11. Pläne schmieden

»Frühstück«, brüllte Helen aus der Küche.

Im Schlafanzug begab sich Yella auf den Weg nach unten. Die Stufen der alten Stiege knarzten unter ihren nackten Füßen. Es war immer noch dieselbe Treppe, auf der sie in der Sturmnacht gesessen und sich gefürchtet hatte. Die Treppe, von der aus sie gesehen hatte, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Yella riss sich energisch am Riemen. Sie war an die Nordsee gereist, um das Trauma von damals mit neuen Erlebnissen und wundervollen Erinnerungen zu überschreiben. Für ihre Söhne wollte sie das schöne, magische Holland heraufbeschwören, eine ausgelassene Ferienzeit mit ihren Schwestern teilen und ein für alle Mal den Fluch brechen, der über ihrer Familie hing.

Sie hatte gestern noch nicht mal das Haus gründlich in Augenschein genommen, nachdem sie die Jungen ins Bett gebracht hatte. Unten schlug ihr der penetrant chemische Geruch von Zitronenreiniger entgegen und machte ihr schlagartig bewusst, wie sehr sich alles verändert hatte. Dort, wo sich jetzt die Küche befand, war früher ein Vorraum gewesen, in dem Gummistiefel, Regensachen und Strandspielzeug zwischengelagert wurden. Und die Schuhe. Das gebellte »Schuhe ausziehen« hatte sich zum Refrain ihres letzten Familienurlaubs entwickelt. »Ich will keinen Sand im Haus haben«, hatte ihre Mutter verzweifelt geklagt. »Ich habe keine Lust, meine Zeit mit Putzen zu verbringen.«

Ihre Vorstellungen von einem mondänen Urlaub waren tagtäglich mit der Existenz von vier Töchtern kollidiert, die ununterbrochen raus- und reinstürmten.

»Bist du eigentlich immer wach?«, fragte Yella Helen, die voller Energie in der Küche werkelte.

»Ja«, gab Helen unumwunden zu. »Ich hasse es zu schlafen. Vor allem hier …«

Das Gespräch erstarb jäh. Yella brauchte keine Erläuterungen. Natürlich spielte Helen auf die alles entscheidende Nacht an. Die Nacht, in der ihr Vater sie ins Bett brachte und sie am nächsten Morgen in einem anderen Leben erwachten. Yella schüttelte sich. Zum Frühstück Vergangenheitsbewältigung? Schon vor dem ersten Kaffee an den Unfalltod des Vaters erinnert zu werden, stand definitiv nicht auf ihrer To-do-Liste. Sie wollte endlich vergessen. Und neu anfangen.

Yellas Vorhaben, nicht ständig gedanklich in die eigene Geschichte abzudriften, hielt keine sechzig Sekunden an. Zu hart war der Kontrast der Szenerie zu den Bildern in ihrem Kopf. Die verwunschene, verwinkelte und magische Villa Vlinder hatte sich in ein steriles Luxusdomizil verwandelt. Dieses Haus, gestaltet von jemandem, der eindeutig zu viel Geld und zu wenig Persönlichkeit besaß, buhlte darum, möglichst vielen unterschiedlichen Feriengästen zu imponieren.

Yella begutachtete die Veränderungen mit gemischten Gefühlen. Mit den alten Möbeln, Gardinen, Teppichen, Tapeten und Tischläufern war auch die anheimelnde Atmosphäre verschwunden. Die Zimmer der Villa Vlinder wirkten klinisch rein und unpersönlich, als wären sie die allerersten Gäste. Yella schwankte zwischen Erleichterung und Enttäuschung, als sie realisierte, dass nichts in der alten Villa an ihre Anwesenheit vor vielen, vielen Jahren erinnerte. Die Einrichter hatten tief in die Farbpalette neutraler Töne gegriffen: Das Schwarz und Weiß der Inneneinrichtung wurde allenfalls durch einen Tupfer Grau oder einen Hauch Eierschalenfarbe ergänzt. Der Raum glänzte in einem neuen Licht, das früher von der Eiche vor dem Haus geschluckt worden war. Ihre Mutter wäre begeistert über die Renovierung. Jedenfalls die Mutter, die sie bis vor wenigen Monaten zu kennen geglaubt hatte. Sie selbst fühlte sich ein bisschen, als wäre sie in ein Musterzimmer für einen Möbelkatalog geraten.

»In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Immobilie ein paar Mal den Besitzer gewechselt«, sagte Helen, die immer zu ahnen schien, was Yella gerade bewegte.

Paul hatte die Geschichte der Villa genauestens recherchiert und rekonstruiert. Wände und Leitungen waren rausgerissen und neu gezogen worden, Fenster erneuert, das alte Badezimmer modernisiert, die Küche glänzte in jungfräulich weißem Hochglanzlack. Auch der hypermoderne Tisch wirkte nagelneu. Früher stand hier eine endlos lange Tafel, die mit einer Art Perserteppich bedeckt war. Ihre Mutter riss das unhygienische Ungetüm von der Art, die früher gerne auch in dunklen, niederländischen Cafés die Tische zierte, sofort herunter und verbannte es für den Rest des Urlaubs in den Besenschrank.

Yellas Augen glitten suchend über glatte Oberflächen. Selbst die Küche besaß keine Griffmulden. Sie staunte über die offenen Regale. In Yellas Berliner Zuhause waren solche Exemplare ein ewiger Quell von Ärgernis, Unordnung und Staubnestern. Hier beherbergten sie eine einzige Vase.

»Was kostet so was an Miete?«, fragte Yella.

»Ich habe keine Hobbys«, winkte Helen ab. »Nur Familie.«

Yella schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und griff zum Handy. Ihre Mutter hatte ihre Nachricht gelesen, aber wie üblich darauf verzichtet, zu antworten. Dafür hatte David bereits vier Fotos von seinem Blick auf die Dächer von Riga gesendet und ihr einen Guten Morgen gewünscht. Sie war noch nicht in der Lage, mit der Welt zu kommunizieren. Während Yella im Schlafshirt am Tisch saß, wirkte Helen wie aus dem Ei gepellt. Selbst in Freizeitklamotten sah sie aus, als wäre sie auf dem Weg zur Arbeit.

Erst jetzt fiel Yella auf, wie kurzatmig Helen wirkte. Hatte der kurze Fahrradweg zum Bäcker sie so aus der Puste gebracht?

»Gibt’s was Neues im Dorf?«, fragte sie.

Helen schüttelte den Kopf. »Nur das Übliche«, sagte sie.

Wieso klang ihre Schwester so gehetzt? Yella registrierte besorgt die dunklen Ringe unter Helens Augen. Sie fühlte sich ein bisschen schuldig. Sie hätte Helen nicht so lange das Steuer überlassen sollen. Oder war es etwas anderes? Machte ihrer Schwester die Rückkehr nach Bergen mehr zu schaffen, als sie zugeben wollte? Sie verzichtete darauf, nachzufragen. Helen lebte in einer Art faradayschem Käfig, der unter Strom stand. Wie eine Schutzhaut. Man durfte ihr nicht zu nahe treten. Offen ausgetragenen Konflikten wich sie eher aus. Wo Doro platzte und eine Szene veranstaltete und Amelie in Tränen ausbrach, machte sie die Dinge mit sich selbst aus und überdeckte Probleme am liebsten mit Betriebsamkeit: Einkäufe einräumen, Teewasser aufsetzen, Tisch decken, Pläne machen.

»Was machen wir als Erstes?«, fragte Helen aufgesetzt fröhlich.

Am frühen Morgen zeigte sich eindrucksvoll, wie unterschiedlich sie doch waren. Einfach mal fünfe gerade sein lassen und entspannen, das war niemals eine Option für ihre kleine Schwester. Yella war gespannt, wie voll der Tagesplan war, den Helen sicher längst verfasst hatte, darauf würde sie ihre Kinder verwetten.

»Wir legen uns faul an den Strand«, sagte Yella.

Ihr Traum war, sich einfach treiben zu lassen. Ohne die Zwänge, die sonst ihren Alltag prägten.

»Ich will alles ausprobieren, wofür es keine direkte deutsche Übersetzung gibt«, verkündete Helen mit lauter Stimme, als müsse sie sich selbst von etwas überzeugen.

Ihre Schwester hatte generalstabsmäßig die einschlägigen Seiten im Internet durchforstet, um ein Programm für die gemeinsame Urlaubszeit zusammenzustellen. Schon im Vorfeld hatte sie ihr zig E-Mails mit potenziellen Aktivitäten zugesandt, die Yella in der vorsommerlichen Hektik nur flüchtig wahrgenommen hatte. Jetzt rächte sich, dass sie viele der Mails nicht einmal geöffnet hatte.

»Mein Programm ist, kein Programm zu haben«, sagte sie ehrlich. »Zwölf Tage ohne Termine und Verpflichtungen.«

»Wir wollen doch etwas zusammen erleben«, sagte Helen.

»Wenn man die Seele baumeln lässt, erlebt man auch etwas«, beschwerte sich Yella. »Müßiggang als Lebenskonzept wird vollkommen unterbewertet. Selbst das Wort ist aus der Mode gekommen.«

Im oberen Stockwerk knallte eine Tür.

»Mama, was machen wir heute?«, brüllte Nick und stürzte mehr fallend als gehend die knarzende Treppe hinunter. Yella freute sich, dass wenigstens die alte Stiege dem Renovierungswahn entkommen war.

»Ich weiß was«, sagte Helen. »Wir gehen zum korren. «

Leo, der gähnend hinter seinem kleinen Bruder hertrottete, zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt.

»Korren klingt gefährlich«, rief Nick begeistert. »Ich will gefährliche Dinge tun.«

»Ich auch«, sagte Leo, der keinesfalls hinter dem Wagemut des Jüngeren zurückstehen wollte, halbherzig.

»Wir müssen in einer halben Stunde am Strand sein«, sagte Helen.

Yella stöhnte. Korren am Strand? Was um alles in der Welt sollte das schon wieder sein? Wenn sie die E-Mails gelesen hätte, wüsste sie, was auf sie zukam. Sie traute sich nicht, nachzufragen. Helen hatte sich so viel Mühe mit den Vorbereitungen gegeben. Yella verabschiedete sich seufzend von dem Gedanken, den Rest des Tages faul im Sand zu liegen und vielleicht ein Nickerchen einzulegen. Vielleicht musste sie sich einfach überraschen lassen. Alles war gut, solange die Vergangenheit ruhte.