Helen setzte ihre Hoffnung auf Philomena. Wenn Amelie ihr keine Auskunft über mögliche Konflikte im Dorf erteilen wollte, dann vielleicht ihre Freundin.
Herzzerreißend melancholische Weisen wehten über den Platz. Das Feuer loderte. Der Wald hob sich dunkel gegen den Himmel ab. Die Stühle um die Bühne waren voll besetzt. Die beiden Ukrainer sangen am Lagerfeuer. Ihre Stimmen klangen so entsetzlich traurig, dass Helen schwer schlucken musste. Die Sommerschwestern waren wahrlich nicht die Einzigen, die aus dem Paradies der Kindheit vertrieben worden waren. Der Wind trug die wehmütigen Töne über die Wiesen, auf denen Schafe sich zur Ruhe legten. Die feuchte Kälte, die sich mit dem Abend über den Platz legte, ließ Helen frösteln.
Yella röstete mit Leo und Nick Brot, das sich wie eine Schlange um einen Stock ringelte. Ihre Gesichter glühten vor Stolz, dass Yella ihnen erlaubte, so nah ans Feuer heranzutreten. Amelies Wohnprojekt war für sie ein einziger großer Abenteuerspielplatz. Der harzige Geruch verbrannten Holzes kroch in ihre Kleider und Poren. Pinguin Rudolf lag alleine auf dem Boden im Dreck. Seine Augen starrten hilflos in den Himmel. Für einen Moment hatte Leo seinen ewigen Begleiter vergessen.
Amelie stimmte in das Lied ein. Drei Stimmen verschränkten sich auf eine wehmütige Weise. Ihr Sopran ergänzte perfekt Dimas rauen Ton. Philomena sah sie verliebt von der Bar aus an. Die Gelegenheit war günstig, ungestört unter vier Augen mit Philomena zu sprechen.
»Kann ich dich was fragen?«, sagte sie.
Helen versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. Sie wollte keine schlafenden Hunde wecken. Vor allem wollte sie niemandem die Gelegenheit geben, sie für verrückt zu halten.
»Ich habe heute jemanden getroffen, den ich kenne, aber ich komme einfach nicht darauf, woher …«, log sie.
Helen holte ihr Handy heraus und zeigte Philomena das kurze Handyvideo, das sie am Strand aufgenommen hatte.
»Das Meer ist sehr hübsch getroffen«, sagte Philomena. »Das Ende ist etwas abrupt.«
»Es geht um den Mann«, sagte Helen und kontrollierte kurz, ob Yella immer noch beschäftigt war. Bevor sie ihre Schwester einweihte, wollte sie sich die Gewissheit verschaffen, dass sie sich das nicht alles nur einbildete.
»Vielleicht solltest du ein bisschen an der Schärfe arbeiten«, sagte Philomena. »Das sagte mein Zeichenlehrer früher immer. Du musst nicht alle Details richtig haben, aber ein paar wichtige Einzelheiten.«
Helen hatte so gezittert, dass die Aufnahmen reichlich verschwommen waren. Sie ärgerte sich, dass das Foto kaum als Beweis taugte.
»Ich glaube, er ist aus dem Dorf«, sagte Helen.
»Bist du auf der Suche nach einem Zweitmann?«, fragte Philomena.
»Kennst du ihn?«, überging Helen ihre Bemerkung.
»Vincent«, sagte Philomena.
»Vincent?«, wiederholte Helen.
»Blaues Jackett, weißes Hemd, der Strohhut, der Bart, der in der Sonne ein bisschen rötlich schimmert: Vincent.«
»Du kennst ihn?«
»Nur die Ohren passen nicht.«
»Die Ohren?«
Gespräche mit Philomena glichen grundsätzlich einem Gang übers Minenfeld.
»Der sieht aus wie Vincent van Gogh«, sagte Philomena.
»Der Maler?«
»Der Maler«, sagte Philomena. »Der hat auch immer so einen Hut getragen. Bart, rötliche Haare. Alles stimmt. Nur hat dieser hier zwei Ohren. Bis jetzt.«
»Du weißt nicht, wer das ist«, schloss Helen ernüchtert.
»Ich interessiere mich leider nicht für Männer«, sagte Philomena. »Ab einem gewissen Alter sehen die alle gleich aus.«
Helen fällte eine Entscheidung. Wenn sie etwas herausfinden wollte, musste sie sich aus der Deckung wagen.
»Der Mann hat uns am Strand mit einer Kamera verfolgt«, sagte sie.
Der Hund neben ihr sprang auf seine vier Pfoten. Er fletschte die Zähne und bellte sich die angegriffene Lunge aus dem Leib. Irgendeine Bewegung bei den Steinmauern, die mitten in der Wiese aus dem Boden wuchsen, verstörte ihn.
»Das sind Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg«, sagte Philomena. »Die ganze Küste ist voll davon. Gruselig, oder?«
Helen starrte angestrengt in die Ferne.
»Dein mysteriöser Verehrer könnte auch ein Vogelliebhaber sein«, sagte Philomena. »Diese Männer mit Tele gibt es nicht nur am Strand. Bei uns treiben sie sich auch rum. Wegen der Eulen.«
Sie wies vage auf das Waldstück im Hintergrund.
»Vergiss ihn«, sagte sie. »Vogelfreunde sind die allerlangweiligsten Menschen auf der Welt. Auf so jemanden würde ich mich auf keinen Fall einlassen. Da musst du die ganze Zeit still sein.«
Philomena legte den Zeigefinger über ihre Lippen und wies nach oben.
Helens Blick ging hoch in die Baumwipfel. Tatsächlich hörte sie ein merkwürdiges Rufen. Sie hätte schwören können, dass es eine menschliche Stimme war.