Als sie am Ende eines gemächlichen Strandtages in die Villa zurückkehrten, war Doro noch immer nicht eingetroffen. Schlimmer noch: Sie ließ nichts von sich hören. Auch Amelie, die sich für einen gemütlichen Spieleabend angesagt hatte, war ahnungslos. Ihre Nachrichten an die Schwester waren seit mehr als 24 Stunden ungelesen. In die anfängliche Konfusion mischte sich Irritation. Mit jeder Stunde, die verstrich, drängte ein anderes Gefühl in den Vordergrund: Sorge. Was war nur mit Doro los? Eine schnelle Nachfrage bei Ludwig brachte wenig Erhellendes. Sie arbeitet, schrieb er lapidar. Dann kann sie sich auf nichts anderes konzentrieren.
Besonders alarmierend war eine Textnachricht ihrer Mutter. Mit keinem Wort ging sie auf die Fotos ein, die sie geschickt hatten. Sie war wieder einmal nur mit den eigenen Befindlichkeiten beschäftigt. Habt ihr was von Doro gehört?, schrieb sie. Ich muss sie was zu den Papieren fragen. Sagt ihr, sie soll mich anrufen. Dringend!!!
Welche Papiere? Lucy und die beiden Jungs alberten herum, während Amelie nervös auf ihrem Stuhl herumrutschte. Man spürte förmlich, dass sie auf heißen Kohlen saß. Die drei Schwestern probierten, den gemeinsamen Spieleabend so fröhlich wie möglich zu gestalten. Doros Abwesenheit lag schwer über dem Abend.
Als Lucy sich mit ihrem Telefon zurückzog und die Kinder im Bett lagen, konnten sie das Thema nicht länger umschiffen.
»Typisch Doro«, sagte Helen. »Sie könnte doch wissen, dass wir uns Gedanken machen.«
»Ich würde mir keine Sorgen machen. Ich wette, die taucht urplötzlich auf und tut, als wäre nie was gewesen. War schon damals ihre Spezialität«, sagte Amelie. Sie verstummte schlagartig, als hätte sie sich unvorsichtigerweise in gefährliches Terrain gewagt.
Damals, das verstanden alle Sommerschwestern, war ein Code für den verhängnisvollen Abend.
Amelie sah sich mit gequälter Miene um.
»Ich glaube, es ist das Haus. Es hat so eine Aura«, flüsterte sie. »Ich habe ständig das Gefühl, im nächsten Moment passiert wieder was Schreckliches.«
Yella rutschte ungemütlich auf ihrem Stuhl herum. Die Richtung, in die das Gespräch gerade ging, missfiel ihr sichtlich.
»Wer will was Süßes zum Nachtisch?«, unterbrach sie.
Aber es war zu spät. Helen hatte Amelies winzige Andeutung aufgefangen.
»Was meinst du damit?«, fragte Helen. »Das war schon damals ihre Spezialität.«
»Vermutlich wollte Doro mich nur erschrecken«, sagte Amelie. »Wisst ihr noch, die Nummer mit dem Bettlaken und der Taschenlampe?«
Sie sah zu Yella, als ob sie erwarte, dass diese in den Kanon liebgewordener familiärer Wiederholungen einfiel. Yella rührte mit dem Löffel in ihrer Teetasse herum und starrte so angestrengt in die dunkle Brühe als läse sie in Wirklichkeit in einem Kaffeesatz.
»Ich bin nicht deine Schwester?«, ahmte Amelie die Stimme ihrer großen Schwester nach. »Ich bin ein Geist.«
Yella reagierte einfach nicht.
»Sie wollte mich erschrecken …«, sagte Amelie.
Das Gespräch erstarb, so wie es immer erstarb, wenn die Sommerschwestern sich im Gestern verliefen. Der Weg in die Vergangenheit stellte sich immer wieder als Sackgasse heraus.
Helen durchbohrte Amelie mit Blicken.
Ihre Zwillingsschwester hielt der Spannung nicht stand: »Es ist nicht wie damals. Wir sind keine Kinder mehr, und Doro kann wunderbar auf sich selbst aufpassen.«
»Sprichst du von der Sturmnacht?«
Amelie sprang auf: »Ich muss nach Hause«, sagte sie. »Wenn ihr Zeit habt, könnt ihr morgen zu uns kommen. Philomena gibt einen Comedy Workshop.«
Doch Helen ließ ihre Schwester nicht so einfach davonkommen.
»Was meinst du damit, Amelie?«, fragte sie scharf. »Was sollen die ganzen Andeutungen?«
Amelie sah Yella gequält an.
Seit sie in Bergen angekommen war, machte sich bei Helen zunehmend der Verdacht breit, dass Amelie sich an weit mehr erinnerte, als sie zugeben wollte.
»Ich hatte schreckliche Angst im Sturm«, berichtete ihre Schwester stockend. »Du hast geschlafen. Das ganze Haus ächzte. Jemand klopfte ans Fenster. Wirklich. Ans Fenster. Im oberen Stock! Ich habe mich nicht mal die Treppe runter getraut, zu Papa. Also bin ich in Doros Zimmer. Aber da war niemand. Das Bett war genauso, wie sie es am Morgen verlassen hatte. Ich bin zwischen die Laken gekrochen und habe mich unter der Decke versteckt. Das Fenster klappte auf und zu.«
Amelie schaute wieder zu Yella, als ob es ihrer Zustimmung bedurfte, den Rest der Geschichte zu offenbaren.
»Und irgendwann hörte ich dann die Schritte. Ich dachte, die Hexe von gegenüber holt mich. Aber es war Doro. Erinnert ihr euch? Sie hatte diese hässlichen rosa Cowboystiefel. Vom Flohmarkt. Plötzlich war sie wieder da. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit, aber vermutlich hat sie die ganze Zeit in der Tür gestanden und sich darüber lustig gemacht, wie ich mich fürchte.«
»Ich höre diese Geschichte zum ersten Mal«, sagte Helen erstaunt.
Sie beobachtete die versteinerte Yella. Was ging nur in ihr vor?
»Ich gehe ins Bett«, sagte Yella. »Ich habe keine Lust, schon wieder über den Unfall zu reden.«
Amelie nutzte den Moment, zur Tür zu eilen. »Ich muss sowieso los.«
Sie verzichtete darauf, ihr Mantra herunterzubeten. »Wir sind hier, um neue Erinnerungen zu kreieren, nicht um uns in Ereignissen zu verlieren, die zwanzig Jahre her sind.«
Helen blieb alleine am Tisch zurück. Mit einem eigentümlichen Gefühl im Magen.
»Ich habe keine Lust, über den Unfall zu reden«, hatte Yella gesagt.
Aber was hatte diese unschuldige, kleine Szene mit dem Unfall zu tun?