Zwei schrille Schreie gellten über den Vorplatz. Yella hielt es nicht mehr auf ihrem Sitz. Sie stürmte ins Haus. Wo war Helen? In der Küche erkannte sie zwei Personen, die einträchtig auf dem Boden nebeneinanderknieten und versuchten, einem Chaos aus Scherben und verschütteter Milch Herr zu werden. Es dauerte einen Moment, bis sie die Gestalt neben Helen erkannte.
»Lucy«, rief sie überrascht.
Ihre vierzehnjährige Nichte war dabei, die Glasstücke aufzukehren. Zumindest ähnelte sie entfernt dem Teenie, den sie zuletzt bei der Hochzeit ihrer Mutter gesehen hatte. In der Zwischenzeit hatte sich Doros Tochter ihre langen Haare platinblond färben lassen. Sie pulte Airpods aus den Ohren.
»Bist du verrückt geworden?«, sagte sie empört zu Helen. »Ich habe mich zu Tode erschreckt.«
Yella konnte kaum fassen, wie sehr Lucy sich in so kurzer Zeit verändert hatte. Bei ihrem letzten Besuch in Bergen war ihre Nichte fast noch ein Kind gewesen, jetzt stand eine junge Frau vor ihr. Sie hatte einen enormen Schuss nach oben getan und wirkte fast schon erwachsen.
»Wo kommst du denn her?«, fragte sie verblüfft. »Und wo ist Doro?«
Helen ließ sich auf einen Hocker fallen und versuchte, zu Atem zu kommen. In der Hand hielt sie immer noch den Feuerhaken.
»Doro muss noch was fertig machen«, sagte Lucy. »Sie hat gesagt, ich soll schon mal vorfahren.«
»Alleine?«, fragte Yella.
»Ich bin so froh, dass ich bei euch sein kann«, gab Lucy an. »Mama ist supergestresst. Sie will mich nicht mal in Amsterdam ausgehen lassen. Sie hält mich als Geisel.«
»Und Ludwig?«
»Ist nach Köln. Irgendwas brennt im Atelier. Mal wieder.«
Lucy zeigte sich nicht sonderlich unglücklich darüber, dass ihre Mutter sie ohne Begleitung mit Zug und Bus nach Bergen geschickt hatte. Ihre Offenheit erlaubte Helen und Yella einen unvermuteten Einblick in das Leben ihrer großen Schwester, das hinter der glänzenden Fassade wohl nicht ganz so glamourös und erfolgreich war, wie Doro das ihre Schwestern glauben lassen wollte.
»Ich such was Essbares«, rief Lucy. »Ich habe unfassbaren Hunger.«
Als sie wenig später im riesigen Schlaf-T-Shirt übrig gebliebenen Kartoffelbrei mit Rührei verputzte, während sie mit Leo und Nick Uno spielte, sah sie schon mehr aus wie das kleine Mädchen, das sie in Wirklichkeit noch war.
Helen wunderte sich über das Verhalten ihrer älteren Schwester. »Doro setzt uns ungefragt als Babysitter ein?«, raunte sie Yella zu. »Sie hätte wenigstens fragen können, ob es uns recht ist.«
Yella war milder gestimmt: »Ein Kind mehr oder weniger macht doch nichts aus. Sollen wir Lucy nach Amsterdam zurückschicken?«
»Kind?«, fragte Helen und musterte fragend ihre Nichte.
Lucy war sehr groß und weit entwickelt für ihr Alter. Sie war unter Erwachsenen aufgewachsen, oft auf sich alleine gestellt und benahm sich dementsprechend. Doro hatte nie Zeit gehabt, mit Lucy am Sandkasten zu sitzen oder Spielnachmittage für Kinder zu organisieren. Von klein auf hatte sie ihr »Mini-Me« ins Atelier, zu gesetzten Essen, Theatervorstellungen und Premierenpartys mitgenommen. Lucy begleitete sie auch jenseits ihrer Schlafenszeiten, oft genug als einziges Kind.
»Ich kann problemlos auf mich selbst aufpassen«, sagte Lucy. »Ich störe euch kein bisschen.«
Yella runzelte die Stirn. Wenn sie ihre Tochter so kommentarlos bei ihnen ablud, hatte das Arbeitspensum der Kostümbildnerin offenbar ein neues Stresslevel erreicht. Sie fand nicht einmal die Zeit und Muße, ans Telefon zu gehen.
Lucy hielt Nachfragen ohnehin für überflüssig: »Mama sagt, wenn sie ungestört arbeiten lässt, kann sie ganz schnell nachkommen. Für mich muss sie sich übrigens nicht beeilen.«
Sie warf ihren Kopf kämpferisch in den Nacken. Ihr selbstbewusster Blick unter den dick geschminkten Augenlidern ließ vermuten, dass sie jede Form von Betreuung für hochgradig lästig und komplett überflüssig hielt.
Was bedeutete »ganz schnell« in Doros Theaterwelt? Von ihrer großen Schwester waren offenbar weder Erklärungen noch Gebrauchsanweisungen zu erwarten.
Yella betrachtete ihre Nichte mit gemischten Gefühlen. Was durften Vierzehnjährige heutzutage? Was durfte Lucy? Sie hatte keinerlei Erfahrungen im Zusammenleben mit rebellischen Teenagern, Helen noch viel weniger. Wenn ihre Nichte auch nur ein kleines bisschen nach ihr selbst kam, blühten ihnen turbulente Zeiten.