7. Wie im Märchen

Yella und die Kinder schliefen noch, als Helen nach vier kurzen Stunden Schlaf ihren ersten Streifzug durch den Garten unternahm. Innere Unruhe und Müdigkeit kämpften in ihr um die Oberhand. Seeluft macht müde, sagte man. Leider verspürte Helen noch keine durchschlagende Wirkung.

Für Juli war es überraschend kühl. Gehüllt in morgendlichen Nebel, schien der Garten geradezu verwunschen. Helen fotografierte die Spinnweben am Klettergerüst, das bereits auf Leo und Nick wartete, die einsame rote Plastikschaufel im Sandkasten, Tautropfen auf zarten Blumenblättern. Die Villa Vlinder lag am Rand vom Zentrum, aber dennoch mitten im Grünen, ja fast schon im Wald.

Misstrauisch beäugte sie das Haus gegenüber, das erst im Licht des Morgens seinen erbarmungswürdigen Zustand offenbarte. Schon damals hatte das verfallene Holzhaus ihre Fantasie entzündet. In den letzten zwanzig Jahren hatte sich offenbar niemand um den Erhalt des Anwesens gekümmert.

»Da wohnt eine Hexe«, hatte Doro ihnen als Kind eingebläut.

Sie lachte über die Erinnerung. Vor allem Amelie war sich beim Anblick des verfallenen Gemäuers nie ganz sicher gewesen, ob hinter dem dichten Bewuchs Hänsel und Gretel gefangen waren, und machte jedes Mal einen großen Bogen um das Grundstück. Mittlerweile glich das Haus eher einem Dornröschen-Schloss, so sehr hatten Brombeerhecken den Eingangsbereich zugewuchert. Die Silhouette am Fenster im oberen Stock bewies jedoch, dass das Objekt nicht von Feen, Hexen oder Prinzessinnen aus dem Universum der Gebrüder Grimm bewohnt wurde, sondern von einem älteren Mann, der sie, halb verborgen hinter einer Gardine, verstohlen beobachtete.

Helen verzog sich in den hinteren Teil des Gartens. Sie inspizierte gerade die gemütliche Laube, als sie das Eisentor hörte. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Schritte knirschten über den Muschelpfad. Jemand kam näher. Der Mann von gegenüber? Besuch? Um diese Uhrzeit? Vielleicht Doro? Vorsichtig lugte sie um die Ecke.

Das Tor, das sie gestern hinter sich geschlossen hatte, bewegte sich leise quietschend im sachten Wind. Davor parkte ein riesiges Transportfahrrad. Aus der Kiste heraus knurrte sie ein kleiner, räudiger Hund wütend an.

»Keine Angst«, sagte eine Stimme. »Das ist nicht persönlich gemeint. Er hat Entzugserscheinungen.«

Helen fuhr erschreckt herum und stand vor einer breit grinsenden Philomena. Wo in aller Welt kam die her?

»Wir haben ihn aus einem Raucherhaushalt gerettet. Er hat Atemprobleme und regt sich über alles auf.«

Philomena kam auf Helen zu und umarmte sie herzlich.

»Ich wollte euch gestern schon begrüßen, aber wir hatten eine Veranstaltung. So schön, dass ihr da seid. Wir werden jede Menge Spaß haben.«

Helen starrte die anarchistische kleine Taxifahrerin, die einen geheimen Comedyclub führte und vermutlich der eigentliche Grund war, warum Amelie nach Bergen umgezogen war, fassungslos an. Was machte sie am frühen Morgen hier?

»Ich muss mit dem Hund raus. Morgens geht es am besten, da hat er nicht so viel Grund, sich zu erschrecken. Deshalb habe ich gedacht, ich komme gleich mit dem Material vorbei.«

»Material?«, antwortete Helen.

Die Frau redete in Zungen.

»Ich habe tonnenweise saure Gurken für euch gegessen. Und Marmelade. Ich wiege drei Kilo mehr. Nur wegen dir.«

Helen sah Philomena an wie eine Erscheinung. Das Energiebündel überforderte sie immer wieder.

»Du wolltest doch beim Lichterabend mitmachen«, erklärte Philomena. »Ich habe leere Gläser für euch gesammelt. Und ein paar Farben organisiert. Ihr müsst euch ranhalten, wenn ihr euren Garten mit ein paar bunten Lichtern schmücken wollt.«

Helen war gerührt über die Geste.

»Danke«, sagte sie überwältigt. »Das ist so nett von dir.«

»Ich habe mir immer gewünscht, ein Zwilling zu sein«, sagte Philomena strahlend. »Bei 8 Milliarden Menschen ist es fast unmöglich, seinen Seelenverwandten zu finden.«

»Amelie und ich sind sehr unterschiedlich«, sagte Helen ehrlich. »Immer schon.«

»Ach was«, sagte Philomena und tätschelte ihr jovial den Arm, als wäre sie in Wirklichkeit ihr großväterlicher Berater. »Ihr wart mal eins. So was prägt.«

»Und wir sind zweieiig«, sagte Helen.

»Umso besser«, sagte Philomena strahlend. »Sonst wäre so ein Seelenverwandter ja sterbenslangweilig.«

Der Hund, zutiefst empört über den langen Aufenthalt in der Kiste, ging dazu über, das Holz zu zernagen.

Philomenas Gesicht verzog sich zu einem Bedauern: »Wir brechen besser auf. Wenn das Dorf aufwacht, muss er zu Hause sein. Sonst bekommt er zur Raucherlunge noch einen Herzinfarkt dazu.«

Philomena wandte sich zum Gehen.

»Das wird schon mit dir und Amelie«, rief sie fröhlich. »Ihr müsst euch einfach kennenlernen.«

Helen winkte ihr zu, bis sie im Morgennebel verschwand. Aus der Ferne hörte sie den kleinen Hund heiser bellen und Philomena singen. Amelies Freundin sah in allem etwas Gutes: in einem anstrengenden Adoptivhund und selbst in komplizierten Familien.

 

Sie drehte sich um und schrak zusammen. Die Villa Vlinder behielt jeden ihrer Schritte im Auge. Dem steinernen Geist entging keine Bewegung. Sie lachte laut auf. Als Großstadtkind war sie ein bisschen Nebel und Zauber einfach nicht gewöhnt. Oder löste dieses Dorf mit seinen eigenartigen Bauwerken, die von kreativen Geistern und individualistischen Exzentrikern erzählten, diese merkwürdigen Gedanken bei ihr aus? In dieser Umgebung gelang es selbst Helen, ein kleines bisschen an Märchen zu glauben.

Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Ein Stück weit musste das auch für die Familie Thalberg möglich sein. Philomena hatte es unverblümt ausgesprochen: Sie hatte ihre Zwillingsschwester verloren. Es ging in diesem Urlaub auch darum, sich gegenseitig neu zu entdecken. »Ihr müsst euch einfach kennenlernen«, hallten ihre Worte in Helen wider.