1. Bist du noch wach?

Die Zeiger der Uhr wollten sich einfach nicht weiterdrehen. Vorsichtig öffnete Helen die Tür zu Pauls Arbeitszimmer. Das bläuliche Computerlicht erhellte sein ernstes Gesicht. Als Student arbeitete ihr Freund mit Transparentpapier und weichen 6B-Bleistiften, heute erledigte er den Löwenanteil seiner Arbeit am Computer. Vor Abgabeterminen gerne auch mal in Nachtschichten. An seinem Stehtisch feilte der Architekt an Details für einen Wettbewerb, entwarf und verwarf. Über Wochen hatte Helen gespannt mitverfolgt, wie auf dem Computer aus einem Industriebrachland eine virtuelle Wohnlandschaft wuchs, in der Ateliers, Eigentumswohnungen und sozialer Wohnungsbau zu einer Einheit verschmolzen. Helen drückte ihm einen Kuss in den Nacken.

»Lust auf einen Abendspaziergang?«, fragte sie.

»Es ist drei Uhr«, sagte Paul nach einem schnellen Blick auf seine AppleWatch.

»Lust auf einen Morgenspaziergang?«, antwortete Helen.

Paul legte seinen elektronischen Stift aus der Hand.

»Wann hast du das letzte Mal sieben Stunden Schlaf abbekommen?«, fragte Paul besorgt. »An einem Stück?«

In Helens Kopf kämpften jede Nacht Stimmen um ihre Aufmerksamkeit. Die meisten wollten einfach nur schlafen. Doch diese eine, die penetranteste von allen, gab keine Ruhe und feuerte immer neue Fragen ab: Was mache ich an meinem Dreißigsten? Feiern? Mit Amelie? Mit der Familie? Wegfahren? Wieso sind die Nachbarn schon wieder so laut? Kann man angesichts der Weltlage überhaupt Urlaub planen? Wo ist der Zettel von der Reinigung? Warum meldet sich niemand aus der Familie? Wie geht es Mama? Hat der Krebs weiter gestreut?

»Ich bin eben eine Nachteule«, sagte Helen.

»Die tagsüber aktiv ist«, antwortete Paul.

»Ach was, halb so schlimm«, wiegelte sie ab.

Dabei kreisten Helens Gedanken seit Monaten vierundzwanzig Stunden am Tag um Schlaf. Manchmal war sie die ganze Nacht nur damit beschäftigt, nachzurechnen, wie viel Zeit ihr blieb, bis der Wecker sie unnachgiebig aus dem Bett jagte. Und das natürlich immer in dem Moment, in dem sie endlich eingenickt war. Morgens wollte sie gerne schlafen, nachmittags schlief sie beinahe ein, abends begann das Spiel von Neuem. Bis sie an einem Mittwoch um 10.20 Uhr im Labor zusammenklappte.

 

Helen öffnete mühsam die Augen. Die Neonbeleuchtung blendete sie. Über ihr schwebten drei Augenpaare. Verblüfft erkannte sie die besorgten Blicke ihrer indischen Werkstudentin Shivani und der Kollegen aus dem Labor nebenan. Plötzlich rückten sie zur Seite und machten Platz für die riesengroßen wasserblauen Augen von Dr. Schmitt, die hinter einer dicken Hornbrille aufblitzten.

»Was ist passiert?«, fragte der Betriebsarzt.

Helen war zu benommen, um direkt eine Antwort zu finden.

»Sie ist umgekippt, einfach so, mitten im Satz«, sagte Shivani, der der Schreck ordentlich in die Glieder gefahren war.

»Mein Kreislauf, vielleicht habe ich einfach zu wenig gegessen«, stammelte Helen.

In Wahrheit hatte sie sich schon den ganzen Tag merkwürdig zittrig gefühlt.

Dr. Schmitt ließ sie nicht mit einer Notlüge davonkommen.

»Synkopen haben immer eine tiefere Ursache«, sagte er. »Besser wir schauen nach, wenn Ihr Gehirn Sie im Stich lässt.«

»Ich bin vollkommen gesund«, sagte Helen. »Mir fehlt nichts.«

Er untersuchte die Beule am Kopf. »Nichts zu nähen«, sagte er enttäuscht. »Schade, da freuen sich meine Assistenten immer besonders.«

So viel schonungslose Ehrlichkeit überforderte sie. Helen wusste sofort wieder, warum sie Arztbesuche gerne vor sich herschob.

»Haben Sie Stress?«

Jetzt schon, dachte sie.

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Helen.

Falsche Antwort. Dr. Schmitt durchbohrte sie mit seinem Röntgenblick.

»Jeder hat Stress«, sagte der Betriebsarzt tadelnd.

»Nicht mehr als sonst«, sagte sie.

»Vielleicht ist es auch sonst schon zu viel«, schloss er folgerichtig.

»Ich habe ein paar Nächte nicht so gut geschlafen«, sagte Helen. »Es geht schon wieder.«

Dr. Schmitt leuchtete ihr mit einem Licht in die Augen: »Die Pupillen reagieren, beide, und noch dazu gleich. Sehr schön. Wenn sich da nichts rührt, muss man mal nachsehen, ob der Patient überhaupt noch lebt.«

Er strahlte über das ganze Gesicht, als erwarte er Beifall für seine geniale Diagnose. Helen lächelte schief: »Mir geht es großartig.«

»Und seit wann leiden Sie unter Schlaflosigkeit?«, fragte der Arzt.

Helen konnte das Datum genau benennen. Seitdem ihre Mutter sie an den traumatischen Ort ihrer Kindheit eingeladen und mit einem Überraschungsehemann konfrontiert hatte, seitdem sie fünf Tage mit ihren Schwestern verbracht hatte. Seitdem sie wieder vermehrt an ihren Vater dachte. Seit ihrem Kurzurlaub an der holländischen Küste. Seit Bergen.

»Zwei, drei Wochen«, sagte sie.

Zwölf Monate wäre die Wahrheit gewesen. Aber sie hatte nicht das geringste Interesse daran, ihr Innenleben vor dem schrägen Betriebsarzt nach außen zu stülpen. Sie fand es ohnehin restlos übertrieben, dass Shivani ihn hinzugezogen hatte.

Der Betriebsarzt musterte sie mit seinen wässrigen Augen.

»Und in Wirklichkeit?«, fragte er.

»Ein bisschen länger. Ein paar Wochen, höchstens.«

»Bettruhe«, beschied er kurz und knapp.

»Auf keinen Fall«, sagte Helen energisch. Dass die Wörter Bett und Ruhe eine eheähnliche Verbindung eingingen, erschien ihr ohnehin eher unwahrscheinlich. Sie sprang auf und sackte sofort wieder zusammen. Ihr war immer noch schwindelig.

»Drei Tage, dann das Wochenende, der Brückentag … Sie brauchen dringend eine Pause.«

»Ich habe den ganzen Schreibtisch voll. Wir müssen die Testreihe bis nächste Woche abschließen …«, sagte Helen schwach.

»Und dann wundern Sie sich, warum Sie nicht schlafen?«

»Ich wundere mich nicht«, sagte Helen.

»Ich kann Sie an eine Kollegin verweisen. Ich arbeite mit einer sehr guten Psychologin zusammen«, sagte er.

Helen verzichtete darauf, weiter mit Dr. Schmitt zu diskutieren.

»Das sind Kreislaufprobleme«, presste sie eilig hervor. »Ich bekomme meine Tage.«

»Eine Woche Bettruhe«, befahl der Betriebsarzt. »Und keinen Tag weniger.«