Was man in der ersten Nacht träumt, geht in Erfüllung, hatte David geschrieben. Voller Vorfreude hatte Yella den Kindern seinen Spruch vorgelesen. Aber galt das auch für Helen? Was, wenn man überhaupt nicht einschlafen konnte? In Anbetracht der späten Stunde hatten Helen und Yella die ausführliche Erkundungstour durch das Haus auf den morgigen Tag verschoben. Ruhe fand Helen dennoch nicht. Wie üblich drehte sie sich rastlos von einer Seite auf die andere.
Wie gerne würde sie jetzt zu Paul ins Arbeitszimmer tappen, mit ihm ein letztes Glas Rotwein trinken und den Tag gemeinsam durchgehen. Es gab niemand anders auf dieser Welt, mit dem sie wie mit Paul nachts um zwei problemlos eine Diskussion über Weltpolitik beginnen konnte. Oder sie würde Schuhe putzen. Schuhe putzen ging immer. Ähnlich wie sie war Paul kein Fan von Schlaf, vagen Zuständen und Straßendreck in der Wohnung. Aber jetzt gab es keinen Paul, der ihr die Zeit vertrieb. Sie musste die Leere alleine füllen.
Helen hatte bereits ihren Koffer ausgepackt, alle Kleidung ordentlich gefaltet in den Schrank geräumt, ihre Lektüre auf dem Nachttisch drapiert, Toilettenartikel der Größe nach sortiert und die Schuhe farblich geordnet. Was jetzt? Zum Lesen war sie zu müde, zum Schlafen zu wach.
Nach dem Unfall hatte sie schon einmal eine Phase mit chronischer Schlaflosigkeit durchstanden. Damals hatte sie sich in Bücher geflüchtet und halbe Nächte durchgelesen. Heimlich, versteht sich. Tagsüber bemühte sie sich, eine perfekte Tochter für Henriette zu sein. Die Rolle der Dramaqueen war in der Familie bereits besetzt. Vielleicht sogar mehrfach. Helen wollte kein Problem sein, also durfte sie keines haben. Solange auf ihrem Zeugnis nur Einsen standen, stellte niemand schreckliche Frage wie: »Und? Wie geht es dir?«
Als Erwachsene halfen ihr nicht einmal mehr die Bücher. Helen konnte die nächtliche Stille in Bergen, den Urlaubsstillstand und die endlose Nacht, die sich vor ihr ausstreckte, nur schwer ertragen.
Seufzend durchforstete sie den von Amelie liebevoll bestückten Kühlschrank nach einem Hausmittel, das den Schlaf befördern könnte. Mit der heißen Milch, gesüßt mit einem Esslöffel Honig, spülte sie zugleich ihre Enttäuschung hinunter, dass ihre Zwillingsschwester es vorzog, anderswo zu logieren. Nach Jahren der schleichenden Entfremdung würde es nicht leicht sein, die Familie zusammenzuführen. Auch Doro, die zunächst begeistert zugesagt hatte, hielt sich bedeckt, ob und wann sie kommen würde. In der Schwestern-Chatgruppe sammelten sich widersprüchliche Nachrichten, aus denen man nur eines schließen konnte: Auf der Prioritätenliste der vielbeschäftigten Kostümbildnerin rangierte ihre Herkunftsfamilie auf einem der hinteren Plätze. Helen hatte ihren Schwestern mit der Anmietung der Villa ein Angebot unterbreitet. Um die Schwestern tatsächlich an einen Tisch zu bekommen, brauchte es wohl mehr als ein imposantes Dach über dem Kopf und einen sich nähernden Jahrestag.
Ernüchtert knipste Helen die Lampe an und überflog ihre Ideen für den Urlaub: Wie viel Programm schaffte man mit zwei kleinen Kindern? Ohne Yella kam sie hier nicht weiter.
»Kommt doch zu unserer Morgenmeditation«, hatte Amelie sie eingeladen.
Aber selbst dafür war es zu früh. Der kleine Zeiger der Uhr bewegte sich quälend langsam auf die Drei zu. Sie freute sich schon jetzt auf den Tagesanbruch.
Helen wunderte sich über die Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet an diesem Ort nicht zur Ruhe kam. Sie hatte geschlafen, als der Sommersturm über Holland fegte, sie hatte geschlafen, als ihr Vater mitten in der Nacht das Haus verließ, sie hatte geschlafen, als ihre Mutter von ihrer Vorstellung in Amsterdam zurückkehrte, sie hatte geschlafen, als die Nachricht vom Tod des Vaters einging. Es machte sie bis heute rasend, dass sie den entscheidenden Moment ihrer Familiengeschichte verpasst hatte. Ihr Bild von den Geschehnissen der Unfallnacht war mehr als undeutlich und unvollständig.
Ihre Familie war keine große Hilfe, ihre Lücken zu füllen. Seit zwei Jahrzehnten umschiffte die gesamte Familie dieses Thema, als wäre es ein Eisberg, der sie nach einer Kollision alle ins Verderben ziehen würde. Unbeirrt hatte ihre Mutter die Schwestern angehalten, nach vorne zu schauen. »Das Leben muss weitergehen«, lautete ihr immerwährendes Mantra.
Auf diese Weise hatten sie nicht nur die gemeinsamen Sommer in Bergen, sondern vor allem auch den Vater totgeschwiegen. Die auferlegte Stille riss nicht nur den Unfall, sondern auch alle schönen Andenken ins Grab des Vergessens.
Helen öffnete ihr Laptop. Paul hatte vermutlich recht. Seit Monaten versuchte sie, der bitteren Wahrheit auszuweichen. Jahrzehnte hatte sie sich in eine Welt gerettet, in der es um Daten und Fakten und nicht um Gefühle ging. Vielleicht musste sie sich, wenn sie ihre innere Ruhe wiederfinden wollte, endlich trauen, in die Tiefen ihrer eigenen Biografie hinabzusteigen und an dem dunkelsten Kapitel ihrer Kindheit zu rühren. Mit zittrigen Fingern wagte sie es zum ersten Mal in ihrem Leben, das Datum der Sturmnacht in eine Suchmaske einzugeben.
Überrascht stellte sie fest, dass das Unwetter, das ihren Vater das Leben gekostet hatte, über einen eigenen Wikipedia-Eintrag verfügte. Sie sog jedes Wort auf über den Sturm, der passenderweise auf den Namen Ira getauft worden war. Ira, das wusste sie aus dem Lateinunterricht, bedeutete Wut und Zorn. Die Unwetterfront mit dem unheilvoll düsteren Namen war am Mittwoch, dem 01.08.2001, über die Niederlande gezogen. Die verlinkten Texte vom KNMI , dem Koninklijk Nederlands Meteorologisch Instituut, halfen ihr zu verstehen, wie sich Ira innerhalb weniger Stunden entwickelt hatte. Helen hatte von Meteorologie wenig Ahnung. Sie überflog flüchtig die Erläuterungen zum Entstehen der Depression in der Bretagne, von wo der Wind sich auf den Weg Richtung Nordosten zur holländischen Küste aufgemacht hatte. In Iijmuiden, zwanzig Kilometer Luftlinie von der Villa Vlinder entfernt, waren Windstöße von bis zu 102 Stundenkilometern gemessen worden. Über eine Stunde hinweg waren Böen mit Windstärke 9 über das Land gefegt. Die Dünen hatten der Naturgewalt kaum standhalten können, Menschen noch viel weniger. Schon ab Windstärke 5 und 6 war es schwierig, sich dem Wind entgegenzustemmen. Hatte man den Sturm im Rücken, wurde es noch gefährlicher.
Ihr Vater war nicht Iras einziges Opfer gewesen. Die Niederlande beklagten, so las sie, vier weitere Tote. In Amsterdam wurde der Tramverkehr gestoppt, der Zugverkehr in Nord- und Südholland stillgelegt, die Autobahnen A4, A9, A12 und A44 waren wegen umgefallener Bäume und Starkregen, der die Sicht behinderte, gesperrt. Ein Flugzeug der niederländischen Linie KLM hatte gegen 22.45 Uhr auf dem Flughafen Schiphol eine spektakuläre Notlandung hingelegt. Ungefähr zur selben Zeit war ihr Vater auf der Landstraße Richtung Bergen aan Zee verunglückt. Ira hatte den VW -Bus mit voller Härte getroffen und von der Straße gedrängt. Der Sturm zog, nachdem er ihr Leben verwüstet hatte, weiter Richtung Schweden.
Sommerstürme, so lernte sie, hatten eine geringere Verweildauer als ihre Genossen aus dem Herbst und Winter, konnten jedoch dieselbe zerstörerische Kraft entwickeln. Die Vorwarnzeit fiel kürzer aus, was vor allem Freizeitsportler auf dem Wasser und Autofahrer urplötzlich in lebensbedrohliche Situationen bringen konnte. Im butterbrotflachen Nordholland gab es keine Erhebungen, die den Wind abbremsen konnten. Zudem waren Bäume in vollem Ornat sehr viel weniger dazu in der Lage, Böen und sintflutartigen Niederschlägen zu trotzen.
Ihre Augen blieben wie paralysiert an einem Textteil hängen: »Starkregen, der die Sicht behinderte«. Die Familienlegende behauptete, dass ihr Vater das Haus verlassen hatte, um am Strand einen Blick auf den Sturm und das aufgepeitschte Meer werfen zu können.
»Papa wollte sich das Naturspektakel nicht entgehen lassen«, lautete der Standardsatz.
Als Kind hatte sie diese Erklärung hingenommen, schließlich war die Liebe ihres Vaters zu den Naturschönheiten Nordhollands hinlänglich bekannt. Helen war wie elektrisiert. Starkregen? Warum in aller Welt hatte er bei diesen schlechten Sichtverhältnissen die Villa Vlinder verlassen?
Helen machte die Probe aufs Exempel und rief eine Website auf, die Auskünfte über historische Mondphasen erteilte. Der 01.08.2001 war eine stockdunkle Nacht gewesen. Was auch immer der Vater hatte sehen wollen: Der Strand und die Wellen waren es wohl kaum gewesen.