5. Ein später Gast

Kalter Nordseewind huschte hastig durch die Blätter, Yellas Schritte knirschten auf dem Kiesweg. Zögernd näherten sie sich der imposanten Eingangstür, als diese auf einmal aufsprang. Yella und ihre Schwester schrien vor Schreck spitz auf. Im Gegenlicht erkannten sie einen hageren Mann, der ihrem Vater erschreckend ähnlich sah.

»Da seid ihr ja endlich«, rief eine weiche Stimme.

Es dauerte einen Moment, bis Yella realisierte, dass der Geist in der Tür niemand anders war als ihre Schwester Amelie. Sie hatte ihre Haare streng zurückgenommen, trug eine Art Arbeiterhose und den von Johannes Thalberg geerbten alten Pullover. Ohne die mädchenhaften blonden Locken und ihre ultrakurzen Blümchenkleider war die Illusion perfekt. Noch nie war Yella so eindringlich bewusst geworden, wie ähnlich Amelie ihrem Vater sah. Ihre kleine Schwester hatte sich so sehr gewünscht, mehr über Johannes Thalberg zu erfahren. Offenbar hatte sie ihre Taktik geändert und war stattdessen in seine Haut geschlüpft.

»Willkommen in Bergen«, rief Amelie.

Helen war die unfassbare Ähnlichkeit ebenfalls aufgefallen. Auch ihr hatte es den Atem verschlagen.

»Hallo! Ich bin’s!«, sagte Amelie irritiert. »Ihr schaut mich an, als wäre ich ein Geist.«

Helen erlang als Erste die Stimme zurück. Sie umarmte ihre Zwillingsschwester.

»Du siehst anders aus«, sagte sie mit trockener Kehle. »Gut«, schickte sie hinterher.

»Ich habe euch eben den Kühlschrank vollgemacht«, berichtete Amelie. »Fahrräder stehen im Schuppen. Wir sehen uns morgen.«

Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Bleibst du nicht hier?«

Amelie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch immer dabei, mich in meiner Wohngemeinschaft einzugewöhnen. Wenn ich jetzt in eine Villa ziehe, glauben sie mir nie, dass es mir mit einer nachhaltigen Lebensweise ernst ist«, sagte sie fröhlich.

Die betretenen Mienen ihrer Schwestern ließen sie einen Moment innehalten.

»Glaubt mir, ich hätte auch gerne Urlaub. Oder ein Wochenende ohne Termine oder Veranstaltungen. Den ganzen Tag im Bett liegen und Netflix schauen, das wär’s.«

»Wir haben ein freies Zimmer und eine Riesencouch mit Fernseher«, sagte Helen. »Was hält dich ab?«

»Die Angst. Angst, das Leben, wenn ich auf dem Sofa sitzen bleibe, zu verpassen. Während ich in der Jogginghose »Selling Sunset« sehe, passiert auf unserem Gelände irgendetwas Großes, von dem meine Freunde ihren Enkeln noch erzählen.«

Amelie klang kein bisschen unglücklich. Sie hatte diese Neigung, sich mit Haut und Haar in etwas Neues zu stürzen. Schon früher hatte Amelie jeden freundlichen Blick als Heiratsantrag missverstanden. Sie ging immer aufs Ganze. Für einen Abend, für Wochen oder ein paar Monate. Nur um dann mit derselben Energie etwas Neues zu verfolgen. Eine Zeit lang war es der Unverpackt-Ökosupermarkt in Wuppertal gewesen, jetzt hieß ihre neue Liebe Het Cultuurdorp, das Kulturdorf, ein alternatives Wohn- und Arbeitsprojekt. Amelie ignorierte die betretenen Gesichter ihrer Schwestern.

»Wir haben morgen Abend ein Konzert«, sagte sie. »Ihr kommt doch?«

So rasch, wie sie gekommen war, entschwand ihre kleine Schwester mit dem Fahrrad in die Dunkelheit. Noch ein Geist, der sich plötzlich materialisierte und ebenso schnell wieder auflöste.

Yella atmete schwer durch. Die Sommerschwestern hatten sich verabredet, um gemeinsam das Leben zu feiern. Und die schönen Erinnerungen, die sie für immer mit Holland und Bergen verbanden, zu erneuern. Sie würde sich nicht von einer Abfuhr beeindrucken lassen. Und noch weniger von Amelies steinernem Gesicht, das nur in ihrer Vorstellung existierte. Yella beschloss, dem Vorbild ihrer herzerfrischend nüchternen Schwester zu folgen. Die Sinnestäuschung ließ sich wissenschaftlich erklären. Es gab keinen Geist aus früheren Tagen, der in den Gemäuern wartete. Sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um diese altehrwürdigen Mauern mit Leben und neuen Geschichten zu füllen.

Yella hievte ihren schweren Koffer über die Schwelle. Erschöpft schloss sie die Augen und spürte überrascht die Einkerbung in der Treppenstufe, abgelaufen durch die Füße früherer Bewohner. Als Kind hatte sie auf dieser glatten Steinstufe gesessen. Ihr Po hatte perfekt in die Kerbe hineingepasst, als wäre der steinerne Sitzplatz nur für sie erschaffen worden. Ein Lächeln flog unwillkürlich über ihr Gesicht.

Als sie die Haustür hinter sich zuzog, fiel ihr Blick auf das Haus gegenüber. An einem Fenster im oberen Stock zeichnete sich schemenhaft eine Figur im Dunkeln ab. Diesmal war es keine Einbildung. Starr beobachtete die Gestalt ihre Ankunft. Yella hob verhalten ihre Hand zum Gruß und erhielt keine Reaktion. Sie hoffte, dass es kein Fehler war, ausgerechnet in der Villa Vlinder Urlaub zu machen.