10. Allein

Yella schrak hoch. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Ihre Nacht war unruhig und traumlos gewesen.

So unbekannt ihr die Villa auf den ersten Blick erschienen war, wann immer sie die Augen schloss und ins Dunkel hineinhorchte, erkannte sie die geheime Melodie des Hauses: das Knarzen im Gebälk, das leise Ächzen des Fußbodens, das Gluckern in den Wasserleitungen, nachdem Helen in aller Herrgottsfrühe Richtung Badezimmer trippelte, das Klappen der Haustür, die knirschenden Fahrradreifen auf dem Muschelpfad. Während der Wind die ganze Nacht um das Haus herumgeschlichen war, als warte er auf eine Gelegenheit, die Bewohner gründlich durchzupusten, blieb es am Morgen seltsam still.

Ohne Davids vertrauten Körper an ihrer Seite fühlte sich das frisch bezogene Bett nur halb so gemütlich an. Alleine in dem großen Doppelbett fühlte sie sich wie halbiert. Dabei dachte sie an David und spürte nur zu deutlich, dass er an einem Scheidepunkt angekommen war. Nach der Hochzeit ihrer Mutter und all den guten Vorsätzen war er sofort wieder in seinen alten Trott verfallen. Mit jeder Woche, die verstrich, ohne dass es ihm gelang, seinen unfertigen Roman entscheidend voranzubringen, wurde er unzufriedener und unleidlicher. Auf seine unerträglichen Launen angesprochen, zeigte er sich jedes Mal zerknirscht.

»Ich will, dass du glücklich bist«, sagte er traurig.

Und mit den Entschuldigungen kehrte zyklisch das trügerische Gefühl wieder: die Hoffnung, dass das Zusammenleben anders und vor allem besser wurde. Yella versuchte, David aufzuheitern, und bekam Rückenschmerzen vom ewigen Verbiegen. Selbst ihre Essgewohnheiten und Schlafenszeiten entwickelten sich mehr und mehr auseinander. Gemeinsame Aktivitäten wurden immer seltener.

»Es muss endlich Schluss sein mit dem Roman«, sagte sie, als David wieder einmal todtraurig einen Geburtstag mit Freunden absagte, weil er zu tun hatte.

»Familie und Kunst passen nicht zusammen«, urteilte ihre Schwiegermutter. »Kein Wunder, wenn er in eurem Chaos nicht vorankommt.«

Yella nahm es persönlich. Sie hatte immer das Gefühl, Davids Mutter mache sie für seine Schaffenskrise verantwortlich. Ihre eigene Mutter blies ins selbe Horn, wenn Yella auch nur die leiseste Andeutung wagte, wie schwer sie sich tat, Davids künstlerisches Ringen immer auszuhalten.

»Du hättest eben nicht so früh Kinder bekommen sollen«, erklärte Henriette Thalberg. Als ob sie die im Zuge einer Selbstbefruchtung alleine in die Welt gesetzt hätte. »Mit einem Künstler …«

»Gib mir acht Wochen«, hatte David sich auserbeten. »Acht Wochen, in denen ich nichts anderes tun muss, als zu schreiben.«

Yella hatte zugestimmt. Ein letztes Mal. Vor zwei Wochen war David zu seinem »endgültig, ultimativ allerletzten« Versuch, den Roman zu Ende zu bringen, aufgebrochen. Mit einem Autorenstipendium, das ihm freie Unterkunft und Taschengeld gewährte, hatte er sich zwei Monate Raum und Zeit freigeschaufelt, sein »Opus magnum« zu vollenden. »Jetzt oder nie«, lautete sein Credo. Das »wir« in seinen Sätzen klang geradezu verzweifelt. Während seine Jungs in Holland waren, schrieb er um sein Leben mit Yella. Sie betete inständig, dass Riga den endgültigen Durchbruch und Erfolg für David bedeutete, bevor der Roman ihrer Beziehung den Garaus machte. Um keinen Preis der Welt wollte sie ihren Söhnen das Schicksal zumuten, alleine mit einer Mutter aufzuwachsen. Hoffentlich war er bald wieder bei ihnen, physisch, vor allem aber psychisch. Yella wusste aus eigener Erfahrung, wie sehr Kinder ihren Vater brauchten. Schon deswegen wollte sie an ihrer Beziehung festhalten. Sie war niemand, der bei den ersten Schwierigkeiten davonlief. Trotzdem fiel ihr das Leben als quasi alleinerziehende Mutter nicht leicht. Sie war überglücklich über Helens großzügige Einladung nach Holland gewesen. Die Villa Vlinder überstieg ihr Urlaubsbudget bei Weitem. Sie wollte jede Sekunde genießen. Und endlich einmal ausschlafen.

Zufrieden drehte sie sich noch einmal um. Als sie wieder die Augen schloss, fiel ihr auf, dass ein Geräusch fehlte. In ihrem letzten Bergen-Urlaub hatten sie gemeinsam aus einem alten Stück Stoff eine Sommerschwestern-Flagge gebastelt, die nachts im Wind flatterte. Jetzt schlug das stählerne Hissseil gegen den Pfahl und erinnerte mit jedem Schlag an all das, was sie verloren hatte. Hing in diesen Mauern etwas vom Karma der Sturmnacht? War sie mit dem Schritt durch die Haustür in Wirklichkeit in eine Zeitmaschine getreten, die die dreizehnjährige Yella zu neuem Leben erweckte?

 

Sie gab die Hoffnung, noch einmal einschlafen zu können, auf. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Kinderzimmer, wo Leo das obere Bett in Beschlag genommen hatte. In seinem Arm lag Rudolf, eine Art übergewichtiger Pinguin, der die Form einer verknautschten Kugel hatte und ihren Ältesten überallhin begleitete. Alle Versuche, ihn für einen weniger sperrigen Reisegenossen zu begeistern, waren tränenreich abgeschmettert worden. Leos Kuscheltier hatte sich zu einer echten Plage entwickelt, seit er das Ungetüm neben einem Müllcontainer gefunden hatte. Das ungeliebte Weihnachtsgeschenk, ein fehlerhaftes Modell »Made in china«, war originalverpackt entsorgt worden. Leo zerfloss in Mitleid über das unfassbar hässliche Wesen, das da alleine im Schnee auf die Müllabfuhr wartete.

Leo liebte das Lied vom kleinen Rentier. »Trotzdem war Rudolf traurig, denn nicht einer hat ihn gern«, hieß es in dem Evergreen. Wenn der Weihnachtsmann sich um ein Rentier kümmerte, das aufgrund einer roten Nase ausgegrenzt wurde, war es geradezu Leos Verpflichtung, sich um einen ausgesetzten Pinguin zu kümmern. Gerade weil das Kuscheltier so missraten war.

Leider war der Pinguin nicht halb so sonnig wie das Rentier aus dem berühmten Weihnachtslied. Das Zusammenleben mit »seinem Rudolf« gestaltete sich für Leo ausgesprochen schwierig.

»Rudolf hat Angst alleine«, hatte Leo geschnieft, als sie vorschlug, ihn zu Hause zu lassen. »Er tut sich schwer, neue Freunde zu finden.«

Der Plüschpinguin hatte laut Leo eigentlich vor allem Angst: vor Monstern, harten Fußbällen, dem langen Gang in der Wohnung, dem Meerschweinchen seiner Freundin Penelope, Knöpfen, vor Viren, Blitz und Donner, Krieg und Brokkoli. Seine zarte Pinguinseele war besonders leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Ich mag Rudolf nicht besonders«, hatte Leo sich ihr vor Kurzem anvertraut. »Aber er hat nur mich.«

Aus dem unteren Bett fiel ein Bein heraus. Das Einhornpflaster über dem Knie und eine Schramme im Gesicht dokumentierten deutlich, dass ihr Zweitgeborener der Welt wesentlich forscher begegnete als sein großer Bruder. Nick war tagtäglich auf Konfrontationskurs unterwegs. Mit Hindernissen auf dem Weg, Möbeln, Geschirr, Spielgeräten, Ästen und manchmal auch mit anderen Kindern. Erst letzte Woche musste sie in der Kita antreten, weil Nick sich zum wiederholten Mal geprügelt hatte. Sie strich ihm über seine strubbeligen Haare, die er im Selbstversuch geschnitten hatte, zog sanft die Bettdecke über ihn und drückte ihm einen sachten Kuss auf seine warme Wange. Diese beiden kleinen Wesen zeigten ihr nur zu deutlich, dass sie nicht mehr die dreizehnjährige Yella war.

Es ging um einen Neuanfang. Wenn sie den Jahrestag an diesem schicksalsträchtigen Ort unbeschadet überstand, war der Bann endgültig gebrochen. Dann gab es nichts und niemanden mehr, vor dem sie sich fürchten musste. Sie hoffte, dass keine der Schwestern auf die Idee kam, allzu sehr in die Vergangenheit einzusteigen.