»Da wohnen wir?«, schrie Leo von der Rückbank.
Bei Nacht wirkte die Klinkervilla weitaus düsterer als auf den Fotos, die Yella ihren Söhnen zu Hause gezeigt hatte. Die Beleuchtung über der Tür flackerte bedrohlich, als markierte sie in Wirklichkeit das Portal eines Spukhauses.
»Da geh ich nicht rein«, rief Leo. »Das ist gruselig.«
Yella seufzte. Um Viertel nach eins sehnte sie sich inständig nach einem Bett.
»Komm, wir suchen euer Zimmer«, sagte sie. »Ich glaube, es hat ein Stockbett.«
»Ich bleibe im Auto«, rief der Siebenjährige energisch.
Ein flüchtiger Blick auf das Ferienhaus hatte ihm gereicht, sein Urteil zu fällen. Mit Helens Hilfe hatte es das Quartett problemlos von Berlin bis nach Bergen geschafft. Jetzt drohten sie an den letzten Metern zu scheitern.
»Morgen früh sieht das Haus ganz anders aus.«
»Das Haus guckt gefährlich«, beharrte Leo auf seiner Meinung.
Für ihren Ältesten bestand die Welt aus lauter Fantasiewesen, die sein Leben kompliziert machten. Tausende unsichtbarer Feinde störten jeden Tag aufs Neue seinen Alltag. Garniert mit einer Prise Aufregung, dem Reisefieber und der Übermüdung ein perfektes Rezept für familiäre Desaster.
»Es ist nur ein Haus«, sagte Yella mit aufgesetzt fröhlicher Stimme. »Und es wartet auf dich.«
»Das Haus sieht böse aus«, sagte Leo mit wackliger Stimme. »Da ist ein Geist drin. Er schaut mich an.«
Yella schluckte. Sofort drängte sich das Bild ihres Vaters vor ihr inneres Auge, der seine letzten Lebenstage in dieser Villa verbracht hatte.
»Du hast bestimmt ein tolles Zimmer«, sagte sie schwach.
»Ich bleibe im Auto.«
Wie viele dieser ohnmächtigen Momente zwischen Ratlosigkeit und Ärger hatte Yella in den letzten Monaten mit Leo erlebt? Ihr Erstgeborener hatte die blühende Fantasie seines Vaters geerbt und konnte sich rettungslos in erfundene Schreckensbilder hineinsteigern.
»Ich begreife, was du meinst«, mischte sich Helen ein.
»Lass ihn«, wollte Yella ihr warnend zuraunen.
Noch bevor sie eingreifen konnte, goss Helen Öl ins Feuer: »Du hast vollkommen recht. Da schaut uns jemand an«, sagte sie.
Yella sank in sich zusammen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie zigmal miterlebt, wie Leos Zustände in Rekordgeschwindigkeit eskalierten.
»Kannst du mehr über diesen Geist erzählen?«, fragte Helen.
»Ich will nicht hinschauen«, sagte Leo, jetzt den Tränen nahe.
Yella hatte ihren Söhnen absichtlich Jogginganzüge angezogen. In einer idealen Welt trug sie nach der langen Reise zwei schlafende Jungen vom Auto direkt in die Betten des Ferienhauses. In der nicht ganz so idealen Wirklichkeit weckte der panische Leo den friedlich schlummernden Nick auf, dem sofort einfiel, dass er lange genug still gesessen hatte.
»Ich will raus, Mama«, rief der eine. »Raus.«
»Ich will nach Hause«, der andere. »Ich will zu Papa.«
»Ich will auf den Mars«, seufzte Yella.
Sie stieg aus, um den ungeduldig gegen den Beifahrersitz trampelnden Nick aus seinem Kindersitz zu befreien, während Helen sich nicht weiter beeindrucken ließ.
»Erkennst du einen Mann, eine Frau oder etwas ganz anderes?«, erkundigte sie sich seelenruhig bei Leo.
Der Kleine presste entsetzt die Augen zusammen.
»Schau ganz schnell«, forderte Helen ihn auf.
Leo öffnete ein Auge, wandte den Kopf zum Haus und in Sekundenschnelle zurück.
»Ein böser Mann«, sagte er. »Er freut sich kein bisschen auf uns.«
»Alt oder jung?«, fragte Helen ungerührt weiter.
»Alt.«
»Und wie sieht er aus?«
Yella blickte Richtung Villa und realisierte mit einem Schlag, was Leo meinte. Vor zwanzig Jahren war das Haus überwuchert von Efeu und zur Hälfte von einer riesigen Eiche verdeckt gewesen. Der Baum war offenkundig dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, die Fassade von allem Grün befreit. Erst jetzt zeigte das Haus seinen wahren Charakter. Der auffällige Erker der Villa stach aus der dunkelroten Klinkerfassade heraus wie eine dicke Nase, darüber blickten zwei hohe Fenster mit gemütlichen rot-weiß gestreiften Baldachinen sie an. Die Straßenlaternen spiegelten sich in den Scheiben und verliehen den eingebildeten Pupillen einen besonderen Glanz. Der Sonnenschutz gab ihnen den Anschein kritisch hochgezogener Augenlider. Aus dem Klinker starrte sie ein glatt geschorenes, neugieriges Gesicht an. So als könne die Villa Vlinder selbst nicht glauben, welche illustren Gäste sich für die nächsten zwölf Tage eingemietet hatten. Das massivhölzerne dunkle Eingangsportal verlieh dem Klinkerbau diesen ewig erstaunten Eindruck.
»Das Haus ist überrascht«, antwortete er.
Yella stimmte der Villa Vlinder insgeheim zu. Sie war immer noch überrascht, dass Helen tatsächlich die altehrwürdige Villa gemietet hatte, die sich für immer in die Annalen der Familie Thalberg eingeschrieben hatte. In diesem Haus hatte sie vor zwei Jahrzehnten die Nachricht vom Unfalltod des Vaters erreicht. Spukte er immer noch hier herum? War ein Teil seiner Seele in Holland zurückgeblieben?
Helen nickte ernst: »Du kannst etwas ganz Besonderes, Leo«, erklärte sie. »Dein Kopf ist auf der Suche nach Mustern. Du selbst, du ganz alleine, machst aus den Punkten und Linien ein Gesicht. Ich kann das auch. Bei mir hatte sich gestern ein schlecht gelaunter Opa im Schaum von meinem Cappuccino versteckt.«
Leo blickte misstrauisch auf das Haus. Ganz geheuer war es ihm immer noch nicht.
»Ich habe neulich ein Gesicht in den Käse gebissen«, erzählte er zögernd.
»Genauso ist das mit Häusern«, sagte Helen. »Paul hat ein ganzes Buch über Hausgesichter. Es gibt sogar ein Wort dafür, wenn Dinge Gesichter bekommen. Ein ganz schwieriges. Pareidolie.«
Ihr Ältester wiederholte andächtig das Wort. Yella staunte, wie mühelos Helen Leos Panik umlenkte. Wissenschaftliche Erklärungen beruhigten ihn offenbar nachhaltiger als gutes Zureden. Das musste sie sich für die Zukunft merken.
»Du musst es dir einmal von der Seite anschauen«, sagte Helen. »Dann verschwindet das Gesicht von alleine.«
Zu ihrer Überraschung stieg Leo freiwillig aus seinem Autositz. Dafür war sein mulmiges Gefühl auf Yella übergesprungen. Argwöhnisch begutachtete sie das unheimliche Backsteingesicht, das jede ihrer Bewegungen verfolgte, als sie das Gepäck aus dem Kofferraum hievte. Yella hoffte, dass die optische Täuschung kein schlechtes Omen war. Jeder interpretierte etwas anderes in die Gemäuer, die aus den Zwanzigerjahren des vorherigen Jahrhunderts stammten: Paul, der das Haus ausfindig gemacht hatte, lobte seine besondere Architektur, der auch im Ausland Anerkennung gezollt wurde. Helen betonte vor allem die Möglichkeit, zu beweisen, dass sie aus den Kinderschuhen herausgewachsen waren, Yella sah nur noch ein respekteinflößendes Gesicht. Wie gebannt klebte ihr Blick an der Fassade. Seit wann waren ihre Nerven so dünn, dass sie sich von ein paar Linien und zwei Punkten aus dem Konzept bringen ließ? Vielleicht hatte Leo seine nervöse Fantasie nicht von David, sondern von ihr geerbt.
»Wir überschreiben alle schlechten Erinnerungen«, hatte Helen angekündigt.
Das gruselige Gesicht aus Stein ließ sie zweifeln, ob diese Form der Konfrontationstherapie tatsächlich heilsam war. Sie hatte im Vorfeld zu wenig darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen würde, an den schicksalsträchtigen Ort zurückzukehren.
»Es ist nur ein Haus«, sagte Helen.
Yella hoffte, dass ihre Schwester sich nicht irrte.