Das Adrenalin pumpte noch stundenlang durch Helens Körper. Nach dem korren brauchte sie eine kleine Ewigkeit, um sich halbwegs zu beruhigen. Sie konnte kaum erwarten, mit Amelie zu sprechen. Ob sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatte? Und was war mit Philomena? Wenn jemand den Mann identifizieren konnte, dann wohl am ehesten jemand, der in diesem Dorf aufgewachsen war. Aber wie konnte sie dezent nachfragen, ohne sich komplett lächerlich zu machen? Was, wenn ihre Schwestern sie für wahnsinnig hielten? Was, wenn sie wirklich auf dem besten Weg war, ihren Verstand zu verlieren?
Helen musste sich einen Strandtag lang, der nach den Aufregungen des Morgens überraschend ereignisarm verlief, gedulden. Amelie und Philomena hatten sie für den Abend eingeladen.
Das Tempo, mit dem ihre Zwillingsschwester Ortswechsel und Beziehungen durchlebte, war atemberaubend. Der Enthusiasmus, mit dem sie sich immer wieder mit Haut und Haar auf neue Situationen einließ, noch viel mehr. Ihre Schwester überschlug sich beinahe vor Freude, ihre Familie durch alle Winkel ihres neuen Lebens zu führen. Sie erwartete Yella, Helen und die beiden Jungen bereits an der Zugangsstraße zum Cultuurdorp.
Das Kulturdorf, Amelies aktueller Wohnort, lag malerisch am Rand von Bergen auf einem ehemaligen Militärterrain. Jahrzehntelang hatte das Gelände zwischen Dünen und Eichenwäldern in tiefem Schlaf gelegen, bevor die bunte Schar um Philomena es für sich entdeckte. Rund um ein großes freies Feld standen lose Zelte, Bauwägen und die für Holland typischen zweirädrigen Wohnwagen, die nicht für Touren, sondern als stacaravans für einen festen Standort gedacht waren.
»Ihr werdet sehen. Bei uns dreht sich alles um Nachhaltigkeit und Miteinander«, sagte Amelie. »Wir wollen dieses besondere Gebiet langfristig für alle Einwohner Bergens erhalten und nicht nur für diese geldgierigen Bauunternehmer, die Einfamilienhäuser für Besserverdienende draufsetzen. Hier tauchen jede Woche Architekten in ihren viel zu teuren Anzügen auf, die es kaum erwarten können, das alles in Asphalt zu verwandeln.«
Mit Blick auf Helen unterbrach sie sich, als realisiere sie plötzlich, dass Helen mit einem Vertreter dieser Zunft zusammenlebte.
»Ich bin auf den Campingplatz unserer Kindheit zurückgekehrt«, sagte Amelie trotzig. »Diesmal als Lebensmodell.«
Bereits im dritten Jahr bespielte die Aktionsgruppe die große Wiese mit allerlei kulturellen Aktivitäten. Ergänzt wurden die zeitlichen Unterkünfte mit Gemüsebeeten, einem Bunker-Café und einer Bühne. Besucher konnten hier Bauch und Kopf gleichermaßen nähren und wärmen.
»Unser Kulturdorf ist Podium, Zeltlager, Baustelle, Garten und Versuchsanordnung in einem«, erklärte Amelie. »Wir hoffen so sehr, dass es angenommen wird und wir hierbleiben können.«
Helen versuchte aufrichtig, Amelies Begeisterung für dieses improvisierte Leben nachzuempfinden. Sie staunte, mit welcher Leichtigkeit Amelie das »Wir« aussprach. Sie selbst liebte Menschen vor allem in geringen Dosen. Amelie hingegen genoss das Bad in der Menge. Auf dem Weg zur Bar plauschte sie mal hier, mal dort mit Bewohnern und Gästen.
»Hi, Dima«, rief Amelie. »Das hier ist meine Familie.«
Der junge Mann, der gerade Stühle für das Konzert heranschleppte, begrüßte sie begeistert. »Magst du ein paar Lieder mitsingen?«, fragte er.
Amelie reckte den Finger in die Höhe. »Immer«, rief sie.
»Dima ist mit seiner Freundin im letzten Frühjahr aus der Ukraine gekommen«, erzählte sie. »Heute Abend sind die beiden für das Programm verantwortlich.«
Helen hörte nur noch halb hin, denn im Hintergrund hatte sie Philomena entdeckt.
Das kleine Energiewunder stimmte auf der Bühne voller Inbrunst ein schräges Lied an, um das Mikrofon zu testen. Der kleine Hund, den Helen bereits am Morgen kennengelernt hatte, jaulte zur Freude von Nick und Leo herzzerreißend dazu.
»Ist das Ukrainisch?«, fragte Yella.
»Ich vermute Kauderwelsch«, sagte Amelie. »Wir leben hier mit einer bunten Truppe: Manche kommen aus Bergen, ein paar aus anderen Teilen der Niederlande. Aber wir haben auch zwei Männer aus Syrien, die Ukrainer, eine Kanadierin, einen Italiener. Künstler, Handwerker, eine Lehrerin, einen Bäcker, queer, straight … alles durcheinander. Da muss man sich mit Armen, Beinen und Fantasieworten behelfen.«
Im Freiluft-Café bediente ein Mädchen mit asiatischen Zügen.
»Drie Koffie, twee ranja en vijf keer taart«, bestellte Amelie an der Bar.
»Oat milk or regular?«, lautete die Antwort.
Die Sprachen, die auf dem Gelände gesprochen wurden, waren ebenso divers wie die Bewohner.
»Woher kommt die?«, fragte Yella interessiert, während sie auf die Bestellung warteten.
»Aus Amsterdam«, sagte Amelie.
»Und die spricht Englisch mit dir?«, fragte Helen.
»Ist eine Seuche. Sobald Holländer merken, dass man einen Akzent hat, wechseln sie ins Englische«, sagte Amelie. »Philomena ist da auch keine Hilfe. Wenn ich etwas nicht verstehe, kann sie es nur lauter wiederholen, aber auf keinen Fall langsamer. Das eskaliert sofort. Ihr kennt Philomena: Die kann unglaublich laut werden.«
»Das habe ich gehört«, brüllte Philomena fröhlich aus dem Hintergrund. Strahlend warf sie eine Kusshand in Richtung Amelie.
»Ist das was Ernstes zwischen euch?«, fragte Yella.
Amelie zuckte nur mit den Schultern. So ganz sicher war sie sich wohl auch dieses Mal nicht. Vielleicht waren Philomena und Bergen nur ein Stopp mehr auf Amelies rastloser Reise durch ihr eigenes Leben?
»Es ist nicht so leicht, mit mir zusammen zu sein«, gab Amelie zu.
Sie wies auf die zusammengewürfelte Sitzgruppe aus Sofas und Sitzsäcken, wo sich bereits andere Mitbewohner und erste Gäste versammelt hatten. Helen ahnte, dass es eine schwierige Aufgabe sein würde, ihre Schwester auch nur für einen Moment loszueisen. Wie führte man in einem Kollektiv vertrauliche Gespräche, die nicht für die Ohren Fremder bestimmt waren?
Das Amsterdamer Mädchen trug ihre Bestellung heran. Leo und Nick stürzten ihre Limonade runter, die hier ranja hieß, und, stürmten mit anderen Kindern los. Helen kannte das von früher. Auf dem Campingplatz brauchten sie keine Anlaufzeit. Ein Ball reichte vollkommen aus, jenseits von Sprache und unterschiedlicher Herkunft Gemeinsamkeiten zu entdecken. Wann hatte sie verlernt, so unkompliziert und unvoreingenommen auf Menschen zuzugehen?
»Käsekuchen«, seufzte Yella überwältigt.
»Das ist das Rezept von Oma«, sagte Amelie stolz.
Johannes Thalbergs Eltern tischten den Kuchen jeden Sonntag auf. Ihre Mutter hasste diese erzwungenen Besuche und eisernen Rituale. Nach dem Tod des Sohnes riss der Kontakt über heftigen Erbstreitigkeiten ab. Die alten Thalbergs taten alles dafür, die ungeliebte Schwiegertochter aus ihrer Firma herauszuhalten. Ihre Unfähigkeit, die verwitwete Henriette als Familienmitglied anzunehmen, kostete sie den Kontakt mit den vier Enkelinnen.
»Für euch habe ich sogar Rosinen reingemacht«, sagte Amelie. »Ich backe ihn jeden Sonntag.«
Als Yella nach den Kindern sah, bot sich endlich die Gelegenheit, Amelie auf einen möglichen Verfolger anzusprechen.
»Wie ist es eigentlich, auf Dauer hier zu leben?«, tastete Helen sich vorsichtig an das Thema heran, während der Kuchen geradezu in ihrem Mund schmolz.
»Großartig«, sagte Amelie begeistert. »Die Leute vom Dorf sind supernett.«
»Alle?«
»Natürlich«, sagte Amelie. »Und mit den Schlechtgelaunten habe ich sowieso nichts zu tun.«
»Hast du mal mit Anfeindungen zu tun gehabt?«
»Anfeindungen?«, wiederholte Amelie fassungslos. »Wieso sollte ich?«
»Wegen unserer Mutter?«, meinte Helen vorsichtig.
»Was hat die damit zu tun?«
»Immerhin hat Thijs eine andere Frau für sie verlassen. Und er hat Schulden.«
»Das interessiert hier niemanden«, sagte Amelie. »Im Dorf hat Thijs Narrenfreiheit. Die kennen den seit über sechzig Jahren. Der kommt mit allem durch.«
»Und Fleur?«, fragte Helen weiter.
»Du musst sie kennenlernen. Sie ist wirklich nett.«
»Keine unangenehmen Erfahrungen?«, bohrte Helen.
»Ich glaube, die freuen sich einfach, dass wir nach so vielen Jahren wieder hierherkommen«, sagte Amelie. »Und dass es uns so gut geht.«
Helen ließ es dabei bewenden. Ihre Schwester hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, nur das Gute in Menschen zu sehen. Doro nannte das oft naiv, Amelie nannte es Überlebensstrategie: »Wenn man Schlechtes über Menschen denkt«, war ihre Devise, »vergiftet das einen von innen.«
Das Gespräch erstarb. Ihre Zwillingsschwester erkundigte sich weder nach Paul noch nach ihrer Arbeit. Helen hatte den Hollandurlaub angeleiert, weil sie die familiären Bande erneuern wollte. Sie wünschte sich so sehr, einen besseren Kontakt zu ihrer Zwillingsschwester aufzubauen. Doch hinter den unterschiedlichen Lebensweisen schlummerten tiefe ideologische Gräben. Ein gemeinsames Thema zu finden, war gar nicht so einfach. Wie oft war die Chemikerin Helen von Amelie auf sämtliche Missstände ihres Gewerbes angesprochen worden, als wäre sie persönlich für sämtliche Desaster ihrer Branche verantwortlich? Chemie hatte einen schlechten Ruf, und nicht selten fand sich Helen in der Defensive wieder. Umweltverpestende Unfälle in Chemiefabriken, Düngemittelskandale, Treibhausgase in der Atmosphäre, krebserregende Chemikalien im Essen und Kunststoffe in Hygieneprodukten hatten das Image ihres Forschungsfelds nachhaltig beschädigt. Helen stöberte verzweifelt in ihrem Kopf nach einem unverfänglichen Thema. Ihre Zwillingsschwester hielt die plötzliche Spannung zwischen ihnen nicht mehr aus.
»Bleib so, das Licht ist toll«, rief Amelie und rannte weg. »Wir nehmen ein Schwesternporträt auf. So wie früher.«