13. Schätze aus dem Meer

Die Nordsee lag dunkel und geheimnisvoll vor ihnen. Helens Augen glitten über den Strand, der an diesem trüben Morgen weitgehend verlassen war. Die Wettergötter empfingen sie mit drohendem Grollen und pusteten kalten Nieselregen in ihre Gesichter. Der Sommer in Holland zeigte sich von seiner frischen Seite. Yella blickte misstrauisch in die düsteren Wolken, die am Horizont im grauen Meer versanken. Die Farben liefen übergangslos ineinander über, als hätte ein Maler bei der Gestaltung des Bildes allzu wässrige Aquarellfarben benutzt.

Ihr Vater hätte sich in dieser einmaligen Stimmung und den dramatischen Wolkenkonstellationen verloren, Yella filmte lieber ihre überglücklichen Söhne, die sich vor Freude fast überschlugen. Jedes Detail wurde ausführlich in Augenschein genommen und wortreich kommentiert: der Sand, die Muscheln, der Wind, die Wellen. Helen registrierte verblüfft, wie sie mit den Kindern an ihrer Seite ihre Umgebung noch einmal mit anderen Augen sah. Für die beiden war alles neu, aufregend, großartig, spannend und überwältigend. Wie gut es tat, die Natur, die sie manchmal als viel zu selbstverständlich hinnahm, als das zu sehen, was sie eigentlich war: ein Wunder, ein einziges großes Wunder.

»Schau mal die Windmühlen im Meer«, rief Nick.

»Da draußen hat Opa gearbeitet. Im Wasser«, erklärte Leo.

»Opa?«, fragte Helen zurück.

Yellas Schwiegervater, der einzige lebende Opa in Leos Leben, hatte sein Arbeitsleben als hoher Regierungsbeamter am Schreibtisch verbracht.

»Thijs«, erklärte Yella.

Helen schluckte.

»Sie waren bei der Hochzeit. Seitdem ist er für sie Opa«, erklärte Yella. »Ich kommentiere das nicht. Solange ich ihn nicht ›Papa‹ nennen muss, ist mir alles recht.«

Ihre Neffen taten sich wesentlich leichter, die neue Situation anzunehmen. Helen rang immer noch damit, dass ihre Mutter sie nie so ganz in ihre Liebesgeschichte mit Thijs eingeweiht hatte.

»Wie ist Opa dahingekommen?«, fragte Leo. »Mit dem Hubschrauber?«

»Wir fragen ihn, wenn wir ihn wiedersehen«, sagte Yella.

Wann das sein sollte, stand in den Sternen. Henriette Thalberg gab sich nach der Hochzeit kaum Mühe, Thijs in die Familie zu integrieren. Die frisch Verheirateten waren sich selbst genug. Thijs und Henriette legten wenig Wert darauf, ihr Glück mit irgendjemandem zu teilen. Vor allem nicht mit den vier Töchtern.

Das Unbehagen, das sie seit der Einladung ihrer Mutter im letzten Frühjahr spürte, ließ sich nicht abschütteln. Helen tat sich schwer, mit so vielen ungeklärten Fragen zu leben. Die Details ihrer unkonventionellen Romanze behielt Henriette Thalberg bis heute für sich. Kannte sie Thijs bereits, als sie noch mit ihrem Vater verheiratet war? Warum machte sie eine Staatsaffäre aus ihrer neuen Beziehung? Was für Geheimnisse verbargen sich noch in ihrer Familiengeschichte?

»Müssen wir da hin?«, unterbrach Yella ihre Grübelei und wies auf eine kleine Menschenansammlung.

Rund zwei Dutzend Menschen in knallbunter Funktionskleidung scharten sich um einen jungen Mann, der sich als Pieter vorstellte. Seine Kleidung wies ihn als ehrenamtlichen Mitarbeiter des IVN aus, des Instituut voor natuureducatie en duurzaamheid. Das Institut für Naturerziehung und Nachhaltigkeit hatte sich zur Aufgabe gemacht, Menschen die Natur näherzubringen. Yella lachte laut auf.

»Ich hätte mir denken können, dass es was mit Weiterbildung zu tun hat«, sagte sie.

»Wir lernen, was in der Nordsee lebt«, erklärte Helen.

»Siehst du«, flüsterte Leo Plüschpinguin Rudolf zu. »Du hast dir ganz umsonst Sorgen gemacht. Korren ist ganz harmlos.«

Erleichtert drängelten sie sich nach vorne, um mit anderen Kindern den Leiterwagen mit den notwendigen Utensilien Richtung Brandung zu ziehen. Unter den Regenjacken in sämtlichen Farben des Regenbogens blitzten überall nackte Beine und Füße hervor.

Helen fiel es schwer, dem Vortrag zu folgen. Ständig glitt ihr Blick zu den Terrassen am Strand ab, die sich trotz des grauen Tages langsam füllten. Nordseeurlauber gehörten zu der unerschrockenen Sorte Mensch.

Irritiert hielt sie inne. Ein Mann, der gerade noch eine monströse Kameralinse in Richtung der farbenfrohen Gruppe gehalten hatte, schien zusammenzuzucken, als er ihren Blick erhaschte. Er drehte sich demonstrativ in die andere Richtung. Ein Ellenbogen in ihrer Seite brachte ihre Gedanken zum Stillstand.

»Helen, du musst mithelfen«, rief Yella ihr zu und riss sie am Arm mit sich mit.

Widerstrebend löste sie den Blick von dem vermeintlichen Beobachter. Vermutlich war das nur ein harmloser Naturliebhaber auf der Jagd nach der ultimativen Strandaufnahme oder einer besonderen Wolkenkonstellation. Nichts, worüber sie sich Sorgen machen musste.

Helen hatte sich so auf die Nordsee gefreut, jetzt hatte sie die allergrößte Mühe, mit dem Kopf im Hier und Jetzt anzukommen. Dabei stand ihr Unternehmen unter einem guten Stern. Die Tide war günstig.

Watt existierte nicht in Bergen. Ebbe bedeutete schlicht, dass sich das Wasser zweimal am Tag ein paar Meter zurückzog, um dann wieder mit aller Macht Richtung Strand zu drängen. Die Sandfläche vor den Dünen war immer unterschiedlich breit.

»Ebbe ist ideal fürs korren «, erklärte Pieter stolz, als hätte er den Gezeitenwechsel höchstpersönlich und nur für seine Gruppe bestellt. »Bei Flut schlittern wir über Abschnitte, wo vor ein paar Stunden noch Leute auf ihren Handtüchern lagen, und finden vor allem Kronkorken, Bierdosen und die verlorenen Schlüssel vom Vortag.«

Im Gegensatz zu Leo und Nick, die trotz kühler Außentemperaturen in UV -Shirt und Badehose im untiefen Wasser herumtobten, um schon mal ein paar Muscheln im Spülsaum zu sammeln, trug er eine unförmige Anglerhose mit fest ansitzenden Regenstiefeln. Pieter legte nicht den geringsten Wert darauf, nass zu werden. Beherzt lief er ins Meer hinein, um zwanzig Meter vom Strand entfernt mitten in der Brandung ein trichterförmiges Netz zu platzieren, das mit einer Konstruktion aus Holzschlegel und Brett offen gehalten wurde.

»Wie eine Süßigkeitentüte«, sagte Nick.

Helen mischte sich unter die Kinder und Erwachsenen, die sich an einem dicken Tau verteilten, das über fünfzig Meter lang war.

»Und jetzt los!«, schrie Pieter aus dem Wasser.

Die Wellen verschluckten seine Worte. Die Teilnehmer wussten das Zeichen auch so zu deuten. Auf sein Signal hin setzte sich die gesamte Gruppe in Bewegung. Aufgereiht wie Perlen an einer Schnur schleiften sie das Schleppnetz über den Meeresboden. Früher fingen die Küstenbewohner auf diese Weise Garnelen, heute wurde korren als lehrreicher Freizeitspaß angeboten.

»Die Nordsee gibt seine Schätze nicht freiwillig preis«, hatte Pieter im Vorfeld gewarnt. »Man muss sich schon ein bisschen anstrengen.«

Hatte es Helen beim Aussteigen aus dem Auto noch gefröstelt, war sie jetzt dankbar über die kühlen Temperaturen. Korren stellte sich als schweißtreibende Angelegenheit heraus. Es brauchte viele Hände, um das schwere Ungetüm ein paar Hundert Meter durchs untiefe Wasser und die Brandung zu ziehen. Stöhnend, ächzend, stolpernd und kichernd entrangen sie dem Meer seine Schätze. Mit jedem Schritt wuchs der Berg Sand, der sich im Netz verfing, bevor er ein paar Meter weiter ausgeschwemmt wurde und sich alles, was sich in der Nähe des Grunds versteckt hatte, in den Maschen verfing.

Pieter gab das zweite Zeichen.

Die Gruppe wendete um neunzig Grad Richtung Dünen. Die Urlauber mussten all ihre Kraft aufwenden, um Netz und Fang hinter sich auf den Strand zu schleppen.

Yella machte jede Menge Fotos für David.

»Für später«, sagte sie. »Ich will ihn nicht traurig machen.«

»Jetzt kann es losgehen«, rief Pieter.

Leo griff ihre Hand, bevor er sich auch nur traute, an das Netz zu treten.

»Rudolf hat mir gestern Nacht etwas von Seeungeheuern erzählt«, sagte er. »Glaubst du, er sagt die Wahrheit?«

Helen war gerührt davon, wie unvoreingenommen Leo ihre Nähe suchte. Yellas Söhne hatten keine Ahnung, dass sie den Nachwuchs von Freunden und Kollegen sonst vor allem als anstrengend wahrnahm. Ihre grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber Kindern beruhten durchaus auf Gegenseitigkeit. Selbst beim traditionellen Elterntag in der Firma wagten die meisten Kollegen sich nicht mit ihren Sprösslingen in ihr Labor. Sehr zum Leidwesen von Shivani, die bereits große Pläne fürs nächste Jahr schmiedete, um daran etwas zu ändern. Jetzt war Helen geradezu überwältigt davon, wie viel Spaß es machte, die Welt zusammen mit ihren Neffen zu entdecken.

»Beeilt euch«, rief Pieter. »Unsere Nordseebewohner hassen es, am Strand herumzuliegen.«

Nick und Leo halfen, den Fang schnellstmöglich in diverse Wannen mit Meerwasser umzufüllen. Danach wurden die Schätze mit Pieters professioneller Hilfe begutachtet, identifiziert und untersucht.

»Die sind ja mini«, sagte Nick enttäuscht. Die winzigen Fische, die in der weißen Wanne herumflitzten, beeindruckten ihn kein bisschen.

»Die Großen schwimmen weiter draußen im Meer«, erklärte Pieter.

Nick verzog das Gesicht. Das waren die sogenannten Schätze? Er hatte mindestens auf die von Rudolf angekündigten Seeungeheuer gehofft. Oder Kostbarkeiten, die von einem Piratenschiff gefallen waren. Statt Juwelen demonstrierten Plastikreste, Deckel, Tüten und Snackverpackungen eindringlich, dass noch immer viel zu viel Müll im Meer landete. Nick fand den Block Styropor das Allertollste. Das Dämmmaterial hieß nämlich auf Niederländisch »Piepschaum«, piepschuim. Der kleine Junge wollte sich schier ausschütten vor Lachen über das Wort, während Krabben, Seesterne, Plattfische und Algen ihm nur ein müdes Lächeln entlockten. Leo dagegen faszinierte es sichtlich, die lebenden Tiere aus der Nähe betrachten zu können. Ehrfurchtsvoll berührte er einen Fisch. Echtes Leben kam erst wieder in Nick, als Pieter sich ein Stück Qualle auf die Zunge legte. Helen konnte gerade noch verhindern, dass Nick ebenfalls herzhaft in das glitschige Wabbeltier biss.

»Nicht nachmachen«, sagte sie.

Nie im Leben würde sie irgendeine unbekannte Substanz probieren, ohne sie genauestens untersucht zu haben. Da schlug bei ihr die Chemikerin durch, die überall Gefahrstoffe witterte und ständig Hände wusch. Nick sah sie traurig an.

»Das ist Futter für andere Tiere«, erklärte Leo ein bisschen altklug. »Die Möwen haben Hunger.«

Helen zuckte zusammen, als ihr Blick einem dieser großen Vögel folgte und bei den Terrassen landete. Zwischen den Tischen, diesmal schon ein Stück näher, blitzte das Teleobjektiv auf.