kai zu Lisa (die widerstrebend begonnen hatte, ihre Bluse abzustreifen, und sich weiterhin zwang, ihm in die Augen zu sehen), „sind zwei eurer Untaten besonders ungeheuerlich: Ihr habt unseren Namen geraubt und an euch gerissen wie eine Trophäe, und ihr habt unseren Unterweltgott Patollo zu einem Höllengötzen, einem blindwütig verschlingenden ‚Freßgott’, einer übernatürlichen Bestie dämonisiert. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was eure deutsche Verrücktheit im Kern überhaupt ausmacht, dabei ist es ganz einfach: Damals wie heute – als Kreuzritter oder Hakenkreuzler – verteufelt ihr Deutschen gerade das am besinnungslosesten, was euch wie nichts anderes fasziniert, was euch verlockt und entzückt, aber verboten ist und ganz und gar unerreichbar ist, weshalb ihr es verfolgt und jagt und erschlagt, um wenigstens als Totes zu besitzen, was ihr anders nie erlangen könntet – –“
„Und was soll das sein?“, fiel ihm Lisa ins Wort, so wütend über seine Tirade, daß sie alle Vorsicht vergaß.
„Die wilde Weisheit Patollos“, antwortete Kai, während er ihren Rocksaum ergriff und ihr die letzten Kleidungsstücke vom Leib riß, „seine natürliche Anmut und seinen unbeirrbaren Instinkt.“ Damit stieß er sie rücklings auf die Pritsche, zerrte sich mit unbeholfener Hand die Hose von den Hüften und warf sich über sie. Und Lisa lag unter ihm, atemlos vor Angst und halb zerdrückt von seinem Felsgewicht; aber sie zwang sich noch immer, ihn anzusehen: seine Augen, die grüne Funken sprühten; den golden lodernden Dolch in seiner Rechten; seine nackte Haut an Bauch und Beinen, übersät von tausend Narben; sein Glied, das riesenhaft zwischen seinen Schenkeln hervorsprang.
„Wenn du das machst, Schwager – bist du wie er!“
Er erstarrte über ihr.
Unwillkürlich hob sie eine Hand, um seine Wange zu berühren. Da prallte Kai zurück, sein Gesicht zerfließend in jähem Entsetzen. Er sprang auf und wich vor ihr zurück, schrecklich lächerlich anzusehen mit seinen aufgerissenen Augen, herabgelassenen Hosen, dem erschlaffenden Glied; in diesem Moment ein Spiegelbild seines Bruders, der zur gleichen Zeit draußen am Oderufer kauerte: von Entsetzen, nicht mehr von Geilheit erfüllt.
Wann immer er sich uneins fühlte, mit sich selbst oder mit den Menschen seiner Umgebung, trieb es Georg Wilko in den Wald hinaus. Im Wald war er geboren worden und bis zu seinem fünften Jahr aufgewachsen, in einem viel dichteren, wilderen Wald als diesem lichten Gehölz am Rand der Oder; aber selbst hier, zwischen den Lärchen und Kiefern, durch deren Wipfel das Mondlicht schimmerte, schien der alte Zauber zu wirken. Seit er durch die Bresche in der Ostmauer geschlüpft war, fühlte er sich schon um einiges ruhiger. Sein Atem ging langsamer (während er droben im Verlies zu ersticken glaubte), nur seine Gedanken drehten sich immer noch im Kreis:
Wie nur konnte er seinen Vater und Trowal dazu bringen, Lisa freizulassen? Er spürte ja, daß sie etwas Schreckliches vorhatten – aber was um alles in der Welt mochte das sein? Natürlich hatte sein Vater ihm schon vor Jahren erzählt, was in seiner Kindheit vorgefallen war – sein eigener Bruder hatte ihn dem „Schinderonkel“ ans Messer geliefert, und Kai hatte furchtbare Dinge durchmachen müssen, über die er niemals hinweggekommen war. Aber warum stellte er seinen Bruder, der sich wie sie selbst hier auf dem Schloßgelände aufhielt, nicht einfach zur Rede? Warum zeigte er ihn nicht an? Nein, Unsinn, tadelte sich Georg, in einem Land, in dem Menschenschinder wie dieser Söllner als ehrenwerte Unternehmer gefeiert wurden, würde kein Richter sich für einen solchen Fall brüderlichen Verrats interessieren.
Sein Vater tat ihm furchtbar leid – Kai, der sich nur noch humpelnd fortbewegen konnte und sich für seinen zerstörten Körper, seine Unbeholfenheit, seine Narben und Schmerzen haßte; Kai, der seit langem nur noch einschlafen konnte, nachdem er sich bis zur Bewußtlosigkeit zugenebelt hatte; Kai, der Nacht für Nacht aus Alpträumen aufschreckte, mit hämmerndem Herzen, am ganzen Körper verkrampft, da seine Seele noch immer im „Bassin“ gefangen war; Kai, der schrecklich wütend werden konnte, wenn er spürte, daß sein eigener Sohn Mitleid mit ihm empfand.
Auf dem schmalen Waldweg, der in einer Entfernung von zwanzig oder dreißig Schritten parallel zur Oder verlief, ging Georg ostwärts, immer rascher, ohne auf seine Umgebung zu achten. Etwas Gräßliches wird geschehen, dachte er wieder, und wie zustimmend grollte der Himmel über ihm. Seit sie in dem Gewölbe dort oben hockten, hatte er seinen Vater mehrfach im letzten Moment daran gehindert, sich mit seinem Messer auf Lisa zu stürzen. Und seit Trowal wieder bei ihnen war (noch verhärmter, wortkarger, paranoider als vorher), war alles noch schlimmer geworden: Seitdem hielten sie im vorderen Gelaß auch noch diesen uralten Mann gefangen, Karl Cramsen, und Trowal hockte wie ein steinerner Wächter auf seinem Schemel und wollte ihn, Georg, weder zu seinem Vater und Lisa noch nach draußen lassen, wenigstens für ein paar Minuten an die frische Luft! Darüber waren sie vorhin in Streit geraten, und schließlich hatte er einfach die Tür aufgerissen und war davongerannt, durch den modrigen Gang und die Treppe hinauf in den Wirtschaftshof.
Zu seiner Rechten murmelte und gluckste die Oder, und Georg verließ den Waldweg und ging durch Sand und Unterholz auf das Ufer zu. In den letzten Wochen und Monaten hatte sein Vater sich immer wieder zu endlosen Besprechungen mit seinen Gefährten getroffen – mit Trowal und Sude, Jelitto und Mantot, mit Glande und jenem anderen, dem Hageren mit den verkniffenen Gesichtszügen. Und wie Georg auch gefleht und gebettelt hatte, sein Vater hatte sich kein Sterbenswörtchen über ihre Pläne entlocken lassen; oder nur soviel: In nächster Zeit würde er, Georg, mit Trowal „auf Reisen gehen“, und in einigen Tagen oder Wochen würden sie alle „das Geschäft ihres Lebens abschließen“, durch das sie „für immer ausgesorgt“ hätten.
Natürlich kam es nicht in Frage, daß er zum Verräter an seinem eigenen Vater wurde, dachte Georg, während er die Böschung hinunterlief und am Ufer stehenblieb, wo zwei plumpe Kähne nebeneinander im Schilf vertäut lagen. Niemals würde ihm Kai verzeihen, wenn er versuchte, von sich aus mit seinem Onkel Kontakt aufzunehmen; dabei wäre das doch die einfachste und in jeder Hinsicht beste Lösung: wenn er Timo dazu bringen könnte, seinen Bruder um Entschuldigung zu bitten; wenn die beiden sich zumindest einmal wieder in die Augen sehen, miteinander sprechen würden, anstatt sich wie Wolf und Jäger in immer engeren Spiralen zu umkreisen.
Aber dazu schien sein Vater nicht bereit zu sein, sagte sich Georg, der in diesem Moment gedämpfte Stimmen vom Fluß her hörte und rasch in Deckung ging. Doch genausowenig, dachte er dabei, konnte er einfach zusehen, wie Kai sich aus Verbitterung und Verzweiflung über das Unrecht, das er selbst erlitten hatte, auf schreckliche Weise an Lisa verging – indem er sie gefangenhielt, sie einschüchterte und erniedrigte, mit seinem Messer verletzte oder womöglich sogar tötete.
Hinter Buschwerk verborgen, beobachtete er, wie ein Boot neben die beiden Kähne im Uferschilf gesteuert wurde und zwei – vier – fünf junge Männer an Land sprangen. Obwohl es immer noch schwülwarm war, trugen sie schwarze, aufgeplusterte Jacken über ebenso schwarzen, eng anliegenden Jeans; und das Mondlicht spiegelte sich in ihren schwarzen Stiefeln, in den Schaufeln, die sie in Händen hielten oder geschultert hatten, und in den kahlgeschorenen Schädeln über ihren jungen Gesichtern, als sie einer hinter dem anderen an seinem Versteck vorbeiliefen, die Böschung hinauf in Richtung Park.
Georg wartete noch einige Minuten, dann trat er hinter seinem Busch hervor und folgte dem Trüpplein, durch dessen Erscheinen der Wald vollkommen verwandelt schien. Als ob ihm eine schwarze Krallenhand durchs Lärchenhaar gefahren wäre, so schroff und struppig kam ihm auf einmal der Oderwald vor (dabei kannte er Martin Mühlheim und seine Gefolgsleute überhaupt nicht, sowenig wie er wissen konnte, daß sie Befehl erhalten hatten, „den Grenzabschnitt zu sichern und um Mitternacht unter der Blutbuche anzutreten“). Während er die Böschung hinaufkletterte, versank er so tief im Treibsand beklommener Gedanken und Vorahnungen, daß er die drei Gestalten nicht bemerkte, die im Mondlicht oben auf dem Waldweg standen und ihm schweigend entgegensahen.
„Nur nicht die Nerven verlieren“, sagte Timo, „ihr seht ja, wie sich alles zusammenfügt: Wir sind kurz vor dem Ziel.“ Er fühlte sich nun eigentümlich gefaßt, ja euphorisch – geläutert, dachte Timo, gereinigt und für sein neues Leben bereit.
Alex hatte den Jungen beim Arm gepackt und regelrecht auf den Waldweg heraufgezogen. Noch immer hielt er ihn mit sanfter Entschiedenheit fest, während er abermals fragte: „Du bist Kais Sohn, hab’ ich recht?“
„Ja, ich bin Georg – Wilko“, sagte der Junge leise, doch diese Antwort rief neuerliche Verwirrung hervor:
„Wilko?“ wiederholte Alex.
„Der Knabe lügt doch!“ zischte Margot, wobei sie dem Jungen einen Blick zuwarf, der Alex kaum weniger als Georg erschauern ließ. „Dein Name ist Prohn, stimmt’s? Raus mit der Sprache, sonst – –“
Sie streckte eine Hand vor, die Finger zu Krallen gekrümmt, und Georg wich zurück, soweit der Griff um seinen Oberarm dies erlaubte. Der blonde Hüne, der seinem Vater so verblüffend ähnelte (jedenfalls im Halbdunkel dieses mondbeschienenen Waldwegs), hielt ihn unbeirrt fest. Aber nachdem er seinen Schrecken überwunden hatte, fühlte sich Georg durchaus nicht mehr eingeschüchtert – im Gegenteil: Vielleicht war es wirklich eine glückliche Fügung, dachte er, daß er diesen dreien in die Arme gelaufen war.
„Ich jedenfalls bin Alex – ein Freund.“ Der blonde Mann hielt ihm seine freie linke Hand hin, die Georg gleichfalls mit seiner Linken ergriff und schüttelte. „Und ob ihr euch nun Prohn oder Wilko nennt“, fuhr Alex mit einem Lächeln fort, „du mußt jedenfalls sein Sohn sein. Was ja wohl bedeutet, daß auch dein Vater hier ist – dein Vater und Lisa?“
Georg sah von einem zum anderen, das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Jetzt nur keinen Fehler machen, beschwor er sich, die Spannung zwischen seinem Onkel Timo, der hexenhaften Frau an seiner Seite und dem blondlockigen Mann im schlammbeschmutzten Büroanzug war mit Händen zu greifen. „Kann sein – nicht weit von hier“, gab er vorsichtig zurück. Dabei war er sich sicher, daß er dem Mann, der seinen Arm immer noch umfaßt hielt, vertrauen durfte. Ganz anders stand es allerdings mit seinem Onkel und der Frau neben ihm: Während Timo mit abwesender Miene an ihm vorbeisah, jagte der boshafte Blick der Kupferhaarigen ihm regelrecht Angst ein.
„Heißt das etwa, Timo, daß dein eigener Bruder deine Frau entführt hat?“ Sie stieß ein keckerndes Lachen aus. „Dann ist die Sache gelaufen, oder? Ihr tauscht den Kleinen hier gegen euer Lisalein aus, und den Vertrag mit Söllner kannst du gleich wieder zerreißen.“
Vertrag mit Söllner?, dachte Georg. Also war alles noch viel ärger, als Kai vermutet hatte: Timo machte bis heute Geschäfte mit dem „Schinderonkel“, nicht anders, als sein und Kais Vater vor fünfzig und vierzig Jahren mit Söllner alias Görsmann alias Porstner paktiert hatte?
„Mein Bruder lebt also?“ Zum erstenmal wandte sich Timo an seinen Neffen, und ein fahriges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Ich hatte es immer gehofft! Wie oft mußte ich an Kai denken – und erst recht, seit ich dich neulich in Ratzeburg gesehen habe – Georg.“ Er sprach es so betont aus, als ob er stolz darauf wäre, sich den Namen gemerkt zu haben. Ehe Georg auch nur antworten konnte, redete er schon wieder mit Margot, die sich in seinen Arm eingehängt hatte. „Nein, der Vertrag wird nicht zerrissen“, sagte er, „warum auch? Söllner wird gleich auch noch unterschreiben, und dann laßt ihr“ (mit einem raschen Seitenblick zu Georg) „Lisa frei und Kai bekommt zwei Millionen Mark – genug, um alles zu vergeben und zu vergessen, versteht ihr: Wir alle ziehen einen Schlußstrich und sind endlich frei.“
Zwei Millionen?, dachte Georg. War es möglich, daß sein Vater und Trowal die ganze Entführungssache nur eingefädelt hatten, um von Söllner und Timo einen Millionenbetrag zu erpressen? Aber was wollte ausgerechnet Kai mit einer solchen Summe anfangen – sein Vater, der davon träumte, sich endlich wieder in seiner prussischen Hütte in Bartangen zu verkriechen, Hunderte Kilometer von allen größeren Siedlungen entfernt? Hatte Kai aber nicht wirklich angedeutet, daß sie „das Geschäft ihres Lebens abschließen“ wollten? überlegte Georg, der nun überhaupt nicht mehr wußte, was hier gespielt wurde.
„Nicht mit mir“, zeterte währenddessen die Kupferhaarige. „Wieso willst du Söllner das alles hier überlassen – obwohl wir nur dieses Bürschlein beim Kragen packen müssen, um deine Frau freizukriegen?“ Während sie auf Timo einredete, legte Alex dem Jungen einen Arm um die Schultern und zog ihn auf den Schloßpark zu. So blieb Margot nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen, wobei sie ihrerseits Timo mit sich zog. „Außerdem scheinst du zu vergessen, daß ich die ‚Wolfsbiß’-Figur habe – und ich wette, daß Söllner dir keinen Pfennig gibt, wenn er nicht auch diese Statue bekommt.“
„Und er scheint zu vergessen“, warf Alex ein, indem er über die Schulter zu den beiden zurücksah, „daß sein Bruder sich eher die Hand abhacken würde, als ausgerechnet Söllners schmutziges Geld anzunehmen. Ich verstehe dich nicht mehr, Timo. Du redest und benimmst dich wie ein Fremder; aber eines darfst du mir glauben: Ich werde nicht zulassen, daß du Lisas Leben noch länger gefährdest. – Was will dein Vater denn wirklich von seinem Bruder?“ fragte er Georg, indem er leicht die Schultern des Jungen drückte. „Mit ihm reden? Ein Eingeständnis seiner Schuld?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Georg leise. Ich glaube, er will nur noch sterben, hätte er beinahe hinzugefügt, so vertraulich, so sonderbar geborgen fühlte er sich neben diesem Alex, der sich vorhin einfach als ein Freund vorgestellt hatte, ohne zu erwähnen, wessen Freund er war. Aber trotz allem war Alex für ihn ein Fremder, und in dem verworrenen, längst außer Kontrolle geratenen Spiel um Lisa und die Bernsteinstatuen, das Kai seinem Bruder aufgezwungen hatte, stand Alex keineswegs auf ihrer Seite – jedenfalls nicht, solange Lisa in ihrer Gewalt war.
„Wir werden bald sehen, was er will“, sagte hinter ihnen Timo. „Noch heute nacht wird sich alles klären, glaubt mir nur. Gleich ist Mitternacht, also gehen wir jetzt zum Herrenhaus hoch, wo Söllner sicher schon auf mich wartet. Vorher sollten wir nur noch vereinbaren, wo wir uns anschließend mit Georg treffen, damit er Alex und mich zu Kai bringt – und zu Lisa, natürlich. Sagen wir, um eins dort oben bei den Rotbuchen, Georg, also in ziemlich genau einer Stunde?“
Ehe Georg eine Antwort murmeln konnte, schob Alex sie beide durch die Mauerbresche. Hinter ihnen schlüpften Timo und Margot zurück in den Schloßpark, und dann verschlug es ihnen allen vieren die Sprache: Das Herrenhaus oben auf dem Hügel schien von innen heraus zu strahlen. In allen achtzig Fensterlöchern leuchteten Lampen oder flackerten Fackeln, und während sie langsam weitergingen und dabei unverwandt zum Schloß hinaufsahen, huschten überall im Park schwarze Gestalten umher, riefen einander Kommandos zu, rammten Fackeln in den Boden, zündeten sie an.
„Söllner ist da“, flüsterte Margot mit ehrfürchtigem Unterton.
„Also um eins, bei den Blutbuchen“, sagte Timo zu Georg, während sie mit raschen Schritten Alex und den Jungen überholten.
Das Donnergrollen wurde lauter. Die Luft fühlte sich samten an; ihre Schritte rauschten im Gras. Alles, alles wird gut, dachte Timo und nahm Margots Hand und fühlte sich so innig wie nie zuvor mit ihr verbunden, und seine Euphorie stieg weiter und weiter mit jedem Schritt, der sie dem Schloß entgegentrug.
Auch die Halle des Herrenhauses war ganz und gar verwandelt. Auf eisernen Sockeln entlang der Wände standen Öllampen, die den Raum in flackerndes Licht tauchten. Teppiche mit mittelalterlichen Schlachtenszenen bedeckten den Boden. Eine gewaltig große Fahne schmückte die Stirnwand, mit dem schwarzen Kreuz der Deutschordensritter vor einem Hintergrund aus Weiß und Rot.
Timo und Margot waren über die Treppe vom Park her eingetreten; bei der Tür blieben sie stehen und sahen sich um. Im Hintergrund der Halle, zwischen den Säulen mit den verblaßten Rittermotiven, standen sieben Männer mittleren Alters beisammen. Ihre Mienen wirkten feierlich, und sie alle trugen schwarze Anzüge über schneeweißen Hemden, dazu rote Krawatten und Einstecktücher vom gleichen flammenden Rot. Die Tür zur Bibliothek stand offen. Dahinter bemerkte Timo weitere schattenhafte Gestalten.
„Der Blasse, Schlanke – das ist Harding“, flüsterte Margot. Verstohlen deutete sie zu den Säulen hinüber, wo die Männer einander Blicke zuwarfen.
Ehe Timo ihr antworten konnte, löste sich Torbert Harding aus der Gruppe zwischen den Ritterbildern und kam mit raschen Schritten auf sie zu. Timo spürte, wie sich Margot an seinem Arm verkrampfte.
„Herr Prohn – schön, Sie zu sehen.“ Harding reichte ihm eine kühle, blasse Hand. „Ich habe gerade mit Herrn Söllner telefoniert – er wird in einer halben Stunde hier sein.“
Timo nickte ihm zu. Er versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht fühlte sich steinern an. Harding war mindestens einsneunzig groß. Mit seinen breiten Schultern, goldblonden Haaren, nordmeerblauen Augen schien er selbst einer der Ritterszenen entstiegen, die auf den Teppichen prangten. Aus irgendeinem Grund wirkte Harding regelrecht einschüchternd auf ihn. In den Augenwinkeln sah er, daß Margot den marmorblassen Recken erwartungsvoll anlächelte, aber Torbert Harding schien sie gar nicht zu beachten.
„Herr Söllner hat mich gebeten, Ihnen ein kleines Spiel unter exquisiten Kunstkennern vorzuschlagen“, fuhr Harding in beiläufigem Plauderton fort. „Treffpunkt ist die Bibliothek – genauer gesagt, die gräfliche Studierkammer – um null Uhr dreißig. Zutrittsberechtigt ist jeder, der mindestens eine Wolfsstatuette aus Bernstein vorweisen kann.“
„Und wenn einer der Zutrittsberechtigten keinen Wert auf diese Einladung legt?“
Timo und Margot wandten sich um. Auch Hardings Blick richtete sich auf die weit geöffnete Tür zum Park, in der Alex erschienen war.
„Herr Gerten, wie angenehm“, sagte Torbert Harding mit einem dünnen Lächeln. „Ich hörte bereits, daß Herr Prohn so weitsichtig war, sich Ihrer unschätzbaren Beraterdienste zu vergewissern. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Für unser kleines Spiel ist es unbedingt erforderlich, daß keine der fünf Wolfsfiguren fehlt. Sollte also die von Ihnen angedeutete Möglichkeit eintreten, womit ich aber keinesfalls rechne“ – sein Lächeln wurde noch schmallippiger –, „so würden wir ein wenig an die Vernunft des Betreffenden appellieren.“
Ob durch Zufall oder auf ein Zeichen hin, blieb ungewiß, jedenfalls eilten im nächsten Moment fünf kräftig gebaute junge Männer die Treppe vom Park her hinauf und verteilten sich auf den Stufen hinter Alex, der sich halb zu ihnen umdrehte und sie stirnrunzelnd ansah.
„Was Herrn Gerten betrifft“, wandte sich Harding wieder an Timo, „den ich als kompetenten und unkonventionellen Finanzberater schätze, werden derlei Appelle sicher nicht nötig sein. Also, meine Herren, um halb eins dort drüben.“ Er wies mit der Schläfe zur Bibliothekstür, deutete ein Kopfnicken an und schlenderte davon, durch die Halle, die sich unterdessen gefüllt hatte – mit alten und jungen Männern, allesamt schwarz gekleidet, Wenigstens vierzig, fünfzig waren es schon, und immer noch strömten weitere herein, die älteren in festlichen Anzügen, die jüngeren in schwarzen Bomberjacken, an deren Aufschlägen kleine Wimpel flatterten, mit schwarzen Ritterkreuzen vor einem Hintergrund aus Weiß und Rot.
Auf einmal bemerkte Timo, daß Margot nicht mehr bei ihm stand. Er erhob sich auf die Zehenspitzen und sah sich, von Unruhe ergriffen, nach allen Seiten um: Sie würde doch nicht noch einmal mit der „Wolfsbiß“-Statue auf und davon gehen? Nein, dachte er rasch, ganz unmöglich: Zwischen ihnen war alles geklärt, niemals mehr würde Margot ihn hintergehen. Außerdem hatte sie selbst ihm voller Begeisterung vom „Reif der Wölfe“ erzählt, durch den man angeblich den Wolfsgott „herbeirufen“ konnte. Sie schien wahrhaftig an solcherlei Zauber zu glauben oder liebte zumindest den Prickel magischer Verheißungen. So oder so würde sie die Gelegenheit nicht versäumen, einer „Anrufung Patollos“ beizuwohnen. Sicher war sie nur rasch losgelaufen, um die Figur aus ihrem Versteck herbeizuholen, dachte Timo, indem er zur Parktür blickte, wo noch immer Alex stand, mit düsterer Miene; hinter ihm der durch zwei Reihen brennender Fackeln bis hinab zur Orangerie erleuchtete Park.
Um vorderhand jedem Zusammenstoß mit Alex auszuweichen (er wird sich beruhigen, dachte Timo, und bald schon einsehen, daß ich richtig gehandelt habe), schlenderte er tiefer in die Halle, auf die Vordertür zu, deren Flügel weit geöffnet waren, zum ersten Mal, seit Lauber das Gebäude vor Monaten hatte versiegeln lassen. Einige der Jünglinge mit den wie poliert glänzenden Schädeln schienen ihm fast noch Kinder zu sein, höchstens dreizehn, vierzehn Jahre; magere Knaben mit schmalen Schultern, die ihre Dürftigkeit durch besonders grimmige Mienen wettzumachen suchten. Beim Anblick dieser kriegerischen Kinder wurde ihm unbehaglich. Inmitten der Menge, die sich immer dichter zusammenschob, blieb er stehen, und plötzlich war ihm, als ob er sich auf irgend etwas Wichtiges besinnen sollte. Doch ihm fiel einfach nicht ein, was es sein mochte, und so setzte er sich aufs neue in Bewegung, auf die Hoftür zu, vor der er Umrisse geparkter Wagen erblickte. Er zwängte sich zwischen breitschultrigen Burschen in Bomberjacken, alten Männern in schwarzen Fräcken, finster blickenden Knäblein in Lederjacken hindurch und trat über die Schwelle, über die er als kleiner Junge mehr als einmal schmerzhaft gestolpert war: eine gemauerte Schwelle, eisenbeschlagen und knöchelhoch.
Fünf breite Stufen führten in den Schloßhof hinab. Timo blieb auf der obersten Stufe stehen. Der nahezu volle Mond schwebte in einem Wolkenloch genau über dem Hof und spiegelte sich im schwarzen Lack der Geländewagen und Mercedes-Limousinen, die das ganze weite Rechteck bedeckten, in gedrängten, funkelnden Reihen von Wand zu Wand. Und da erst erschrak er: als ob er endlich aufgewacht wäre, aber zu spät und auf schrecklich verkehrte Weise, denn seine gesamte Traumwelt schien mit ihm erwacht.
Von Dorf Stiegliz bimmelte dünn ein Glöcklein herüber: einmal, zweimal – halb eins.
Auch wenn Martin Mühlheim und seine vier mageren Kumpane nicht ganz so heftig geatmet hätten und ihnen das Blut weniger laut durch die Gehörgänge gerauscht wäre, so hätten sie das Bimmeln gleichwohl nicht vernommen; denn seit Punkt Mitternacht wühlten sie sich mit ihren Schaufeln befehlsgemäß in die Erde unterhalb der „roten, toten Hand“. Anfangs schien es, daß sie nur mühsam vorankommen würden. Aber jenseits der obersten Bodenschicht, einem zähen Gemenge aus Erde, Geröll und Wurzelschlingen, stießen sie nur noch auf Sandschlamm, glitzernd vor Bernsteinsplittern, der allerdings mit Grundwasser gesättigt und daher so schwer war, daß ihre Armmuskeln bald schon wie Feuer brannten.
Die fünf Schaufelhelden ahnten nicht, wer die flache Grube im Gras ausgehoben hatte, die ihnen den Weg gewiesen hatte. Noch sehr viel weniger schwante ihnen, daß dieser Weg in den verflossenen Jahrzehnten und Jahrhunderten mehr als einmal fieberhaft gesucht worden war. Mühlheim und seine keuchenden Kumpane wußten lediglich, daß man ihnen befohlen hatte, in allergrößter Eile dieses Loch auszuheben, und als in ungefähr drei Metern Tiefe eine uralte Treppenstufe und die Umrisse eines gemauerten Schachtes sichtbar wurden, zwinkerten sie einander im Schein der Fackeln zu: Die da oben hatten doch wieder einmal bewiesen, daß sie den Durchblick besaßen, im wahrsten Sinn des Wortes, einen Durchblick bis in die Tiefe der Erde hinein; da machte es doch richtig Freude, Befehlsempfänger zu sein.
Gegen halb eins, als vom Dorf her das Glöcklein herüberbimmelte und Timo Prohn sich oben in der Schloßhalle einen Weg zur Bibliothekstür bahnte, legten Mühlheim und seine Leute gerade die neunte Stufe im „Treppenschacht der Saskia“ frei. Diese Bezeichnung hatten sie allerdings noch nie in ihrem Leben gehört, sowenig wie ihnen jemals zu Ohren gekommen war, daß vor siebenhundert Jahren in angeblich „kerndeutschen Ostgebieten“ ein vierhunderttausend Häupter zählendes Volk gelebt hatte, das sich die Prussen nannte und von jenen, die sich fortan als Preußen bezeichnen sollten, in einem fünfzig Jahre währenden Massaker abgeschlachtet worden war.
Daher hätten Martin Mühlheim und seine vier Kumpane, die sich mit nackten, schweißglänzenden Oberkörpern immer tiefer in den Hügel unter Schloß Stiegliz wühlten, vermutlich auch dann keinen Verdacht geschöpft, wenn sie die fünf nebelgrau gekleideten Männer bemerkt hätten, die ihnen, im Schatten des gewaltigen Rotbuchen-Fünflings verborgen, geduldig bei der Arbeit zusahen.
Nachdem sie nicht weniger als fünfzehn Stufen freigelegt hatten, kam um null Uhr siebenundvierzig in mehr als zehn Metern Tiefe eine massive Holztür mit rostzerfressenen Eisenbeschlägen zum Vorschein. Japsend vor Erschöpfung drängten sie sich am Boden des Schachtes zusammen, um die mittelalterlich anmutende, an Gespenstergeschichten erinnernde Tür in Augenschein zu nehmen. Daraufhin lösten sich Trowal, Jelitto und ihre Gefährten aus dem Schatten der „roten, toten Hand“, beugten sich über den Schachtrand und gaben jeder einen Schuß aus ihren schallgedämpften Mauser-Pistolen ab.
Hintereinander eilten sie die glitschigen Stufen hinunter, zur „Pforte der Saskia“, wo die fünf Toten übereinander lagen. Es sind fast noch Kinder, dachte Trowal in jähem Erschrecken, nur wenig älter, als wir selbst damals in Görsmanns Bräuhölle waren. Wieder und wieder hatten sie in den letzten Wochen und Monaten darüber gestritten: ob sie ein Recht hatten, so zu handeln, wie Wilkos Plan es vorsah. Ob sie sich mit ihren Widersachern nicht auf eine Stufe begaben, wenn sie derart Vergeltung übten. Aber ich habe mir niemals vorgestellt, daß sie mich so ansehen würden: so starr, so schmerzerfüllt, dachte Trowal und stieß mit dem Schuh behutsam gegen die Schulter eines Toten, damit er zur Seite rollte und ihnen den Rücken zuwandte, nicht mehr sein verzerrtes Gesicht.
Für das durchgerostete Türschloß genügte ein Fußtritt. Trowal schaltete seine Stablampe ein, stieß die Tür auf und leuchtete in den Gang, der vierzig Schritte weit unter den Hügel führte, zu Patollos Bernsteingrab.
„Namens der Carl-Söllner-Stiftung, in deren Besitz Schloß Stiegliz mit dem heutigen Tag übergeht, und im Namen des großzügigen Stifters, Herrn Carl Söllner, der dankenswerterweise die Zeit gefunden hat, an diesem kleinen Festakt teilzunehmen, begrüße ich Sie – meine Dame, meine sehr verehrten Herren – recht herzlich im sogenannten Kuppelsaal von Schloß Stiegliz, der aus dem 14. Jahrhundert stammt und von Ritter Hartbert von Prohan erbaut wurde.“
Man hätte glauben können, daß Torbert Harding als Conférencier durch eine Betriebsfeier führte, so honigweich klang seine Stimme, so harmlos festlich wirkte sein schwarzer Anzug mit der flammendroten Krawatte und dem ebenso blutroten Einstecktuch. Sein versteinertes Gesicht aber und die zu blaßblauen Schlitzen zusammengezogenen Augen, deren Blick unablässig durch den Raum huschte, verrieten die Anspannung, in der sich auch Harding in diesem Moment befand.
Im Halbkreis standen sie um das Bodenloch herum, das durch den schwarzen Metalldeckel mit den gewaltigen Verschlußbügeln gesichert wurde – Timo und Alex, Margot und Harding sowie natürlich Carl Söllner, und jeder von ihnen hielt eine Bernsteinstatue in der Hand. Sein alter Bekannter Harding hatte zweifellos einen Sinn für effektvolle Inszenierung, dachte Alex, indem er seinen Blick von einem zum andern schweifen ließ: zu Timo, der mit einem verwirrten, geradezu verschüchterten Lächeln seine Figur auf der flachen Hand präsentierte (der Bernsteinjüngling, weit vorgebeugt auf dem Amberwolf reitend, Mund und Maul aufgerissen wie zum gemeinsamen Schrei); weiter zu Margot, die wieder und wieder ihre Mähne zurückwarf und ihre Statuette oberhalb des Sockels mit der Faust umklammert hielt (der nackte Recke, in dessen Nacken der Wolf sich im Sprung verbiß); auf seine eigenen Hände, die ein wenig gezittert hatten, als Harding ihm soeben – „nur des Spieles wegen, Sie verstehen“ – eine der drei Figuren überreicht hatte, die sie bisher nur aus den Aufzeichnungen von Timos Vater kannten (der Bernsteinjüngling und der Wolf, in zweideutiger Umschlingung am Boden liegend, ungewiß, ob in zärtlicher Umarmung oder in tödlichem Kampf); weiter zu Harding, der immer noch mit honigweicher Stimme redete und zur Bekräftigung seiner Worte hin und wieder die Statuette in seiner Rechten schwenkte (der Bernsteinjüngling auf allen vieren kauernd, geritten von der Bestie, die auf seinem Rücken saß); endlich zu Söllner, dem Uralten, der wahrhaftig wie der Schnitter, der schwarze Gevatter auf mittelalterlichen Bildern aussah, zumal mit der Totenstatue in seiner altersfleckigen Rechten (der Bernsteinjüngling bäuchlings am Boden, sein Blick gebrochen, sein Leib aufgebrochen vom Amberwolf).
„Ich darf Sie nun bitten“, fuhr unterdessen Harding fort, „mit mir vor die Fackelnischen zu treten und Ihre Figuren in den vorgesehenen Nischen zu plazieren, wie dies die Priester Patollos – Supplit und Saskia – wohl schon zu Zeiten von Ritter Hartbert im magischen Ritual getan haben. Achten Sie bitte auf die Reihenfolge: Herr Prohn begibt sich zur äußersten linken Nische, dort drüben – rechts von ihm Herr Gerten, danke – dann Frau Wegener – und das hier ist meine Nische – ganz rechts schließlich Herr Carl Söllner, bittesehr.“
Alle traten vor die ihnen zugewiesenen Nischen, die mit frischen, noch nicht entzündeten Fackeln bestückt waren. Tatsächlich schien Harding jede Einzelheit mit der roboterhaften Präzision vorbereitet zu haben, für die er berüchtigt war. Warum ist mir früher nie aufgefallen, dachte Alex, wie uralt Söllner aussieht? Carl Söllner mußte weit über achtzig Jahre sein; aber mit einem Mal wirkte er noch sehr viel älter, auf absurde Weise geradezu mythenalt mit seinem hageren Riesenleib, an dem der Frack wie ein Kohlensack schlotterte; mit dem knochigen Glatzkopf, von dem die übergroßen Ohren abstanden; mit seinem ledrig zerfurchten Gesicht, der von wüsten Narben überwucherten Schläfe, den hohlen Wangen, den tief eingesunkenen Augen. Sein Gesicht sieht eher wie eine Alligatormaske aus als wie das Gesicht eines Greises, dachte Alex (der auf einmal Söllner so vor sich sah, wie Lisa ihn vielleicht gezeichnet hätte, mit Tusche oder Kohle: als riesenhafte Echse, die, scheinbar schläfrig, im schlammigen Halbdunkel lauert wie seit ältesten Zeiten; Lisa, dachte Alex, von Unruhe ergriffen und von einer zärtlichen Sehnsucht, die ihm die Kehle zuschnürte).
Einer nach dem anderen schoben sie ihre Figuren in der vorgeschriebenen Weise in die Aussparungen oberhalb der Fackeln – waagrecht, mit dem Sockel voran, so daß Jüngling und Wolf jeweils in den Saal hineinragten, gut einen Meter über den Fackeln.
„Ich danke Ihnen allen und darf Sie nochmals für einen Augenblick um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten, ehe wir zum Höhepunkt der magischen Zeremonie kommen.“ Unter diesen Worten trat Harding zu Timo, in der Hand einen nagelneuen schwarzen Aktenkoffer, den er kurz aufklappte, so daß für einen Sekundenbruchteil die darin gestapelten Banknoten sichtbar wurden. „Der Weg zu dieser prachtvollen Übereinkunft war lang und teilweise steinig“, sagte Harding, „aber nun ist es endlich soweit: Der Vertrag ist geschlossen und soll auch sogleich erfüllt werden.“
Mit seinem verwirrten Lächeln nickte Timo dem gleichaltrigen Mann zu (der in ihrer frühen Kindheit zwei Jahre lang mit ihm auf Schloß Stiegliz aufgewachsen war – Timo und Torbi –, auch wenn sie dort niemals miteinander gespielt, nie auch nur ein Wort gewechselt hatten, als ob zwischen Herrenhaus und Bräuhalle, Schloßhof und Wirtschaftshof unüberwindliche Grenzmauern verliefen), antwortete jedoch mit keiner Silbe, und da wurde Alex klar, daß Timo kein Wort mehr gesprochen hatte, seit er oben in der Halle von Harding empfangen worden war.
Ohne seinen Blick von Torbert Harding zu wenden, zog Timo die Vertragsexemplare aus seiner Gesäßtasche, entfaltete sie und reichte sie dem Engelblonden, der sie auf dem Kofferdeckel glättete, einen goldenen Füllfederhalter zückte und neben die Verträge legte, woraufhin er sich mit einer fließenden Bewegung umwandte und den Koffer wie ein Schreibpult vor Söllner in die Luft hielt. Der Echsenmaskige nahm den Füller und unterschrieb mit eckiger Gebärde; im nächsten Augenblick ließ Harding den Koffer bereits wieder aufschnappen, schob ein Vertragsexemplar hinein, klappte den Deckel zu, wandte sich zu Timo um und drückte ihm den Griff in die Hand. Das Ganze ging so schnell wie ein Taschenspielertrick, und Alex wollte sich eben einmischen und Timo auffordern, zumindest nachzusehen, ob der Koffer tatsächlich ein unterschriebenes Vertragsexemplar und vor allem auch drei Millionen Deutsche Mark enthielt. Doch in diesem Moment hob in der „Felshöhle Patollos“ unter ihnen ein Rumpeln und Dröhnen an, so daß sie alle zusammenfuhren.
In dem Felsgang, der vierzig Meter weit in den Schloßhügel hineinführte, stand knöchelhoch fauliges Wasser, dennoch war die hölzerne Pforte am Ende des Tunnels weit besser erhalten als die Tür am Grund des „Schachtes der Saskia“. Vergeblich rüttelte Trowal an den Eisenbeschlägen, vergebens drückten er und Sude sich Schulter an Schulter gegen das Türblatt, während Jelitto, Mantot und Glande ihnen in erregtem Durcheinander Ratschläge zuraunten: „Ziehen, nicht drücken! – Versucht sie anzuheben! – Irgendwo muß es einen geheimen Riegel geben!“
Endlich hob Trowal eine Hand und gebot seinen Gefährten, zu schweigen und einige Schritte zurückzutreten. „Das wird trotz Schalldämpfer einen gewaltigen Knall geben, aber anders geht’s nicht.“ Er zog seine Pistole, bat Jelitto, für ihn die Lampe zu halten, und gab einen Schuß auf das Türschloß ab.
Mit einem furchtbaren Berstgeräusch zersprang vor ihnen die Tür. Das Echo des Schusses und der zu Boden krachenden Trümmerstücke widerhallte in dem engen Gang und rollte ihnen voraus in die „Felshöhle Patollos“, so daß der ganze Schloßhügel zu erzittern schien.
Mit gezückten Lampen und Pistolen schlichen sie hintereinander in den unterirdischen Tempelsaal. Das Herz klopfte Trowal bis in die Kehle, obwohl er sich bei jedem Schritt sagte, daß der Wolf niemals hier unten gehaust hatte, in all den Jahrzehnten und Jahrhunderten nicht, sondern stets über der Erde, in den prächtigen Sälen des Herrenhauses oder im „Schutzraum“ der alten Bräuhalle.
Die Lichtkegel ihrer Lampen tanzten über die Wände und glitten über den Boden, und wo immer sie hintrafen, begann es honiggelb zu funkeln. Wohin sie auch sahen, waren die Wände mit Bernstein überzogen – glatten, glänzenden, geäderten Flächen oder kunstvollen Mosaiken, die riesenhafte Eichbäume darstellten und die heilige Triade der prussischen Götter – Perkunos mit dem Donnerkeil, den geflügelten Schicksalsgott Potrimpos und Patollo, den wolfsköpfigen Todesgott.
Auch hier drinnen bedeckte Grundwasser den Boden, knöcheltief, so daß sie mit jedem Schritt glucksende Laute hervorriefen, die ihrerseits vielfältige kleine Echos erzeugten. Der Saal mochte zwanzig Meter in der Breite messen, und in seiner Mitte verlief eine natürliche Rinne, etwa zwei Schritte breit, in der sich das Wasser mit leichter Strömung voranbewegte. Sie folgten der Rinne, die im Schein ihrer Lampen mit sämigem Licht gefüllt schien: Bernsteinstücke jeder Größe, von Krümeln bis zu hühnereigroßen Brocken, bedeckten ihren Boden und trieben im Wasser dahin, in kaum merklicher und doch steter Strömung tiefer und tiefer in den Saal hinein.
Wohin sie auch traten, knirschte unter ihren Sohlen Bernstein. Vor langer Zeit einmal mochte der riesige Amberschatz ordentlich aufgehäuft und nach Größe der Fundstücke, nach Art und Qualität sortiert gewesen sein, doch die Naturgewalten – das Grundwasser und ein beständiger Luftzug – hatten im Lauf der Jahrhunderte alles durcheinandergebracht. In der Wasserrinne und überall auf dem Boden, wohin sie den Lichtkegel ihrer Lampen auch richteten, lagen Flöten aus Bernstein verstreut: gerade und gebogene, fingerdünne und schenkeldicke Flöten aus honiggelbem, ätherisch hellem oder aus rotgoldenem Bernstein, der nahezu fleischig aussah, wie von Blut durchströmt. Und die Winde bliesen durch diese Flöten und riefen das beständige, an- oder abschwellende Winseln und Heulen hervor, das seit Jahrhunderten unter dem Schloßhügel erklang und so viele Menschen zu dem Glauben verleitet oder in der Anschauung bestärkt hatte, daß unter Burg oder Schloß Stiegliz wahrhaftig Geisterwölfe hausten.
Mit zusammengebissenen Zähnen zwang sich Trowal, weiter und weiter vorzudringen. Er wußte genau, daß es seinen Gefährten nicht anders erging, daß auch in ihnen die gräßlichsten Erinnerungen wieder wach wurden, an den Schutzraum hinter der Feuertür, an die Teufelstöne, die Görsmann auf Rippen oder Schultern, Ellen oder Wangenknochen, Fingern oder Zehen seiner Opfer geflötet hatte. Aber deshalb sind wir ja hier, beschwor er sich, damit sich derlei nie mehr wiederholt.
Die Ausdehnung des unterirdischen Tempels schien noch gewaltiger, als sie erwartet hatten. Während sie Schritt für Schritt vordrangen, blieb der hintere Teil des Heiligtums in Finsternis gehüllt, zu fern selbst für ihre starken Lampen. Glande und Jelitto hatten bereits begonnen, sich gegenseitig zu stützen, da ihnen das Gehen auf dem glitschigen Untergrund mit ihren Prothesen beschwerlich wurde, und doch hatten sie noch keine zehn Schritte hinein ins glitzernde und glucksende, winselnde und funkelnde Dunkel getan, als ihre Lichtkegel auf die ersten Skeletteile stießen.
Während Hardings honigweich träufelnder Rede war aus dem Untergrund nur das übliche leise Winseln zu hören gewesen. Seit die Übergabe des Geldkoffers aber ein untergründiges Rumpeln ausgelöst hatte (oder doch, behutsamer gesprochen, von solchem Rumpeln begleitet worden war), wurde das „wölfische Heulen“ in der Tiefe lauter und lauter, und noch ehe Timo seinen Koffer öffnen oder absetzen konnte, ertönte unter ihnen abermals ein dumpfes Poltern, als rollten dort Bleikugeln auf steinernen Bahnen.
„Was zum Teufel ist das?“ rief Alex, woraufhin sämtliche Anwesenden (oder, vorsichtiger gesprochen, alle erwachsenen Anwesenden) ihn mit Blicken bedachten, als ob er den Verstand verloren hätte.
„Der Reif der Wölfe“, rief Margot im Tonfall einer Verkünderin, „der Amberring schließt sich: Patollo, komm herbei!“
Tatsächlich breitete sie ihre Arme zu einer priesterlichen Gebärde aus. Alex sah mit einer Mischung aus Widerwillen und Erstaunen, daß die Wunde neben ihrer linken Achsel, die Trowal ihr vor bald zwei Wochen beigebracht hatte, brandig rot klaffte wie ein üppiger zweiter Mund. Zweifellos war Margot Wegener eine unkonventionelle, außergewöhnlich gutaussehende junge Frau, dennoch hatte sie ihn vom ersten Moment an regelrecht abgestoßen. Und während er sie verstohlen musterte, in ihrem ärmellosen, vorn wie hinten großzügig durchbrochenen schwarzen Kleid, wurde sich Alex auch bewußt, was ihm an Margot so sehr mißfiel: Die faszinierende Aura, die sie für Timo offenkundig besaß, verdankte sich unterdrückter, umgekippter Panik (ein emotionaler Duft, der Timo wie kein zweiter seit frühester Kindheit vertraut war: der Angstgeruch seiner Mutter Gesine).
„Anzünden!“ forderte Margot zum wiederholten Mal, mit starrem Blick auf Torbert Harding, während das Heulen und Winseln unter ihnen bereits wieder abzuebben schien.
Harding seinerseits blickte angespannt zu Söllner, der, die Arme vor der Brust verschränkt, ebenso konzentriert in die Tiefe lauschte. Endlich nickte er seinem „Alabasteräffchen“ zu, dabei onkelhaft mit den Augen rollend, und Harding machte eine Handbewegung zu dem Jungen hin, der seit Beginn der Zeremonie auf einem Taubündel hinter der Strickleiter kauerte (an der gleichen Stelle, wo Klein-Torbi selbst vor neunundvierzig Jahren gesessen hatte, von der Wolfsstatue hypnotisiert). Er war vielleicht acht oder zehn Jahre alt, sehr hellhäutig, blond und schmal, und sonderbarerweise war er nur mit einem knielangen, fahlweißen Hemd bekleidet – wie ein Traumwandler, dachte Alex, der mit wachsendem Unbehagen zusah, wie der Junge sich gehorsam erhob und der ersten Nische näherte, ein Sturmfeuerzeug in der Hand.
Söllner will ihn dem Wolfsgott opfern lassen, durchfuhr es Alex, aber er beschwichtigte sich gleich wieder: Doch nicht vor Zeugen wie mir und Timo.
Währenddessen ging der Junge von Nische zu Nische, ließ das Feuerzeug aufschnippen und entzündete nacheinander alle fünf Fackeln. Die Figuren begannen zu leuchten, als ob sie aus reinem Sonnenlicht modelliert wären. Aus ihren Bernsteinmündern und Amberrachen drangen Winsellaute, wölfisches Fauchen und Heulen, ein Durcheinander schleifender Mißtöne, das immer lauter anschwoll und von den Wänden des Kuppelsaals widerhallte.
„Patollo!“, kreischte Margot dazwischen, mit glasigem Blick, ihre Haare vor- und zurückwerfend, ihre Arme emporschleudernd, daß der zweite Mund über ihrer linken Brust auf- und zuschnappte und blutigen Speichel spie.
Aus der Tiefe des Schloßhügels drang nun ein furchtbares Dröhnen und Donnern empor, und Alex sah, wie den schmalen Rücken des Jungen, der zur Strickleiter zurückgekehrt war, ein Zittern überlief. Was hat das zu bedeuten?, dachte er wieder.
„Patollo, zeige dich“, kreischte Margot. „Der Ring der Wölfe ist geschlossen – Patollo, komm herbei!“
Auch das Heulen und Winseln in der Tiefe schien wieder lauter geworden, so als ob die Wölfe dort unten nun aus Dutzenden Kehlen sängen. Timo stand immer noch reglos vor seiner Nische, den fatalen Koffer an die Brust gedrückt. Mit benommenem Lächeln sah er Margot zu, die sich das Kleid vom Körper gerissen hatte und den Fetzen tanzend im Kreis wirbelte. Währenddessen beobachtete Harding mit einer Miene faszinierten Abscheus, die Augen zu blaßblauen Schlitzen zusammengezogen, wie Söllner zu dem Jungen trat und ihm eine Knochenhand auf die Schulter legte.
Auf Zehenspitzen schlich Georg den Trampelpfad zwischen Hofmauer und Brombeergestrüpp entlang. Verdammt, verdammt, die beiden Kerle in den Bomberjacken waren ihm gefolgt, bis hier herauf in den Wirtschaftshof: Er hörte ihr Murmeln und ihre Schritte, tapsend im Dunkeln; er preßte sich mit dem Rücken an die Mauer und wagte kaum zu atmen, geschweige denn weiterzugehen. Zu seiner Linken ragte die alte Bräuhalle auf, ein schwarzer Brocken vor dem dunkelgrauen Hintergrund der Nacht. Er hatte Trowal, Jelitto und die anderen so oft vom „Schutzraum hinter der Feuertür“ sprechen gehört, daß er den Wirtschaftshof von Stiegliz niemals ohne einen Schauder durchqueren konnte. Diesmal aber war es weit ärger: Wenn die beiden ihn fanden, würden sie ihn in die Bräuhalle sperren, in einen der hohen Bräutröge werfen, die noch immer dort drinnen standen. Er selbst hatte sie durch eine Dachluke gesehen: zweifach mannshohe Kupferkessel, in denen man bis zum Hals im Morast versank.
Schon seit mehreren Minuten war von den beiden Männern nichts mehr zu hören – keine Schritte, kein Murmeln oder Räuspern, aber Georg zwang sich, reglos in seinem Versteck auszuharren und in Gedanken langsam bis hundert zu zählen: Wenn bis dahin noch immer nichts Verdächtiges zu hören wäre, würde er zwischen Mauer und Dornen lautlos weiterschleichen, zu dem Treppenschacht hinab in ihr Verlies. Zur Sicherheit zählte er bis zweihundert – und dann nochmals bis hundert –, und erst als seit vielen Minuten außer seinem eigenen hämmernden Herzschlag im ganzen Wirtschaftshof nichts mehr zu hören war, wagte er endlich, sich aus seiner Erstarrung zu lösen.
Es war ein Fehler, gegen Trowals Anordnung ihren Unterschlupf zu verlassen, dachte er schuldbewußt, während er durch den dumpfigen Gang zu ihrem Verlies schlich. Jetzt aber, nachdem er gesehen hatte, daß das Schloß und der Park voller „Schwarzröcke“ waren (wie sein Vater die Schergen Söllners oder Görsmanns zu nennen pflegte), durfte er auf keinen Fall verschweigen, in welcher Gefahr sie alle schwebten: Über kurz oder lang würden die Kerle in den schwarzen Jacken, die zu Dutzenden auf dem Gelände herumstrolchten, sie in ihrem Versteck aufstöbern. Also mußten sie einen neuen Unterschlupf suchen, möglichst noch in dieser Nacht.
Georg tastete nach der Klinke der vorderen Verliestür, dann zögerte er und legte ein Ohr gegen das Türblatt: Kein Laut, gar nichts, und als er die Tür mit einem Ruck öffnete, war der kleine Raum dahinter leer. Der Schemel, auf dem Trowal zwei Tage lang wie eine Steinfigur gesessen hatte, unter den Tisch gerückt, als würde er nicht mehr gebraucht. Auf dem Kleiderbündel in der Ecke lag, von einer Ölfunzel angeschienen, der alte Cramsen in seinem Wehrmachtsmantel, der Wand zugekehrt und offenbar in tiefem Schlaf.
Also ist Trowal dort drinnen – bei Kai und Lisa?, dachte Georg, dem sich die Brust zusammenkrampfte, während er die Tür zum inneren Gelaß aufzog. Von Trowal keine Spur, nur Lisa sah ihm entgegen, auf ihrer Pritsche hockend, mit einem verstörten Lächeln, die hochgezogenen Knie mit ihren Armen umfassend. Dennoch sah Georg sofort, daß ihre Kleider zerfetzt und notdürftig um ihren Körper gewickelt waren.
Auf dem Boden vor ihr lag Kai, gewaltig wie ein Märchenriese, in der gleichen Haltung, in die er im Schlaf seit vierzig Jahren unweigerlich zurückkehrte: ausgestreckt auf dem Rücken, Arme und Beine gespreizt zur Form eines Andreaskreuzes, als ob er noch immer in Söllners Friedhofskapelle läge, Handgelenke und Fußknöchel auf den Ecken des Salamandersargs fixiert.
Georg kniete sich neben ihn und legte eine Hand auf Kais Herz, das wie rasend hämmerte. Sein Vater wimmerte und wand sich im Schlaf, und seine Augen unter den spaltbreit geöffneten Lidern waren so sehr verdreht, daß nur das Weiße der Augäpfel zu sehen war. Auf dem Boden zu seiner Linken stand eine Schale mit der sämigen goldgelben Flüssigkeit, die Georg mehr haßte als alles andere auf der Welt.
„Wo ist Trowal?“
„Ich weiß nicht.“ Noch in Lisas Antwort hinein ertönte ein dumpfes Rumpeln aus der Tiefe. „Was ist das“, rief sie, „ein Erdbeben?“
Sie erhob sich. Auch Georg sprang auf und schlug in jäher Verlegenheit den Blick nieder: Lisa stand nahezu nackt vor ihm, ihre Kleider zerfetzt, als hätte Kai jedes einzelne Kleidungsstück mit seinem Messer in Stücke zerschnitten.
„Komm mit – schnell!“, rief er, wandte sich um und lief ins vordere Verlies zurück, wo Cramsen auf ihrem bunt gemischten Kleiderhaufen lag. Mit bebenden Händen zerrte er an der Wetterjacke seines Vaters. Endlich gelang es ihm, sie unter dem Schläfer hervorzuziehen. Er warf Lisa die Jacke zu, ohne sich zu ihr umzuwenden. In diesem Moment kippte Cramsen von seiner seitlichen Lage auf den Rücken, und im Licht der Öllampe funkelte der Griff des Bernsteindolchs, der in seiner eingefallenen Brust steckte: ein wenig zur Seite gesunken wie die Kreuze auf uralten Gräbern.
Lisa warf die Wetterjacke über, die ihr bis zu den Knien reichte. Abermals erklang ein furchtbares Dröhnen und Rumpeln unter ihnen, doch da rannten sie bereits durch den Gang und die Treppe hinauf in den Wirtschaftshof.
„Wohin?“ rief sie.
„Zu Alex.“ (Er wird mir helfen, dachte Georg, auch Vater in Sicherheit zu bringen.) „Du kennst doch Alex?“
Unwillkürlich mußten sie beide lächeln. Lisa nahm seine Hand, und so rannten sie los, durch den rauschenden Regen, bei Blitz und Donner, die sich endlich, endlich über Schloß und Dorf Stiegliz entluden, glücklicherweise: Das Unwetter scheuchte alle Schwarzjacken zurück ins Herrenhaus, so daß der Park dampfend und menschenleer vor Lisa und Georg lag – oder doch nahezu menschenleer.
„Du bleibst hier stehen, Worzak, und hältst Wache, bis du abgerufen wirst. Das ist ein Befehl!“
„Verstanden, Herr Hauptkommissar!“ Wachtmeister Worzak salutierte im Sturzregen, der soeben die allerletzten Fackeln im Umkreis der Rotbuche erlöschen ließ. Diese neueste Anordnung seines Chefs war leicht zu begreifen, aber er wußte aus leidvoller Erfahrung, daß Zirfas es liebte, die „dicken Knüppel“ nachzuliefern (wie Worzak die Kunst der verzögerten Pointe nannte). „Etwas Spezielles, worauf ich achten sollte?“
„Falls hier ein Gebäude auf Nimmerwiedersehen verschwindet, erstattest du Anzeige gegen Unbekannt.“ Nachdem er diesen „dicken Knüppel“ im wachtmeisterlichen Gehörgang deponiert hatte, trat Zirfas auf die oberste der glitschigen Stufen, die zu Worzaks Erstaunen just dort in die Tiefe führten, wo er selbst vor wenigen Tagen eine flache Mulde ins Gras gekratzt hatte.
„Ein Gebäude, Herr Hauptkomm–?“
Worzak rief es mit so kläglicher Stimme, daß Zirfas, bereits bis zum Gürtel im Schacht der Saskia verschwunden, doch noch einmal innehielt. In seinem nebelgrauen Anzug wirkte er wie immer äußerst elegant, auch wenn ihm der Regen nur so auf Scheitel und Schultern peitschte. Nicht einmal der Militärtornister auf seinem Rücken vermochte seine Erscheinung nennenswert zu lädieren. „Du erinnerst dich doch“, sagte er sanft zu Worzak, „hast es mir ja gestern erst erzählt: wie in alter Zeit dieser Hügel hier unter Burg Stiegliz aufsprang und die ganze Ritterburg mit allen Türmen und Mauern verschluckte – als Strafe für die greulichen Sünden, die der Graf begangen hatte.“
Das stimmt, dachte Worzak, dessen Bart sich in einen Wasserfall zu verwandeln schien. Diese Rittersage habe ich gestern tatsächlich ermittelt und von vorne bis hinten durchforscht; aber trotzdem –?
Doch ehe der Wachtmeister nochmals nachfragen konnte – zum Beispiel, warum er überhaupt die Grube unter den Blutbuchen hatte ausheben müssen (um die Stätte für die fünf Schaufelhelden zu markieren); oder wieso wer-auch-immer den Schacht derart eilfertig mitten in der Nacht freigeschaufelt hatte (weil er, Zirfas, so schlau gewesen war, wem-auch-immer diesen Befehl unterzujubeln), hatte der pantherhafte Kriminaler bereits seine Taschenlampe eingeschaltet und war die Treppe hinabgeeilt. Nun lief er den unterirdischen Gang entlang, so rasch das Gewicht seines Tornisters und das knöchelhohe Wasser dies erlaubten.
Bevor Zirfas am anderen Ende des Felsgangs in den „Tempelsaal Patollos“ trat, leuchtete er seine Armbanduhr an: null Uhr fünfundfünfzig; tatsächlich verlief nach wie vor alles nach Plan. Er kämmte sich mit gespreizten Fingern das Wasser aus den Haaren, drückte die Überreste der uralten Tür auf (durch die einst die schöne Saskia in schwülheißer Nacht nach draußen geschritten war, um ihren Ritter Hartbert auf dem Moosbett unter der Blutbuche zu empfangen), rief mit gedämpfter Stimme: „Trowal? Mantot? Alles im Lot?“, hörte die gemurmelte Bestätigung und nahm dann erst das Winseln und Heulen aus Hunderten Bernsteinflöten wahr.
Für einen Augenblick verkrampfte sich sein ganzer Körper, und er spürte ein schmerzhaftes Ziehen in seinem rechten Oberschenkel, der zu dreißig Prozent aus Titanstahl bestand. Dann zwang er sich, tief durchzuatmen und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Hans Zirfas watete weiter in den Felstempel hinein, durch knöchelhohes Wasser, bis zu einem kreisrunden Platz in der Mitte des riesigen Saales, wo Trowal, Sude und Mantot, Jelitto und Glande auf ihn warteten. Die Lichtkegel ihrer Lampen bündelten sich zitternd über einem meterhohen Gemenge aus Bernsteintrümmern und Flötenstücken, aus Knochen und Totenköpfen, das inmitten einer riesigen, ambergelb leuchtenden Lache aufgehäuft und ineinander verkeilt lag.
Zirfas warf nur einen kurzen Blick auf den funkelnden Knochenhaufen. Mit seiner Lampe deutete er auf verschiedene Punkte an den Wänden des Saals: „Da und dort – das machen Jelitto und Glande. Da drüben und da hinten – Trowal und Sude.“ Er lockerte die Riemen seines Tornisters, fand keine andere halbwegs trockene Stätte als die aufgehäuften Bernstein- und Totentrümmer, setzte den Rucksack behutsam darauf und zog zwei – drei – fünf kompakte Pakete in den Farben der alten Volksarmee hervor.
„Nummer fünf übernehme ich selbst.“ Zirfas sagte es nur, um das verstörte Schweigen der anderen zu unterlaufen, die unter dem fortwährenden wölfischen Winseln und Heulen dem alten Bann wieder zu erliegen drohten. Er nickte den Gefährten zu, tippte mit einem Finger auf seine Armbanduhr und begab sich in den hintersten Teil des Heiligtums, wo sich nach sämtlichen Überlieferungen der riesenhafte „Amberwolf“ befinden mußte: eine wenigstens zwei Meter hohe Statue aus reinem Bernstein, die einen finster dreinblickenden Wolf darstellte, mit weit geöffnetem Rachen und kunstvoll gestalteten Lefzen, in die ein halbes Dutzend armlanger Amberflöten eingelassen war.
Er ließ den Strahl seiner Lampe über den Boden tanzen, orientierte sich hauptsächlich am immer lauter werdenden Heulen der Wolfsflöten und zwang sich, nicht an den „Schutzraum“ zu denken, aus dem auch er, ebenso wie Trowal und die anderen, erst im Frühjahr 1945 von den Rotarmisten gerettet worden war, buchstäblich im letzten Moment. Sein Lichtkegel prallte gegen die Pranken des Patollo-Idols, glitt aufwärts – höher und höher – es mußte drei Meter groß sein, wenn nicht noch mehr – aus rötlichgelbem Bernstein, so daß der Amberwolf eigentümlich nackt aussah, fleischig, von Blutadern durchzogen, obwohl jedes Detail, jede Zottel, jedes gesträubte Barthaar meisterhaft herausgearbeitet war. Riesengroße Augen von intensivem, irisierendem Gelb starrten ihn an, so bezwingend, daß Zirfas seinen Blick von der göttlichen Bestie losreißen mußte. Er trat einen Schritt weiter vor und tastete über die Lefzen des Bernsteinwolfs: Die Luftlöcher der Flöten waren groß genug, wie er vermutet hatte; und so schob er sein schlammfarbenes Paket (auf dem passenderweise ein Totenkopfsymbol prangte) in die linke Lefze Patollos, wandte sich wieder ab und eilte in die Mitte des Tempelsaals zurück, zu dem runden Platz mit der goldenen Lache, wo sich auch die Gefährten unterdessen wieder eingefunden hatten.