24. Verschwunden

Helen rannte zurück. Die trügerische Ruhe traf sie mitten ins Herz. Sie war nur einen winzigen Moment abgelenkt gewesen, eine Sekunde hatte sie ihre Neffen aus den Augen gelassen. Nicks fröhliches Geschnatter war auf einmal verstummt. Schon als Baby hatte er wie ein Wasserfall in seiner Fantasiesprache geplappert. Für Außenstehende war sein Dialekt komplett unbegreiflich, aber der kleine Mann war besessen davon, seine Welt mit Worten zu füllen und zu beschreiben. Alles musste ausgesprochen und erzählt werden. Jetzt blieb es still. Gefährlich still. Die Sandkuhle, in der Nick gerade noch enthusiastisch gebuddelt hatte, war leer, das Sandspielzeug lag verlassen da, als hätte sich der Fünfjährige von einer Sekunde auf die andere in Luft aufgelöst. Ihr Blick flog panisch nach links, nach rechts. Keine Spur von den Kindern. Sie waren verschwunden. Einfach weg.

»Haben Sie zwei kleine Jungen gesehen?«, fragte sie die jungen Frauen, die seit Stunden ein paar Meter von ihr entfernt auf ihren Handtüchern dösten und auf ihre Handys starrten. Träge blickten sie auf, mit einem Ausdruck, als kämen sie gerade von einer sechsjährigen Marsmission zurück, über der sie vollends verlernt hatten, sich mit irdischen Dingen auseinanderzusetzen. »Welche Jungen?«

Das alte Paar neben ihr, tiefengebräunte Strandprofis mit Liegestühlen und Kühlbox, war vollkommen mit sich selbst beschäftigt. Die Frau griff nach dem Sonnenöl und schmierte sorgfältig ihr enormes Dekolleté ein. Er streckte ihr seine Arme hin und sie sprühte ihn voll, ohne dass ein Wort zwischen ihnen gewechselt werden musste. Ihr stummes Eheballett forderte ihre ganze Aufmerksamkeit.

»Geen idee«, sagte sie. »Wij houden ons nooit met de buren bezig.«

Auf ihr ratloses Gesicht hin übersetzte er pampig: »Keine Ahnung, wir kümmern uns nie um die Nachbarn.«

Rasend vor Angst scannte Helen das Meer aus in den Sand gepflockten Sonnenschirmen, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten. Hatten ihre Neffen sich die Farben ihrer Strandmuschel gemerkt? Oder einen anderen Orientierungspunkt? Ein Softball flog ihr um die Ohren, überall tönten fröhliche Stimmen und Musik. Die beiden Jungen waren noch so klein. Vermutlich würden sie in Panik geraten. Kannten sie Yellas Telefonnummer? Warum hatten sie nichts abgesprochen für den Fall, dass jemand verloren ging?

»Leo? Nick?« Ihre Stimme verlor sich hoffnungslos im sommerlichen Getümmel.

Helens Blick fiel auf die zurückgelassenen Schwimmflügel der Kinder. Geschockt raste sie Richtung Meer. Sie hatte nur einen Moment nicht richtig aufgepasst. Einen einzigen Moment. Helen sah angsterfüllt auf die Nordsee, die sich riesig und bedrohlich bis in alle Ewigkeit vor ihr ausstreckte. Einen Schatz? Sie hatten von einem Schatz gesprochen. Wollten sie auf eigene Faust Schätze aus dem Meer fischen? So wie beim korren. Wollten sie zu Yella ins Wasser?

Wo sich ein paar Stunden zuvor noch seichte Pfützen befanden, in denen Kinder herumplanschten, drückte nun die Flut mit aller Macht hinein. Die Sonne setzte glitzernde Lichtflecken auf die Wasseroberfläche, als lockte sie Helen mit falschen Hinweisen. Sonne und zunehmender Seegang zogen zahlreiche Strandgänger trotz frischer 19 Grad in die Brandung, Kinder tollten in den brausenden Wellen. Wie sollte sie da ihre Neffen wiederfinden? Wer behauptete, dass das Rauschen des Meeres beruhigend wirkte? Jetzt löste das Geräusch pure Panik in ihr aus. Ihr Atem setzte aus. Alles krampfte sich in ihr zusammen. Die Wellen hatten in der letzten Stunde deutlich an Höhe und Kraft zugenommen. Sie konnte nur hoffen, dass die Jungs nicht ins Wasser gegangen waren. Leo und Nick hatten keine Chance, wenn eine Woge sie umriss. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte sich nur kurz umgesehen, einen Wimpernschlag zu lange. Wo war Yella? Wo waren die beiden Jungs?

Sie können nicht schwimmen, hämmerte es wieder und wieder in ihrem Kopf. Leo hatte seinen Schwimmunterricht abgebrochen, Nick noch gar nicht angefangen. Jedes Jahr ertranken an der Nordseeküste Menschen, nachdem sie in einen Priel geraten waren. Strömungen zwischen Sandbänken konnten so heftige Kräfte entwickeln, dass selbst Erwachsene rettungslos mitgerissen wurden. Alles drehte sich um Helen herum. Vor ihrem inneren Auge spielte sich ein Schreckensszenario ab: treibende Körper, eine aufgelöste Rettungsbrigade, Wiederbelebungen am Strand, ein Kreis von Schaulustigen, der ihr als der Verantwortlichen bitterböse Blicke zuwarf, Entsetzen, Wut und dann der markerschütternde Schrei von Yella. Derselbe Schrei, der sie am Morgen des 01.08.2001 aus ihrem Leben katapultiert hatte. Sie sah sich wieder als Neunjährige morgens die Treppe hinuntertapsen. Das abgedunkelte Wohnzimmer der Villa Vlinder war voller Menschen gewesen. Benommen hatte ihre Mutter den Kopf hin und her bewegt, wie ein hospitalistisches Kind. Sie hatte ein wunderschönes rotes Sommerkleid getragen, das sie sonst nur zu besonderen Anlässen aus dem Kleiderschrank holte. Alle Bewegungen waren so verlangsamt gewesen, als posierte sie in Wirklichkeit für ein Porträt. Das Bild stand auf ewig auf ihrer Netzhaut, als wäre es ein berühmtes Meistergemälde. Mit einem Schlag hatte Helen begriffen, dass von ihrer Mutter keine Hilfe zu erwarten war.

Amelie dagegen hatte erhöht auf der Sofalehne gekauert, den einen Arm schützend um die Mutter gelegt, die andere Hand hatte unaufhörlich den mütterlichen Oberarm getätschelt. Davor hatte Doro gekniet, mit einem Glas Wasser, das sie nicht annahm. Helen hatte keine Erklärung gebraucht. Das Fehlen ihres Vaters hatte sie registriert, noch bevor jemand die vernichtenden Worte aussprechen konnte.

Es war ein unbekannter Mann, der die verheerenden Worte aussprach: »Dein Papa ist tot.«

Später hatte er sich als Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts herauskristallisiert.

»Es war ein Unfall«, sagte er.

Die Worte des Begräbnisunternehmers gewährten keinerlei Spielraum für Spekulationen oder Hoffnung. Später lernte sie, dass Menschen, die Todesnachrichten überbringen, angehalten wurden, ihre Schreckensnachricht in eine direkte, unmissverständliche Botschaft zu kleiden. Damals waren die vernichtenden Worte wie ein Schlaghammer auf sie niedergedonnert, bevor sie im Raum verhallt waren. Niemand hatte etwas gesagt. Nur das unterdrückte Schluchzen ihrer Mutter war zu hören gewesen. Es war viel zu still und stickig in dem überfüllten Wohnzimmer. Und viel zu dunkel. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Gardinen, die ihr Vater am Abend zuvor geschlossen hatte, zu öffnen, als wolle man den Moment hinauszögern, in dem das Licht allzu grell das neue Leben beleuchtete. Die fehlenden Geräusche prägten sich ihr am meisten ein. Dieses quälende Schweigen, in das hinein Yella plötzlich aufgeschrien hatte wie ein tödlich verletztes Tier.

Sie wollte nie wieder im Leben zu spät und als Letzte einen Raum betreten. Nie mehr miterleben, dass jemand ohne Vorwarnung aus ihrem Leben gerissen wurde. Nie wieder wollte sie Yella so schreien hören.

Und jetzt waren Nick und Leo verschwunden. Das durfte nicht passieren. Nicht noch einmal, nicht wieder, nie, nie, nie.

»Leo, Nick«, brüllte sie gegen Wind und Schwindel an. Der Wind dämpfte ihre Stimme, so wie die Blumenvorhänge, die einst in der Villa Vlinder gehangen hatten. Wenn sie nur die Zeit zurückdrehen könnte. Nur ein paar Minuten. Sie hatte sich in albernen Fantasien über einen mysteriösen Mann verstrickt.

Rettungsschwimmer! Wo waren Rettungsschwimmer? Die hatten Erfahrung, ein Megafon, Übersicht. Die mussten ihr helfen. Jemand musste ihr helfen. Vornüberkippend flog Helen über den heißen Sand, ihre Füße sackten weg. Auf dem weichen Untergrund konnte sie nur kleine Schritte machen. Die Angst überrollte sie und verschluckte sie mit Haut und Haaren. Hoffentlich verstanden die Leute von der Wasserwacht Deutsch. Was hatten die beiden eigentlich an? T-Shirts? Ja! Aber welche Farbe? Warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Tränen sprangen in ihre Augen. Farben und Gesichter verschwammen, Himmel und Wasser flossen zusammen. Aus dem Durcheinander undeutlicher Farbflecke schälte sich schemenhaft eine Gestalt.

»Darf ich auch ein Eis?«, klang eine empörte Stimme.

Helen versuchte, sich zu orientieren. Mühsam identifizierte sie in dem Nebel das Gesicht von Lucy.

»Hast du Leo und Nick gesehen?«, schrie Helen.

»Hab ich«, sagte Lucy beleidigt. »Das ist es ja.«

»Wann? Wo? Wo sind sie?«, brach es aus Helen heraus.

»Wieso kriegen die ein Eis und ich nicht?«

Sie wies vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger Richtung Strandbar, wo die beiden selig auf der Holztreppe saßen und hingebungsvoll knallbuntes Wassereis lutschten.

»Schatzkiste war zu teuer«, rief Leo und winkte ihr begeistert zu. »Wir haben ein anderes Eis genommen.«

»Ich will auch eins«, rief Lucy erbost. »Mir ist auch heiß.«

Auf einmal wirkte sie kaum älter als die beiden Jungen.

»Wir haben die zwei Euro ganz alleine im Sand gefunden«, klärte Nick seine Cousine auf. »Helen hat uns erlaubt, Eis zu kaufen.«

»Aber nichts Mama verraten«, sagte Leo. »Die will immer, dass wir erst was Vernünftiges essen.«

Helen ließ sich erschöpft in den Sand sacken. Über ihr erschienen zwei Kindergesichter mit bunten Eisschnuten, die auf allerlei chemische Farbstoffe schließen ließen.

»Ist dir heiß?«, fragte Leo besorgt.

»Du darfst bei mir lecken«, sagte Nick großzügig. »Meins ist ganz kalt.«

Er hielt ihr sein Eis hin. Grünes Zuckerwasser tropfte auf ihre erhitzten Wangen. Sie war noch nie so glücklich gewesen, verschmierte Kindermünder zu sehen. Daneben schob sich ein verärgerter Teenager in ihr Blickfeld.

»Und ich?«, fragte Lucy. »Wieso darf ich kein Eis?«

Helen seufzte zufrieden auf. Sie hatte alle ihre Schäfchen wieder bekommen. Von dem Mann mit Hut war keine Spur mehr zu erkennen.