»Willst du dir nicht was anziehen?«, fragte Yella.
Bereits am ersten Morgen kollidierten ihre Vorstellungen. Sie musterte zweifelnd den ultraengen, knallgrünen bauchfreien Sportdress, den Lucy für den Ausflug zum Strand gewählt hatte, und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben uralt. Lucy hatte nicht das geringste Gespür dafür, wie sexy sie in ihrem knappen Outfit aussah, das ihre neuen Rundungen in Szene setzte.
»Noch ist es ganz schön frisch«, sagte sie, als ob das Wetter je ein Argument für modebewusste Teenager gewesen wäre. War sie nicht selbst in dem Alter mit Daunenjacke und freien Knöcheln durch den Schnee gestapft?
»Sie haben eine Hitzewelle angekündigt«, sagte Lucy.
»Der Wind am Strand kann kalt werden«, schickte Yella matt hinterher. »Vor allem abends.«
Lucy lenkte ein. Sie zog einen kurzen, weiten Rock über ihr Turnoutfit.
Yella bekam reichlich Gelegenheit, ihre Einmischung zu bereuen. Nach den Erfahrungen des Vortages hatten sie sich dazu entschieden, den Zeeweg zu meiden und mit den Fahrrädern durch die Dünen zum Strand zu fahren.
Als Yella hinter Lucy herradelte, konnte sie den Blick nicht von dem hochwehenden Röckchen lassen, das ihrer Nichte einen echten Marilyn-Moment bescherte und die Aufmerksamkeit erst recht auf sie lenkte.
Lautes Klingeln fegte sie vom Radweg. Eine Gruppe Jungs zog lachend und gestikulierend an Lucy vorbei und ließ sich wieder zurückfallen, um noch einmal einen Blick auf das Mädchen zu werfen. Sie summten um ihre Nichte herum wie ein Schwarm Bienen, der um einen Honigtopf schwirrte, und riefen Lucy etwas auf Niederländisch zu. Sie strahlte, obwohl sie vermutlich kein Wort verstand.
»Die Sprache der Hormone braucht keine Übersetzung«, sagte Helen, der ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen.
Das Spiel wiederholte sich ein paar Mal, bevor sie an der letzten Düne den Fahrradparkplatz erreichten, wo die Jugendlichen bereits warteten. Offenbar trödelten sie absichtlich, um Lucy abzufangen.
»Wir chillen beim Paradise «, sagte einer der Jungen mit einem rührenden Akzent. »Falls du Lust hast.«
Der Surfertreffpunkt. Natürlich! Wind und Wetter hatten die Landschaft verändert, Dünen waren gewachsen, vom Wind verweht und gewandert. Manche Dinge blieben immer gleich.
Lucy schien nicht abgeneigt.
»Darf ich?«, fragte sie.
»Erst mal ankommen«, sagte Helen.
Einen Moment lang trat Yella aus ihrem eigenen Körper. Ihr war, als stände ihr dreizehnjähriges Ich vor ihr. Lucy war fast im selben Alter wie sie damals. Die Surfer zogen ihre Nichte ebenso magisch an wie sie sie angezogen hatten. Unter ihren Shorts und lässigen T-Shirts zeichneten sich durchtrainierte, sonnengebräunte Körper ab.
»Mal sehen«, sagte Lucy, noch unschlüssig, wie sie mit der ungewohnten männlichen Aufmerksamkeit umgehen sollte.
Die Nordsee zeigte sich von ihrer allerschönsten Seite. Die Sonne brannte am wolkenlosen Himmel und tauchte Wasser und Firmament in scharf abgegrenzte Blautöne. Kleine Wellen rollten malerisch an den gold glänzenden Strand, der betupft war mit Hunderten bunter Handtuchinseln, Strandmuscheln und Sonnenschirmen.
Ideale Bedingungen für einen unvergesslichen Sommertag. Der endlose Strand, der sich zu beiden Seiten ausstreckte, diente zugleich als Bühne.
»Dahinten ist Platz«, rief Lucy.
Jeder Strandabschnitt und jedes Strandrestaurant pflegten ihren eigenen Stil und Charakter. Lucy hatte mit einem schnellen Augenaufschlag den legendären Paradise Club ausgemacht, der Yella nur zu gut in Erinnerung war. Ihre Eltern hatten Doro zum sechzehnten Geburtstag einen Surfkurs geschenkt. Yella wurde im September vierzehn und hatte vergeblich gebettelt, mitmachen zu dürfen.
»Du bist zu jung«, hatte ihr Vater mit Blick auf die Surfer befunden.
Yella hatte erbost auf ihrem Handtuch gelegen und musste mitansehen, wie Doro gemeinsam mit ihrer alten Campingfreundin Milou ihre Tage ohne sie verbrachte.
Lucy verhielt sich ähnlich. Während Yella und Helen im Getümmel ihren Platz absteckten, glitten die Blicke ihrer Nichte interessiert Richtung Surfer. Sie platzierte ihr Strandlaken strategisch, sodass sie zwischen den Sonnenschirmen hindurch scheinbar zufällig die Jugendlichen im Auge behalten konnte.
Lucys Anwesenheit wirkte wie ein Brennglas. Die Geschichte des damaligen Sommers wiederholte sich vor ihren Augen. Es war Yella, als träte sie aus sich heraus und existierte in zwei Paralleluniversen. Wie in einem Film betrachtete sie sich von außen. Während sie die zappelnden Kinder von Kopf bis Fuß erst mit Sonnencreme einschmierte und dann in UV -Shirts einpackte, studierte sie heimlich ihre Nichte, als wäre sie ihr eigenes dreizehnjähriges Alter Ego. In Lucys Gesicht las sie dieselben Gedanken, denselben Wagemut, denselben Erlebnishunger, dieselbe Verletzlichkeit und unendliche Neugier auf das andere Geschlecht. Doro hatte damals so hartnäckig über ihre ersten Erfahrungen mit Jungen geschwiegen, dass Yella voller Erwartung gewesen war. Jeden Morgen fragte sie sich, wann ihr richtiges Leben endlich anfing.
Lucys Bewunderer wurden lautstark an der Hütte begrüßt. Die mageren Windverhältnisse hielten die Jugendlichen nicht davon ab, zur Surfhütte zu ziehen, um den Tag am Strand zu verbringen. Gemeinsam wartete es sich viel besser auf das passende Surfwetter. Unablässig wehten Musik und fröhliches Lachen herüber. Yella erwartete jeden Moment, in der Menge Frenkie, Milou und Doro zu entdecken, als wären die Jahre zusammengeschmolzen wie ein Wassereis. Frenkie, ihre erste große Liebe!
»Lucy könnte einen Surfkurs machen«, schlug Yella vor.
»Sie ist vierzehn«, sagte Helen.
»Vierzehneinhalb und ein bisschen«, sagte Yella.
Zum ersten Mal spürten die Schwestern am eigenen Leib die Nöte, für einen lebenshungrigen Teenager verantwortlich zu sein. Und das vollkommen unvorbereitet.
»Unser Vater hat Doro den Surfkurs erst erlaubt, als sie sechzehn war«, sagte Helen.
Yella erinnerte sich nur zu gut daran, dass es vor allem die Verbote und daraus folgenden Heimlichkeiten gewesen waren, die sie in gefährliche Situationen gebracht hatten.
»Frenkie Visser hieß er«, sagte Helen unvermittelt. »Und ich wollte ihm den Hals umdrehen.«
Yella zuckte zusammen. Es war schwer, ihrer kleinen Schwester etwas vorzumachen. Sie sah den schmalen, blassen Jungen mit den halblangen, immer leicht unordentlichen Haaren noch vor sich. Ihr hatte gefallen, dass er so anders war als alle anderen Surfer: unsicher und verlegen. Am ersten Urlaubstag spielte er mit seinen Freunden Fußball am Strand. Und wie es der Zufall wollte, landete der Ball ständig in ihrer Nähe. Er hatte diese neugierigen grauen Augen, die ihr immer öfter folgten, bevor sie vor der Pommesbude scheinbar zufällig aufeinandertrafen. Zehn Meter gemeinsames Schlangestehen reichten zum Verlieben. Frenkie verlieh ihren Strandtagen eine ganz besondere Spannung. Von ihrem Handtuch aus versuchte sie herauszubekommen, mit welchen Freunden er sich umgab. Doro stellte für Yella den Türöffner zu dieser Welt dar. Leider dachten ihre große Schwester und deren Freundin Milou nicht im Traum daran, sie allzu oft miteinzubeziehen. Und ohnehin nur dann, wenn Johannes Thalberg nicht in der Nähe war. Erst jetzt, mit Blick auf Lucy, konnte sie die Bedenken ihres Vaters ansatzweise nachvollziehen.
»Die Verbote haben es nicht besser gemacht«, sagte Yella. »Im Gegenteil.«
»Lucys Gehirn ist komplett im Umbau«, gab Helen zu bedenken. »Da ist man nur bedingt zurechnungsfähig. Es hat schon einen Grund, warum man in dem Alter noch nicht strafmündig ist.«
»Wir können Lucy schlecht festbinden«, flüsterte Yella, die sich keine Haltung zu geben wusste.
»Wir könnten es wenigstens versuchen«, sagte Helen.
»Sie wird wohl kaum den ganzen Tag mit ihren Cousins im Sand buddeln«, sagte Yella so leise sie konnte. »So wie ich das früher mit euch getan habe.«
»Aber nicht freiwillig«, sagte Helen.
»Unsinn«, widersprach Yella.
»Unser Vater war unterwegs, Mama hat Doro mitgenommen zum Shoppen, und du durftest auf uns aufpassen«, sagte Helen.
»Habe ich gerne gemacht«, sagte Yella.
»Hast du nicht«, sagte Helen nüchtern. »Kein bisschen.«
»Stimmt«, gab Yella zu.
Sie schämte sich ein bisschen dafür, dass ihre kleinen Schwestern ihr damals so lästig gewesen waren. Yella hatte sich im letzten Familiensommer in Bergen chronisch einsam gefühlt. Sie stand irgendwo in der Mitte zwischen Doro, die mit sechzehn schon eigene Wege ging, und den kleinen Zwillingen.
»Du wolltest nur noch cool sein. Mindestens so cool wie Doro oder wie Milou«, rekapitulierte Helen. »Und du hattest ständig Ärger mit Papa. Alles nur wegen Frenkie und der Bunkerparty, zu der du nicht durftest.«
Sie war jung gewesen. Das bestimmt. Vermutlich hatte ihr Vater jedoch vor allem Probleme damit, dass ihm nun nach Doro auch Yella entwuchs. In seiner Hilflosigkeit hatte er Yella sogar zu Hausarrest verdonnert. Als ob das half. Selbst seine Ehefrau suchte ihre Anerkennung vor allem außerhalb der Familie. Yella erinnerte sich lebhaft daran, wie peinlich sie es fand, wenn ihre Mutter gurrend wie ein Täubchen zwischen den Badegästen stolzierte und glockenhell und übertrieben lachte. Sie liebte es, mit Doro anzugeben, und genoss es, wenn sie für Schwestern gehalten wurden.
»Ich glaube, unser Vater hatte Mühe, sich damit zu arrangieren, dass ich nicht mehr sein kleines Mädchen war«, sagte Yella.
»Das hatte er doch schon mal mit Doro durchexerziert.«
Yella überlegte. »Die war schon immer ein Mamakind«, meinte sie.
Sie wedelte mit der Cosmopolitan, die sie zum Strand mitgenommen hatte.
»Vielleicht konnte er deswegen so schlecht loslassen«, sagte Helen. »Du warst viel mehr sein Kind.«
»Doro hätte uns wenigstens ein paar Tipps für Lucy geben können«, zischte Yella leise.
Eine Gebrauchsanweisung, die verhinderte, dass Lucy sich in gefährliche Situationen begab und sich auf Dinge einließ, die sie später bereute. Wenn Yella nur einen Moment zurückreisen könnte in der Zeit, würde sie alles wiedergutmachen, was sie damals vermasselt hatte.
Yella wollte nicht weiter über den damaligen Sommer und Frenkie nachdenken und vor allem nicht darüber, was daraus entstanden war. Darüber reden noch viel weniger. Am allerwenigsten mit Helen. Sie hatte in den Urlaub eingewilligt, weil sie nicht laut aussprechen wollte, warum sie die Villa Vlinder lieber gemieden hätte. Sie wusste, dass jede Ausrede schal geklungen hätte. Helen hatte die Neigung, unerbittlich nachzuhaken.
Die Sonne stach, der Geruch von Salzwasser und Sonnencreme ließ Vergangenheit und Gegenwart zusammenschmelzen. Seit dem Ausflug nach Alkmaar war die Stimmung zwischen Helen und Yella angespannt. Yella vergrub nachdenklich ihre Zehen im Sand und dekorierte die Sandburg der Jungen mit gefundenen Muscheln.
»Wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen«, sagte Helen.
»Nicht schon wieder, Helen.« Yella stöhnte.
»Du kannst mir vertrauen.«
»Es gibt nichts«, sagte sie. »Alles liegt auf dem Tisch.«
»Es ist wichtig. Wir müssen endlich Schluss machen mit den Geheimnissen.«
»Ich geh aufs Klo«, sagte Lucy, die die dicke Luft zwischen den Schwestern spürte. Oder sie hatte nur den erstbesten Moment abgepasst, sich zu verziehen. Yella blickte ihr hinterher, wie sie zwischen den Sonnenschirmen davonstolzierte. Ihr Auftritt blieb an der Surferhütte nicht unbemerkt.
Als sie sich wieder Helen zuwandte, traf sie auf zwei Röntgenaugen. Ihre Schwester musterte sie mit einem sezierenden Blick, mit dem sie sonst vermutlich Proben unterm Mikroskop begutachtete.
»Ich geh ins Wasser«, sagte Yella.