»Eine Woche? Unmöglich«, klagte Helen.
Einmal zu Hause auf dem Sofa, fühlte sie sich schon fast genesen. Gegen Abend brachte Shivani ihr einen Topf wunderbar scharfen Currys vorbei.
»Das Capsaicin im Chili reizt die Schleimhäute«, erklärte sie. »Um den Schmerz erträglicher zu machen, schüttet der Körper Endorphine aus. Darum macht Chili glücklich.«
Helen rührte die liebevolle Geste der Studentin, die sich anscheinend aufrichtig Sorgen um sie machte. Wie eine Mutter, schoss ihr durch den Kopf. Dabei konnte sie sich nicht daran erinnern, dass ihre eigene Mutter ihr jemals etwas Spezielles gekocht hatte, wenn sie krank war. So eine Art Mutter war Henriette nie gewesen. Bei Erkältungen hielt sie eher Abstand von ihren vier Töchtern. »Ich will mich nicht anstecken«, hatte sie immer gesagt. »Wenn ich ausfalle, bricht hier alles zusammen.«
Helen seufzte beim Gedanken an ihre Mutter schwer auf. Ihre überstürzte Hochzeit lag ein Jahr zurück und noch immer hatten die Wogen sich nicht geglättet. Im Gegenteil: Der Familienausflug hatte bei Helen alte Wunden aufbrechen lassen. Im letzten Jahr war sie nicht sie selbst gewesen, das musste sie sich ehrlich eingestehen. Die Konfrontation mit dem Ferienort ihrer Kindheit hatte sie nachhaltig aus dem Gleichgewicht gebracht. Jetzt führte die erzwungene Ruhigstellung dazu, dass sie nur noch mehr Zeit hatte, nachzudenken.
Helen grübelte endlos, warum die Familie seit dem gemeinsamen Ausflug nach Holland weiter auseinanderdriftete. Nie waren sich die vier Schwestern näher gewesen als in den endlosen Sommern, die sie als Kinder traditionell an der Nordseeküste in Bergen verbrachten. »Wir sind eben Sommerschwestern«, hatte Doro immer gesagt. Doch von der alten Einheit war nicht mehr viel zu spüren.
Seit der Hochzeit ihrer Mutter hatte sich keine Gelegenheit mehr ergeben, mit der gesamten Familie zusammenzukommen.
Gesundheitlich hatte ihre Mutter sich dank Chemo und Bestrahlung wunderbarerweise erholt. Wann immer ihr das Behandlungsschema Luft zum Atmen und gute Momente bescherte, bestieg sie ihren Camper, um mit ihrem holländischen Ehemann die Welt zu erkunden. Im Leben der vier Thalberg-Schwestern jedoch glänzte Henriette vor allem mit Abwesenheit. Das gemeinsame Weihnachtsfest ließ sie ausfallen, den eigenen Geburtstag verbrachte sie lieber alleine mit Thijs, Einladungen ihrer Töchter schlug sie grundsätzlich aus. Allein Doros Premieren verpasste sie nie. Sie liebte es, an der Seite ihrer ältesten Tochter, die es als Kostümbildnerin zu Berühmtheit gebracht hatte, über rote Teppiche zu stolzieren. Seit sich Henriette und Thijs vor sechs Wochen für eine längere Tour Richtung Süden aufgemacht hatten, war selbst der Strom schriftlicher Ratschläge verstummt.
So exzentrisch und anstrengend ihre Mutter auch war, auf ominöse Weise hatte sie Doro, Yella und die Zwillinge Helen und Amelie immer zusammengehalten.
Helen hätte nie gedacht, dass der familiäre Klebstoff so porös war. Die Thalbergs waren auf dem besten Weg, sich in eine dieser Familien zu verwandeln, die nur noch zu Beerdigungen aufeinandertrafen. Und was sie am meisten erschreckte: Ohne ihre Mutter drohten auch die Sommerschwestern komplett auseinanderzufallen. Düstere Gedanken raubten ihr den Schlaf.
Helen hatte in den vergangenen Monaten alles versucht, ihre nächtliche Unruhe in den Griff zu bekommen: früher ins Bett gehen, später ins Bett, eine Nacht durchmachen, regelmäßige Schlafzeiten, Schäfchen zählen, Apps mit Meeresrauschen, Hörbücher, absolute Stille, Verzicht auf Kaffee und Alkohol, ein Schlummertrunk, Kamillentee, keine Getränke nach 19.00 Uhr, Bett umstellen, Temperatur verändern im Schlafzimmer, Kissen austauschen, Teppich raus, neuen Pyjama, neue Vorhänge, Entspannungsbäder, Abendspaziergänge, Sport, Sex, Fenster auf, Fenster zu, keine Tagesschau, keine aufregenden Filme nach 22.00 Uhr, keine Elektronik im Schlafzimmer. Nichts half.
»Du musst dir Hilfe suchen«, sagte Paul.
»Die verschreiben mir nur Pillen«, sagte Helen, obgleich sie genau wusste, dass Paul eine andere Art von Hilfe meinte. »Ich bin der wandelnde Beipackzettel«, beeilte sie sich hinterherzuschicken. »Ich beschäftige mich den ganzen Tag mit Nebenwirkungen, da vermeidet man Tabletten von selbst.«
Statt Medizin kaufte sie einen Schwangerschaftstest. Was wäre, wenn das Ausbleiben ihrer Tage nicht auf Stress zurückzuführen war? Was wäre, wenn sie wirklich schwanger wäre? 15 Minuten verlor sie sich in der ungewohnten Vorstellung, wie es wäre, wenn sie ein Kind erwartete. Wie ein Hochgeschwindigkeitszug raste sie durch alle Fürs und Widers, die sie zigmal im Kopf und mit Paul hin und her gewälzt hatte.
Das Ergebnis ließ sie mit gemischten Gefühlen zurück: negativ. Das war positiv und beunruhigend zugleich. Eine Schwangerschaft wäre eine bequeme Erklärung für ihren Zustand. So herrschte das quälende Gefühl vor, dass etwas psychisch bei ihr nicht in Ordnung war.
Neben ihrem Bett stapelten sich Bücher über Schlaflosigkeit, die sie bis tief in die Nacht studierte. Alles, was sie fand, waren immer neue, wundervolle Umschreibungen für ihr Problem.
»Bei schlaflosen Menschen ist der Kopf beleuchtet wie ein Kühlschrank«, las sie Paul vor. »Normalerweise geht das Licht aus, wenn man die Tür schließt. Bei Schlaflosen brennt im Gehirn immer Licht.«
Paul grummelte neben ihr in sein Kissen. So wie er seit vielen Monaten grummelte. Viele ihrer Bemühungen hielten nicht nur sie selbst wach, sondern auch Paul.
»Es gibt Co-Alkoholiker, ich bin Co-schlaflos«, sagte er, als sie wieder einmal um drei Uhr in der Küche aufeinandertrafen. »Wir leben gemeinsam im Kühlschrank.«
»Einem gut sortierten, aufgeräumten Kühlschrank«, ergänzte Helen.
In ihrer ohnehin schon minimalistischen Wohnung fand sich keine einzige Rumpelecke mehr, keine unaufgeräumte Schublade, keine Papiere, die schon längst abgeheftet werden wollten, kein Staubkorn und keine ungeputzten Schuhe. Helen hatte in den langen Nächten den gemeinsamen Bücherschrank alphabetisch sortiert und jedes überflüssige Küchenutensil aussortiert. Sie war mehrmals zum Wertstoffhof gefahren, hatte sämtliche Sozialkaufhäuser in ihrer Umgebung mit ihrem ausrangierten Hausrat erfreut, bis jede Ablenkung aus ihrer Wohnung verschwunden war. In ihrem Kopf blieb es unordentlich.
»Wenn das so weitergeht«, sagte sie, »erlebe ich meinen dreißigsten Geburtstag nicht mehr.«
»Vielleicht solltest du auf Dr. Schmitt hören und mehr Ursachenforschung betreiben«, versuchte Paul es noch einmal.
»Und der Psychologe erklärt mir dann nach 87 Therapiesitzungen, dass ich nicht schlafen kann, weil ich den Verlust meines Vaters nicht verarbeitet habe.«
Sie wusste auch ohne Psychologen an ihrer Seite, dass der Tod ihres Vaters, der in einer Sturmnacht auf einer holländischen Landstraße verunglückt war, eine Narbe auf ihrer Seele hinterlassen hatte.
»Es kann doch kein Zufall sein, dass die Schlafstörungen nach Bergen angefangen haben«, sagte Paul vorsichtig.
»Therapie ist nichts für mich«, beschied Helen. »Da blockiere ich nur einen Platz für jemanden, der echt Hilfe braucht.«
In Wirklichkeit wollte sie nicht tiefer in ihre komplizierte Vergangenheit einsteigen.
Helen staunte immer wieder über Pauls herzliches Verhältnis zu seiner Familie. Er liebte es, seinen Vater an der Tankstelle zu besuchen. An Geburtstagen wurde er von der gesamten Großfamilie gedrückt, geküsst und ausgefragt. Er schwatzte mühelos und aufrichtig interessiert mit seinen Tanten und Onkeln und vergaß keinen einzigen Gedenktag.
»Familie ist ein Geschenk«, sagte er immer.
Helen war sich da nicht so sicher.
Nach einer Woche Zwangspause kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück, ohne dass sich an ihrem zentralen Problem etwas geändert hatte. Neidvoll lauschte sie, wie Shivani ihrer Schwester am Telefon brühwarm den neusten Klatsch und Tratsch berichtete. Wieso gelang es anderen, scheinbar mühelos Kontakt mit ihren Familien zu halten? Dabei war sie sogar ein Zwilling. In Zeitungen las sie über das spezielle, beinahe symbiotische Verhältnis, das gleichzeitig gezeugte Menschen zueinander entwickeln konnten. Viele Artikel berichteten von getrennten Zwillingen, die fern voneinander aufwuchsen und dennoch ähnliche Lebenswege einschlugen. In keinem Universum der Welt würden sie und Amelie in zwei Läden tausend Kilometer voneinander entfernt, dasselbe Kleidungsstück aussuchen. Ihre Mutter hatte ihnen als Kinder gerne die gleichen Kleidchen angezogen und fand sie immer dann besonders entzückend, wenn sie wie Puppen auf dem Sofa saßen. Als zweieiiger Zwilling war sie Amelie genetisch kein bisschen näher als Doro oder Yella. Die Wahrheit war, dass sich zwischen Amelie und Helen kein unsichtbares Band spann, das sie auf ominöse Weise zusammenhielt. Eher konnte man von einer unsichtbaren Mauer sprechen. Trotzdem erwartete ihre Umgebung unausgesprochen, dass sie eine Einheit bildeten.
»Was macht ihr an eurem Dreißigsten?«, schrieb Yella in ihrer Sommerschwestern-Gruppe.
»Paul und ich ziehen um«, antwortete Helen, bevor Amelie antworten konnte. »Wir haben endlich eine bezahlbare Wohnung in Frankfurt gefunden. Mit Balkon.«
Der Umzug bot ihr eine willkommene Ausrede, sich nicht feiern zu lassen. Helen mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Als ihre Kollegen im Labor unter der enthusiastischen Leitung von Shivani Happy Birthday anstimmten, wäre sie am liebsten im Boden versunken. Ihre junge Werkstudentin bescherte ihr die längsten 45 Sekunden ihres Arbeitslebens. Helen blieb nichts anderes übrig, als mit leicht gefrorenem Dauerlächeln das Ständchen entgegenzunehmen. Sie atmete bereits auf, als Rita aus der Buchhaltung Wie schön, dass du geboren bist anstimmte. Rita liebte sie, weil sie als Einzige der 724 Mitarbeiter des Unternehmens Reisekostenabrechnungen perfekt und pünktlich ablieferte. Rita kannte alle Strophen. Helen hoffte vergeblich darauf, dass die kokelnden Kerzen auf dem Kuchen den Feueralarm auslösten. Wenn Shivani so weitermachte, würde das Labor nächstes Jahr Viel Glück und viel Segen im mehrstimmigen Kanon aufführen. Helen war froh, den Abend alleine mit Paul zu verbringen. Sie aßen in der noch leeren Wohnung Pellkartoffeln mit Butter und Salz und tranken lauwarmen Weißwein aus Plastikbechern. Sie war glücklich.
Bis sie ins Bett sank und sich wieder schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte. Auf einmal fühlte es sich falsch an, den runden Geburtstag ohne Familie gefeiert zu haben. Es war eine Art Phantomschmerz, der sie immer begleitete. Wenn sie ehrlich war, wünschte sie sich, ihren Schwestern näher zu sein.
Um sechs Uhr morgens rätselte sie in ihrer neuen Küche, was sie brauchte: einen doppelten Espresso, eine Woche Schlaf oder eine Umarmung von Paul? Wenigstens auf ihn war Verlass:
»Du kannst ewig darauf warten, dass sich etwas ändert«, sagte er. »Oder du kannst etwas ändern.«
»Du klingst wie ein wandelnder Kalenderspruch«, sagte Helen.
Paul sah sie verletzt an.
»Mir geht es großartig«, sagte Helen. »Ich kann nur nicht so gut schlafen.«
»Dann tu was«, antwortete Paul gereizt.
Die Schlaflosigkeit begann, sich wie ein Geschwür auf andere Lebensbereiche auszudehnen.
Es arbeitete in ihr. Sie war jetzt dreißig. Sollte man in diesem Alter nicht langsam die Probleme der Kindheit endgültig hinter sich gelassen haben? War das die Aufgabe, die sie zu bewältigen hatte? Vielleicht konnte sie deswegen nicht schlafen, weil in ihrem Leben etwas fundamental falsch aufgestellt war. Vielleicht musste sie genau dort anfangen, wo es richtig wehtat, bevor sie heilen konnte. Und schlafen. Endlich schlafen.
»Familie ist wie ein Instrument, das man erlernt«, hatte Yella einmal ihren Therapeuten Dr. Deniz zitiert. »Man muss Mühe und Liebe hineinstecken, bevor man von seinem Instrument zurückgeliebt wird.«
Paul hatte es eher begriffen als sie. Wenn sie ihre innere Ruhe finden wollte, musste sie etwas unternehmen. Gemeinsame Zeit war das Zauberwort. Gemeinsame Zeit mit den Sommerschwestern.
Nächtelang brütete Helen über Berliner Ferienplänen, schickte Terminabfragen via Doodle herum und telefonierte vergeblich Doro hinterher, um einen Termin für ein Treffen zu fixieren. Ludwig berichtete, dass ihre große Schwester den ganzen Sommer über in Amsterdam mit einem weltberühmten Opernregisseur arbeiten würde. Die Puzzleteile wollten einfach nicht zusammenpassen. Bis ihr, eingewickelt in eine Wolldecke und Pauls Arme, bei der Wiederholung von »Der Pate« eine Idee kam. Wenn sie wollte, dass die Familie zusammenkam, musste sie selbst aktiv werden und Nägel mit Köpfen machen. Don Corleone wurde ihr ein leuchtendes Vorbild: Sie musste ihren Schwestern ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnten.