34. Alte Muster

Leo und Nick waren begeistert. Helen staunte über die endlose Energie ihrer Neffen. Morgens waren sie beim Schwimmen gewesen, nachmittags in Amsterdam. Das spektakuläre Museum bot ein richtiges Chemielabor für Kinder. Weiße Laborjacken und große Sicherheitsbrillen auf dem Kopf verwandelten die Jungen in wahrhaftige kleine Wissenschaftler. Mit Backpulver, Essig und größtem Ernst führten sie Versuche durch. Vieles hätte Helen leicht mit ihnen in der Küche des Ferienhauses ausprobieren können, doch das Ambiente eines echten Labors machte die Illusion perfekt. Voller Bewunderung beobachteten Nick und Leo ihre Tante, die sie an ihrem Geheimwissen teilhaben ließ.

»Ich glaube, sie ist eine Zauberin«, flüsterte Leo seiner Mutter zu, als sie abends in die Villa Vlinder zurückkehrten. »Selbst Rudolf traut sich bei ihr nicht aufzumucken.«

Helen war gleichermaßen beeindruckt. Diese beiden liebten sie mit ganzer Kraft. Leider 24 Stunden am Tag.

Wie um alles in der Welt überlebte man diese Form der bedingungslosen Hingabe? 365 Tage im Jahr? Wo fand man unter solchem Dauerfeuer Raum für ein eigenes Leben? Die fünf Etagen des Museums voller praktischer, kindgerechter Versuche hatten Helen ermüdet, nicht aber die beiden Jungen. Sie tobten laut schreiend durch Haus und Garten.

Helen ließ sich erschöpft aufs Sofa fallen, während für Yella das Rennen munter weiterging. Nun kümmerte sie sich nicht nur um Nick und Leo, sondern auch um Doros Bedürfnisse. Während ihre große Schwester sich in der Küche einen Drink genehmigte, schob Yella Möbel herum, auf denen sie Doros Arbeit drapierte, die bereits nach wenigen Stunden überall herumlag.

»Was machst du da?«, fragte Helen.

»Ich versuche, Ordnung zu schaffen.«

»In Doros Papieren?«

»Ich bin gut in so was«, sagte Yella. »Ich mache im Büro nichts anderes, als den Kopf anderer Leute aufzuräumen.«

»Du bist nicht im Büro«, sagte Helen.

»Es geht doch nur darum, diesen einen Termin zu schaffen …«, sagte Yella. »Ich kann Doro nicht hängen lassen.«

Helen verkniff sich jeden Kommentar. Yella geriet dennoch sofort in eine Verteidigungshaltung.

»Wir sind Schwestern«, sagte sie. »Wir müssen zusammenhalten. Gerade, wenn es schwierig wird. Mir macht das nichts aus.«

»Wir wollten morgen ins Aquarium«, sagte Helen.

»Yella«, rief Doro aus der Küche.

»Es bleibt genug Zeit für gemeinsame Aktivitäten«, sagte Yella.

»Yella, kommst du mal?«, wiederholte Doro, nun schon ein bisschen lauter.

Yella wand sich. Sie verstand nur zu gut, was Helen meinte.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte sie.

»Wäre es möglich, dass deine Jungs einen Moment still sind?«, fragte Doro. »Ich muss den Text von zwei Liedern überprüfen. Ich kann kaum hören, was sie singen.«

»Sie haben Ferien«, sagte Helen, die hinter Yella den Raum betreten hatte.

Ihre große Schwester rauschte an Helen vorbei, ohne sie zu beachten. Doro kümmerte sich vor allem um Doro. Ihre Anwesenheit im Ferienhaus veränderte schlagartig die Dynamik zwischen den Schwestern. Sie dominierte mit einem Mal die Atmosphäre im Haus. Wie früher.

»Je mehr ihr mich unterstützt, desto schneller bin ich fertig«, sagte sie. »Und wenn wir alle an einem Strang ziehen, kann ich auch noch ein bisschen Urlaub machen.«

»Warum setzt du dich nicht in eines der Schlafzimmer?«, fragte Yella. »Da bist du ungestört.«

»Ich will bei euch sein«, sagte Doro. »Ich habe viel zu lange im eigenen Saft geschmort. Ich brauche Trubel um mich, dann kann ich viel besser denken.«

Kindergeschrei fiel bei ihr wohl nicht unter die Kategorie erwünschter Trubel.

 

Helen hatte schon früh gelernt, ihrer ältesten Schwester aus dem Weg zu gehen. Wie oft hatte Yella zwischen beiden Parteien vermittelt, wenn Doro mal wieder genervt war von den Kleinen. Yella war immer ihr Anker in der Familie gewesen. Wenn Helen ehrlich war, hatte sie schon immer mit Doro um Yella konkurriert.

In ihrem letzten Familienurlaub vor dem Tod des Vaters hatte Yella auf einmal ewig im Badezimmer gebraucht und begonnen, ihr Bikinioberteil auszustopfen. Helen, enttäuscht davon, dass Yella ihre große Schwester Doro auf einmal wesentlich spannender fand als die neunjährigen Zwillinge, hatte Doro damals genauestens studiert und beschlossen, dass sie so ein Mädchen nie werden wollte. Dieses Lachen, zu hoch und zu schrill, das Doro immer dann strategisch geschickt platzierte, wenn Jungen in der Nähe waren, hatte in ihren Ohren geschmerzt. Und dann hatte auch Yella sich verändert. Ihre Schwester hatte schon vor dem Unfall das Interesse an ihr verloren.

Wiederholte sich dieses Spiel? Oder lag das Problem anderswo? Helen hatte den Verdacht, dass Doros Anwesenheit Yella eine perfekte Ausrede lieferte, Helen auszuweichen. Sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Yella sich ihr öffnen würde. Doch mit Doro im Haus blieb kein Raum mehr für vertraute Gespräche und unbequeme Fragen. Die sieben Jahre ältere Schwester hatte schon zu Kinderzeiten jedes Duell gewonnen: um das größte Stück Torte, das beste Zimmer, die Aufmerksamkeit der Mutter, um Yella.

»Doro ist Sonne und Mond zugleich. Sie kreist vor allem um sich selbst«, sagte sie, ohne sich allzu viel Mühe zu geben, leise zu sprechen.

Doro nahm Helens Abwehrhaltung sehr wohl wahr.

»Ich wäre besser in Amsterdam geblieben«, sagte Doro beleidigt. »Ich bin nur eine Last für euch.«

»Ach, Unsinn«, sagte Yella. »Wir freuen uns, dass du endlich da bist.«

Der Tag endete mit »Undine« und Krach. Ohne Pause schallten Operntöne bis in den Garten, untermalt von den unheimlichen Klängen des singenden Eises. Leider gab es weit und breit keine Kopfhörer.

»Ich kann es nicht ändern«, sagte Doro beim Abendessen. »Ich hänge hinterher, weil die Leute, die mir sonst zuarbeiten, einfach nicht geliefert haben.«

Helen zuckte mit den Schultern.

»Bedank dich bei meinen Auftraggebern, die mit nichts zufrieden sind. Ich habe mir diese Situation nicht ausgesucht, ich stehe mit dem Rücken zur Wand.«

Doro wollte unbedingt eine Absolution von ihrer kleinen Schwester.

»Es tut mir wirklich leid, Helen«, insistierte Doro mit erhobener Stimme. »Das muss doch reichen.«

»Ist ja gut«, sagte Helen. »Kein Problem.«

Aber Doro redete sich gerade erst warm.

»Wenn dir was nicht passt, Helen, sag es mir einfach ins Gesicht. Damit kann ich besser umgehen als mit diesen passiv-aggressiven Vorwürfen.«

»Alles klar«, sagte Helen.

»Nichts ist klar. Ich sehe dir doch an, dass du sauer auf mich bist.«

Sie wandte sich an Yella. »Helen ist so eine Art Vulkan. Oben sieht alles ruhig aus, aber darunter kocht es.«

»Lass gut sein, Doro«, wiegelte Yella ab.

»Ist doch wahr«, empörte sich Doro. »Sie sagt nichts, lässt einen aber deutlich spüren, dass ihr etwas nicht passt. Und das nennt sie dann ›sich raushalten‹.«

Helen zählte innerlich bis zehn. Nein, sie würde diesmal nicht darauf reinfallen. Sie kannte Doros Eskalationsspirale bis ins Detail. Nein, sie würde nicht mit Doro streiten. Nein, sie würde sich nicht provozieren lassen. Nein, nein, nein.

Ihr Schweigen reichte, Doro endgültig aus der Fassung zu bringen: »Ich kann mich nicht auch noch mit Helen herumstreiten. Das schaffe ich einfach nicht. Das ist mir wirklich zu viel.«

Doro verließ den Raum. »Es war nicht meine Idee, mit meiner Arbeit herzukommen«, richtete sie sich an Yella. »Kannst du das Helen ausrichten? Von mir nimmt sie nichts an.«

 

Helen versuchte, sich mit der veränderten Situation zu arrangieren. Die Rollen waren vertauscht. Während Yella sich um Doros Angelegenheiten kümmerte, ging Helen in ihrer Tantenrolle auf und machte Essen für die Kinder. Wohl war ihr allerdings nicht bei alledem.

»Sie vereinnahmt dich für ihre Zwecke«, sagte Helen. »Ich weiß nicht, ob das was mit Zusammenhalt zu tun hat.«

»Und wenn schon«, sagte Yella gut gelaunt. »Wenn Doro vorankommt, entspannt sich automatisch die Stimmung in der Villa Vlinder. «

»Sie sendet nur und stellt nie eine einzige Frage.«

»Sie ist eben diskret«, sagte Yella.

»Warum verteidigst du sie immer?«, fragte Helen.

»Weil wir eine Familie sind«, war Yellas Antwort. »Wenn man in der Familie nicht sein darf, wer man ist, wo sonst?«

Ob sie das wirklich so meinte? War Helen in ihrer Familie sie selbst?

»Die Welt da draußen ist anstrengend genug«, setzte Yella noch einen obendrauf. »Es ist unsere Aufgabe, einander zu unterstützen, wo wir nur können.«

»Ich finde sie einfach nur anstrengend«, sagte Helen. »Darf man das sagen?«

»Darf man«, sagte Yella und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Das wird schon. Es sind nur ein paar Tage.«