Helen riss sich von der eigenartigen Szenerie los. Ihr knurrender Magen erinnerte sie an irdische Bedürfnisse. Sie beschloss, dass zu einem Urlaub frische Brötchen und zum ersten Strandtag von Leo und Nick die berühmten holländischen Rosinenbrötchen krentenbollen gehörten.
Helen schwang sich auf das Leihfahrrad, das in der Garage bereitstand. Der Weg zum Bäcker führte durch die nobleren Viertel von Bergen. Hinter schmiedeeisernen Toren und dicken Hecken lagen imposante Millionenhäuser im Tiefschlaf. In Auffahrten warteten Teslas, Porsches, dicke BMW s und Mercedes-Cabrios auf ihre Besitzer. In jeder dieser Straßen hing ein Stück Familiengeschichte. Ihre Mutter hatte immer eine Schwäche für das mondäne Bergen gehabt. Monatelang hatte sie ihren Vater bearbeitet, bevor er sich dazu durchrang, die Villa Vlinder anzumieten. Henriette Thalberg hatte den Luxus auf Zeit genossen. Endlich hatte sie mit den reichen Amsterdamer Familien, die, für sie unverständlich, den Campingplatz bevorzugten, konkurrieren können. Einen Sommer lang hatte Henriette Thalberg sich in die Rolle einer reichen High-Society-Frau geträumt. Nur um Jahrzehnte später festzustellen, dass das Geld, dem sie nachgejagt war, sie nicht glücklich gemacht hatte. Jetzt war sie mit ihrem holländischen Ehemann im Camper unterwegs, und alle Freundinnen von einst, die sie damals so dringend beeindrucken wollte, waren längst aus ihrem Leben verschwunden.
Die Bäume beugten sich neugierig über den neu angekommenen Sommergast. Helen atmete die kühle Seeluft und die Einsamkeit der frühen Morgenstunde ein. Das Leben hier begann offenbar später als in der Großstadt. Die Konturen der imponierenden Bäume der Eeuwigelaan, der Allee der Ewigen, verschwammen im Zwielicht des frühen Morgens. Amorphe, feenhafte Nebelgeister tanzten über den Asphalt. Der Dunst ließ Bäume, Autos und Menschen schweben.
Insgeheim verstand sie Leo: In dieser mystischen Atmosphäre war es ein Kinderspiel, an unsichtbare Wesen zu glauben, die um einen herumschwirrten. Sagte man nicht, dass Nebelgeister Unglück ankündigen? Die körperlosen Geschöpfe trachteten danach, Ahnungslose lautlos in den Abgrund zu locken. Schon wieder verselbstständigten sich ihre Gedanken.
In ihrem Rücken näherte sich Motorengeräusch. Sie drehte sich um. Zwei gleißende Augen kamen auf sie zu. Im Licht der Scheinwerfer wuchsen die mächtigen Bäume der Allee aus dem Nebel. Helen hielt sich streng rechts, doch der Wagen überholte nicht. Beinahe wäre sie im Straßengraben gelandet, so oft wandte sie sich um. Helen verminderte ihre Geschwindigkeit, bis sie fast zum Stillstand kam. Endlich zog der Wagen vorbei. Ein schwarzer Geländewagen mit niederländischem Kennzeichen glitt an ihr vorüber. Vergeblich versuchte sie, einen Blick in die erhöhte Fahrzeugkabine zu werfen. Ein Stück weiter bremste der Wagen in einer Parkbucht. Die roten Bremslichter stachen unscharf vor ihr aus dem Nebel heraus.
Helen sog hektisch kalte Luft ein. Warum hielt das Auto? Wollte da jemand etwas von ihr? Von unerklärlicher Panik übermannt, bog sie ab. Erst in eine Nebenstraße, dann noch einmal und wieder, bis sie einen kleinen Radweg erblickte, der sich zwischen zwei Anwesen auftat. Sie lenkte ihr Fahrrad ruckartig in den dunklen grünen Tunnel. Selbst als das Dorf bereits hinter ihr lag, trat sie noch immer energisch in die Pedale. Sie legte sich schwungvoll in die Kurve und kämpfte sich wie eine Gejagte eine kleine Steigung hinauf. Auf einmal öffnete sich ihr Blick. Überwältigt hielt sie inne. Sie hatte gar nicht wahrgenommen, dass sie in die Kennemerdünen abgebogen war.
Der grandiose Ausblick raubte ihr den Atem. Das Adrenalin hatte mit einem Schlag die Müdigkeit aus ihren Gliedern vertrieben. Ein wogendes Meer aus Grautönen erhob sich majestätisch vor ihr: friedlich und geheimnisvoll zugleich. Trotz Nebel konnte man die Weite der Landschaft erahnen. Mühevoll zwängte sich die Sonne durch den dunstigen Morgen. Dort, wo es einzelnen Strahlen gelang, die dicke Wolkendecke zu durchbrechen, leuchtete sattgrün wehendes Dünengras auf dem gold glänzenden, sandigen Boden. Die Schönheit dieser einzigartigen Landschaft trieb ihr Tränen in die Augen. Was war nur los mit ihr? Seit wann war sie so emotional? Seit wann glaubte sie an Geister und mysteriöse Verfolger? Wenn sie nur besser schlafen könnte. Die chronische Schlaflosigkeit verwandelte sie in ein nervöses Nervenbündel, das von blinder Paranoia getrieben wurde. Das Dünengebiet war vertrautes Terrain. Sie hatte Urlaub, und es gab doch gerade wirklich nichts, worüber sie sich Sorgen machen musste.
»Pas op, meisje!«
Ein schriller Schrei gellte durch den Morgen.
Helen sah sich angstvoll um. Was war das? Eine Sekunde später fegte sie ein testosterongesteuerter Männerhaufen auf Rennrädern fast vom Radweg.
»Idioten«, schrie Helen zu Tode erschrocken hinter ihnen her.
Die eilige Truppe, allesamt in identischen Trikots, zischte an ihr vorüber und verschwand hinter der nächsten Düne, die übergangslos in den Himmel verschwamm. Gleichzeitig raste ein Dutzend Radler aus der Gegenrichtung heran. Helen war auf der Fahrradautobahn gelandet. Während über dem Dorf eine mysteriöse Stille hing, war in den Dünen rund um den Ort die Hölle los. Offenbar absolvierten sämtliche Rennradfahrer und Freizeitsportler der Gegend ihr Training, bevor Touristen, gemächliche Familien und Strandgänger ihnen die Radwege des Naturgebietes streitig machten. Zahlreiche Jogger überquerten hastig den Radweg und verschwanden wie huschende Geister schemenhaft zwischen konturlosen Bäumen. Hunde mit ihren zweibeinigen Gefährten tauchten aus dem Zwielicht auf und immer wieder diese dämlichen Radrennfahrer, meist männlich, und viele davon in fortgeschrittenem Alter. Der Nebel schluckte die grellen Farben ihrer Sportanzüge und die Geräusche schweren Atmens.
Helen entfloh dem Trubel. Das geniale Ausschilderungssystem mit Knotenpunkten erleichterte Ortsunkundigen die Orientierung und führte sie mühelos über die sanften Hügel. Nach einer großen Runde durch die atemberaubende Landschaft bog sie wieder ins Dorf ein.