»Ich bin todmüde«, sagte Helen zu Paul. »Ich weiß nicht, wie lange ich ihr Theater noch aushalte.«
Sie versuchte, mit einem nächtlichen Spaziergang zur Ruhe zu kommen. Weit nach Mitternacht lag das Dorf im tiefen Dornröschenschlaf. In den verlassenen Straßen hing die Hitze des Tages. Von der Nordsee wehte eine leichte Brise. Aus den Bäumen säuselten die Blätter ihr ihre Weisheiten zu. Man wähnte sich in einem verwunschenen Märchenwald, so zugewachsen waren die schmalen Gassen. Ab und zu musste sie einem Wagen ausweichen. Rund um das Dorf gab es Hunderte Fahrradrouten, im Dorf fehlten vielerorts die Bürgersteige.
»Warum kommt man so schwer aus diesen Kindheitsmustern raus?«, fragte sie.
»Vielleicht ist genau das deine Aufgabe«, sagte Paul. »Nicht mehr weglaufen.«
»Ich höre wirklich gerne anderen Menschen zu«, sagte Helen. »Aber nicht Doro.«
Sie fand einfach kein Mittel, ihrer großen Schwester verbal etwas entgegenzusetzen. Sie war für die exzentrische Kostümbildnerin nicht schnell und schlagfertig genug. Wie sollte sie in dieser Gemengelage jemals Erholung finden?
»Es gibt schon einen Grund, warum ich seit Jahren Abstand halte«, sagte sie. »Sie schafft es immer wieder, mir das Wort im Mund umzudrehen.«
Helen war ratlos. Schon früher war ihr Allheilmittel der Rückzug gewesen.
»Ich weiß schon, warum ich keine eigene Familie gründen will. Ich bin damit überfordert, mit mehreren Menschen gleichzeitig umzugehen«, sagte Helen. »Ich bin besser mit Reagenzgläsern als mit Menschen.«
»Wie gut, dass ich in die Kategorie Reagenzglas falle«, sagte Paul lachend.
Ihre Arbeit kreiste darum, chemische Formeln zu entwickeln, Wirkungen zu studieren und Mischungen zu justieren. Bei den Sommerschwestern lief jeder Versuch, optimal zu dosieren, ins Leere. Was sie auch probierte: Sobald mehr als zwei Schwestern aufeinandertrafen, entstand eine explosive Mischung.
»Ich weiß nicht, wie man diese Risse jemals kitten soll«, sagte sie. »Es steht so viel zwischen uns.«
»Vielleicht musst du den Anfang machen«, sagte Paul. »Vielleicht musst du ehrlich sein.«
Helen antwortete nicht. Entgeistert blieb sie vor der Auslage eines noblen Herrenausstatters stehen. Es war ihr, als hätte ihr geheimnisvoller Verfolger hier sein gesamtes Outfit erstanden. Wattierte Jacken, exklusive Regenkleidung, Polohemden, Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt. Dazu trugen die Schaufensterpuppen edle Stetson-Strohhüte mit kleiner Krempe und gestreiftem Stoffband. Fast schon hatte sie geglaubt, dass sie sich den Mann eingebildet hatte. Sie wertete das Angebot des Modeladens als Bestätigung, dass er wirklich existierte. Und Kleidung im teuersten Laden des Dorfs kaufte. Ein Mann mit Geld? Aber kannte sie jemanden aus dem mondänen Bergen? Dem Bergen, das ihre Mutter früher so fasziniert hatte?
Henriette Thalbergs Freundinnen kamen alle aus Amsterdam. Helen erinnerte sich eindringlich an Milou, die mit ihren Eltern in einem enormen Haus an der Herengracht mit einem riesigen, fast schon aristokratisch anmutenden Garten gewohnt hatte. Ihre Mutter hatte nie wirklich nachvollziehen können, warum sie ihre Wochenenden und Urlaube in einem einfachen stacaravan in Bergen verbrachten. Camping war in den Niederlanden in allen Gesellschaftsschichten beliebt, bei Henriette eher weniger.
Pauls Stimme unterbrach ihre Gedanken: »Du musst das ansprechen«, sagte Paul. »Solange du alles in dich reinfrisst, wird nichts besser.«