Helen lauschte Pieters Vortrag nur noch mit halbem Ohr. Statt die große Seenadel zu bewundern, ein schlanker, fast schon wurmförmiger Fisch, und Herzigel, Heringe, Krebse und Garnelen näher kennenzulernen, blieb ihr Blick hängen an dem hochgewachsenen Mann, der die Gruppe nun wieder im Visier seiner enormen Kameralinse hielt. Wie ein Scharfschütze. Seine Nordsee-typische, wetterfeste Montur lieferte keinen Hinweis auf seine Identität. In ihrer Gruppe gab es mindestens zwei Männer, die ähnlich gekleidet waren. Dunkle Softshelljacke, T-Shirt, Jeans. Alleine der tief ins Gesicht gezogene, elegante Strohhut unterschied ihn von den anderen Touristen. Sein leicht rötlicher Bart machte ihn vermutlich älter, als er war. Oder verlieh ihm der Hut dieses altmodische Antlitz? Er wirkte ein bisschen, als wäre er einer Strandaufnahme aus den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entsprungen. Der Mann verschwand hinter einem der Boote und tauchte wenig später ein Stück weiter beim Paradise Club auf. Eines blieb immer gleich: Das Objektiv zeigte in ihre Richtung.
Das Gefühl, hier in Bergen unter besonderer Beobachtung zu stehen, überwältigte sie. Vielleicht ein Vater, der seine Familie fotografierte, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Aber zu welchen Kursteilnehmern sollte er gehören? Keiner posierte oder winkte, niemand schenkte dem Mann besondere Aufmerksamkeit.
Helen verzichtete darauf, Yella mit ihren Beobachtungen zu behelligen. Vermutlich war das alles ganz harmlos. Bereits nach 72 Stunden Schlafentzug, so hatte sie in vielen Publikationen gelesen, beginnen Menschen, Depressionen, Angstzustände und Paranoia zu entwickeln. Manche Forscher stellten die Überlegung an, dass ein Zuviel des Nukleosids Adenosin dafür verantwortlich war, andere behaupteten, dass solche Komplikationen vor allem bei Menschen auftraten, die ohnehin einen Hang zu Psychosen aufwiesen. Je länger ihre Schlaflosigkeit dauerte, umso mehr hatte sie das Gefühl, dass die Helen, die sie zu kennen glaubte, sich auflöste wie eine Brausetablette in Wasser. In ihrem Unterbauch rumorte es. Sie hatte ihre Tage immer noch nicht bekommen. Die entscheidende Frage aber war, ob mit ihrem Kopf alles in Ordnung war.
Helen beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
»Ich muss mal wohin«, verkündete sie. Das war zweideutig genug, um nicht gelogen zu sein. Sie scheute davor zurück, Yella ihre absurden Ängste anzuvertrauen. Was, wenn sie sich das alles nur einbildete? Was, wenn der Schlafmangel sie überempfindlich machte? Was, wenn sie Zusammenhänge konstruierte, wo keine waren? Was, wenn Yella sie auslachte?
Gleichzeitig war sie zu sehr Wissenschaftlerin, um sich mit vagen Vermutungen zufriedenzugeben. Auch im Labor hasste sie es, halb gare Ergebnisse zu präsentieren. Ihr Leben drehte sich um Fakten. Helen war gewöhnt, umfangreiche Testreihen anzustellen, bevor sie pharmazeutische Erkenntnisse in die Welt hinausposaunte. Research war alles.
Eilig entfernte sie sich von der Gruppe. Als der Mann bemerkte, dass sie sich in seine Richtung bewegte, verschwand er hinter dem Windschutz des Paradise Club. Die Feuchtigkeit der Nacht und der ständige Ansturm salzhaltiger Luft hatten die Fensterscheiben so milchig werden lassen, dass er sich in eine konturlose Silhouette verwandelte.
Helen beschleunigte ihr Tempo. Ihre Füße versanken tief im Sand und machten ein rasches Fortkommen schwierig. Sie beschloss, sich dem Paradise von der Seite zu nähern. Schon damals war das Restaurant am Nordstrand, das dem Bootsclub angegliedert war, wo man sich für Katamarantouren, Ausflüge zum Fischen oder Surfunterricht einschreiben konnte, der Treffpunkt der Jüngeren gewesen. Als Teenager wählten Doro und Yella den Platz für ihr Handtuch am Strand grundsätzlich so, dass sie das Geschehen immer im Auge behalten konnten.
Vorsichtig betrat Helen die Treppe zur Terrasse. Das Restaurant schwebte auf Stelzen ein Stück weit über dem Strand, wo es Wind und Sturm trotzte. Eine Hollywoodschaukel bewegte sich sachte. Die Loungestühle, die einen in die Horizontale zwangen, lagen noch verlassen. Während nebenan bereits Kaffee, Apfelkuchen, Heineken und bitterballen serviert wurden, öffnete der hippere, auf ein jugendlicheres Publikum zugeschnittene Paradise Club seine Pforten erst am späten Nachmittag. Auf einer Tafel wurden ausgefallene Cocktails und vegane Speisen angepriesen.
Helens Herz schlug bis zum Hals, als sie den einzigen Besucher des Clubs ins Visier bekam. Das Gebälk seufzte unter dem Tritt ihrer Füße. Das Rauschen des Meeres und der Wind schluckten alle Geräusche, als sie sich zwischen den Bänken näher an ihn heranpirschte. Sie konnte seine Erscheinung leider nur von hinten in Augenschein nehmen. Ihr vermeintlicher Verfolger wirkte jünger als erwartet, schlank und ganz und gar auf die Kamera in seinen Händen konzentriert. An der Bewegung seiner Finger konnte sie ablesen, dass er ranzoomte, um Details seiner Aufnahmen näher in Augenschein zu nehmen. Was genau hatte er fotografiert?
Sollte sie ihn ansprechen? Es zählte schon unter normalen Umständen nicht zu ihren besonderen Fähigkeiten, auf Menschen zuzugehen. Vor ein paar Tagen hatte sie noch in einem Konferenzraum vor 400 Kollegen gestanden und Ergebnisse ihrer neuesten Forschungen präsentiert. Es bereitete ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten, öffentlich vor einem Expertengremium über ihre Arbeit zu sprechen. Der spätere Empfang mit dem lockeren Small Talk hingegen hatte sie restlos überfordert. Während Shivani wie ein Schmetterling von einer Gruppe zur nächsten geflattert war, hatte sie sich frühzeitig ins Hotel verabschiedet.
Ihr Blick fiel zu ihrer Korren -Gruppe, die in Auflösung begriffen war.
»Helen«, schrie Nick. »Wo bist du?«
Der Mann, aufgeschreckt durch das Kind, blickte sich um. Helen konnte sich gerade noch wegducken. Hatte er sie gesehen?
Unvermutet kam Bewegung in ihn. Blitzschnell flog er die Treppen hinunter und verschwand eilig. Helen zückte ihr Handy, um ein Bild von ihm zu machen. In ihrer Hektik übersah sie eine kleine Stufe, die unter nächtlich herangewehtem Sand verborgen war. Mit einem Knall ging sie zu Boden. Vor ihr baute sich Nick auf und begutachtete sie mit einem Blick, der eher zu einem Tierfilmer passte, der eine aussterbende Spezies studierte.
»Soll ich pusten?«, fragte er mit der ganzen Ernsthaftigkeit eines Fünfjährigen.
Die liebevolle Zuwendung tröstete sie genauso wie das Wissen, dass sie den Unbekannten mit der Kamera erwischt hatte. Jetzt musste sie nur noch rausfinden, wer sie da im Visier hatte.