Helen stürmte mit zwei schlaftrunkenen Kindern die Schwimmhalle. Der neue Tag hatte sie gegen fünf Uhr mit überraschend kräftiger Sonne begrüßt. Die Nacht war kurz gewesen, das Frühstück hektisch, der Schwimmunterricht viel zu früh. Im Schwimmbad schlug ihnen schwüle Hitze entgegen. Unter dem Arm trug sie den unvermeidlichen Terrorpinguin, der wie eine Wärmflasche wirkte. Leo hatte darauf bestanden, dass Rudolf mit zum Schwimmen wollte, machte jedoch nicht die geringsten Anstalten, Helen das Stofftier abzunehmen. Yella hätte am liebsten nach Alkmaar begleitet, aber Leo und Nick fanden es spannender, etwas alleine mit Helen zu unternehmen.
»Du musst kommen, wenn wir was können«, sagte Leo aufgeregt.
Man spürte seine Not, seiner Mutter zu beweisen, wie mutig er war. Seit Helen die beiden alleine zum Kiosk gelassen, zur Unzeit Eis erlaubt und die beiden mit Lucys Hilfe hingebungsvoll verbuddelt hatte, bis sie sich nicht mehr vom Fleck rühren konnten, genoss Helen die unbedingte Liebe ihrer Neffen. Dass sie Rudolf und Hausgespenster im Zaum halten konnte, ließ Leos Bewunderung ins Unermessliche steigen. Ihre Neffen hielten sie allen Ernstes für die tollste Tante der Welt. In dreißig Jahren war ihr noch nie die Rolle der coolsten Thalbergschwester zugeschrieben worden. Sie verblasste immer ein wenig neben der lauten Brillanz von Doro, Yellas Fähigkeit, gut Freund mit den verschiedensten Menschen zu sein, und Amelies feenhafter Erscheinung. Doch jetzt war Helen die erklärte Favoritin.
»Mama passt immer so doll auf uns auf«, erklärte Nick gewichtig. »Dabei sind wir schon groß.«
Bereits im Eingangsbereich des Schwimmbads realisierte Helen, wie wenig Erfahrung sie mit Kindern hatte. Gehörte Selbstständigkeit nicht auch zu einem Schwimmabzeichen? Durfte man sich als Erwachsener überhaupt noch in den Umkleidekabinen von Kindern aufhalten? Es war schon eine Weile her, dass sie selbst ihr Seepferdchen gemacht hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Eltern sie je zum Schwimmunterricht begleitet hatten. Henriette war zu beschäftigt, ihr Vater von der großelterlichen Firma absorbiert gewesen. Yella dagegen kümmerte sich liebevoll um ihre Söhne und legte trotzdem viel Wert darauf, Nick und Leo zur Eigenständigkeit anzuhalten. Stoisch hielt sie aus, wenn ihre Kinder Vorlieben entwickelten, die sie nicht teilte. Jeden Morgen wählten die beiden Jungen sorgsam aus, was sie anziehen wollten. Leo liebte alles, was bunt war und glänzte: Knallfarben, Applikationen, Regenbögen, Einhörner und immer wieder »Frozen«-Motive. Nick dagegen entschied sich grundsätzlich für das, was ihm als Erstes in die Hände fiel, ohne Rücksicht auf Jahreszeit, Muster oder rechte und linke Seiten. Ganz zu schweigen vom Allgemeinzustand des Kleidungsstücks.
»Das brauche ich noch«, war sein empörtes Mantra. Das galt für leere Müslischüsseln, die er in die Spülmaschine räumen sollte, genauso wie für gefundene Stöcke, angefangene Bastelarbeiten, halb fertige Puzzles, umgekippte Spielzeugkisten und verdreckte Klamotten.
»Da schlägt eindeutig Davids Vater durch«, sagte Yella. »Mein Schwiegervater ist farbenblind und schwerhörig, wenn es darum geht, auch nur den kleinen Finger im Haushalt zu rühren.«
Helen nahm sich ein Vorbild an Yellas relaxter Haltung und beschloss, dass die Jungs groß genug waren, alleine in ihre Schwimmsachen zu schlüpfen.
»Ich helfe Nick beim Umziehen«, sagte Leo.
Er schob seinen Bruder gebieterisch durch das Drehkreuz am Eingang. Jetzt, wo Helen Rudolf übernommen hatte, gefiel er sich sichtlich in seiner neuen Rolle als mutiger Kümmerer und sorgsamer älterer Bruder. Dabei wollte Nick alles, nur nicht beschützt werden. Am allerwenigsten von Leo. Nick schlug den gönnerhaften Arm auf seiner Schulter energisch weg und rannte in Richtung Umkleidekabinen davon.
Helen platzierte Rudolf auf der Zuschauertribüne beim Fünfzig-Meter-Becken. Neben ihr nahm ein junger Vater Platz.
»Deine beiden haben sich in den Katakomben verirrt«, sagte er. »Ich habe ihnen gezeigt, wo die Umkleide ist.«
Helen blickte ihren Sitznachbar erstaunt an.
»Ich habe dich gleich erkannt. Deine Jungen sehen dir unglaublich ähnlich.«
Fast hätte Helen laut aufgelacht: Kein Mensch hatte sie je für eine Mutter gehalten. Im Gegenteil. Im Labor wurde sie selten einbezogen, wenn Babyfotos und Kinderanekdoten ausgetauscht wurden. Einen Moment lang war sie ersucht, reflexartig mit »Ich bin nur die Tante« zu antworten. Doch dann schlüpfte sie in die geliehene Rolle wie in einen Mantel, den man kurz überzieht, um zu testen, wie er einem steht. Es verwunderte sie, dass sie so etwas wie Stolz verspürte, unter den Müttern und Vätern der Schwimmgruppe nicht weiter aufzufallen. Ihr Übermut währte exakt fünf Minuten.
Helen versank beinahe in Grund und Boden, als Nick und Leo in der Schwimmhalle auftauchten. In normaler Kleidung und Straßenschuhen. Waren die beiden immer noch auf der Suche nach der Umkleidekabine?
»Ihr müsst euch umziehen«, rief sie und verfiel hektisch in ausladende, kreisende Handbewegungen, mit denen man auch Lastwagen einweisen könnte.
Ihre Worte und Gesten gingen im Schwimmbadgetümmel unter.
Ein junger Mann in weißen Shorts, möglicherweise ihr Lehrer, drückte ihnen Schwimmnudeln in die Hand. Vom Rand aus schrie Helen, in der Halle redete der Kursleiter auf sie ein. Offenbar desorientiert taperten ihre Neffen am Beckenrand entlang.
Helen glaubte, ihren Augen nicht zu trauen, als hinter den beiden Jungen weitere Kinder auftauchten. Ebenfalls in Straßenkleidung und Schuhen.
»Das Land ist voller Grachten, Kanäle und Wasserstraßen. Vom Meer ganz zu schweigen«, erklärte der Vater neben ihr mit gewichtiger Miene. »Da ist es überlebenswichtig, dass sie lernen, wie es sich anfühlt, in voller Montur ins Wasser zu fallen. Und wieder zum Rand zu kommen.«
»Sie gehen angezogen ins Becken?«, fragte Helen.
»Natürlich«, erläuterte der junge Mann. »Alle Kinder lernen das. Holland-Survival-Training.«
Helen lachte auf. War das nicht genau der Grund, warum sie Leo und Nick für den Blockkurs angemeldet hatte?
Die Kinder winkten den Eltern auf der Tribüne zu und verschwanden dann in einem Nebenraum. Die Eltern um sie herum verließen die Schwimmhalle.
»Die ersten Stunden trainieren sie im untiefen Übungsbad«, erklärte der Vater, »da brauchen sie keine Eltern, die zuschauen.«
Helen fand sich noch immer sprachlos in der Kantine wieder, eingehüllt in den Duft von morgendlicher Hitze, Kaffee, Chlor und heißem Fett. Gemeinsam mit Rudolf. Der akute Sauerstoffmangel haute sie um. Ihre Augen fielen zu, ihr Kopf kippte zur Seite, Rudolf ging zu Boden. Das Soundsystem in seinem Inneren weckte sie mit einem schrillen Laut. Sie quetschte Rudolf an die Mauer und lehnte sich erschöpft dagegen. Der Pinguin protestierte lauthals. Sein empörtes Quieken ging ihr durch Mark und Bein. Fast schon hatte sie das Gefühl, dass das Unheil, das in ihm schlummerte, nun auch auf sie abstrahlte. Rudolf stellte ketzerische Fragen und malte den Teufel an die Wand.
»So schön, eine Stunde freizuhaben«, sagte der Vater vom Nebentisch und fügte genießerisch die niederländische Übersetzung ein: »Eindelijk niksen.«
Endlich niksen war wirklich das Allerletzte, was auf Helens To-do-Liste für den Urlaub stand. Rudolf sah sie entschlossen an. Mit dem Terrorkuscheltier an ihrer Seite würde sie kaum ein Mininickerchen einlegen können. Während die Jungs im Wasser paddelten, hatte Helen Zeit. Zu viel Zeit, nutzlose Zeit, Zeit, in der sich die düsteren Gedanken des gestrigen Abends sofort wieder zur Stelle meldeten. Sie zog ihr Handy hervor und rekapitulierte, was sie bislang herausgefunden hatte. Die Informationen über den Sturm, Amelies Bericht. Es war ein winziges Detail in der scheinbar unschuldigen Geschichte ihrer Zwillingsschwester, das sich in ihr Bewusstsein drängte. Es waren die Cowboystiefel, die sie störten. Konnte ein Paar Boots der Schlüssel zu einem Geheimnis sein?