Yella joggte durch die Dünen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie wieder die Muße, ein bisschen Sport zu treiben, der nicht aus dem mütterlichen Dreikampf von Job und Haushalt jonglieren, Kinder betreuen und der Zeit hinterherlaufen bestand. Die Sonne drückte schwer auf sie herunter. Von Tag zu Tag kletterte das Thermometer. Schweißperlen brannten in ihren Augen. Die Hitze sammelte sich in den Dünenpfannen, die sie durchquerte. Kein Baum, kein Strauch, der ihr einen Moment Schatten schenkte. Ihr T-Shirt klebte am Leib, ihr Atem rasselte. Früher war Yella durchaus sportlich gewesen. Etwas, in dem sie selbst Doro überlegen war. Jetzt fühlte sie sich wie ein Sack Kartoffeln in der Sauna.
Die Steigung zum Aussichtspunkt gab ihr den Rest. Auf der Bank neben dem Fernstecher ließ sie sich erschöpft fallen. 450 Meter hatten gereicht, sie komplett auszuknocken. Ihre Lunge brannte, die Beine fühlten sich an wie Pudding. Wozu weiterlaufen? Von hier oben hatte sie den allerbesten Blick über das Dünenmeer, das in Gold- und satten Grüntönen leuchtete. Dahinter strahlte tiefblau die Nordsee. Der Westwind kühlte ihre Wangen.
Sie hatte den Wettkampf mit sich selbst verloren. Die neue Yella schaffte es nicht einmal bis ans Meer. Wer war sie ohne David und die Kinder? Zwischen Familie, Arbeit und Beziehung hatte sie fast schon vergessen, wie es sich anfühlte, als Einzelwesen zu existieren. Ob David sie an seiner Seite vermisste? Anstatt weiterzujoggen, verlief sie sich in den Tiefen des Internets.
Auf dem Handy scrollte sie durch den Instagram-Account des lettischen Künstlerhauses, das David ein großzügiges Stipendium gewährt hatte. Die Bilderauswahl zeigte, dass in Riga neben künstlerischer Arbeit auch viel Wert auf das gesellige Miteinander der internationalen Stipendiaten gelegt wurde. Die Fotos ließen auf allerhand feucht-fröhliche Zusammenkünfte schließen. David, so las sie unschwer aus den Aufnahmen heraus, gefiel sich im Singleleben auf Zeit.
Yella stalkte ihren eigenen Mann. Sie klickte sich durch die Social-Media-Accounts der übrigen Teilnehmer und fahndete auf den Posts von Ausflügen und geselligen Abendessen nach einer Spur von David. Und danach, ob er sich nicht allzu oft in der Nähe der italienischen Bildhauerin aufhielt.
War es wirklich nur dieser Roman, der zwischen ihnen stand? Oder verbargen sich darunter tiefer liegende Differenzen? Ihre Wangen liefen noch ein bisschen röter an. In Yella keimte ein Gefühl auf, das sie lange nicht mehr verspürt hatte: Eifersucht. Vielleicht war sie sich viel zu lange viel zu sicher gewesen, dass David fraglos an ihrer Seite stand? Vielleicht war sie zu selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Kinder sie für immer verbanden. Sie hatte Davids Schreiben in den letzten Jahren zunehmend als Belastung empfunden, weil es ihnen so wenig Zeit als Paar ließ. Aber hatte sie selbst sich eigentlich genug um ihren Mann bemüht?
Als ihr Telefon den Eingang einer neuen Nachricht vermeldete, hoffte sie einen Moment, Davids Namen zu lesen. Die Nachricht kam jedoch von ihrer Mutter.
Ich kann kein italienisches Brot mehr sehen, schrieb sie ohne große Einleitung. Könntet ihr mir eine Packung Brotbackmischung schicken? Das Vollkornbrot von Rewe. Das können wir im Camper aufbacken.
Wir sind in Holland, schrieb Yella zurück.
Es geht auch das Mischbrot.
Mama, wir sind in Bergen.
Ihre Mutter begann zu tippen. Stoppte. Yella wartete. Ihre Mutter tippte, unterbrach erneut, und dann war sie plötzlich offline. Yella starrte ganze zehn Minuten auf ihr Handy, aber nichts geschah. Sie beschloss, umzudrehen und das Joggen für heute aufzugeben. Als sie in die Villa Vlinder zurückkehrte, stand auf ihrem Display: Nachricht gelöscht.
Die zwei Worte reichten aus, sie vollends aus dem Konzept zu bringen.
Was wolltest du sagen?, tippte sie.
Nie war der Kontakt mit ihrer Mutter einfach, unkompliziert oder gar herzlich. Immer schwangen diese unausgesprochenen Erwartungen mit. Je länger Henriette Thalberg schwieg, umso drängender meldete sich ihr chronisch schlechtes Gewissen. Ihre Mutter bat nicht so häufig um Hilfe, sagte sie sich. Warum hatte sie so ungehalten reagiert? Musste sie nicht ohnehin einkaufen?
Ich schau hier im Supermarkt, schrieb sie. Vielleicht haben sie Brot zum Selberbacken.
Yella lief hektisch bei Albert Heijn die Reihen ab. In ihrem Einkaufswagen befanden sich bereits jede Menge nostalgischer Unsäglichkeiten. Hagelslag für die Jungen, wie die Schokostreusel fürs Frühstücksbrot hießen, ein großes Glas pindakaas, Erdnussbutter, dazu herrliche Campina vanille vla, eine Nachspeise auf Milchbasis, die im Ein-Liter-Tetra-Pak verkauft wurde. Ihre Söhne imitierten begeistert die Toilettengeräusche, die der dickflüssige Pudding von sich gab, wenn er blubbernd aus der Packung quoll. Daneben landeten Johannisbeeren und die dunkelbraunen, trockenen Bastogne- Kekse. Erst der Dreiklang aus Pudding, sauren Beeren und knackendem Gebäck kreierte die Geschmackssensation eines perfekten vlavlips, die Lieblingsnachspeise aller vier Schwestern aus alten Hollandsommern. Sie ergänzte ihr Sortiment mit doppelt gesalzenem Lakritz für eine Freundin und einer Packung Haage Hopjes für ihre Schwiegermutter, die sich schon beklagt hatte, dass sie nirgendwo mehr im Holländischen Viertel in Potsdam ihre Lieblingsbonbons mit dem leichten Kaffee- und Karamellgeschmack ergattern konnte. Dazu eine Packung der süßen stroopwafels, dünne Waffeln, die paarweise von klebrigem Sirup zusammengehalten wurden. Das Einzige, was jetzt noch zu ihrem Glück fehlte, war eine Brotbackmischung, die auch nur ansatzweise an deutsches Brot erinnerte.
Sie probierte es bei Jumbo, einer zweiten Supermarktkette, dann bei Lidl. Beim Ökoladen wurde sie endlich fündig. Hocherfreut fotografierte sie die beeindruckende Auswahl an Backmischungen für ihre Mutter ab.
Heureka, schrieb sie. Hier das Menü.
Es blieb still in der Leitung, trotz blauer Häkchen.
Welche willst du?
Wieder keine Antwort. Dabei war sie deutlich online.
Yella wählte die Nummer ihrer Mutter. Sie war fast schon erstaunt, als Henriette Thalberg sofort ranging.
»Mama!«, sagte Yella überrascht.
»Ist alles in Ordnung bei dir, Yella?«, fragte sie. »Du klingst schon wieder so gestresst.«
»Ich bin kein bisschen gestresst«, sagte Yella. »Ich habe Brot für dich gefunden.«
»Auf dem Foto neulich sahst du auch schon so blass aus«, sagte ihre Mutter. »Vielleicht muss ich mal mit meinem Schwiegersohn reden. Wenn er von seinem Litauenurlaub zurückkommt.«
»Lettland«, korrigierte Yella. »Es ist ein Arbeitsstipendium.«
»Zwei ganze Monate«, sagte Henriette abfällig. Ihr Kopfschütteln vermittelte sich auch durch die Telefonleitung.
Yella unterdrückte den aufkommenden Ärger. Ihre Mutter zeigte wenig Verständnis für die künstlerischen Ambitionen ihres Schwiegersohns und ließ keine Gelegenheit aus, ihr von Helens ach so erfolgreichem Paul vorzuschwärmen. Oder von dem Nachbarsjungen, der jetzt Arzt geworden war.
»Ich habe Brot für dich gefunden«, sagte sie betont fröhlich. »Welches willst du? Roggen? Vollkorn? Mais? Oder Waldkorn?«, fragte sie.
»Waldkorn, was soll das für ein Getreide sein?«
»Woher soll ich das wissen?«, sagte Yella. »Das steht auf der Packung.«
»Du musst nicht gleich laut werden, Yella«, sagte ihre Mutter tadelnd.
»Ich will nur wissen, welches ich schicken soll«, sagte sie.
»Das kannst du doch in einem weniger aggressiven Ton sagen.«
»Ich meine es nicht aggressiv«, verteidigte sich Yella.
Aber Henriette Thalberg hatte sich bereits festgebissen.
»Ich beobachte nur. Ich bewerte nicht«, sagte sie.
»Ich beobachte nur«, wiederholte Yella ätzend. »Ganz neutral natürlich.«
»Warum fühlst du dich dauernd angegriffen, Yella?«
»Weil du mich ständig kritisieren musst.«
»So ein Unsinn. Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Ich traue mich schon gar nicht mehr, etwas zu sagen, so übervorsichtig muss ich mit dir sein. Ich bemühe mich immer, mich zurückzuhalten.«
»Klappt nicht, kann ich dir verraten«, sagte Yella.
Ihrer Mutter verschlug es die Sprache. Jedenfalls für einen kurzen Moment.
»Du interpretierst da was in mich rein«, setzte ihre Mutter neu an. »Deine Unterstellungen haben mehr mit dir als mit mir zu tun.«
»Mama, hör auf. Ich habe den halben Morgen damit verbracht, Backmischungen für dich zu suchen.«
»Ich habe dich nicht darum gebeten.«
»Hast du schon.«
»Ich habe gefragt, ob jemand zufällig im Laden ist.«
Yella holte tief Atem.
»Wenn du mir die Adresse gibst, schicke ich es gleich los.«
»Nicht mehr nötig«, sagte Henriette. »Ludwig kümmert sich um mich.«
Yella stöhnte schwer auf.
»Wie schön«, sagte sie.
»Was mag das über dich aussagen, dass du immer gleich auf der Palme bist?«, sagte Henriette Thalberg. »Was denkst du?«
Yella legte auf. Es gab Tage, an denen sie solche Gespräche nicht ertrug. Sie hasste diese kleinliche, nörgelnde, ungeduldige, genervte Yella, in die sie sich in Gegenwart ihrer Mutter verwandelte. Wann hatten sie das letzte Mal wirklich miteinander gesprochen? Sich auf Augenhöhe über die Dinge ausgetauscht, um die es wirklich ging im Leben? Warum gelang es ihr einfach nicht, die Spitzen ihrer Mutter souverän zu überhören? Wieso konnte sie sich nicht auf die positiven Seiten ihrer Mutter konzentrieren? Vielleicht waren ihre Nerven tatsächlich etwas dünn.
Einen Moment später blitzte eine neue Textnachricht auf.
Wenn du Doro sprichst, wir warten immer noch auf ihren Anruf.
Yella saß wie erschlagen da.
War unsere Mutter schon immer so anstrengend?, schrieb sie in die Schwesterngruppe. Oder ist das schlimmer geworden?
Amelie rief sofort zurück und hörte sich geduldig die ganze Geschichte an. Sie lachte laut auf.
»Mama sollte sich mal mit Philomena unterhalten«, sagte sie. »Die beiden wären das allerbeste Duo.«
Amelies Art, den Konflikt einfach wegzulachen, hatte etwas Tröstendes.
»Sie ist eben keine Mutter, die gerne für andere sorgt«, sagte Amelie.
»Ich erinnere mich, dass sie mir einmal eine Packung Tiefkühlerbsen auf meinen verstauchten Knöchel gelegt hat«, sagte Yella.
Sie seufzte schwer auf. Wann hatte sie das letzte Mal so einen Erbsenmoment mit ihrer Mutter erlebt?
Dass sie sich Sorgen um Doro machte, war ebenso ungewöhnlich wie das »Wir« in dem Satz. Wir warten immer noch auf ihren Anruf.
Seit Lucy in Bergen aufgetaucht war, versuchte sie die nagende Ahnung, dass im Leben ihrer Schwester nicht nur Abgabetermine im Argen lagen, zu ignorieren. Es war an der Zeit, etwas zu unternehmen.