30. Lauter gut gelaunte Menschen

»Was haltet ihr davon, wenn wir heute Nachmittag bei Doro in Amsterdam vorbeischauen?«, fragte Yella in aufgewecktem Ton, als Helen mit den Jungen aus Alkmaar zurückkehrte. Es war an der Zeit, persönlich nach dem Rechten zu sehen. »Wir überraschen sie einfach.«

Helen nickte ernst. »Dann wissen wir wenigstens, was los ist.«

Lucy protestierte lauthals. »Auf keinen Fall. Nie im Leben. Nicht schon wieder nach Amsterdam. Ohne mich!«, rief sie.

Yella leistete keine Überzeugungsarbeit. Sie konnte ohnehin nur schwer einschätzen, welche Situation sie bei Doro erwartete. Beunruhigt blickte sie auf Leo und Nick, die nach dem Schwimmen tatsächlich einen Mittagsschlaf eingelegt hatten und jetzt ihren Kakao tranken und Apfelkuchen mümmelten. Ihre Haut glänzte, die Augen waren immer noch gerötet vom gechlorten Schwimmbadwasser.

Helen verstand Yella ohne Worte und zauberte eine Lösung aus dem Hut.

»Ich habe eine Idee für uns«, rief sie Nick und Leo zu.

»Zoo?«

»Besser«, sagte Helen.

In Laufweite vom Bahnhof Amsterdam Centraal hatte sie ein Wissenschaftsmuseum aufgetan, in dem Kinder spielerisch an Chemie, Physik und Biologie herangeführt wurden.

»Ich zeige den Jungen, womit ich mich jeden Tag beschäftige«, sagte sie. »Und währenddessen gehst du schnell bei Doro vorbei.« Yella nickte zustimmend. »Das Museum heißt Nemo, wie der Fisch«, erklärte Helen. »Und es sieht aus wie ein untergehendes Schiff.«

»Boring«, klagte Lucy. »Total langweilig.«

Sie bestand darauf, erwachsen zu sein und bei Amelie in Bergen zu bleiben.

Als Kind war Helen immer auf der Suche nach inspirierenden Geschichten und weiblichen Vorbildern gewesen. Sie hätte alles gegeben, schon im Kindesalter auf jemanden zu treffen, der ihr eine Tür zur Welt der Naturwissenschaften geöffnet hätte. Lucy hatte nicht das geringste Interesse an dem Museum. Das improvisierte und freie Leben ihrer Tante Amelie zog sie hingegen magisch an.

»Meine anderen Tanten sind so was von erwachsen«, erklärte sie einer Freundin am Telefon. »So will ich nie werden.«

 

Sie entschieden sich, in Alkmaar den Zug zu nehmen. Am Bahnhof Amsterdam Centraal trennten sich ihre Wege. Während Helen mit zwei aufgeregten Jungs zu Fuß zum Wissenschaftsmuseum aufbrach, begab sich Yella Richtung Metro.

Mit mulmigem Gefühl im Magen nahm sie in der U-Bahn Platz, deren Linie vom Norden Amsterdams bis in das ultramoderne Viertel am südlichen Stadtrand führte und gerade mal acht Haltestellen umfasste. Über Fahrpreise musste man sich nicht die geringsten Sorgen machen. Amelie hatte alle Familienmitglieder mit einer OV -chipkaart ausgestattet, einer elektronischen Speicherkarte für alle öffentlichen Verkehrsmittel in den Niederlanden.

»Damit kannst du sogar ein Fahrrad mieten«, hatte sie erklärt.

Yella verzichtete darauf, sich unter die Hunderttausenden Fahrradfahrer der Hauptstadt zu mischen, die ihrem eigenen anarchistischen Regelwerk folgten. Sie kannte das schon aus Bergen, wo radelnde Touristen gerne von Einheimischen vom Weg gefegt wurden. Nach dem Geschmack der Einwohner kurvten Touristen auf Leihrädern grundsätzlich viel zu gemächlich über ihre Fahrradwege. Es ging Yella nicht um Sightseeing, und mit der Metro war sie sicher schneller. Die endlosen Rolltreppen bewiesen eindrücklich, wie tief die U-Bahn unter der historischen Altstadt mit ihren Kanälen und Grachtenhäusern verlief.

 

Yella war nicht darauf vorbereitet, was sie an der Station »De Pijp« erwartete. Einmal an der Oberfläche angekommen, stand sie am Eingang zum Albert-Cuyp-Markt. Sie war nach Holland gereist, um die Erinnerungen abzuschütteln; und wurde doch immer wieder aufs Neue in die Vergangenheit katapultiert.

Doro hatte ein Airbnb in einer hippen Gegend gemietet. Rund um den ältesten Straßenmarkt Europas, der jeden Morgen um fünf Uhr neu aufgebaut wurde, luden Restaurants, Kneipen, Cafés, kunterbunte Geschäfte und trendy Boutiquen zum Verweilen und Shoppen ein. Genau hier waren sie an Johannes Thalbergs letztem Tag über den Markt gebummelt, genau hier war das letzte Schwesternporträt entstanden. Jedes Jahr wurden die Sommerschwestern beim obligatorischen Ausflug in den Amsterdamer Tierpark vor einem ewig schrumpfenden steinernen Gorilla aufgestellt und vom Zoofotografen abgelichtet. In seinem letzten Jahr hatte ihr Vater für das klassische Ferienporträt einen exzentrischen Fotografen aufgetan, der seine Ästhetik aus den ehemaligen niederländischen Kolonien nach Amsterdam mitgebracht hatte. Eine magische Kraft zog sie zu der Adresse Albert Cuyp Straat 57, wo früher Lee To Sangs Fotostudio zu finden gewesen war. Heute war der Laden eine Baustelle. Im leeren Schaufenster flatterte ein Falter, der immer wieder gegen das Glas knallte und doch nicht aus seinem Gefängnis entkam.

Um den unnötigen Umweg sinnvoll erscheinen zu lassen, kaufte Yella nebenan bei Bakken met Passie, Backen mit Leidenschaft, zwei Minikuchen. Mit klopfendem Herzen bog sie in die Frans Halsstraat ein. Von hier waren es nur noch ein paar Straßenecken bis zu Doro.

»Die Straßen hier im Viertel sind alle nach berühmten niederländischen Malern aus dem 17. Jahrhundert benannt«, hörte sie die Stimme ihres Vaters. Heute informierten kleine Reproduktionen, die über den blau-weißen Straßenschildern angebracht waren, Interessierte exemplarisch über das Werk des jeweiligen Künstlers. Yella blieb einen Moment vor der Reproduktion eines Gemäldes von Albert Cuyp stehen und bewunderte seinen Wolkenhimmel. Kein Wunder, dass ihr Vater mit dem Werk vertraut war. Die Tatsache, dass immer wieder neue Sätze in ihrer Erinnerung auftauchten, bestätigten eindrucksvoll Amelies Theorie, wie lebendig die Verbindung zu ihrem Vater immer noch war.

Yella lief an einer Reihe von Läden vorbei, die sich jeweils einer einzigen Zutat verschrieben hatten. Vor der Avocado Show, wo nur Gerichte mit der hippen Beere auf der Karte standen, hatte sich eine Schlange gebildet, genauso vor dem Frühstückscafé, das den Namen Œuf trug und offensichtlich Eier in allen Variationen servierte. Ein Stück weiter lag eine Art Hipster-Wienerwald, wo man ausschließlich gegrillte Hähnchen bestellen konnte. »Wake me up when I am famous«, las sie auf einem Graffito an einer Mauer. Davor turnten ein paar spanische Influencerinnen, die sich wechselseitig auf die davorstehende Bank legten. Sie erkannte den Spruch von Lucys Instagram-Account.

Yella ließ den Blick verblüfft über die dschungelartigen Straßen schweifen, bis ihr auffiel, warum es hier so anders aussah als in ihrem Berliner Viertel. Die Autos, die anderswo das Straßenbild prägten, fehlten. In den ehemaligen Parkbuchten blühten Blumen und Büsche, liebevoll betreut von den Bewohnern des Viertels, die, wie kleine Schilder bewiesen, die Grünflächen adoptiert hatten. Die Bewohner dehnten ihren Aktionsradius mit verblüffender Selbstverständlichkeit auf die Bürgersteige aus. Überall versperrten Bänke, Tische, Sonnenschirme und Pflanzen vor den mehrstöckigen Häusern den Weg. Auf einer Picknickbank brüteten zwei junge Frauen über Laptops und Papieren. An einem Eckhaus tobten Kinder in einem Planschbecken herum. Man wähnte sich auf dem Dorf, so entspannt ging es hier mitten in der Großstadt zu. Selbst der Postbote wurde begeistert von den Bewohnern empfangen und mit Namen begrüßt.

Bei Jacob’s Juice bestellte sie noch zwei Kaffee und grüne Smoothies. Die zarte Frau mit den lockigen roten Haaren und farbenfrohen Tattoos stellte sich mit einem begeisterten »Hi, I’m Emma« vor und begrüßte sie in akzentfreiem Englisch. Waren hier alle freundlich, gut gelaunt und entschleunigt? Trotz halsbrecherischer Radfahrer lag das Amsterdamer Tempo weit unter dem von Berlin. Sie nahm sich fest vor, noch einmal in Ruhe die Stadt zu erkunden, sobald David seinen Roman beendet hatte. Sie mussten sich endlich einmal wieder ein kinderfreies Wochenende gönnen, um sich im Familienalltag nicht vollends als Paar zu verlieren.

Alle Häuser des Viertels folgten einer identischen Bauweise. Über den Läden im Erdgeschoss lagen drei Stockwerke mit hohen, dicht an dicht liegenden Fenstern. Eine vierte Etage befand sich bereits in der Dachschräge.

Endlich stand sie vor dem richtigen Haus. Der Grundstein zu dem Klinkerbau, so zeigte ein Gedenkziegel, war 1886 durch den sechsjährigen Theo van der Molen gelegt worden. Ganz offensichtlich überließ man Kindern diese zeremonielle Aufgabe, um sie in der Historie der Stadt auf immer zu verankern.

Yella versuchte, sich einen Reim zu machen auf die kryptischen, wenn überhaupt nur mit Initialen versehenen Klingelschilder. Schließlich entschied sie sich dafür, dass die mit BB gekennzeichnete Klingel für Bed & Breakfast stehen musste. Nichts geschah.

Am Haus gegenüber baumelte in schwindelerregender Höhe ein Sofa über dem Bürgersteig. Im zweiten Stock turnte ein junger Mann im offenen Fenster, um das Möbelstück entgegenzunehmen, das über eine Seilwinde nach oben gezogen wurde. Der Umzugswagen blockierte die ganze Straße. Niemand schien sich daran zu stören. Als sie zum zweiten Mal klingelte, glitt das Sofa elegant in den zweiten Stock hinein. Die Studenten legten auf den dazugehörigen Sesseln erst mal eine Kaffeepause auf dem Bürgersteig ein.

Yella drehte sich um und stellte erst jetzt fest, dass die Eingangstür aufgesprungen war.

Statt eines elektrischen Öffners zitterte in der Ecke des winzigen Flurs ein Seil, mit dessen Hilfe man die Tür manuell aufziehen konnte. Das Seil lief über alle vier Stockwerke.

Yella trat aus der Hitze in das düstere, aber angenehm kühle Stiegenhaus. Über ihrem Kopf schwebte gefährlich ein Kinderwagen, für den im schmalen Eingangsbereich anders kein Platz mehr war. Fünf Schritte entfernt erhob sich eine erschreckend steile Treppe. Die einzelnen Stufen waren nicht einmal so breit, dass man den gesamten Fuß auf ihnen absetzen konnte. In einer Stadt, in der Wohnraum dem Wasser abgerungen war, sparte man offenbar beim Bauen an Quadratmetern für Stiegen. Kein Wunder, dass die Umzugshelfer von gegenüber so unerschrocken waren. Wer in seiner Kindheit solche Treppen überlebte, den konnte Höhe vermutlich nicht mehr schrecken.

Ächzend schleppte sie sich nach oben. Im vierten Stock angekommen, war sie so aus der Puste, dass sie keinen Pieps mehr hervorbringen konnte. Sie fand die Tür verschlossen.