25. Wellenbewegungen

Yella genoss, einen Augenblick nur für sich zu sein. Als die erste Welle auf ihren Bauch traf, zog sie unwillkürlich die Arme in die Höhe. Die Nordsee war nichts für Feiglinge und kälteempfindliche Zeitgenossen. Tausend Nadelstiche piksten auf ihrer Haut, als sie sich in die Fluten fallen ließ. Für einen Moment blieb ihr der Atem weg. Doch wenn man den ersten Schock überwunden hatte, war das Wasser herrlich. Mit jedem Schwimmzug passte sich ihr Körper mehr der Temperatur an. Yella schwamm mit kräftigen Zügen weit raus in die Wellen. Wenn sie immer weiter geradeaus Kurs nahm, würde sie in England landen, in einem anderen Leben. Aber im Moment wollte sie nirgendwo anders sein als genau an dieser einen Stelle. Weit weg vom Strand, von jedem Ufer. Alleine. Weit weg von Helens Fragen. Weit weg von der Surferhütte, wo sie ihren ersten Rotwein getrunken hatte, weit weg von den Erinnerungen an Frenkie. Yella drehte sich auf den Rücken und ließ sich einfach treiben. Von unten knabberte die Kälte an ihr, oben wärmten die Sonnenstrahlen sie auf. Sie wollte sich auf ewig im Wasser treiben lassen. Ihre Lippen schmeckten nach Salz. Der Himmel glänzte in wolkenlosem Blau, und für einen Moment gelang es ihr, abzuschalten. Sie war einfach nur glücklich. Bis eine unerwartet große Welle über ihr zusammenschwappte. Sie hustete und spuckte Salzwasser. Zeit, sich von den Wellen Richtung Strand tragen zu lassen.

 

Helen tippte energisch auf ihrem Handy herum, als Yella bibbernd aus dem Wasser zurückkam. Yellas Blick fiel auf die glücklichen Gesichter ihrer Söhne, die gerade hingebungsvoll von Lucy in einer Kuhle eingegraben wurden.

»Wie tief?«, fragte Lucy.

»So tief, dass sie nie mehr wegrennen können«, sagte Helen.

»Und dann bekomme ich ein Eis?«, fragte Lucy skeptisch.

»Erst graben«, sagte Helen streng.

Die beiden Jungs kicherten hocherfreut. Yella versuchte, sich einen Reim zu machen auf die seltsame Szene, die sich vor ihren Augen abspielte.

»Habt ihr Eis gehabt?«, fragte sie.

»Helen hat uns erlaubt, selbst zur Bude zu gehen«, bestätigte Nick stolz. »Wir haben ganz alleine den Weg gefunden. Es war überhaupt nicht schwer.«

»Jetzt müssen wir in die Kuhle, damit uns niemand klaut«, sagte Leo.

Yella wunderte sich über ihre Schwester. Sie hätte nie gedacht, dass ein Sommerurlaub Helen in die Sorte Tante verwandeln würde, die Kinder mit Eis verwöhnte oder im Sand einbuddelte. Vielleicht hatte sie ihre kleine Schwester, die immer viel zu ernst schien, bisher in einem vollkommen falschen Licht gesehen.

Helen tippte immer noch.

»Arbeit?«, fragte Yella.

»Schwimmkurs«, sagte Helen.

»Für dich?«

»Für Leo und Nick. Morgen geht es los.«

»Schwimmunterricht?«, fragte Yella nach.

»In Alkmaar«, sagte Leo.

»Ein Intensivkurs. Jeden Morgen zweieinhalb Stunden«, erklärte Helen. »Bis zum Ende des Urlaubs haben sie das erste Abzeichen.«

Yella konnte es kaum fassen. Leos Schwimmkurs in Berlin war bislang ein einziges Drama gewesen. Jetzt nickte er aufgeregt.

»Ich übernehme die Fahrerei«, versprach Helen, bevor Yella praktische Bedenken anmelden konnte. »Du musst dich um nichts kümmern.«

»Im Ernst?« Yella war verblüfft. »Das ist so lieb von dir.«

Wie hatte Helen das hinbekommen, Leo zu überzeugen, einen zweiten Anlauf zu wagen? Schaffte Helen es tatsächlich, Leo ein bisschen mehr Selbstvertrauen einzuflößen? David und sie waren an diesem Unternehmen bisher kläglich gescheitert.

»Es ist purer Egoismus«, gab Helen zu. »Ich verstehe nicht, wie man als Mutter von Nichtschwimmern am Strand überleben kann, ohne an einem Nervenzusammenbruch zu sterben.«

Yella nickte erfreut. Vielleicht hatte der Schwimmunterricht den angenehmen Nebeneffekt, dass Helen endlich damit aufhörte, im Gestern herumzustochern.