9. Willkommen in Bergen

Helen versuchte, das unheimliche Gefühl abzuschütteln. Fröhlich und mit neuem Mut parkte sie ihr Fahrrad an der Raadhuisstraat. Im Zentrum von Bergen war der Tag längst angebrochen. Rund um die Ruinenkirche wurde der Wochenmarkt aufgebaut. Helen schlängelte sich zwischen halb eingerichteten Ständen hindurch. Überall wurden Gemüse, Nüsse, Fleischwaren, Käse und Textilien in Kartons und Schütten herangeschleppt und ausgelegt. Der Geruch frischen Fischs stieg in ihre Nase. Möwen kreisten kreischend über dem Platz auf der Suche nach einem leckeren Frühstück. Helen fotografierte, wie einer der Vögel frech den Wagen mit den Heringen angriff. Als sie das Telefon senkte, blickte sie in das neugierige Gesicht einer Standfrau, die sie ungeniert musterte.

Unwillkürlich sah sie an sich herunter. Hatte sie Zahnpasta auf ihrem Pullover verkleckert oder zwei verschiedene Schuhe angezogen? War irgendetwas an ihrer Kleidung merkwürdig?

Sie stürmte in die Bäckerei. Zwei Marktfrauen, die in der Kaffee-Ecke ihren Morgenschwatz abhielten, stoppten mitten im Gespräch, als Helen den Verkaufsraum betrat. Kein Zweifel möglich: Sie fiel auf. Offenbar war die Familie Thalberg in der 12000-Seelen-Gemeinde bekannt wie ein bunter Hund. Hatte die Hochzeit ihrer Mutter mit dem geborenen Bergener Thijs dauerhaft Staub aufgewirbelt? Seine Lebensgeschichte mit zwei kaputten Ehen, verlassenen Kindern, finanziellem Bankrott, Schulden, zahlreichen Affären und der überstürzten Hochzeit mit ihrer Mutter sorgte bestimmt für Gesprächsstoff in seinem Dorf. Schließlich hatte er seine einheimische Freundin Fleur für Henriette Thalberg sitzen lassen. Kein Wunder, dass sie so unverhohlen angestarrt wurde.

»Eure Familie war weltberühmt in Bergen«, hatte Fleur berichtet. »Schon vor dem Unfall.«

Die Frau hinter dem Tresen wechselte einen vielsagenden Blick mit den beiden Damen.

Helen sprach nie über die große Familientragödie. Nicht mit ihren Kolleginnen, nicht mit Fremden. Sie brauchte kein Mitleid, jeder hatte sein Päckchen zu tragen. Normalerweise ging sie stillschweigend davon aus, dass ihr persönliches Schicksal niemanden interessierte. Hier in Bergen überfiel sie die unbestimmte Ahnung, dass die Dorfbewohner sie im Auge behielten. Das Gefühl, erkannt zu werden, ohne selbst jemanden zu erkennen, verunsicherte sie. Verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen.

»Welkom terug in Bergen«, begrüßte sie die Frau hinter dem Tresen, als sie dran war. »Willkommen zurück«, wiederholte sie auf Deutsch.

Helen brach der Schweiß aus. War sie der drahtigen Frau mit dem ultrakurzen Haar und dem auffälligen Brillengestell auf der Nase schon mal begegnet? Die Bäckereiangestellte war von Kopf bis Fuß in Tiermuster gekleidet und sah aus, als würde sie ihre Freizeit auf der Sonnenbank verbringen. Gehörte sie zu Thijs’ Freundeskreis? War sie etwa Gast auf der Strandhochzeit gewesen? Waren sie einander schon vorgestellt worden? Der raspelkurze Haarschnitt mit den kecken knallroten Strähnen wäre ihr doch in Erinnerung geblieben? Und der Tigerlook, der sich bis zu den langen Kunstnägeln durchzog, mit denen sie spitzfingerig nach den Backwaren griff, sowieso.

Ihre reservierte Miene passte nicht recht zu ihren überfreundlichen Worten. Helen spürte den Vorbehalt hinter der vermeintlichen Offenheit nur zu genau. Leider war sie unfähig, die angespannte Stimmung mit aufgewecktem Small Talk zu entschärfen. Warum fiel ihr nie ein unverfängliches Gesprächsthema ein, das soziale Situationen erträglicher machte? Sie zog sich mit einem mageren »Hallo« aus der Affäre, wies hastig auf das Gewünschte und flüchtete aus dem Laden. Als sie sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie eine zweite Angestellte aus der Backstube trat. Es war Fleur, die Ex von Thijs.

 

Sie hastete zurück zu ihrem Fahrrad, warf die Einkäufe in den Korb, entriegelte die Wegfahrsperre und versuchte anzutreten. Vergeblich. Das Fahrrad fühlte sich merkwürdig an. Entgeistert entdeckte Helen, dass beide Reifen platt waren. Schlecht aufgepumpt. Auch das noch. Schwer atmend schob sie das Fahrrad im Slalom durch die engen Straßen des Dorfs. Zum Glück fand sie vor dem Fahrradladen, so wie früher, eine Art öffentlicher Pumpe vor. Als sie sich zu den Reifen bückte, bemerkte sie, dass die kompletten Ventile fehlten. Irritiert sah sie sich um. Vielleicht ein Kinderstreich? Oder doch ein Angriff? Der neue Mann ihrer Mutter hatte verbrannte Erde in Bergen hinterlassen. Und eine wütende Ex-Geliebte. War das eine Art Sippenhaft, die die Thalbergs traf? Helen quälte das undeutliche Gefühl, unter besonderer Beobachtung zu stehen.