18. Zombies

Helen beugte sich über den Computer und starrte auf das Selbstbildnis von Vincent van Gogh. Während alle schliefen, versuchte sie, sich einen Reim auf die Geschehnisse des Tages zu machen. Gab es überhaupt einen geheimen Verfolger, der sie beobachtete? Waren die verschwundenen Ventile mehr als ein Dummejungenstreich? Sicher war, dass sie wenig Talent für Ferien hatte. Und noch weniger dazu, Ruhe zu finden. Wann immer sie die Augen schloss, wachten die Gespenster der Vergangenheit auf.

»Jeder Mensch hat ein Recht auf Geheimnisse«, hatte Yella gesagt.

Aber diese Geheimnisse wucherten wie Tumore. Vielleicht war ihr Verhältnis zu ihrer Zwillingsschwester auch deshalb kompliziert, weil es zu viel gab, worüber sie schwiegen.

Chemie hatte sie immer fasziniert, weil diese Wissenschaft ihr eine eigene Sprache anbot, mit der man die Welt beschreiben konnte. Menschliche Beziehungen waren so viel komplizierter als chemische Verbindungen. Vielleicht konnte sie erst dann schlafen, wenn es ihr gelang, die seltsame Dynamik ihrer Familie zu enträtseln und damit auch sich selbst besser zu verstehen?

Neben ihr kreiste eine Motte penetrant um ihre Schreibtischlampe. Nachdenklich betrachtete Helen ihre vergeblichen Mühen. Normalerweise orientierten sich Insekten am Mond und blieben in einem gewissen Winkel zum Himmelsgestirn. Dieses Exemplar wurde magisch angezogen von einer falschen Lichtquelle. Die Glühbirne verwirrte den Falter, der in endlosen Spiralen um eine imaginäre Mitte kreiste. Waren sie nicht genauso wie dieses verwirrte Insekt? Ihr Vater war der helle Punkt, um den sie alle fälschlicherweise kreisten. Was, wenn er nicht die Lichtgestalt gewesen war, für die ihn alle gehalten hatten? Hatte ihr Vater ein geheimes Leben geführt, von dem die Familie nichts ahnte? Mit wem traf er sich, wenn er sich nicht in der Villa Vlinder aufhielt? Vielleicht wollte Philomena ihr mit dem Hinweis auf Vincent van Gogh einen versteckten Hinweis auf Bergens Kunstwelt geben?

 

Eines war sicher: Ihr Vater war sicher nicht aufgebrochen, um einen Blick auf das Meer zu werfen. Dazu war es zu dunkel, zu nass, zu windig. Es musste einen triftigen Grund gegeben haben, der ihn geradezu zwang, das Haus noch einmal zu verlassen. Etwas, das für ihn noch wichtiger war als seine vier Kinder. Etwas, das keinen Aufschub duldete. Irgendwo in Bergen musste es jemanden geben, der mehr wusste. Und einen guten Grund hatte, zu schweigen. Doch wie passte der Mann mit der Kamera da rein?

Endlich. Jetzt hatte sie sie. Mit einem beherzten Griff fing Helen das dumme Biest ein und öffnete das Fenster, um das Insekt in die Freiheit zu entlassen. Der Wind, der unablässig vom Meer her wehte, nahm sich des winzigen Tieres an und trug es eilig davon. Wieder fiel ihr Blick auf das Nachbarhaus. Ein kleines rotes Licht blinkte in die Nacht und deutete darauf hin, dass das verfallene Holzhaus mit Videokameras ausgerüstet war. Wer auch immer da wohnte, hatte fürchterliche Angst vor Einbrechern. Oder ein vehementes Interesse an den Bewohnern der Villa Vlinder.

 

Ein Geräusch riss sie aus den Gedanken. Waren das Schritte? Auf dem Gang? Reflexartig klappte sie den Computer mit der Datei, in der sie alle offenen Fragen sammelte, zu. Die kleine Nachtlampe flackerte leise. Irgendwo schlug eine Tür, die Holzdielen knarzten unter dem Gewicht eines nächtlichen Besuchers. Helen lauschte angestrengt. Panisch blickte sie auf die Klinke, die sich wie in Zeitlupe nach unten senkte. War sie hier in einem Horrorfilm gelandet? Eine Sekunde später öffnete sich die Tür mit einem lauten Krach. Erschrocken schrie Helen auf.

»Mama?«, fragte eine ängstliche Stimme aus dem dunklen Gang.

Helen brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. In der Tür stand ein verängstigter Leo mit Rudolf unter dem Arm. Er hatte sich mindestens genauso heftig erschreckt wie Helen.

»Deine Mama ist schon ins Bett gegangen«, sagte sie. »Ich bin die Einzige, die noch wach ist.«

Leo trat unschlüssig von einem Bein auf das andere. Er umklammerte den Pinguin und sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Ich kann auch nicht schlafen«, sagte Helen.

»Rudolf hält mich wach«, sagte Leo. »Er behauptet, dass es hier im Haus Geister von Toten gibt, die ihm geheime Botschaften schicken. Ist das Opa?«

Yella und sie hatten es stets vermieden, in Gegenwart der Jungen die Vergangenheit auch nur anzuschneiden. Leos feine Antennen reagierten auf die unterliegenden Spannungen. Wie ein Seismograf fing er selbst geringste Störungen auf. Schon als Kleinkind besaß Mini-Leo einen Zugang zu magischen Welten jenseits des Sichtbaren. Als Helen Yella nach Nicks Geburt in Berlin besuchte, saß ihr kleiner Neffe staunend vor der Wiege des Neugeborenen. Er konnte einfach nicht begreifen, dass die Bewegungen des Babys die Wiege in Schwingung versetzten. Helen schluckte ein paar Tränen runter, als sie hörte, welche Erklärung er sich zurechtgelegt hatte.

»Das ist mein unsichtbarer Opa, der Nick schaukelt«, hatte er ihr eröffnet.

Die Villa Vlinder hatte den liebevollen Großvater in ein Gespenst verwandelt. Leo hatte nicht nur die Augen von Johannes Thalberg geerbt, sondern auch dessen melancholische Ernsthaftigkeit. Es hatte wenig Sinn, ihm zu erklären, dass es keine Geister gab. Die Schwestern konnten noch so sehr tun, als wäre dies ein normaler Sommerurlaub und die Vergangenheit längst begraben. Hatte sie nicht selbst den Eindruck, dass ihr Vater als Untoter in Bergen herumspukte? Dabei war sie Wissenschaftlerin.

»Ich habe keine Angst«, sagte Leo tapfer. »Nur Rudolf. Der fürchtet sich.«

»Soll ich mich eine Weile um ihn kümmern?«, fragte Helen. »Ich gehe noch nicht schlafen.«

»Wenn er das will«, sagte Leo.

Ihr kleiner Neffe war sich seiner Sache absolut nicht sicher. Er machte nicht die geringsten Anstalten, den nervigen Pinguin zu übergeben.

»Ich lese ihm ein bisschen was aus meinen Fachbüchern vor«, sagte Helen. »Die meisten Leute schlafen bei chemischen Formeln sofort ein.«

Leo zweifelte immer noch.

»Ich bin gut in Gespenstern«, sagte Helen. »Ich bin Expertin darin, mit Geistern zu kämpfen. Bei mir im Labor heißen sie Viren und Bakterien. Sie sind unsichtbar, weil sie so winzig sind, aber sie können uns furchtbar krank machen.«

»So was wie Corona?«, fragte er.

Leo hatte ein Drittel seines Lebens in Pandemiezeiten verbracht. Das war ein Bild, das er sofort verstand.

Helen nickte: »Das waren Kollegen von mir, die gegen diese Viren gekämpft haben«, sagte sie.

Sein Gesicht hellte sich ein bisschen auf. Wer es mit dem unsichtbaren Covid aufnahm, der würde wohl auch einen übellaunigen Pinguin in den Griff bekommen. Vorsichtig schob Leo Rudolf in ihre Richtung.

Helen setzte das hässliche Kuscheltier neben sich auf einen Stuhl.

»Verschwinde schnell«, flüsterte sie Leo ins Ohr. »Ich lenke ihn ab.«

Leo tapste auf seinen dünnen Jungenbeinen eilig davon. Sein Weg führte nicht ins Kinderzimmer, wie sie unschwer ausmachen konnte, sondern in das Schlafzimmer ihrer Schwester. Dort traf er auf Nick, der bereits eine Stunde zuvor ins Bett seiner Mutter umgezogen war. Sie hörte entfernt Yellas gedämpfte Stimme. Wenigstens hatten die drei nächtliche Gesellschaft.

 

Helen gähnte. Vielleicht war es auch für sie an der Zeit, endlich ins Bett zu gehen. Sie löschte das Licht und trat noch einmal ans Fenster. Der Westwind huschte um das Haus, Äste knackten, die Videokameras gegenüber blinkten weiter. Anders als in Frankfurt, wo immer ein Stück Licht über dem Horizont schwebte, kam ihr die Nacht in Bergen sehr dunkel vor.

Ein schrilles Geräusch in ihrem Rücken fuhr ihr durch Mark und Bein. Helen drehte sich ruckartig um. Woher kam dieser unterdrückte Schrei?

»Leo?«, fragte sie in das Dunkel hinein. »Bist du das?«

Sie lauschte angestrengt in die Stille. Wo um alles in der Welt war der Lichtschalter? Vorsichtig tastete sie sich durch den Raum, als sie auf etwas Weiches trat. Der Schrei ertönte ein zweites Mal.

Es war Rudolf, der zu Boden gegangen war. Als sie ihn aufhob, stellte sie fest, dass in seinem Inneren ein Soundsystem verborgen war. Dieses Quieken sollte wohl die Laute von Pinguinen nachahmen und war genauso missraten wie der Rest des Stofftiers. Die Töne, die er beim Knuddeln und Drücken von sich gab, lagen im Bereich zwischen heiserer Schiffshupe, jammernder Möwe und sterbendem Schwan. Nachdenklich betrachtete sie das exzentrische Kuscheltier. Das ehemals weiße Fell hatte einen hässlichen Grauton angenommen, eines der eisblauen, leicht fluoreszierenden Knopfaugen hing ein bisschen aus der Höhle heraus. Rudolf war aus der Form geraten und roch merkwürdig. Wer auch immer dieses dämonische Stofftier erschaffen hatte, hasste Kinder oder Pinguine, vermutlich beides.

 

Kein Wunder, dass Leo sich fürchtete. Leo war von so vielen Ängsten geplagt. Der Großvater, den er nie kennengelernt hatte, hatte sich in seine Albträume geschlichen. Das Gespräch mit ihrem Neffen hatte ihr drastisch klargemacht, dass es nicht mehr alleine um die Sommerschwestern ging. Es war geradezu eine zwingende Notwendigkeit, den Tod ihres Vaters ein für alle Mal aufzuarbeiten. Sie musste herausfinden, was wirklich geschehen war, wollte sie verhindern, dass das Trauma auch die Leben kommender Generationen wie ein Virus befiel.

In ihrem Arm quiekte Rudolf zustimmend.