23. Ein Sack Flöhe

Helen rutschte ungeduldig auf ihrem Handtuch herum. Wo war eigentlich Lucy abgeblieben? Die hatte sich vor einer halben Ewigkeit Richtung Toilette verabschiedet. Wie lange war die jetzt schon weg?

Auf drei Kinder aufzupassen, war nicht so einfach, wie Helen sich das vorgestellt hatte. Solange Yella auf dem Handtuch neben ihr lag, lief ein Strandtag wie von selbst. Yella hatte einen untrüglichen Instinkt dafür, wer wann etwas trinken, aus der Sonne kommen oder dringend eingecremt werden musste. Alleine mit drei Kindern schien alles viel komplizierter. Welcher Aktionsradius war richtig? Helen liebte es, Risiken abzuwägen und dann eine überlegte Entscheidung zu treffen. Bevor sie im Labor ihre Meinung äußerte, hatte sie ihre Ergebnisse in Dutzenden Versuchsreihen getestet und überprüft. Nicht umsonst hatte sie sich für ein Berufsfeld entschieden, in dem sie mit berechenbaren Entitäten zu tun hatte. Ihr Leben im Labor drehte sich um reproduzierbare Ergebnisse. Wenn man Substanzen mixte, konnte man endlos an der Formel schrauben, um Wunsch und Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Messergebnisse waren objektiv zu halten und genauestens zu dokumentieren. Bei Menschen lagen die Dinge wesentlich komplizierter. In dieser Familienanordnung hatte sie es mit drei Variablen zu tun. Anders als Neutronen, die verlässlich um ihren Kern kreisten und sich ohne spezielle Absprache an ihre Umlaufbahn hielten, sausten Leo, Nick und Lucy wie ungeleitete Projektile über den Strand. Alles passierte schnell und gleichzeitig. Sie atmete auf, als Lucy hinter zwei Sonnenschirmen auftauchte.

»Ich habe mir Sorgen gemacht«, gab Helen zu.

»Ich war auf dem Klo.«

»So lange?«

»Da war eine Schlange.«

»Lauter Surfer, nehme ich an«, sagte Helen und klang pampiger als gewünscht.

»Sie haben mir die Wartezeit vertrieben.«

»Sag wenigstens Bescheid«, meinte Helen.

Lucy sah sie empört an. »Wir wollen doch den ganzen Tag am Strand bleiben. Wo ist das Problem?«

»Ich wüsste gerne, wo du bist.«

»Ich bin keine drei. Ich brauche keinen Aufpasser.«

»Ich habe keine Lust, deiner Mutter zu berichten, dass wir dich verloren haben.«

»Meine Mutter ist viel zu beschäftigt, um mich zu vermissen.«

Helen seufzte. Was war nur im Leben ihrer Schwester los? Aus Lucys Andeutungen wurde sie nicht schlau. Aus Lucy selbst ebenso wenig.

»Lucy«, sagte Helen. »Wir sind nicht deine Feinde.«

Lucy blieb in ihrem Konfrontationsmodus: »Ich habe Ferien«, sagte sie. »Im Urlaub darf ich machen, was ich will.«

»Solange du dich abmeldest.«

»Du bist nicht meine Mutter.«

»Halleluja«, sagte Helen. »Was für ein Glück.«

Lucy stand auf.

»Was machst du?«

»Ich muss mal.«

»Schon wieder?«

»Blasenentzündung«, sagte Lucy. »Chronisch.«

Vor ihr warf Leo Nick gerade eine Handvoll Sand ins Gesicht. Der revanchierte sich sofort und zog seine Plastikschaufel über den Kopf des großen Bruders. Als sie die beiden Streithähne getrennt hatte, war Lucy wieder verschwunden. Helen wusste genau, wo sie suchen musste. Sie wandte ihren Blick zum Strandhaus der Surfer und erstarrte. War das nicht dieser Mann, den sie schon beim korren gesehen hatte? Dieselbe kräftige Statur, dieselbe Kleidung, die darauf schließen ließ, dass er nicht als Badegast gekommen war, derselbe Stetson-Hut. Was um alles in der Welt suchte der Unbekannte in der Nähe von Lucy?

»Schau mal, Helen«, rief Leo aufgeregt. »Schau mal, was wir gefunden haben!«

Helen schaute jedoch nicht in Leos Richtung. Bewegte der Mann sich etwa auf Lucy zu?

»Dürfen wir einen Schatz?«, fragte Leo.

»Ja, ja«, sagte Helen abwesend.

Sie behielt Lucy im Auge. Das Mädchen trug den korallenroten Bikini ihrer Großmutter, der ganz schön knapp geworden war, und flatterte wie ein Schmetterling zwischen den Surfern herum, als der Mann sich ihr in den Weg stellte. Beinahe beiläufig. Das konnte kein Zufall mehr sein. Irgendjemand hatte es auf ihre Familie abgesehen.

Alarmiert sprang Helen auf. Was wollte der Kerl von Lucy? Von ihrer Familie?

Ohne weiter zu überlegen, lief sie los. Ihre Füße brannten auf dem heißen Sand. Diesmal würde sie den Mann nicht davonkommen lassen. Die Sorge um Lucy ließ sie jede Schüchternheit vergessen. Sie musste wissen, was hier gespielt wurde. Nach ein paar Schritten hielt sie abrupt inne. Die Jungs. Sie musste den Jungs Bescheid geben. Als sie sich umdrehte, erschrak sie ein zweites Mal. Der Platz bei ihren Handtüchern war verwaist. Wo in aller Welt waren Nick und Leo geblieben?