31. Unterwasserwelten

»Doro?«

Yellas Stimme verlor sich dumpf im Treppenhaus. Zögerlich klopfte sie an die Tür. Auf einmal war sie sich keineswegs mehr sicher, ob ihre große Schwester besonders begeistert über unangemeldeten Besuch wäre. Doros Kreise zu stören, konnte eine gefährliche Angelegenheit werden. Selbst mit Kaffee, Kuchen und grünem Smoothie gewappnet.

Sie legte neugierig das Ohr an die Tür. Eine surreale Musik aus abstrakten Lauten zog sie sofort in ihren Bann: hohe, lang gezogene Töne, ein schwebendes Singen und Sausen, unterbrochen durch furchterregendes Knacken und krachende Peitschenschläge, die an niedersausende Laserschwerter aus Science-Fiction-Filmen erinnerten. War das wirklich Doros Wohnung?

Sie klopfte entschiedener: »Doro? Bist du da?«

Statt einer Antwort erlosch das Licht im Treppenhaus. Um sie herum säuselte, sang, knackte und knisterte es. Die gespenstische Klangwolke umhüllte sie, als hätte eine unsichtbare Kraft sie auf einen futuristischen, dunklen Planeten gebeamt, wo körperlose Aliens sie in einer unbegreiflichen ätherischen Sprache begrüßten.

Was um alles in der Welt erwartete sie hinter der Schwelle?

Yella hatte vielfach die Gelegenheit gehabt, Doros Fähigkeit zu erleben, mit ihren Kostümen wundersame Gestalten zu kreieren, die den Zuschauer in unbekannte Welten entführten. Ihre Hand tastete im Dunkeln nach der Türklinke. Zu ihrer Überraschung gab die Tür nach.

Vorsichtig setzte sie ihren Fuß in die fremde Wohnung. Die silbernen Rimowa-Koffer ihrer Schwester begrüßten sie wie alte Bekannte und bestätigten, dass sie tatsächlich am richtigen Ort angekommen war. Das Airbnb bestand aus einem einzigen Raum, der über die gesamte Tiefe des Hauses lief. Die imposanten Fensterfronten an beiden Seiten waren mit blauer Folie abgeklebt, genauso wie jede einzelne Lampe. Yella stand spontan vor Augen, wie sie gemeinsam mit Doro als Kind im Aquarium von Bergen aan Zee in einem magischen Wassertunnel herumgetanzt war, umgeben von leuchtenden Fischen und Haien. Nutzte Doro diese spezielle Kindheitserinnerung als Basis für neue Entwürfe? Das eigentümliche Aquariumlicht verwandelte die Wohnung in eine geheimnisvolle Unterwasserwelt. Von der Decke baumelten Kleidermodelle, die sich im Zug sachte hin und her bewegten. Ein Beamer warf Aufnahmen von endlosem tiefdunklem Eis auf die weißen Stoffkreationen.

Yella bewunderte die Fähigkeit ihrer Schwester, Traumwelten aus dem Nichts entstehen zu lassen. Auf einem großen Eichentisch sammelten sich Bilder berühmter Sänger, Skizzen von Kostümen, Stoffmuster, Farb- und Materialproben, Kopien aus Kunstbüchern, Prospekte, Notizen und Kalkulationen. Weil die Tischfläche nicht ausreichte, überflutete ein wahrer Tsunami an Papieren den Boden.

Irgendwo klingelte ein Handy. Die Beameraufnahmen mit den mystischen Klängen stoppten jäh, stattdessen ertönte aus der winzigen Küchenecke, die vom Hauptraum getrennt war, die unverkennbare Stimme ihrer großen Schwester. Doro trat wie ein donnernder Unterwassergeist in den Raum. Sie war auf hundertachtzig. Im Stakkato feuerte sie wütende Sätze ab.

»Ich war nicht zu spät. Die anderen waren viel zu früh.«

»Du hättest mich daran erinnern müssen, Ludwig. Ich bin der kreative Geist, ich kann mich nicht auch noch um solche Terminsachen kümmern.«

»Nein, das werde ich nicht tun.«

»Das Geld ist mir egal.«

»Ist mir auch egal.«

»Bring sie zum Notar. Das ist deine Aufgabe, deine einzige.«

»Natürlich werden sie das verstehen.«

»Wir bezahlen, sobald ich den Vorschuss habe …«

»Ich habe alles im Griff. Der Auftrag ist so gut wie sicher.«

»Wenn du nicht mehr an mich glaubst, kannst du gerne kündigen. Reisende soll man nicht aufhalten.«

Sie packte einen Manila-Umschlag vom Tisch und pfefferte ihn in den Papierkorb.

»Nein, ich muss mir das nicht noch mal anschauen. Du musst Nägel mit Köpfen machen.«

Doro drehte sich schwungvoll auf dem Absatz um. Der Boden knarrte unter ihren Cowboystiefeln. Yella erschrak, als sie Doros Gesicht sah. Ihre Stimme hatte fest geklungen, aber ihre geschwollenen und geröteten Augen verrieten, dass sie längst den Überblick über Tag und Nacht verloren hatte. Ihre Hautfarbe wirkte im blauen Licht fahl, die Augen waren tief in die Höhlen gesunken.

»Ich habe einen Latte dabei«, sagte Yella. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

Besonders überrascht schien ihre Schwester nicht über ihr plötzliches Erscheinen. Eher irritiert. Doro kannte nur eine Form der Verteidigung: den Angriff.

»Ich habe echt keine Zeit für Kaffeeklatsch, Yella«, sagte sie. »Meine Assistentin hat einen Egotrip und der Rest der Mannschaft Grippe, Schwangerschaftsbeschwerden oder Magenverstimmung. Und jetzt fällt mir auch noch Ludwig in den Rücken. Die Aufführung hängt wieder alleine an mir.«

»Weswegen sitzt du hier im Dunkeln?«, fragte Yella.

»Ich prüfe, wie meine Entwürfe in blauem Bühnenlicht wirken«, erklärte Doro. »Wir legen die ganze Oper unter Wasser.«

»Ist das für die ›Undine‹?«

Doro war in voller Fahrt und ließ Yella kaum zu Wort kommen.

»Ich bin fast fertig mit der Präsentation«, meinte sie und wies mit einer vagen Handbewegung über das Chaos. »Bis dahin musst du mich einfach in Ruhe lassen. Ich brauche echt jede Minute.«

»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Doro«, sagte Yella vorsichtig. »Selbst Mama vermisst dich schon.«

Doro lief in den Küchenteil, wo ein Arsenal leerer Flaschen und Verpackungen eindrucksvoll dokumentierte, dass Doro bei ihrer Ernährung vor allem auf Hochprozentiges und Lieferdienste setzte. Wann hatte sie wohl zuletzt ihr Unterwasseruniversum verlassen? Kein Wunder, dass Lucy geflüchtet war. Doro schenkte sich ein Glas klarer Flüssigkeit ein.

»Was trinkst du da?«

»Mut«, sagte Doro.

Yella roch verstohlen an der Flasche und schüttelte sich.

»Mut in hoher Dosis«, bestätigte Doro.

»Du trinkst während der Arbeit?«, platzte Yella heraus.

»Ich spinne ein bisschen, ja«, sagte Doro mit gespielter Leichtigkeit. »Das gehört zu meiner Funktionsbeschreibung. Wenn man nicht komplett verrückt ist, tut man sich so einen Beruf nicht an.«

Doro bemühte sich sichtlich, gute Laune zu demonstrieren. Sie schwankte Richtung Kühlschrank, um sich Eiswürfel zu holen. Yella fiel auf, wie mager sie geworden war.

»Ich bin ganz steif vom vielen Sitzen«, sagte Doro.

»Wie kannst du um diese Uhrzeit schon trinken?«, sagte Yella.

»Es geht ganz einfach«, sagte Doro und schenkte Yella ein Glas bis zum oberen Rand ein. »Und es schmeckt gut. Lekker, wie man hier sagt.«

Yella kippte ihr volles Glas in die Spüle.

»Yella, du bist so spießig geworden. Kannst du nicht mal ein bisschen Spaß haben?«

Nach Spaß sah das Ganze wahrlich nicht aus.

»Lucy geht es prima«, sagte Yella. »Danke der Nachfrage.«

Sie klang pampiger als geplant. Die Erwähnung ihrer Tochter ließ Doro sichtbar zusammenzucken.

»Es ging nicht anders«, sagte sie und wirkte auf einmal kläglich. »Ich wollte Lucy nicht mit unseren Problemen belasten. Wir haben einen personellen Engpass im Atelier. Ich wollte sie nur beschützen.«

»Dann rede mit uns, Doro.«

»Es tut mir leid, Yella. Ich wünschte, es wäre anders, aber ich stehe kurz vor einer Riesenpräsentation. Das hier kann mein Einstieg in die Opernwelt werden. Ich habe noch nie Oper gemacht. In meinem Beruf muss man immer mehrere Standbeine haben.«

Besonders fest stand sie im Moment jedoch auf keinem ihrer Beine. Weder im übertragenen noch im wörtlichen Sinn.

»Wo ist Ludwig?«, fragte Yella.

»Den konnte ich hier nicht gebrauchen«, erklärte Doro kurz angebunden. »Der redet nur rum.«

»Und du?«

»Ich rede gar nicht«, sagte Doro. »Im Gegensatz zu allen anderen. Ich muss nämlich arbeiten.«

Doro kam näher. Yella zuckte unwillkürlich vor ihrer Alkoholfahne zurück.

»Willst du nicht wenigstens mal lüften?«, fragte sie vorsichtig.

»Nach dem Duschen«, sagte Doro und ließ Yella einfach stehen.

Statt Badezimmer verfügte die Wohnung über eine Art Nasszelle, in der man gleichzeitig auf dem Klo sitzen und über dem Waschbecken Zähneputzen konnte. In dem winzigen Raum fiel sofort das beeindruckende Arsenal an Pillendosen auf. Doro registrierte Yellas besorgten Blick nur zu gut.

»Die Dusche ist sehr praktisch, man flutet automatisch das ganze Badezimmer. Es ist immer sauber«, sagte Doro, als ob Yellas Sorge sich auf die Enge des Raums bezog. »Lästig ist nur, dass einem beim Duschen ständig der Duschvorhang am Po klebt.«

Während Doro sich frisch machte, entfernte Yella vorsichtig die Verdunklung von einem Fenster, um Sauerstoff hereinzulassen. Beeindruckt stellte sie fest, dass Doros Wohnung eine atemberaubende Sicht bot. Ihre Schwester arbeitete mit spektakulärem Blick auf die Dächer des Viertels und die vier Türme des berühmten Rijksmuseums. Rembrandts »Nachtwache« und ein Besuch bei den alten niederländischen Meistern standen auf Helens Liste, Doro lebte Tür an Tür mit den berühmten Malern.

Aus dem Bad klang das Rauschen des Wassers. Die Gelegenheit war günstig, sich klammheimlich im Leben ihrer Schwester umzuhören.