3. Alles so wie früher

»Helen lädt euch ein?«, fragte David verblüfft.

Yella nickte. »In die Villa Vlinder. «

Vor mehr als zwanzig Jahren hatten sie in diesem Ferienhaus ihren letzten Sommer als komplette Familie verbracht. Jetzt hatte Helen die Villa für zwölf Tage angemietet.

Unser Vater hatte sich so auf den Lichtjesavond gefreut, schrieb Helen. Und dann kam dieser verdammte Sturm. Ich wünsche mir, dass wir noch einmal als Familie am ersten Mittwoch im August in Bergen zusammenkommen, wenn das ganze Dorf traditionell in Kerzenlicht erstrahlt. Ich möchte gemeinsam mit euch Lichtjesavond feiern. Unterkunft, Kinderbetreuung, Sonne, Strand und Meer. All inclusive. Ich lade euch ein.

»Wenn man sich verirrt hat, muss man an den Ort zurückkehren, an dem man die falsche Abzweigung genommen hat«, zitierte Yella das Mantra ihres Vaters.

Helen hatte den wunden Punkt getroffen. Sie hatten die Erinnerung an den Vater in den letzten Jahren viel zu wenig gepflegt. Johannes Thalberg liebte den alljährlichen Lichtjesavond, der jedes Jahr den Höhepunkt ihrer Sommer an der Nordsee bildete. Yella verstand die Botschaft ihrer Schwester. Dieser Urlaub bedeutete mehr als ein Sommervergnügen. Er war ein Tribut an ihren viel zu früh verstorbenen Vater. Amelie lebte nach monatelangem Pendeln zwischen Wuppertal und Holland seit sechs Wochen ganz in Bergen, und Doro plante, aus ihrem zeitlichen Amsterdamer Domizil hinzuzustoßen, sobald der prestigeträchtige Auftrag für die dortige Oper ihr Luft ließ. Es gab nur ein Problem.

»David kann nicht mit«, teilte Yella Helen mit.

Der Schriftsteller hatte einen bezahlten Künstleraufenthalt in Riga ergattert, der sie für zwei Monate in eine alleinerziehende Mutter verwandelte. Der Urlaub würde eine perfekte Unterbrechung der langen Zeit sein.

»Nur wir Schwestern und die Kinder«, hatte Helen daraufhin vorgeschlagen. »Unsere Männer bringen sowieso alles aus dem Gleichgewicht.«

Yella war dankbar, dass Helen sich jede weitere Nachfrage verkniff. Die nüchterne Chemikerin begriff auch ohne weitere Infos, dass Davids lange Abwesenheit kein allzu gutes Zeichen war. Anders als Doro, die mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg hielt, und Amelie, die ihre Probleme mit jedem teilte, der ihr ein Ohr lieh, gehörte Helen nicht zu den geschwätzigen Zeitgenossen, die alles zerreden und aussprechen mussten.

»Paul ist zutiefst erleichtert, dass er nicht mitmuss«, sagte sie leichthin. »Er ist uns auf ewig dankbar, eine fantastische Ausrede zu haben, den Sommer durchzuarbeiten.«

Yella kannte die Vorlieben des Mannes, der einmal ihr Kommilitone gewesen war. Helens Freund litt unter einer chronischen Naturphobie und verabscheute kurze Hosen, Wespen und das Gefühl von Sand unter nackten Fußsohlen. Nie im Leben würde der hartnäckige Anzugträger sich freiwillig an den Strand legen. Dörfer wie Bergen waren dem erklärten Großstadtmenschen jenseits ihrer baulichen Besonderheiten suspekt.

»Ich bin auf Asphalt groß geworden und lebe vom Stapeln von Steinen«, sagte Paul immer. »Grün ist für mich Arbeitsmaterial, keine Erholung.«

Yella verstand nur zu gut, was Paul wirklich meinte: Vier Thalberg-Frauen auf einem Haufen waren zu viel. Für alle Beteiligten.

Yella freute sich jedoch sehr über die Einladung. Ihr knapp bemessenes Familienbudget hätte einen Sommerurlaub in einer großzügigen Villa niemals erlaubt. Noch mehr freute sie sich, als ihre kleine Schwester ihr mitgeteilt hatte, dass sie eine pharmakologische Fortbildung in Berlin habe und sie so gemeinsam anreisen konnten.

 

Bis zur holländischen Grenze lief alles wie am Schnürchen. Sechs Reisestunden und zwei großzügige Pausen lagen bereits hinter ihnen. Während Helen selbst nach einer anstrengenden Seminarwoche keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte, fühlte Yella die Müdigkeit in jedem einzelnen Knochen. Zermürbt von einem langen Schul- und Kindergartenjahr, von nächtlichen Urlaubsvorbereitungen, Grabenkämpfen im Büro und Auseinandersetzungen mit David, freute sie sich auf zwölf entspannte Tage an der Nordsee. Während Helen das Steuer übernahm, kümmerte Yella sich um ihre Kinder. Sie hatte ihren Urlaub als alleinstehende Mutter auf Zeit mit Snacks und Beschäftigungen für Leo und Nick generalstabsmäßig vorbereitet. Sie hatten Lieder geschmettert, so laut sie konnten, Autokennzeichen entziffert und Schnapszahlen gesucht, in Malvorlagen herumgekritzelt, »Ich-packe-meinen-Koffer« gespielt, die Ja-nein-Falle ausprobiert, ein Kinderbuch gehört, Kekse geknabbert, wieder gesungen, an der Autobahnraststätte Pommes gegessen und auf dem Spielplatz herumgetobt. Gegen 22.00 Uhr waren die beiden Jungs erschöpft auf der Rückbank weggedöst. Leo hatte seine Mütze über die Augen gezogen, Nick schlief mit offenem Mund, in der Hand noch ein angebissenes Brot. Die Müdigkeit hatte ihn zwischen zwei Happen übermannt. Yella selbst hatte noch bis zur Grenze bei Bad Bentheim durchgehalten, bevor sie in die Dunkelheit wegsackte. Sie wurde erst wieder wach, als Helen von der A9 auf den Ring Alkmaar abbog und die veränderte Geräuschkulisse sie aus dem Tiefschlaf riss.

»Ich bin wohl eingenickt«, sagte sie schuldbewusst.

»Reicht, wenn eine wach ist«, sagte Helen großzügig.

Yella seufzte zufrieden auf. Bei ihrer kleinen Schwester hatte sie nie das Gefühl, sich verstellen zu müssen. Helen erfüllte ihren Part, ohne allzu viel Beifall zu erwarten. Zu zweit im Auto mit Helen war es wunderbar gemütlich. Seit ihrem letzten Aufenthalt spürte sie eine neue und besondere Verbindung zu ihrer jüngsten Schwester. Yella kuschelte sich in ihre warme Jacke und starrte erwartungsvoll nach draußen, in der Hoffnung, irgendetwas zu erkennen. Morgens um eins gehörte die Landstraße, die sich schnurgerade durch das flache holländische Land zog, ihnen ganz alleine.

Glücklich ließ sie das Fenster runter und steckte für einen Moment ihren Kopf in die kühle Luft. Es roch nach Meer, Urlaub und Kindheit. In der Ferne tauchte das blaue Ortsschild von Bergen auf. Darunter prangte in großen LED -Lettern der Hinweis auf den Lichtjesavond, die Nacht der Lichter. Vor 21 Jahren hatte Sturm Ira verhindert, dass sie an der Veranstaltung, die seit 1926 im Dorf abgehalten wurde, teilnehmen konnten. Jetzt würden sie zu Ende bringen, was damals unvollendet blieb, und mitfeiern. Dazwischen lagen zwölf Tage, in denen sie nichts anderes tun würde, als sich am Strand durchpusten zu lassen. Yella konnte es nicht erwarten, Leo und Nick ihr Holland zu zeigen, mit ihnen Zeit am Meer und in den Dünen zu verbringen.

Die Vorfreude stand auch Helen ins Gesicht geschrieben, als sie die Ruinenkirche passierten, wo versprengte Kneipengänger auf der Mauer ihr letztes Bier leerten. Yella zückte die Kamera, um ihrer Mutter ein Foto vom Wahrzeichen des kleinen Dorfs zu senden. So konnte sie ein kleines bisschen dabei sein.

 

Schwungvoll bog Helen in die Eeuwigelaan ein. Die verträumte Allee mit ihren geneigten Baumriesen wirkte bei Nacht noch magischer. Jede war in ihren eigenen Gedanken gefangen, während das Auto über das Kopfsteinpflaster ruckelte.

»Alles so wie früher«, sagte Helen.

Es war Programm und Beschwörung gleichermaßen.

Endlich Ferien! Endlich ausspannen. Endlich wieder die Sommerschwestern.

Wir sind gut angekommen, vermeldete Yella nach Riga, wo David in seiner Schreiberresidenz auf die erlösende Nachricht wartete. Selbst 2000 Kilometer von ihnen entfernt verband ihn eine unsichtbare Nabelschnur mit seiner Familie.

Wunderbar, antwortete er umgehend. Dann kann ich jetzt ins Bett. Und nicht vergessen: Was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, geht in Erfüllung.

Yella schickte ein Herzchen und bekam acht zurück. Seit er zu seinem Stipendium aufgebrochen war, überschlug er sich mit Liebesbekundungen. Sie sendete ein weiteres Herzchen zurück.

Helen lenkte das Auto in eine schmale Wohnstraße am Rand des Zentrums und bremste wenig später vor einem schweren Eisentor, an dem ein Schild prangte mit der verschnörkelten Aufschrift: Villa Vlinder.

»Endlich«, sagte Yella erleichtert.

Ihr Glück währte ganze zehn Sekunden.